unterwegs

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25. April 2010 ISSN 1436-607X

Magazin der Evangelisch-methodistischen Kirche

9/2010

Wenn Vertrauen missbraucht wird Leben für die Lehre n

Was sich Manfred Marquardt zum 70. Geburtstag wünscht. Seite 10

Singen für alle n

Wie die Musik in der OJK gefördert wird. Seite 12

Gemeinde im Kiez n

Wie sich die EmK in und für Neukölln einsetzt. Seite 17


2 ::: Vorweg

In die Osterzeit ist ein Thema eingebrochen, das mir zurzeit den Atem raubt: Der sexuelle Missbrauch. In Internaten, Schulen und gerade auch in Kirchen sind Kinder und Jugendliche missbraucht worden. Einige Fälle liegen schon Jahrzehnte zurück, andere kommen zeitlich erschreckend nahe. Und immer haben die Opfer damit zu kämpfen, dass ihr Vertrauen missbraucht wurde und man ihnen lange nicht glaubte. Je mehr Fälle auftreten, desto mehr sinkt das Vertrauen der Menschen auch in die Kirche. Je offener wir mit dem Thema umgehen, desto besser können wir die Kinder und Jugendliche schützen. Dieses Vertrauen ist ein Schatz, den wir hüten müssen. Ich finde es gut, dass unsere Kirche sich dem Thema gestellt hat. Das Kinder- und Jugendwerk hat einen Verhaltenskodex für Mitarbeitende erarbeitet. Ein Leitfaden soll nächstes Jahr folgen. In dieser Ausgabe lesen Sie, wie unsere Kirche mit dem Thema ­»sexueller Missbrauch« umgeht. Ihr Michael Putzke

So erreichen Sie uns: Redaktion »unterwegs« Telefon 069 242521-150 E-Mail: unterwegs@emk.de Aboservice: 0711 83000-0

kurz gesagt Zum Gebet für die Opfer der Überschwemmungen in Brasilien hat Pastor Levy Bastos aufgerufen. Bastos, der einige Jahre im EmK-­ Bezirk ­Winnenden ­gearbeitet hat, berichtete von rund 60 Toten in der Stadt ­Niterói im Bundesstaat Rio de Janeiro. »In der Nähe unseres Hauses wurden zwei Menschen durch Erdrutsche getötet«, berichtet er. Alle Gemeindemitglieder seien wohlbehalten.

schaftsfachmann. Aber die tiefste Ursache der Finanzkrise, die zu wachsender Armut geführt habe, liege nicht in der Ökonomie, sondern im Herzen des Menschen – in seiner Selbstsucht und Habgier. So gewährten sich Banker immer noch »völlig schamlos« millionenschwere Boni. ­Damit sie sich das leisten könnten, hätten Politiker das Geld der Steuerzahler in Rettungspaketen eingesetzt, doch stellten sie sich zu Unrecht als Retter in der Finanzkrise dar. »Sie haben uns nicht aus der Krise ­gerettet; sie haben uns ­hineingeführt.«

Die Diskriminierung von Christen am Arbeitsplatz sollte vor den britischen Mit einem Appell zur Unterhauswahlen am 6. Mai »gelebten Einheit unter zum Wahlkampfthema geallen, die mit Ernst Christen macht werden. Dazu haben sein wollen«, ist am 10. April sechs anglikanische Bischöfe das 12. Gemeinde-Ferienund das frühere geistliche Festival »Spring« in der Oberhaupt der Anglikaner, nordhessischen Stadt WilErzbischof George Carey, lingen zu Ende gegangen. in einem ­offenen Brief aufBei der sechstägigen Kongerufen. Erzbischof Rowan ferenz befassten sich mehr ­Williams, seit 2002 Nachals 3.300 Protestanten und folger Careys an der Spitze Katholiken unterschiedlider anglikanischen Weltcher Prägung mit den Kongemeinschaft, wendet sich sequenzen des christlichen zwar ebenfalls gegen »büroGlaubens. Alle Christen kratische Torheiten«, die hätten den Auftrag, Gottes das Tragen christlicher Liebe durch Wort und Tat Symbole am Arbeitsplatz zu bezeugen, sagte der Geunterbinden wollen. Doch neralsekretär der Deutschen gleichzeitig rät er, zwischen Evangelischen Allianz, Diskriminierung und VerHartmut Steeb, im Schlussfolgung zu unterscheiden. gottesdienst. Je mehr das Gebet Jesu Christi um Nicht aus der Krise, sichtbare Einheit unter ­sondern in die Krise ­seinen Nachfolgern die ver­geführt haben uns die Polischiedenen Kirchen präge, tiker. Das hat der Leiter der desto glaubwürdiger Heilsarmee, General Shaw ­erscheine die christliche ­Clifton (London) erklärt. Botschaft. Er sei zwar kein Wirt kie/epd/idea

T itelFoto: Volker K iemle

Wie war es, im Ostergottesdienst das erste Lied zu singen? Zum ­Beispiel »Christ, der Herr, ist auferstanden« von Charles Wesley. Aufstehen, tief durchatmen, die Lungen weiten und Auferstehungslieder singen. Da wird es für mich Ostern. Singen ist Glück, so schreibt Gabriel Straka in seiner Andacht zum Sonntag Kantate. Recht hat er.


Missbrauchtes Vertrauen ::: 3

So geht die EmK mit dem Thema »sexueller Missbrauch« um Sexueller Missbrauch geschieht meistens im familiären Umfeld. Weil es in den Gemeinden unserer Kirche eher familär zugeht, kann es auch dort zu sexuellen Übergriffen kommen. Seit Mitte der 1990er-Jahre geht die EmK offensiv mit diesem Thema um. Wo aber sexuelle Übergriffe geschehen, herrscht meist große Unsicherheit. Gerda und Holger Eschmann beantworten die wichtigsten Fragen.

Foto: pixel io/Sabine Me yer

Wie geht die EmK mit dem Thema »sexueller Missbrauch« um? Nach unserer Erfahrung wird in unserer Kirche sehr unterschiedlich mit diesem Thema umgegangen. Auf der einen Seite erleben wir immer noch, dass Gemeindemitglieder sagen: »So etwas gibt es bei uns doch nicht!«, andererseits melden sich Betroffene, die in ihrer Kindheit sexuelle Übergriffe in ihrer Gemeinde erlebt haben. Wenn ein sexueller Übergriff in einer Gemeinde bekannt wird, herrscht meist eine große Unsicherheit bei den Hauptamtlichen und in den Gemeindegremien. Deshalb sollen in nächster Zeit sowohl eine neue Arbeitshilfe des Kinder- und Jugendwerks als auch eine Handreichung für Gemeinden zum Thema erscheinen. Seit wann wird das Thema in der EmK offen besprochen? Bereits 1996 gab es einen Seminartag zum Thema ­»Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen«. Wenige Jahre später erschien eine Jungschar-Arbeitshilfe mit dem Titel »Hinschauen – nicht wegsehen!« Im Jahr 2002 wurde auf Zentralkonferenzebene die Arbeitsgruppe »Keine Gewalt an Kindern und Jugendlichen« eingerichtet, in der die Kontaktpersonen der drei Jährlichen Konferenzen, Vertreter und Vertreterinnen des Kinder- und Jugendwerks, des Männerwerks, des Frauenwerks und der Wesley-Scouts mitarbeiten. Diese Arbeitsgruppe hat unter anderem das Faltblatt »Keine sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen« erstellt, das an alle EmK-Gemeinden verteilt wurde. 2003 erschien in der Reihe EmK-Forum eine Broschüre mit dem Titel »Zwischen Opfer und Täter. Sexueller Missbrauch in der christlichen Gemeinde« (Gerda Eschmann, EmK-Forum 24). An unserer Theologischen Hochschule in Reutlingen gehören seit Ende der 1990er-Jahre Unterrichtseinheiten zum Thema zum Pflichtprogramm der Studierenden. Seit 2009 müssen alle Hauptamtlichen in der Kirche, die in ihrer Arbeit mit Kindern zu tun haben, ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und eine Selbstverpflich-

Kinder und Jugendliche müssen die Gemeide als geschützten Raum erleben.

tung unterschreiben. Ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendarbeit Tätige bekommen ebenfalls eine Selbstverpflichtung ausgehändigt. Gleichzeitig werden sie über die Gesetzesgrundlagen und über die Fürsorgepflicht gegenüber unseren Kindern und Jugendlichen informiert.

Welche Kontrollmechanismen gibt es in den Gemeinden? Zunächst einmal sind alle in der Gemeinde aufgefordert, sensibel und vorsichtig mit Kindern und Jugendlichen umzugehen. Bemerkt man, dass sich jemand Kindern gegenüber auffällig benimmt und übergriffig wird, ist zunächst ein Gespräch mit der Pastorin oder dem Pastor oder mit einer anderen Person des Vertrauens angebracht. Bei konkreten Verdachtsmomenten oder bereits geschehenen sexuellen Übergriffen können auch die Kontaktpersonen der Konferenzen zu Rate gezogen werden. Sollte ein Pastor oder eine Pastorin übergriffig werden, ist das dem Superintendenten zu melden. Es versteht sich von selbst, dass Personen, die unter einen solchen Verdacht geraten sind, von der Kinder- und Jugendarbeit entbunden werden. Falls sich der Vorwurf des


4 ::: Missbrauchtes Vertrauen

s­ exuellen Missbrauchs bestätigt und beim Täter keine Schuldeinsicht vorhanden ist, kann nach der Kirchenordnung ein Disziplinar- und Kirchenzuchtverfahren eingeleitet werden, das eine Suspendierung vom Dienst und einen Ausschluss aus der Kirche zur Folge haben kann. Ob eine Strafanzeige angebracht ist, sollte unter Hinzuziehung eines sachkundigen Anwaltes sorgfältig geprüft werden.

Wie lässt sich das Risiko des sexuellen Missbrauchs in der Gemeindearbeit darüber hinaus minimieren? Das Kinder- und Jugendwerk bietet regelmäßig Fortbildungen für Sonntagsschul-, Jungschar- und Teenie­ kreismitarbeiter zum Thema sexuelle Gewalt an. In den Kinder- und Jugendgruppen der Gemeinde kann der Bereich der sexuellen Gewalt angesprochen werden. Neben der Arbeitshilfe des Kinder- und Jugendwerks gibt es weitere gute Unterrichtsmaterialien und Literatur für alle Altersklassen, auch schon für die ganz Kleinen. Information und Prävention schützt Kinder und Jugendliche. Einen hundertprozentigen Schutz vor Übergriffen gibt es aber leider nicht. Viele Organisationen bieten Selbstbehauptungskurse für Kinder und Jugendliche an. Warum nicht einmal solch einen Kurs in der Gemeinde organisieren? Ein Faltblatt, in der Organisationen aufgeführt sind, die Selbstbehauptungskurse anbieten, wird gerade vom Arbeitskreis »Keine sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen« zusammengestellt. Solche Kurse gibt es auch für Erwachsene und Senioren. Welche Signale deuten auf sexuellen Missbrauch hin? Signale, die auf sexuellen Missbrauch hindeuten, können auch andere Ursachen haben. Wir erleben ja die Kinder und Jugendlichen nur in einem begrenzten Rahmen, etwa in der wöchentlichen Gruppenstunde. Deshalb sollten keine zu schnellen Rückschlüsse gezogen oder Verdächtigungen ausgesprochen werden. Die meisten Mädchen und Jungen, die sexuellen Missbrauch erleben, wagen nicht, offen darüber zu reden, da sie vom Täter häufig zur Geheimhaltung gezwungen werden. Oft geschieht das durch Drohungen oder indem der Missbrauch vom Täter zum »gemeinsamen Geheimnis« erklärt wird. Das belastet Kinder in höchstem Maße. Jedes Kind sendet in solch einer Situation Signale aus und reagiert mit Verhaltensauffälligkeiten. Ein Anzeichen für sexuelle Gewalt kann sein, wenn ein Kind ohne ersichtlichen Grund auf einmal verschlossen und bedrückt wirkt, wenn es nicht mehr unbefangen von alltäglichen Erlebnissen erzählt. Oder es ist auf einmal übernervös, unruhig und zeigt ein unübliches, aggressives Verhalten. Manche Kinder spielen den Missbrauch nach oder benutzen eine auffällig sexualisierte Sprache. Manchmal meiden sie plötzlich bestimmte Orte, Situationen oder Personen. Auch wenn diese Verhaltensänderun-

»Wir ermutigen die Kirche, ­eine schützende Umgebung, Beratung und Hilfe für die Opfer bereitzustellen« (aus den »Sozialen Grundsätzen der EmK).

gen ganz andere Gründe haben können, sollte ein ­sexueller Übergriff mitbedacht werden. Je stärker Kinder oder Jugendliche folgende Symptome aufweisen, umso wahrscheinlicher wird oder wurde es missbraucht: »Schlafstörungen, Bettnässen, Bauchschmerzen, Sprachstörungen, Rückfall in Kleinkindverhalten, gestörtes Essverhalten, auffallende Angstzustände, Schulschwierigkeiten, Festklammern, erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, Rückzug in Phantasiewelten, Kontaktlosigkeit, keine Freundschaften, Angst vor Erwachsenen. Bei älteren Kindern kann es auch zum Alkohol- und Drogenmissbrauch und zu wiederholten Straftaten kommen. Relativ sichere physische Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch sind Unterleibsverletzungen, Blutergüsse und Bisswunden im Genitalbereich sowie Geschlechtskrankheiten« (aus der Broschüre »So schützen Sie Ihre Kinder«, Stuttgart 2000).

Wie sollen Gemeinden mit sexuellem Missbrauch in ihren Reihen umgehen? Kommt es zu einem sexuellen Übergriff innerhalb einer Gemeinde oder besteht ein Verdacht, ist es wichtig, dass eine Gruppe von Helfenden gebildet wird, die sich zusätzlich Unterstützung bei einer Beratungsstelle holt. Täter und Opfer alleine begleiten zu wollen, ist sowohl für Hauptamtliche als auch für Gemeinde­mitglieder eine Überforderung.


Missbrauchtes Vertrauen ::: 5

Foto: Cl aus Arnold

weise den Jugendlichen stärken und schützen kann. Kommt der Täter aus der Gemeinde, ist es notwendig, ihn mit der Tat zu konfrontieren und ihn seelsorglich zu begleiten. Sollte er in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sein, ist er von seinen Aufgaben dort sofort zu entbinden. Dem Täter ist – bei aller Wertschätzung der Person – deutlich zu verstehen zu geben, dass sein Fehlverhalten abgelehnt wird, und dass auch er dringend Hilfe braucht. Bei bestätigtem Verdacht auf Missbrauch sollte dafür gesorgt werden, dass sich Opfer und Täter nicht ständig in der Gemeinde begegnen. Das Opfer sollte die Gemeinde als schützenden Raum erleben. Die seelsorgliche Begleitung des Opfers und des Täters kann in der Regel nicht durch dieselbe Person geschehen.

Es ist allerdings auch wenig sinnvoll, die ganze Gemeinde über den Missbrauch zu informieren. Viele Menschen sind mit diesem Thema völlig überfordert. Durch eine öffentliche Anklage des Täters und durch eine öffentliche Bloßstellung des Opfers werden sich sofort zwei Lager in der Gemeinde bilden. Die eine Gruppe wird zum Täter halten, da sie seiner Version der Tat glauben wird, die andere Seite will die Opfer schützen, sodass diese nicht mehr selbstbestimmt entscheiden können, wie in der konkreten Situation gehandelt werden soll. Das Opfer hat aber ein Recht auf Selbstbestimmung bei der Aufarbeitung seines Missbrauchs, sonst wird erneut über es verfügt. Eine Ausnahme ist natürlich, wenn es sich um ein kleines Kind handelt, dann ist die Fürsorgepflicht das entscheidende Kriterium. Um eine Gruppe von Helfenden zu bilden, kann man sich eine vertrauenswürdige Person innerhalb der Gemeinde suchen, die mit dem Thema sexuelle Gewalt umgehen kann. Gemeinsam werden Dinge besser wahrgenommen. Eine Person baut ein Vertrauensverhältnis zum Kind auf, jemand anderes kümmert sich um die Familie, vor allem um die Mutter (wenn der Missbrauchende der Vater ist), um sie vorsichtig mit dem Missbrauch ihres Kindes zu konfrontieren. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, einen Kontakt zu einer Vertrauensperson innerhalb der Familie aufzubauen, die das Kind oder die Jugendliche beziehungs-

Welche Hilfen gibt es für Opfer? Betroffene Menschen können sich an eine Vertrauensperson in ihrer Gemeinde wenden, die ihnen hilft, weitere Schritte mit ihrem Einverständnis zu unternehmen. Ebenso können die Kontaktpersonen der Konferenzen von ihnen zu Rate gezogen werden. Alle Beratungsstellen haben Fachleute, die zum Thema geschult sind. Dort erhält man erste therapeutische Unterstützung. Eine zusätzliche seelsorgliche Begleitung kann für die betroffene Person ebenfalls eine Hilfe sein, wenn folgende Dinge beachtet werden: Dem Opfer ist Schutz zu bieten vor weiterem Missbrauch und vor öffentlicher Bloßstellung. In der Seelsorge ist es wichtig, dass die Wut über den geschehenen Missbrauch formuliert werden darf – die Wut gegenüber dem Täter, gegenüber der eigenen Machtlosigkeit und auch gegenüber Gott, der einen scheinbar im Stich gelassen hat. Raum für Trauer und Klage über die verlorene Kindheit ist zu gewähren. Opfer von Missbrauch sind aber auch »Überlebende« und haben dadurch Stärken entwickelt, die für das Selbstwertgefühl gefördert werden sollten. Ganz am Ende eines Verarbeitungsprozesses ist für die Geschädigten vielleicht Vergebung möglich, besonders dann, wenn ein Täter Reue zeigt und sich zu seiner Tat bekennt. In den »Sozialen Grundsätzen« unserer Kirche heißt es: »Gewalt und Missbrauch beschädigt die menschliche Gemeinschaft. Wir ermutigen die Kirche, eine schützende Umgebung, Beratung und Hilfe für die Opfer bereitzustellen.« Ebenso ist es aber auch notwendig, die Täter zu begleiten, damit ihnen geholfen wird, zu ihrer Tat zu stehen, ihre Schuld einzusehen und ihr Verhalten zu ändern.

Gerda Eschmann ist Pastorin im Bezirk Reutlingen-Betzingen und Beauftragte der Süddeutschen Jährlichen Konferenz für Fragen der Gewalt an Kindern und Jugendlichen.

Dr. Holger Eschmann ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen.


foto: York schön

Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab. Apostelgeschichte 16,25.26

Wort auf den Weg ::: 7

Gott loben im Hochsicherheitstrakt

E

in Glück, dass es die Musik gibt. Ein Glück, dass in unseren Gottesdiensten nicht nur gesprochen wird. Dass Gott uns besonders nahe kommen kann, wenn Töne im Spiel sind. Ein Glück, dass wir in unserem Gesangbuch einen gewaltigen Schatz an Liedern des Glaubens haben. Die Musik vermag das Leben in seiner ganzen Vielfalt auf faszinierende Weise auszudrücken. Sogar dort, wo Worte nicht mehr ankommen, kann ein Lied zum Lobe Gottes Wunder wirken.

Singen in Gefangenschaft Paulus und Silas haben genau das erlebt. Sie waren auf ihrer Missionsreise nach Philippi gekommen. Es gab, wie so oft, Ärger. Die beiden Missionare hatten eine Sklavin im Namen Jesu von einem dunklen Geist befreit. Am Ende landeten sie dafür im Gefängnis – im Hochsicherheitstrakt. Alles tat ihnen weh, denn vor der Inhaftierung wurden sie öffentlich ausgepeitscht. Es sah nicht gut aus für die beiden. Düstere Gedanken, Bitterkeit und Zweifel haben in solcher Situation leichtes Spiel. War es vielleicht doch ein Irrweg, als sie voller Optimismus nach Europa gezogen waren? War es falsch, sich um die Sklavin zu kümmern? Hätten sie lieber den Mund halten sollen? – Und was war eigentlich mit Gott? Warum lässt er so etwas zu? Da rackern sie sich für Gott ab, reisen voller Mühsal um die halbe Welt, um das Evangelium zu verkündigen und dann so ein jähes Ende. Hatte Gott sie verlassen? War ihre Mission gescheitert? Doch diese Gedanken konnten bei Paulus und Silas nicht Oberhand gewinnen – nicht einmal im Gefängnis von Philippi. Sie wussten, dass ihr Weg richtig war. Sie wussten auch, dass der Lauf des Evangeliums nicht aufzuhalten war. Größer als ihre Schmerzen, ihre Zweifel und ihre Ängste war das Vertrauen zu Gott. Nichts und niemand konnte sie aus Gottes Hand reißen. Von ihm wussten sie sich

getragen – in allem! Und darum saßen sie frohgemut in ihrer Zelle, beteten und sangen Loblieder.

Eine Inzenierung der Zuversicht Zwei durch Schläge Gequälte, die mit den Füßen im Block in der dunkelsten Zelle saßen, die singen frohe Loblieder. Sie singen, nicht weil sie ihre missliche Lage verdrängen oder verharmlosen wollen, sondern weil ihr Vertrauen zu Gott größer ist als das Leid, das ihnen widerfährt. Loblieder sind der hymnische Widerspruch gegen die Mächte des Todes. Sie besingen in immer neuen Worten und mit immer neuen Melodien, dass nicht der Tod, sondern das Leben das letzte Wort haben wird und haben muss. Angesichts solcher Zuversicht beginnen plötzlich die Gefängnismauern zu wanken. Die Türen springen auf und die Fesseln fallen ab. Staunend können wir entdecken, was passieren kann, wenn die dunklen Gedanken in uns nicht die Oberhand gewinnen, sondern frohe Loblieder unser Leben für Gottes Kraft öffnen. Die Fesseln der Angst, die Kerker der Hoffnungslosigkeit in unseren Herzen, die Mauern der Traurigkeit, die Ketten der Verletzungen, die uns zugefügt wurden … sie können gesprengt werden durch Zuversicht und Vertrauen, die sich im Gotteslob ausdrücken. Und wenn Sie das nächste Mal im Gottesdienst sind und mit der ganzen Gemeinde ein Loblied singen, oder wenn Sie zuhause oder im Auto für sich alleine singen, dann denken Sie an Paulus und Silas. Erleben auch Sie, wie Ketten abfallen und Fesseln sich lösen. Erleben Sie Befreiung von dem, was Sie gefangen hält.

Gabriel Straka ist Pastor im Bezirk Berlin-Stadt.

Korrektur Durch einen Fehler in der Korrektur hat sich in den Text von Ulrike Burkhardt-Kibitzkie (unterwegs 8/2010) ein Fehler eingeschlichen: Der furchtbare Brand im Mont-Blanc-Tunnel ereignete sich am 24. März 1999. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.


8 ::: Missbrauchtes Vertrauen

»Die Opfer müssen ihre Schuldgefühle loswerden« Es ist wie eine Lawine: Fast täglich werden derzeit neue Fälle von sexuellem Missbrauch bekannt. Warum gerade jetzt? Weil unsere Gesellschaft bereit ist, sich mit diesem Tabuthema auseinander­ zusetzen, sagt der rennomierte Arzt und Psychotherapeut Dr. Bernd Deininger. Was das für die Missbrauchsopfer bedeutet und was wir alle tun können, darüber hat Volker Kiemle mit ihm gesprochen. Herr Dr. Deininger, es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Missbrauchsfälle in Schulen oder Kirchen bekannt werden. Teilweise liegen die Fälle schon vier Jahrzehnte zurück. Warum kommen sie jetzt ans ­Tageslicht? Bernd DEININGER: Das ist einfach eine Bewegung in der Gesellschaft! Mich erinnert das an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als es große Umbrüche gab: Sigmund Freud begründete die Psychoanalyse, in der Kunst gaben Avantgardisten den Ton an – Schriftsteller wie Adolf Schnitzler und Frank Wedekind, Maler wie Oskar Kokoschka und Gustav Klimt, Komponisten wie Gustav Mahler. Diese Bewegung hat sehr viel in Gang gebracht und Tabus verkleinert – auch sexuelle. Das Bewusstsein etwa, dass Inzest – also sexuelle Beziehungen innerhalb der eigenen Familie – etwas Schädliches, etwas Krankes ist, das hat sich erst durch die Psychoanalyse entwickelt. Jahrhundertelang war Inzest gesellschaftlich teilweise akzeptiert.

Dr. Bernd Deininger Dr. Bernd Deininger gehört zu den Pionieren der psychosomatischen Medizin in Deutschland. Er hat Theologie, Medizin und Philosophie studiert und war nach der Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie einige Jahre als Oberarzt tätig. Nach verschiedenen psycho­analytischen Zusatzausbildungen ­arbeitete er als Neurologe und Psychoanalytiker mit eigener Praxis. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Medizin und hat die Weiterbildung zum Facharzt für psychosomatische Medizin mitentwickelt. Seit Anfang 2009 leitet der 64-Jährige den Fachbereich Psychosomatik am Krankenhaus Martha-Maria in Nürnberg. Er ist zudem seit 1990 Lehranalytiker der Bayerischen Landesärztekammer und aktuell ärztlicher Leiter des Lehrinstituts für Psychotherapie und Psychoanalyse München (LPM). Seit 1993 arbeitet Dr. ­Deininger als Supervisor im Haus Recollectio der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, einem Therapiezentrum für Priester und Ordensleute im deutschsprachigen Raum. Deininger predigt regelmäßig in der Nürnberger St. Egidienkirche.

Und im Frühjahr 2010 entdeckt die deutsche ­Gesellschaft, dass sexueller Missbrauch auch ­außerhalb der Familie etwas Verwerfliches ist ... Bernd DEININGER: Eine Gesellschaft braucht dafür Zeit! Die 68-Bewegung und die Frauenbewegung haben auch die Mechanismen und Strukturen der sexuellen Unterdrückung aufgedeckt. Und jetzt, einige Jahrzehnte später, sind wir gesellschaftlich so weit, dass sexueller Missbrauch kein Tabuthema mehr ist. Was genau ist sexueller Missbrauch? Bernd DEININGER: Sexueller Missbrauch ist da, wo Menschen in die Sexualität einbezogen sind, die nicht abschätzen können, was Sexualität im Ganzen bedeutet. Also vor allem Kinder. Vor der Pubertät hat Sexualität eine völlig andere Funktion als danach: Da geht es meist um Nähe und Geborgenheit. Sexualität wird hier in einer sogenannten prägenitalen Weise gelebt. Wo beginnt der Missbrauch? Bernd DEININGER: Der Missbrauch beginnt zum einen da, wo ein Mensch sich noch nicht bewusst ist, was er tut. Wenn etwa das kindliche Interesse am Körper der Erwachsenen von Erwachsenen sexuell ausgenutzt wird, ist das Missbrauch. Sexueller Missbrauch ist außerdem alles, was gegen den Willen eines anderen Menschen geschieht. Das ist nicht an eine Altersgrenze gebunden – auch in Altenheimen gibt es sexuellen Missbrauch! Das wird nur noch nicht thematisiert. Was unterscheidet sexuellen Missbrauch von der Pädophilie? Bernd DEININGER: Das ist ein großer Unterschied! Pädophilie als eine bestimmte Form sexueller Perversion ist eine Krankheit, die nicht heilbar ist. Es ist gefährlich, hier Vergleiche anzustellen. Aber man muss deutlich sagen: Pädophilie ist eine anlagebedingte sexuelle Neigung, die man nicht therapieren kann – genauso wenig wie Homosexualität. Das ist auch der Fehler, den die katholische Kirche jahrzehntelang gemacht hat: Man hat pädophile


Missbrauchtes Vertrauen ::: 9

Menschen im besten Fall in eine Therapie geschickt und gedacht, das wird schon werden. Was kann ein Therapeut dann überhaupt ausrichten? Bernd DEININGER: Ein seriöser Therapeut wird den Betroffenen klar machen, dass ihre sexuelle Störung zunächst einmal nicht heilbar ist. Pädophile müssen zuallererst Situationen meiden, in denen sie mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen. Das ist wie bei einem Alkoholiker, der eine Entwöhnungsbehandlung hinter sich hat: Er wird immer suchtkrank bleiben und darf sich nicht der Versuchung aussetzen, Alkohol zu trinken. In welchen Berufen finden sich Pädophile? Bernd DEININGER: In Berufsgruppen, in denen es vor allem um Kinder und Jugendliche geht, sammeln sich mehr Pädophile als in anderen Berufen. Aber das sind unbewusste Prozesse. Kaum jemand entscheidet sich, Lehrer oder Erzieher zu werden, weil er pädophil ist. Er macht es unbewusst, weil er sich zu Kindern und Jugendlichen hingezogen fühlt. Und häufig stellt der Betroffene erst später fest, dass er sich zu Kindern und Jugendlichen sexuell hingezogen fühlt. Warum wird sexueller Missbrauch so selten angezeigt? Bernd DEININGER: Die Schamgrenze ist sehr hoch. ­Sexualität ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabuthema. Außerdem spielt auch der Altersunterschied eine Rolle – gerade bei den jetzt bekanntgewordenen Fällen in Internaten. Lehrer sind ja Leitfiguren, idealisierte Gestalten, denen Kinder nacheifern. Dadurch steigt die Scham darüber, dass etwas Verbotenes und Falsches passiert ist. Kinder und Jugendliche, die zu Opfern wurden, entwickeln häufig Schuldgefühle in der Weise, dass sie meinen, auch an ihnen selbst sei etwas nicht in Ordnung.

Foto: Volker K iemle

Was sollen die Opfer tun? Bernd DEININGER: Hier sind wir alle gefragt! Wir müssen Kindern und Jugendlichen deutlich machen: Wann immer etwas ist, was ihnen an Verhalten von Erwachsenen auffällt, dann sagt es! Kinder müssen ein Gefühl dafür entwickeln, was ein Übergriff ist, und wir müssen offen mit ihnen darüber sprechen. Das wird doch leicht zur Hysterie ... Bernd DEININGER: Ja, die Gefahr ist da. Insgesamt ist es aber besser, aufzuklären und das Thema immer wieder anzusprechen und dadurch zu sehr zu betonen, als Gefahr zu laufen, dass Missbrauch verschwiegen wird. Sie haben viele Missbrauchsopfer behandelt. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Bernd DEININGER: Zunächst geht es darum, dass Opfer sich nicht mehr mit dem Täter identifizieren und ihre

Schuldgefühle loswerden. Besonders bei Mädchen geht das ja so weit, dass sie später meinen, den Täter verführt zu haben. Dann muss man sich in der Therapie mit der Scham auseinandersetzen – Scham ist ja immer etwas, das wir an uns selbst verachten. Es geht darum, das mangelnde Selbstwertgefühl aufzurichten und den Menschen Selbstbewusstsein zu geben. Zur Therapie gehört auch, die Trauer über das Vergangene auszuhalten – man kann ja die Taten nicht ungeschehen machen. Kann Missbrauch verhindert werden? Bernd DEININGER: Viele Täter sind selbst Opfer gewesen und so in einer Spirale gefangen. Wir sind aber jetzt in einer Zeit angelangt, in der man diese Spirale durchbrechen kann. Wenn wir die Opfer behandeln, sinkt die Gefahr, dass sie selbst zu Tätern werden. Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass sich in unserer Gesellschaft etwas verändert? Bernd DEININGER: Ich erlebe, dass unsere Gesellschaft offener wird gegenüber psychotherapeutischer Arbeit. Es gilt nicht mehr als Makel, wenn man psychotherapeutische Hilfe sucht. In der Medizin werden zunehmend psychosomatische Zusammen­ hänge thematisiert. Hinter ­körperlichen Krankheiten ­stecken ja zum Beispiel auch Missbrauchs- und Gewalt­ erfahrungen. Da hat sich viel verändert: Man tabuisiert mögliche psychische Faktoren von Krankheiten nicht mehr so stark wie früher.


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