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Radikales Begehren
from #3 Begehren
by engagée
Über das Subjekt der Unterwerfung und Momente kollektiven Aufbegehrens
Wie können wir das Begehren nach Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen, Verbote und Reglementierungen erklären? Was bedeutet es für die Handlungsfähigkeit eines Subjekts, seine eigene Unterordnung vorauszusetzen und wie lässt sich ein Begriff von emanzipatorischem Begehren entwickeln, welcher sich die Reglementierungsmacht zunutze macht, um aufzubegehren?
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In Anschluss an Judith Butler wird versucht zu argumentieren, dass die Möglichkeit von Widerstand und Handlungsmacht in einem radikalen Begehren nach Leben(sfähigkeit) besteht. Dazu wird das Verhältnis von Macht, Begehren und Subjektivierung exemplarisch anhand der Frage diskutiert, in welchem Sinn wir heute noch haben, was wir gern kollektiven Aktivismus nennen? Vor dem Hintergrund der hegemonialen Subjektivierungsform in westlichen Gesellschaften, dessen zentrales Merkmal in der Freisetzung von individueller Autonomie, Eigenverantwortung und kreativem Potenzial zu Verwertungszwecken liegt, 1 lautet die zugespitze These, dass Aktivismus in einem hohen Ausmaß individualisiert ist. In dem Beitrag wird problematisiert, dass die Autonomie des Subjekts auf der verleugneten Abhängigkeit von sozialen Verhältnissen beruht. Dies hat zur Konsequenz, dass das „kollektive Objekt“ dem „individuellen“ Begehren nur angehängt ist. Der Begriff des radikalen Begehrens soll hier eine emanzipatorische Perspektive aufspannen und mögliche Ansatzpunkte für ein kollektives Aufbegehren zur weiterführenden Diskussion stellen.
1 Vgl. etwa Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz, 2003.
Das A-/andere b-/Begehren.
Eine Aktivistin liest in ihrem Protest ihre eigene Signatur. In einem Akt der Auslegung erkennt sie diese Signatur als etwas an, das sie repräsentiert. Die hervorgebrachten „Zeichen“ liest sie als Effekt ihrer eigenen Wirksamkeit. Sie entdeckt ihre Handlungswirksamkeit, aber sie sieht (noch) nicht, dass diese Wirksamkeit der verschleiernde Effekt der Wirksamkeit einer hegemonialen Formation ist. Und sie sieht auch nicht, dass die hegemoniale Formation ihrerseits Verschleierung ist: dass sie nicht einer natürlichen Ordnung entspricht, sondern als Ergebnis von partiellen, temporären und kontingenten Konflikten in Erscheinung tritt.
Macht und Begehren
Judith Butlers Begriff des Begehrens, den sie in ihrem Buch Psyche der Macht (2001) entwickelt, gibt uns ein Werkzeug an die Hand, um zu begreifen, wie sich die Macht, von der die Existenz des Subjekts abhängig ist, im Verlauf ihrer Wiederholung gegen sich selber wenden lässt. Die Paradoxie zeigt sich dort, wo widerständige Subjekte die Unterwerfung unter die Bedingungen der eigenen Unterordnung begehren müssen, um kollektiv handlungsfähig zu sein. Das Subjekt ist also Schauplatz einer Ambivalenz, die sich darin zeigt, dass jenes „sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht wie als Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit entsteht“. 1
Eine allgemeine Definition von Macht formuliert Butler in Anschluss an Foucault in der Einleitung zu Psyche der Macht. Demnach ist Macht das, wovon die menschliche Existenz abhängt, was die Subjekte formt, ihnen Daseinsbedingung und ihrem Begehren Richtung gibt. Die Unterwerfung unter, oder auch Bindung an, gesellschaftliche Normen gründet schließlich in dem Begehren des „Ich“, im eigenen Sein zu verharren. Die Erfüllung eines solchen Begehrens beruht wiederum auf den ontologischen Effekten einer symbolischen Ordnung. Gerade der Umstand, dass das Individuum von anderen gesehen, erkannt und anerkannt werden muss, um zu einem Selbstverständnis zu gelangen, verweist auf dessen existentielle Abhängigkeit von sozialen Verhältnissen. Denn Formen von Erkennung, Anerkennung und Anschauen sind immer bereits durch gesellschaftliche Kategorien vermittelt. Butler beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „Das Subjekt ist genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit sucht es das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist. Soziale Kategorien bezeichnen zugleich Unterordnung und Existenz.“ 2
1 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M., 2001, S. 19.
2 Ebd., S. 25.
Das A-/andere b-/Begehren.
Eine Aktivistin unterwirft sich dem Selbstverständnis individueller Autonomie. Dabei übersieht sie, dass die individuelle Autonomie durch gesellschaftliche Normen erst konstituiert wird. Es werden also zwei „Autonomien“ – die Autonomie der Aktivistin und die Autonomie der hegemonialen Form – hervorgebracht, die sich auf den ersten Blick gegenseitig auszuschließen scheinen. Nun stellt sich die Frage, ob die politische Praxis der Aktivistin durch die Vorstellung, die als Impuls für ihre Handlung fungiert hat, vollständig beschränkt bleibt. Oder aber erzeugt diese Vorstellung ihrerseits Effekte, die über die Reglementierungsmacht der hegemonialen Formation hinausgehen?
Zur Ambivalenz des kollektiven Subjekts
Am Beispiel von individueller Autonomie lässt sich das Spannungsfeld zwischen Unterordnung und widerständiger Handlungsmacht verdeutlichen. Um als Ich zu bestehen, um die eigene Autonomie zu bewahren, leugnet das Subjekt die Abhängigkeit von der Macht und damit zugleich auch die Möglichkeitsbedingungen für widerständige und subversive Handlungsfähigkeit. „Subjektivation besteht eben in dieser grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der aber paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält.“ 1 Wie ist das gemeint? Das Subjekt tritt als Bedingung seiner eigenen Macht auf. Die Macht geht also als Bedingung dem Subjekt voraus. In dem Augenblick aber, in dem die Macht von dem Subjekt ausgeübt wird, „verliert sie den Anschein ihrer Ursprünglichkeit; in dieser Situation eröffnet sich die umgekehrte Perspektive, dass Macht die Wirkung des Subjekts ist und dass Macht das ist, was Subjekte bewirken.“ 2 Wir können also zwei Aspekte von Macht unterscheiden: die Macht als Bedingung des Subjekts einerseits und die Macht, die das Subjekt ausübt, andererseits.
1 Butler 2001: S. 8.
2 Ebd., S. 18.
Das A-/andere b-/Begehren.
Wann ist der Moment, wenn sich die Macht der Unterordnung als Bedingung von Handlungsfähigkeit zur eigenen Handlungsfähigkeit verschiebt? Und was, wenn nicht Viele bereit sind, sondern nur Wenige, und der status quo geschont werden will?
Kollektives Aufbegehren: Wann ist der Moment?
Aus dem Spannungsverhältnis der doppelten Möglichkeit – der Abhängigkeit von der Wiederholung von Normen einerseits und der Möglichkeit einer subversiven Neuverkörperung von Subjektivierungsnormen andererseits – lässt sich auch ein Hinweis auf die zeitliche Dimension von Handlungsfähigkeit gewinnen. Denn folgen wir Foucault in seinem Argument, dann wird „das durch die Unterwerfung produzierte Subjekt nicht in einem einzigen Moment in Gänze hervorgebracht. Vielmehr befindet es sich im Prozeß seines Erzeugtwerdens, es wird wiederholt erzeugt (was nicht dasselbe ist wie eine immer wieder neue Erzeugung). Gerade die Möglichkeit einer solchen Wiederholung führt nicht zu einer Festigung der dissoziierten Einheit des Subjekts, sondern vervielfacht vielmehr die Effekte, die die Normierung untergraben.“ 1 Zur Veranschaulichung: Protest ist immer auch ein „Ort“, an dem Vorstellungen von widerständiger Handlungsmacht strukturiert und reproduziert werden. Das betrifft Situationen der Polizeirepression genauso wie die einer Abschlusskundgebung, auf der nur einige wenige Teilnehmende sprechen (dürfen) und viele andere zuhören (müssen). Zugleich ist diese vorgängige Macht auch die Möglichkeitsbedingung dafür, dass eine radikal bedingte Form des Begehrens entsteht. Ein solches Begehren findet beispielsweise darin Ausdruck, dass reflektiert wird, wer sich aufgrund welcher Privilegien aufgerufen fühlt, für wen zu sprechen und wie diese ungleiche SprecherInnenschaft bestehende Ungleichheiten reproduziert, indem jene, für die gesprochen wird, aus dem Kreis politisch handelnder Subjekte ausgeschlossen und auf Objekte der Befreiung reduziert werden.
Wichtig ist auch die Einsicht, dass eine Bedingung noch nichts ermöglicht oder bewirkt ohne präsent zu werden. Um Momente des Begehrens der Unterwerfung unter bestehende Normen in Momente des Aufbegehrens zu wenden, müssen die subjektiven Entstehungsbedingungen – in unserem Beispiel die Vorstellung des autonomen Subjekts – als Beschränkung erfahren und anerkannt werden. Das Begehren nach Autonomie zu durchkreuzen, bedeutet dann, dass das autonome Subjekt von Auflösung bedroht sein muss. Erst dann kann das kollektive Aufbegehren triumphieren.
| Rahel Sophia Süß
1 Butler 2001: S. 90f.