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Ich zeichne in einer Flüchtlingsunterkunft
from #3 Begehren
by engagée
Überall kann man zeichnen. Auch in einer Notunterkunft für Flüchtlinge. In der Turnhalle in der Lobeckstraße in Berlin-Kreuzberg sind doppelstöckige Betten für etwa 180 Menschen aufgereiht. Stoffbespannte Wände trennen die Abteilungen für Familien und alleinstehende Männer.
Hoffnungen, Ängste, individuelle Erfahrungen oder Erwartungen kann ich nicht zeichnen. Die politischen Zusammenhänge und Hintergründe sind unübersichtlich. Ich versuche mich zu informieren, lese die Nachrichten und Berichte.
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Otto Dix sagte, dass ihn nur das Äußere interessiere. Das ist schon eine Menge.
Die anderen sind fremd, sie sprechen eine andere Sprache. Nein, sie sprechen unterschiedliche Sprachen. Ich bin nicht einmal in der Lage, diese Sprachen zu unterscheiden. Wieso unternehme ich keinen ernsthaften Versuch, Worte der fremden Sprachen zu lernen? Jemand sagt mir seinen Namen. Ich vergesse ihn kurz danach. Und ich finde es nicht einmal schlimm. Einige Namen kann ich mir merken. Ich sitze mit anderen am Tisch, wir lächeln uns an, ich sage: „Guten Appetit“. Der andere sagt: „Wie geht es Dir?“ Ich sage: „Gut, danke. Mir geht es sehr gut. Und Dir?“ Doch wir kommen kaum in ein richtiges Gespräch. Ich weiß wenig über die Menschen, obwohl ich regelmäßig hier bin. Selten gehen die Gespräche tiefer.
Ich zeichne vor Ort den Alltag in der Unterkunft. Ich frage die Geflüchteten nicht nach ihren Geschichten. Ich habe das Gefühl, dass ich dafür nicht zuständig bin. Ich bin kein Therapeut. Ich will nicht in die Leute hineinsehen. Ich will nur da sein, freundlich sein, zeichnen, etwas Deutsch unterrichten. Es gibt eine Verständigung über das Zeichnen, das Ansehen, Nicken, kurze Floskeln, die reine Anwesenheit.
Die Flüchtlinge sehen nicht wie Flüchtlinge aus. Sie tragen die gleiche Kleidung wie wir. Kein Wunder, es ist unsere Kleidung, die durch Spenden zu ihnen kam. In den Sammelstellen wird darauf hingewiesen, dass man nur Kleidung bis zu einer gewissen Größe annimmt. Deutsche Größen sind oft größer. Nachdem in der ersten Zeit auch eine nicht passgerechte Winterjacke genommen wurde, weil gerade nichts anderes da war, hat sich die Lage an der Kleiderfront normalisiert. Die Hosen der Flüchtlinge sitzen. Die Schuhe passen.
Gestern waren wir in der Philharmonie bei einem Konzert für Flüchtlinge und Helfende mit Daniel Barenboim, Iván Fischer, Sir Simon Rattle und den drei großen Berliner Orchestern. So viele Geflüchtete habe ich nie an einem Ort gesehen. Applaus nach jedem Satz, Standing Ovations, Pfiffe.
Es war wie ein Klassenausflug. Auf der Hinfahrt mit der U-Bahn haben wir Edris verloren. Er kam später nach. Auf dem Bahnsteig hatte er einer Familie aus der Notunterkunft geholfen, die richtige Verkehrsverbindung zum Hauptbahnhof zu finden. Edris ist Übersetzer und spricht perfekt Englisch. Seine Muttersprache ist Farsi. Er hat in kurzer Zeit Arabisch gelernt, sodass er sich mit den anderen Bewohnern unterhalten kann.
Es gibt immer wieder Unstimmigkeiten zwischen den Flüchtlingen, die aus unterschiedlichen Ländern kommen und verschiedene Sprachen sprechen. In der Unterkunft sollen alle miteinander klar kommen. Ich finde es schon schwierig bei einem Ausflug zusammen mit zwei oder drei Personen in einem Raum zu übernachten. In der Turnhalle sind es 180 Menschen. Ich bin froh, eine eigene Wohnung zu haben.
ekstatisches Werden. Welches Begehren?
Mein erster Tag war auch der chaotischste. Ich hatte im Internet eine Flüchtlingsunterkunft in der Nähe gefunden. Eine Kontaktaufnahme über Telefon oder Mail ist mühsam, alle sind überlastet, man wartet lange auf eine Antwort. Ich bin hingefahren und Brigitte sagte mir, sie freue sich, dass ich gekommen sei. Ich könne gleich im Kleiderlager Sachen sortieren. Es gab Kleidung für Frauen, Männer, Kinder, Sommer- und Wintersachen. Das meiste war vorsortiert. Vieles lag verstreut herum, Kleidung, Spielsachen. Eine Ordnung eigener Ordnung auf engstem Raum. Zum Schutz gegen eindringendes Wasser lag ein Handtuch vor der Tür, die zum benachbarten Duschraum führt. Ich gab mir Mühe, ordnete Kleider und beschriftete die Säcke. Zum Glück kam eine hilfreiche Dame dazu, die vorschlug, dass wir sofort entscheiden, was brauchbar ist und was in den Müllsack kommt.
Am Abend, kurz bevor wir gehen wollten, beschloss die Heimleiterin, dass man alle Kindersachen in die Halle bringen solle. Das Kleiderlager müsse bald vollständig leer geräumt werden und die Familien mit kleinen Kindern, die am nächsten Tag zu einer anderen Unterkunft gebracht würden, dürften sich noch etwas aussuchen. Das Ergebnis ihrer spontanen Eingebung sah ich am folgenden Morgen. Heilloses Durcheinander, verstreute Spielsachen und einzelne Schuhe.
Mit der Zeit kam mehr Klarheit und Struktur in die Unterkunft. Die Heimleitung wechselte zweimal. Die Security wurde ausgetauscht. Die hauptamtlichen und freiwilligen Helfer helfen wo sie können und man kann sich fast wohl fühlen in der Lobeckstraße. Die Stimmung unter den Bewohnern hat sich verbessert.
Wenn ich zeichne, schauen oft Leute zu. Die Kinder sind neugierig und stoßen an meinen Zeichenblock. Ein kleiner afghanischer Junge sagt selber „Vorsicht“, bevor ich es sagen muss. Dann tut er doch, was er will.
Oft fragen die Flüchtlinge, ob ich sie porträtieren kann. Ich zeichne mit klaren Linien, ohne Korrekturen und bemühe mich um Ähnlichkeit. Da es kein bezahlter Auftrag ist, muss man das Ergebnis so akzeptieren wie es ist. Die einen sind zufrieden, die anderen nicht so ganz. Lustig finden es die, die hinter mir stehen und zuschauen. Die Porträtierten bekommen eine Kopie der Zeichnung. Viele bedanken sich auch dann, wenn ich nicht sie, sondern eine Alltagssituation abbilde. Der Orient ist freundlich, hatte man mir erzählt.
Im Aufenthaltsraum präsentierte ich beinahe 100 gescannte und ausgedruckte Zeichnungen. Darüber hingen die farbigen Bilder, die bei den von freiwilligen Helfern betreuten Malnachmittagen entstanden waren. Die Kinder malen gerne. Die Erwachsenen zeichnen ihre Landesflaggen, schreiben „Love“ und andere Parolen oder stellen komplizierte technische Geräte und Autos dar. Die Zusammenstellung meiner und ihrer Werke sieht sehr zeitgemäß aus. Kunst im Kontext, unter Berücksichtigung von Migration und Globalisierung. Partizipativ ist es auch.
Aus meiner ursprünglichen Idee, zusammen mit den Flüchtlingen zu zeichnen, ist nichts geworden. Ich fragte mich schon am ersten Tag, ob die Leute wirklich malen wollen oder ob sie es nicht sinnvoller finden, Deutsch zu lernen.
Welches Begehren?
Ich unterrichte Deutsch und zeichne. Beides wird gut angenommen. Gut, dass ich zu Beginn nicht lange über das Unterrichten nachgedacht, sondern es einfach versucht habe. Eine ordentliche Schulstunde mit Lehrbuch, Pausengong und einer festen Lerngruppe mit vergleichbaren Voraussetzungen ist es nicht. Wenn etwas nicht klappt, kann es an mir liegen, an den Schülern oder an den äußeren Umständen. Ich plädiere für die äußeren Umständen. Die Flüchtlinge sind dankbar und wir lachen viel.
Wenn ich zur Unterkunft fahre, kommen mir oft Bewohner entgegen, die auf dem Weg zu einer Sprachschule sind. Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, dem Iran und dem Irak haben ein Anrecht auf öffentlich finanzierten Deutschunterricht. Afghanen nicht, denn sie kommen aus einem Land, das als sicher eingestuft wird, denn dort gibt es statt Krieg nur Terroranschläge. Sie haben schlechtere Chancen auf ein Bleiberecht in Deutschland. Zu meinem Unterricht kommen Erwachsene und einige Kinder. Manche nutzen die Gelegenheit, das anderswo Gelernte zu erweitern und zu festigen. Die Zusammensetzung der Gruppe ändert sich ständig. Ich muss improvisieren.
Es ist von Vorteil, wenn man zeichnen kann. Wenn Gesten oder englische Erklärungen versagen, helfen Bilder. Zum Glück habe ich auch einige Plastiktiere, die als Modelle für meine Zeichentrickfilme dienen. Kinder mögen Tiere und lernen schnell wichtige Wörter wie „Elefant“, „Hund“, „Katze“ oder „Krokodil“.
Viele Kinder haben nun Fahrräder bekommen. Zwei afghanische Mädchen begutachten anerkennend mein Rad. Sie finden es beeindruckend, dass ich es mit zwei Schlössern sichere.
Der kleine Ahmed, der nie zu meinem Unterricht kommt, fragt, wie man dieses und jenes nennt. Er will meinen Geldbeutel sehen. „Geld. Das ist Geld“, sage ich ihm. „Und das ist mein Ausweis“.
Die Kinder sollen bald in die Schule kommen. Es wird Zeit. Sie sind nun schon länger als drei Monate hier. Es heißt, dass es nicht genug Willkommensklassen gibt, dass man noch nicht dazu gekommen ist, für alle Kinder ein Formular auszufüllen, dass das nun zwar geschehen ist, aber nun noch medizinische Untersuchungen ausstehen. Elif, die niemals still sitzt und voller Energie ist, will Druck machen, damit es voran geht.
Welches Begehren?
Ob ich die Flüchtlinge einmal genauer nach ihren Geschichten fragen soll? Ich weiß es nicht. Ich bin froh, dass ich nicht alles weiß.
Für Samstag habe ich mich mit Edris und drei weiteren Flüchtlingen verabredet. Wir wollen zu Fuß von der Museumsinsel über die Straße Unter den Linden zum Brandenburger Tor gehen und uns einiges ansehen.
| Matthias Beckman