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Wachsamkeit und Begehren

Der Aufruf dieser Edition erwähnt keine Leerstelle als Frage oder eine Behauptung als These, sondern postuliert lediglich ‚Begehren‘. Diese Strategie markiert, dass das Schreiben situiert und positioniert stattfindet, weil es als solches erst angeboten werden muss. Das Angebot meines Schreibens wird eine de-ontologische Besprechung des Begehrens sein, für die meine Signatur als Rechtfertigungssymbol Verantwortung zeigen muss. Um Verantwortung zu manifestieren, darf dieser Text jedoch nicht bei einer de-ontologischen Abhandlung des Begehrens stehen bleiben, sondern muss meine spezifische Situiertheit ansprechen: „Wachsamkeit ist absolut nötig“ (Spivak 2011: 136).

Den Ursprung des Begehrens zu benennen, würde sich in Reiterationen verlieren, ähnlich der ‚Drawing Hands‘ von M. C. Escher, die in ihrem aporetischen durcheinander Verschlungensein nur auf sich, jedoch nicht auf Außer-Textuelles, d.h. Ursprüngliches, verweisen können. Die Besprechung des Begehrens soll nicht damit enden, dass ich in diesem Text etwas – das Eine – präsentiere. Ich kann keinen Text über den Sinn des Begehrens überreichen und will demzufolge im Allgemeinen kein Wort über das Begehren verlieren. Die Krux wird es nun sein, zwei Punkte zu verbinden: einerseits ein de-ontologisches Denken, welches dem Begehren die Zusicherung der Metaphysik der Substanz, d.h. das Begehren als etwas Außer-Textuelles abspricht, andererseits die Inschrift meiner Situiertheit, die auf meine Einbettung in eine bestimmte Lokalität hinweist, die ich aber nie gänzlich einholen (wollen) kann.

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Meine erste Antwort formuliert somit einerseits eine Defensivhaltung gegen die traditionell-heroische und phallozentrische Philosophie, die sich auf die Suchwanderung nach dem Ursprung begibt und andererseits ein Misstrauen gegenüber meinem eigenen Standort. Ich sehne mich nicht nach dem Abenteuer des

Wann, wenn nicht jetzt!?

universellen Begehrens. Ja, ich bin mir meiner Schwäche und Orientierungslosigkeit gegenüber diesen Abenteuern bewusst; also schreibt das, was in meiner Schrift zu dunkel oder zu kalt bleibt, meinem zu schwachen Atem zu (vgl. Levinas 2001: 10). In Gedanken an eine Anwesenheit des Ursprungs deliriert Derrida: „Ein anderes Zentrum wäre ein anderes Jetzt, wohingegen diese Entstellung es nicht auf eine Abwesenheit, das heißt auf keine andere Anwesenheit abgesehen hat. Vielmehr würde die Stelle nicht besetzen“ (Derrida 1999: 257). Alles Erkennbare ‚entspringt‘ somit erst einer grammatischen „Struktur der Nachträglichkeit“ (Derrida 1999b: 137), d.h. Derrida folgend: ohne grammatische Differenzierung gibt es keine erkennbaren Konturen. Mit anderen Worten: „Es gibt keine schriftlose Gesellschaft“ (Derrida 2007: 56). Für die reine Anwesenheit, die absolute Präsenz, sind wir stets schon in Verzug. Ein Ursprung bleibt somit undenkbar, denn dieser wäre „im genauen Sinn Abwesenheit jedes Sich, ein Ohne-Sich“ (Levinas 2003: 24). Wir können uns nicht außerhalb dieser textuellen Grammatik denken.

Das heißt aber nicht, dass wir lediglich Text sind, weil die Subjektivation nicht von einem Neugeborenen als Agens ausgeht:

„Das Begehren kommt zuerst von draußen, und zwar auf überwältigende Weise, und es bewahrt den Charakter des Äußeren und Fremden auch dann, wenn es zum eigenen Begehren des Subjekts wird“ (Butler 2007: 100).

Ich bewege mich folglich begehrlich, weil ich subjektiviert wurde; Begehren ist demnach eine politische Angelegenheit (vgl. hooks 1994: 136). Hier eröffnet sich Kontingenz, weil ich nunmehr keinen Ursprung als fundamentalen Anker ersehnen kann. Im Sinne Levinas kann ich einen Ursprung lediglich als Ewigkeit imaginieren. Somit verliert dieser jegliche Bestimmung als Ursprung (Vgl. Levinas 2003: 24). Man begehrt nicht subjektiviert zu werden, es ist keine angestrebte Entschlossenheit, und doch ist das Begehren untrennbar von der eigenen Subjektivierung. „Das Kind weiß nicht“, argumentiert Butler, „woran es sich bindet, aber es muß sich binden, um überhaupt und um als es selbst weiterzuleben […]. Ohne diese in Abhängigkeit ausgebildete Bindung kann kein Subjekt entstehen, aber ebensowenig kann irgendein Subjekt sich leisten, dies im Verlauf seiner Formierung vollständig zu >>sehen<<“ (Butler 2001: 13). Wir haben es also mit einer situierten, d.h. lokalen Textualität zu tun, „die uns schreibt, die wir als solche aber nicht lesen können“ (Spivak 2011: 137). Ich sollte wachsam sein durch welche Manifestationen ich begehre und welche Manifestationen ich weiterführe, obwohl/ weil ich nie absolut wach sein kann. Eben dieser Umstand verweist auf meine Verantwortung. Denn, wenn „das >Ich< nicht mit den moralischen Normen zusammenfällt, die es aushandelt, so heißt das nur, dass es über diese Normen nachdenken muss“ (Butler 2007: 15f.). Nicht darüber nachzudenken wäre verantwortungslos.

Die de-ontologische Behauptung, dass die Präsenz erst nachträglich vergegenwärtigt werden könne, darf nicht zu einer Transzendenz führen – bspw. meiner Situiertheit, als ob ich diese übergehen könnte. Dies transkribiert die oben angesprochene Schwäche in definitorische Privilegien, welche anzeigen, dass mein Begehren situiert ist. Spivak macht deutlich, dass eine De-Ontologisierung nichts an der Spezifität des begehrenden Subjekts bzw. des übrigbleibenden Subjekt-Effekts ändert, das sich an spezifische Manifestationen des Begehrens anschließt (vgl. Spivak 2011: 24). Demnach mache ich mich in der Schrift verantwortlich, weil ich gewisse Diskurse reiteriere. Ich nehme folglich Positionen ein, die ich nicht leichtgläubig und vertrauend von meiner Situiertheit trennen kann (vgl. hooks 1994: 24). Hontoundji bespricht diese Verbundenheit folgendermaßen: „Position in einem passiven Sinn, die seinen Platz in der Gesellschaft anhand seiner Teilhabe an politischen Machtstrukturen markiert, die ihm die Gelegenheit bietet oder nicht bietet, andere direkt oder indirekt herumzukommandieren. Aber diese Position ist auch durch eine aktive Konnotation bestimmt: durch die Position, die er willentlich unter Berücksichtigung der Zwänge in seiner Umwelt einnimmt“ (Hontoundji 2015: 167).

Meine Situiertheit und die Positionen auszublenden wäre der verantwortungslos-naive Versuch meiner Transzendierung. Weil dies nicht möglich ist, sondern lediglich erneut definitorische Grenzen zieht, wäre dies eine vereinnahmende und machtstrebende Universalisierung aller unterschiedlichen Orte des Begehrens. Würde ich die Aspekte der Position und der Situiertheit auslassen, dann würde sich die Beschreibung des Begehrens nur als pädagogischer Imperativ erweisen. Dies markiert, dass ich aus einem, ihn zwar verdächtigenden, westlichen Kontext kommend, schreibe und deshalb meine Positionen stets aufs Neue manifestieren muss, d.i. ein Wachsames betrachten, weil meine Betrachtung stets lückenhaft ist. bell hooks formuliert dies bspw. in Bezug auf weiße Hegemonie (hooks 1994: 28) und betont, dass dieses Darauf-Achten vor allem im ‚Verborgenen des AlleineSeins‘ nicht vergessen werden darf (vgl. a.a.O.: 33).

Diese Wachsamkeit verweist auf empirische Kontexte, die u.a. besagen, dass ich mich an einem Ort des sozialisierten Kapitals bewege (vgl. Spivak 2011: 24), durch welchen ich gelenkt werde, mein Begehren zu ökonomisieren und zu optimieren. 1

Dies besagt auch, dass ich durch eine ganz bestimmte geschlechtliche Konfiguration sozialisiert wurde, die ausdrückt, dass es eine Kohärenz zwischen Sex, Gender, sexueller Praxis und Begehren gibt (vgl. Butler 1991: 38). Das soll natürlich keine repräsentative, hierarchische und vollständige Liste kennzeichnen, aber zumindest eine Darstellung zweier Beispiele: einerseits die Ökonomisierung des Begehrens und anderseits die Logik der Geschlechterkohärenz. Würde ich jedoch nicht mit der Hinterfragung meiner Situiertheit beginnen, dann würde ich meinen Ort als spezifisches Subjekt transparent

1 So formuliert auch hooks: „Er [B. Staples] bemüht sich nicht zu verstehen, inwieweit das weiße vorherrschende kapitalistische Patriarchat sein Begehren bestimmt“ (hooks 1994: 136). machen (vgl. Spivak 2011: 75), d.h. die De-Ontologie als neuen Logos einsetzen.

Dann müsste ich mich aber verantwortlich machen, dass ich einem Ethnozentrismus zugehören will, der die/ den Andere/n an den Rand positioniert und ihnen – falls überhaupt – nur noch den Weg der Assimilierung offenlässt (vgl. a.a.O.: 71). Zudem würde die Transzendierung meiner Person bedeuten, dass ich dadurch das Andere „durch Anverwandlung und Gebrauch in den Dienst der westlichen Tradition“ (hooks 1994: 36) stellen muss. Doch dagegen begehre ich auf. Meine Verantwortung führt mich zur wachsamen Untersuchung der Demarkationslinien ‚meines‘ Begehrens.

| collin feuerstein

Literatur:

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M., 1992.

Butler, Judith: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M., 1997.

Butler, Judith: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M., 2001.

Derrida, Jacques: Die Différance, Stuttgart, 2004.

Ders.: Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in Sein und Zeit, 1991, S. 249-261.

Ders.: Die différance, 1999b, S. 110-149.

Derrida, Jacques: Gespräch, in: Engelmann, Peter (Hrsg.) (2007): Philosophien, Graz/Wien, 2007, S. 47-62

Hontoundji, Paulin, J.: Die Stimme des Herrn – Bemerkungen zum Problem der Menschenrechte in Afrika, in: Dübgen, Franziska/ Skupien, Stefan (Hg.): Afrikanische politische Philosophie – Postkoloniale Positionen.,Berlin, 2015, S. 149-167.

hooks, bell: Black Looks: Popkultur – Medien – Rassismus, Berlin, 1994.

Levinas, Emmanuel: Neue Talmud-Lesungen, Frankfurt a.M., 2001.

Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, Hamburg, 2003.

Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subaltern Artikulation, Wien, 2011.

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