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Utopisches Aufbegehren wider die Proklamation der Alternativlosigkeit

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Sensibilität

Sensibilität

Utopisches Begehren.

Utopisches Aufbegehren

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wider die Proklamation der Alternativlosigkeit

Fantasie und Kreativität sind Kompetenzen, die in unserer Gesellschaft in fast allen Teilbereichen des Lebens gefordert und wertgeschätzt werden.

Gekennzeichnet durch eine beinahe Omnipräsenz in den Medien der allgemeinen Öffentlichkeit und befeuert durch einen neuen Hype des DIY, kann man sich ihnen kaum entziehen. Ob Kochen, Lernen, Lehren, Kommunizieren, Fotografieren, Netzwerken, Entsorgen oder

Tagträumen: Alles soll kreativ sein. Jede_r soll kreativ sein. Jede_r möchte kreativ sein. Kreativ sein ist chic, trendy und begrifflich ein so begehrtes Prädikat, dass sogar der gute alte Friseur zum ‚creative hair-designer‘ wird. Geplagt durch ständig widerkehrenden Arbeitsroutinen, Nine-to-five-Jobs und die grauen Tristessen des Alltags zwischen Windeln wechseln und Spaghetti kochen, sehnen wir uns danach, auszubrechen – und genau dieses Versprechen des Ausbruchs aus dem Alltäglichen verkündet uns die Idee der kreativen Lebensweise von veganen Superfood-Rezepten bis zur fantasievollen

Wohnungsgestaltung. Nur einen gesellschaftlichen Bereich in unserem Land hat dieser Trend zur Fantasie und Kreativität bisher kaum erreicht: die Politik.

In früheren Zeiten konnte man hier noch auf das Konzept der Utopie zurückgreifen, doch diese wurde im Jahr 1990 offiziell fü r tot erklärt, begraben unter den Trümmern des zusammengebrochenen sozialistischen Systems der Sowjetunion. Das Scheitern dieses sogenannten ‚realexistierenden Sozialismus‘ wurde nicht nur als endgültiger Sieg fü r das System des Kapitalismus, sondern auch als ein finales Scheitern der utopischen Idee gewertet (Fest 1991). Der Blick in die Zukunft erfolgt heute nur noch als realistische Prognose, nicht mehr unter der Maßgabe des Wünschenswerten. Die Frage lautet: In welcher Welt werden wir leben, wenn wir so weitermachen wie bisher? Nicht mehr: In was fü r einer Welt wollen wir leben? Doch damit beleuchten wir nur eine Seite der gesellschaftlichen Entwicklung: die realen Bedingungen. In dieser reinen Konzentration auf das aktuell, als statisch missverstandene Reale vergeben wir uns jedoch die Möglichkeit zur aktiven gesellschaftlichen Gestaltung. Wir manövrieren uns in eine illusorische Stagnation, die von sich selbst annimmt und behauptet, sie sei alternativlos. Das aber ist letztlich nur wahr, weil man bewusst auf Fantasie und Kreativität, auf Utopien, die andere Möglichkeiten aufzeigen könnten, verzichtet.

Das gesellschaftliche Begehren nach „dem Anderen“ wird unterdrückt und totgeschwiegen, als irrational und unrealistisch erklärt. Doch sehr erfolgreich ist man dabei nicht.

Tatsächlich nämlich lässt sich in unserer Gesellschaft eine Unzufriedenheit ausmachen, die man auch als Drang nach dem Utopischen, als Sehnsucht nach einer Alternative begreifen kann. Egal ob Umweltaktivist_in, Pegida-Anhänger_in, Pegida-Gegner_in, AfD-Wähler_ in oder Flüchtlingshelfer_in, so unterschiedlich diese Gruppen sein mögen und so gravierend verschieden die von ihnen verfolgten Ziele: Sie alle zeigen sich mit erheblicher Vehemenz unzufrieden mit dem status quo. Was immer sie wollen, es ist nicht das, was ist. Die Proklamation der Alternativlosigkeit zieht nicht mehr, da die Menschen zu deutlich ahnen: Es muss auch anders gehen. Wir haben den optimalen Endzustand, das non plus ultra noch nicht erreicht. Daher ist nicht die Suche nach Alternativen illusorisch, sondern die Alternativlosigkeit selbst. Ersteres bedeutet ein weitsinniges Aufblicken von der Realität, letzteres aber ein Augenverschließen vor ihr.

Indem die Politik auf Utopien verzichtet, begibt sie sich selbst in einen Zustand, der dem des oft kritisierten Endzustands der klassischen Utopien auffällig ähnelt. Eine eingesetzte Ordnung, die nicht mehr verändert werden soll. Verwaltung statt Gestaltung. Fortschritt, der um seiner selbst willen fortschreitet und kein Ziel kennt. Es ist an der Zeit wieder die Frage nach der guten Gesellschaft zu stellen.

Es ist an der Zeit, dass die Utopie in die Politik zurückkehrt. Nicht als Entwurf eines geschlossenes Systems, sondern pluralistisch, prozesshaft, offen als kritisches Korrektiv (Saage 1991; Saage 2006), als Angebot von Alternativen. Sie kann uns als Lotse und Kompass dienen, um den Weg zu einer besseren Gesellschaft zu finden. Um unserem Fortschritt eine Richtung zu geben.

Der Mangel an Fantasie und Kreativität in der Politik fü hrt nicht nur zu einer Politikverdrossenheit in der Bevölkerung, sondern auch zu einer gefährlichen Unbeweglichkeit im politischen Denken und Handeln, welche neue gesellschaftliche Herausforderungen und die aktuell sehr präsenten unterschiedlichen Begehren in der Gesellschaft nach Veränderung, nach einer Alternative zu dem, was ist und was schon lange nur noch eine Fortsetzung eines einmal eingesetzten status quo darstellt, nur schlecht bewältigen und auffangen kann. Dadurch werden Ressentimentbildungen bestärkt, die aktuell vor allem von nationalistischen Gruppierungen sehr effektiv ausgenutzt werden. Eine vielfältige, offene und vor allem dynamische Gesellschaft, die sich auf neue Herausforderungen einstellen kann, ist hingegen nur da möglich, wo der status quo immer wieder in Frage gestellt, diskutiert, durch die Präsentation von Alternativen verunsichert wird. Das aber ließe uns in der Forderung gipfeln: Wer Visionen hat, soll in die Politik gehen – und aufbegehren gegen die Proklamation der Alternativlosigkeit.

| Ina-Maria Maahs

Literatur:

Fest, Joachim: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin, 1991. Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt, 1991. Saage, Richard: Politische Profile. Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts, Berlin, 2006.

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