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Vom Staat der Kontrolle zu einer Praxis destituierender Macht
Vom Staat der Kontrolle zu einer Praxis destituierender Macht [potenza destituente]
von Giorgio Agamben
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übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Angesichts der totalen Kontrolle des Staates und der rasch fortschreitenden Zerstörung der politischen Gesellschaft kann nur eine Theorie und Praxis destituierender Macht die Demokratie zurückfordern. 1
Heute hier in Athen über das Schicksal der Demokratie zu reflektieren, ist in gewisser Hinsicht verstörend, denn eine solche Reflexion hält uns dazu an, das Ende der Demokratie an genau jenem Ort zu denken, an dem sie überhaupt erst entstand. In der Tat möchte ich die Hypothese vorschlagen, dass das derzeit vorherrschende Regierungsparadigma in Europa nicht nur undemokratisch ist, sondern dass es auch nicht als politisch angesehen werden kann. Demzufolge werde ich zu zeigen versuchen, dass die europäische Gesellschaft heutzutage nicht länger eine politische Gesellschaft ist; es handelt sich um etwas gänzlich neues, wofür uns eine entsprechende Terminologie fehlt –deshalb müssen wir uns eine neue Vorgehensweise ausdenken.
Lassen Sie mich mit einem Begriffbeginnen, der seit September 2001 jede alternative politische Begrifflichkeit ersetzt zu haben scheint: Sicherheit. Wie Sie wissen, funktioniert die Formel “aus Sicherheitsgründen” heutzutage in jedem Bereich –vom Alltagsleben bis
1 Bei dem Text handelt es sich um ein aus dem Englischen übersetztes Transkript einer öffentlichen Vorlesung des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, die dieser am 16. November 2013 in Athen hielt. Das Transkript ist zuvor von Chronos (http://www.chronosmag.eu/index.php/g-agamben-for-a-theory-of-destituentpower.html) und ROAR Magazine (https://roarmag.org/essays/agamben-destituentpower-democracy/) unter einer Creative Commons-Lizenz veröffentlicht worden. hin zu internationalen Konflikten –als ein Codewort, um Maßnahmen aufzuerlegen, für deren Akzeptanz die Menschen keinen Grund haben. Ich werde zu zeigen versuchen, dass das tatsächliche Ziel dieser Sicherheitsmaßnahmen nicht, wie derzeit angenommen wird, die Verhinderung von Gefahren, Schwierigkeiten oder sogar Katastrophen ist. Zu diesem Zwecke werde ich zunächst eine kurze genealogische Analyse des Sicherheitsbegriffs vornehmen müssen.
Ein permanenter Ausnahmezustand
Ein möglicher Weg, eine solche Genealogie zu skizzieren, wäre, ihren Ursprung und ihre Geschichte in das Paradigma des Ausnahmezustands einzuschreiben. In dieser Hinsicht könnten wir die Sicherheit bis zum römischen Prinzip Salus publica suprema lex –öffentliche Sicherheit ist das höchste Gesetz –zurückverfolgen und sie mit der römischen Diktatur verbinden, mit dem kanonischen Prinzip, dass Notwendigkeit keinerlei Gesetz anerkennt, mit den comités de salut publique während der französischen Revolution –und schließlich mit dem Artikel 48 der Weimarer Republik, der das juridische Fundament der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte. Solch eine Genealogie ist sicherlich zutreffend, allerdings glaube ich nicht, dass sie tatsächlich die Funktionsweisen der Sicherheitsapparate und Maßnahmen erklären könnte, die uns vertraut sind.
War der Ausnahmezustand ursprünglich als vorübergehende Maßnahme konzipiert, die eine unmittelbare Gefahr bewältigen sollte, um den Normalzustand wieder herzustellen, begründen die Sicherheitsgründe derzeit eine beständige Technologie derRegierung. Als ich2003 ein Buch 2 veröffentlicht habe, in dem ich insbesondere zu zeigen versuchte, wie der Ausnahmezustand in westlichen Demokratien zu einem normalen Regierungssystem wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich meine Diagnose als derart treffend herausstellen würde. Der einzige eindeutige Präzedenzfall war die nationalsozialistische Herrschaft. Als Hitler die Macht im Februar 1933 übernahm, hat erunverzüglich ein Dekret erlassen, das sämtliche Artikel der Weimarer Verfassung, die persönliche Freiheiten betrafen, außer Kraft setzte. Dieses Dekret wurde nie widerrufen, sodass das gesamte dritte Reich als ein Ausnahmezustand aufgefasst werden kann, der über zwölfJahre Bestand hatte.
2 Agamben bezieht sich hier aufsein 2003 aufItalienisch erschienenes “Lo stato di eccezione”, das ein Jahr später in der deutschen Übersetzung als zweiter Band seiner Homo-Sacer-Serie im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde (Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004). Die These von der Regelhaftigkeit eines normalisierten Ausnahmezustands, die darin als Paradigma modernen Regierens charakterisiert wird, zog international intensive theoretische Kontroversen nach sich. Vgl. hierzu exemplarisch: Matthew Calarco and Steven DeCaroli (Hrsg.), Giorgio Agamben. Sovereignty & Life, Stanford 2007; John Lechte and Saul Newman, Agamben and the Politics of Human Rights: Statelessness, Images, Violence, Edinburgh 2013; Jessica Whyte, Catastrophe and Redemption. The Political Thought of Giorgio Agamben, New York 2013. Im Januar 2004 weigerte Agamben sich, eine Vorlesung in den USA zu geben –aus Protest gegen die Beantragung eines US-VISIT Visums, in dessen Rahmen er der US Regierung biometrische Informationen zur Verfügung hätte stellen müssen. Sein diesbezüglicher Artikel “No to Bio-Political Tattooing” (“Non au tatouage biopolitique”, erschienen am 10.01.2004 in Le Monde Diplomatique) kann hier abgerufen werden: https://ratical.org/ratville/CAH/totalControl.html. Was heute geschieht, ist jedoch noch anders. Ein formaler Ausnahmezustand wird nicht erklärt; stattdessen erkennen wir, dass vage nicht-juridische Begriffe –wie beispielsweise die Sicherheitsgründe –benutzt werden, um einen beständigen, gruseligen und fiktiven Notstand einzurichten, ohne dass eine eindeutig identifizierbare Gefahr bestünde. Ein Beispiel solch nicht-juridischer Begriffe, die als notstandsinduzierende Faktoren benutzt werden, ist der Begriff der Krise. Neben seiner juridischen Bedeutung als Urteil in einem Gerichtsverfahren, konvergieren in der Geschichte dieses Begriffs zwei semantische Traditionslinien, die, wie für Sie ersichtlich ist, vom griechischen Verb crino stammen: eine medizinische und eine theologische.
In der medizinischen Tradition bezeichnet crisis den Moment, in dem derArzturteilen, entscheiden muss, ob der Patient sterben oder überleben wird. Der Tag oder die Tage, in denen die Entscheidung gefällt wird, werden crismoi genannt –die entscheidenden Tage. In der Theologie bezeichnet crisis das Jüngste Gericht, das von Christi am Ende aller Tage verkündet wird.
Wie Sie sehen, ist die Verbindung zu einem spezifischen Augenblick innerhalb einer Zeitspanne essenziell fürbeide Traditionen. Die gegenwärtige Verwendungdes Begriffs hebt diese Verbindung hingegen auf. Die Krise, das Urteil, wird von ihrem temporären Index getrennt; sie stimmt nun mit dem chronologischen Zeitlaufüberein, sodass die Krise mit der Normalität koinzidiert –
nicht nur in der Wirtschaft und der Politik, sondern in jedem Aspekt des Soziallebens –und nun aufdiese Art und Weise zu einem Werkzeug der Regierung wird. Somit verschwindet die Fähigkeit zu entscheiden ein für alle mal und der kontinuierliche Prozess der Entscheidungsfindung entscheidet gar nichts. Um es paradoxer zu formulieren, könnten wir sagen, dass die Regierung angesichts dieses beständigen Ausnahmezustands dazu tendiert, die Form eines fortwährenden Staatsstreichs [coup d’état] anzunehmen. Im Übrigen wäre dieses Paradox eine exakte Beschreibung dessen, was hier in Griechenland und auch in Italien passiert –wo zu regieren heißt, eine fortdauernde Reihe von kleinen Staatsstreichen [coups d’état] auszuführen.
Die Effekte regieren
Ich denke somit, dass das Paradigma des Ausnahmezustands nicht gänzlich angemessen ist, um die eigentümliche Regierbarkeit [governmentality] zu verstehen, unter der wir heute leben. Ich werde deshalb Michel Foucaults Vorschlag folgen und den Ursprung des Begriffs der Sicherheit von François Quesnayund den Physiokraten zu Anbeginn der modernen Ökonomie 3 untersuchen, deren Einfluss aufdie moderne Regierbarkeit [governmentality] nicht zu unterschätzen ist. Mit dem Westfälischen Vertrag 4 haben die großen, absolutistischen, europäischen Staaten angefangen, die Idee, der Souverän müsse Sorge für die Sicherheit seiner Subjekte tragen, in ihren politischen Diskurs zu integrieren. Quesnay war jedoch der erste, der die Sicherheit [sureté] als zentralen Begriffder Staatstheorie etabliert hat –und das aufeine sehr spezifische Art und Weise.
Eine der Hauptschwierigkeiten, die Regierungen zu dieser Zeit zu bewältigen hatten, war das Problem der Hungersnöte. Vor Quesnay bestand die übliche Methodik in dem Versuch, Hungersnöte mittels der Errichtung öffentlicher Getreidespeicher und dem Verhängen eines Getreideexportverbots zu bewältigen. Beide dieser Maßnahmen hatten negative Auswirkungen aufdie Produktion. Quesnays Idee war, diesen Vorgang umzukehren: Anstatt des Versuchs, Hungersnöte zu verhindern, entschloss er sich, diese zuzulassen, um durch die Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels in der Lage
3 Vgl. hierzu insbesondere Foucaults Bezugnahmen auf die Physiokraten und Quesnay in der zweiten, dritten und der 13. Vorlesung in: Michel Foucault, Gesellschaft, Territorium, Sicherheit. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2006, S. 52-86, S. 87-133 bzw. S. 479- 519.
4 Gemeint sind hier die Vertragsabschlüsse im Zusammenhang der Verhandlungen um den Westfälischen Frieden (1648). zu sein, sie zu beherrschen, sobald sie auftraten. “Zu regieren” behält hier seine etymologisch-kybernetische Bedeutung: ein guter kybernetes, ein guter Steuermann, kann Stürme nicht verhindern –aber falls ein Sturm aufzieht, muss er in der Lage sein, sein Schiffzu steuern, indem er die Kräfte der Wellen und des Windes zur Navigation nutzt. Das ist die Bedeutung des berühmten Mottos laisser faire, laisser passer: Es handelt sich hierbei nicht nur um das Stichwort des ökonomischen Liberalismus, sondern auch um ein Paradigma des Regierens, das die Sicherheit (in den Worten von Quesnay: sureté) nicht als Prävention von Schwierigkeiten versteht, sondern als Fähigkeit, sie zu regieren und zum Zeitpunkt ihres Auftretens in die richtige Richtung zu lenken.
Wir sollten die philosophischen Implikationen dieser Umkehrung nicht vernachlässigen. Sie markiert eine epochale Veränderung der Idee des Regierens, die die traditionelle, hierarchische Relation zwischen Ursachen und Wirkungen aufhebt. Da das Regieren von Ursachen schwierig und kostspielig ist, ist der Versuch, die Effekte zu beherrschen, sicherer und nutzbringender. Ich würde vorschlagen, dass dieses Theorem von Quesnay das Axiom moderner Regierbarkeit darstellt. Das Ancien Régime war bestrebt, die Ursachen zu beherrschen; während die Moderne vorgibt, die Effekte zu kontrollieren. Und dieses Axiom trifft aufjeden Bereich zu, von derÖkonomie zur Ökologie, von ausländischen und militärischen Politiken zu den internen Maßnahmen der Polizei. Wir müssen realisieren, dass europäische Regierungen heute jeglichen Versuch, die Ursachen zu steuern, aufgegeben haben; dass sie nur die Effekte kontrollieren wollen. Des Weiteren macht Quesnays Theorem eine Tatsache nachvollziehbar, die andernfalls unerklärlich wäre: Ich meine die derzeitige, paradoxe Konvergenz zwischen einem absolut liberalen Paradigma in der Ökonomie und einem beispiellosen, ebenso absoluten Paradigma von Staatsund Polizeikontrolle.
Wenn die Regierungaufdie Effekte und nicht aufdie Ursachen zielt, wird sie verpflichtet sein, die Kontrolle zu erweitern und zu multiplizieren. Ursachen erfordern, dass sie bekannt sind, wobei Effekte nur geprüft und kontrolliert werden können. Ein wichtiger Bereich, in dem dieses Axiom operiert ist, sind biometrische Sicherheitsapparate, die zunehmend jeden Aspekt sozialen Lebens durchdringen. Als biometrische Technologien zuerst im 18. Jahrhundert mit Alphonse Bertillon in Frankreich und in England mit Francis Galton, dem Erfinder des Fingerabdrucks, aufkommen, waren sie offensichtlich noch nicht dazu da, Verbrechen zu verhindern, sondern nur dazu, Wiederholungstäter zu erkennen. Nur, wenn ein zweites Verbrechen aufgetreten ist, kann
man die biometrischen Daten nutzen, um den Angreifer zu identifizieren. Biometrische Technologien, die für Wiederholungstäter erfunden wurden, blieben lange deren exklusives Privileg. 1943 hatte der Kongress der Vereinigten Staaten noch immer den Citizen Identification Act abgelehnt, der vorsah, jedem/r Bürger*in einen Ausweis mit Fingerabdrücken auszustellen. Aber einem gewissen Verhängnis oder ungeschriebenem Gesetz der Moderne zufolge würden die Technologien, die für Tiere, für Kriminelle, Fremde oder Juden erfunden wurden, letztendlich aufalle Menschen ausgeweitet werden. Biometrische Technologien sind also im Laufe des 20. Jahrhunderts aufalle Bürger angewendet worden –Bertillons Identifizierungsfotos undGaltons Fingerabdrücke sind derzeit überall für Ausweise im Gebrauch.
Die Entpolitisierung der Bürgerschaft
Aber der äußerste Schritt vollzieht sich erst in unseren Tagen und befindet sich noch im Prozess seinervollständigen Realisierung. Es entwickeln sich neue, digitale Technologien –wie beispielsweise optische Scanner, für die es ein Leichtes ist, nicht nur Fingerabdrücke, sondern auch die Netzhaut des Auges oder die Struktur der Irisaufzuzeichnen–diedazutendieren, überPolizeistationen und Einwanderungsbehörden hinausgehend in unseren Alltag einzuwandern. In vielen Ländern wird der Zugang zu den Restaurants der Studierenden oder sogar zu Schulen von biometrischen Apparaten kontrolliert, aufdie der Studierende nur ihre/ seine Hand legt. Die europäischen Industrien, die in diesem Bereich arbeiten und schnell wachsen, empfehlen, dass Bürger*innen sich schon während der frühesten Jugend an diese Form der Kontrolle gewöhnen. Dieses Phänomen ist wirklich verstörend, zumal sich unter den permanenten Mitgliedern der europäischen Ausschüsse für die Entwicklung der Sicherheit (wie das ESRP, European Security Research Program) die Vertreter der großen Industrien in diesem Feldbefinden, bei denen es sichausgerechnetum die alten Rüstungshersteller–wie Thales, Finmeccanica, EADS und BAE System –handelt, die zum Geschäft mit der Sicherheit übergegangen sind.
Es ist einfach, sich die Gefahren vorzustellen, die von einer Macht ausgehen, der unbegrenzte biometrische und genetische Informationen all ihrer Bürger*Innen zur Verfügung stehen könnten. Unter Rückgriff auf eine solche Verfügungsmacht wäre die Vernichtung der Juden, die auf der Basis unvergleichlich weniger effizienter Dokumentation erfolgte, absolut gewesen und unvorstellbar schnell erfolgt. Aber ich werde nicht bei diesem wichtigen Aspekt des Sicherheitsproblems verweilen. Die Überlegungen, die ich gerne mit Ihnen teilen würde, betreffen vielmehr die Transformation von politischer Identität und politischen Verhältnissen, die mit Sicherheitstechnologien zusammenhängen. Diese Transformation ist so radikal, dass wir nicht nur legitimerweise fragen können, ob die Gesellschaft, in der wir leben, noch eine demokratische ist, sondern auch, ob diese Gesellschaft überhaupt noch als politisch aufgefasst werden kann.
Christian Meier hat gezeigt, wie im fünften Jahrhundert eine Transformation der Konzeptualisierungdes Politischen in Athen stattfand, die aufdem basierte, was er als “Politisierung” der Bürgerschaft bezeichnet. War die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer polis bis zu diesem Zeitpunkt von einer Vielzahl von Bedingungen und von sozialen Statussen unterschiedlichster Art –zum Beispiel von der Zugehörigkeit zum Adelsstand oder zu einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft; Landarbeit oder Kaufmann, Mitglied einer gewissen Familie zu sein etc. –bestimmt, wurde Bürgerschaft von nun an zu einem Hauptkriterium sozialer Identität: “So entstand eine spezifisch griechische, die politische Identität jener Bürgerschaften. Die Erwartungen an die Bürger, sich ‘bürgerlich’ [... ] zu betätigen, institutionalisierten sich.” 5 Die Zugehörigkeit zu einer ökonomischen oder religiösen Gemeinschaft wurde aufeine sekundäre Stufe verlagert: “Indem die Bürger der breiten Schichten in den Demokratien sich dem politischen Leben hingaben, verstanden sie sich primär als Teilhaber an der Polis [... ]. In diesem Sinne bestimmten sich auch künftigPolis und Politiken wechselseitig” 6 –so wie auch die Stadt und die Bürgerschaft. Die Bürgerschaft wurde aufdiese Art und Weise zu einer Lebensform, aufderen Basis sich die polis in einem Bereich, der klar vom oikos –dem Haus –getrennt war, konstituierte. Die Politik wurde so zu einem freien, öffentlichen Raum, der als solcher dem Ort des Privaten –dem ‘Reich der Notwendigkeit’ –entgegengesetzt wurde. Meier zufolge wurde dieser spezifisch griechische Prozess der Politisierung auf die westliche Politik übertragen, wobei Bürgerschaft das entscheidende Element blieb. 7
Die Hypothese, die ich Ihnen vorschlagen möchte, ist, dass dieser fundamentale politische Faktor Einzug
5 Agamben bezieht sich hier aufdie folgende Passage: Christian Meier, “Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr.”, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978, S. 193–227, hier S. 204.
6 Ebd.
7 Vgl. ebd.
in einen unumkehrbaren Prozess gehalten hat, den wir nur als einen Prozess zunehmender Entpolitisierung beschreiben können. Was zuBeginn eine ArtundWeise zu leben, eine essentielle und irreduzibel aktive Bedingung war, ist nun zu einem rein passiven juridischen Status geworden, in dem Tätigkeit und Untätigkeit, das Private und das Öffentliche, zunehmend verschwimmen und ununterscheidbar werden. Dieser Prozess der Entpolitisierung der Bürgerschaft ist so eindeutig, dass ich darauf nicht näher eingehen werde.
Der Aufstieg des Kontrollstaates
Ich werde vielmehr zu zeigen versuchen, wie das Sicherheitsparadigma und die Sicherheitsapparate eine entscheidende Rolle in diesem Prozess gespielt haben. Die wachsende Ausweitung von kriminalistischen Technologien auf Bürger*innen hat unweigerlich Konsequenzen für deren politische Identität. Zum ersten Mal in derGeschichte derMenschheit ist Identität nicht länger eine Funktion der sozialen Persönlichkeit und ihrer Anerkennung durch andere, sondern eine Funktion biologischer Daten, die keinerlei Bezug zu ihr haben –wie die Arabesken der Fingerabdrücke oder die Disposition der Gene in der Doppelhelix der DNA. Die neutralste und privateste Sache wird zum entscheidenden Faktor sozialer Identität, die deshalb ihren öffentlichen Charakter verliert.
Wenn meine Identität heute von biologischen Fakten bestimmt ist, die in keinster Weise von meinem Willen abhängen und über die ich keine Kontrolle besitze, dann wird die Konstruktion von soetwas wie einer politischen und ethischen Identität problematisch. Welche Beziehung kann ich zu meinen Fingerabdrücken oder meinem genetischen Code aufbauen? Die neue Identität ist sozusagen eine Identität ohne Person, wobei der Ort der Politik und Ethik seinen Sinn verliert und von Grund auf neu gedacht werden muss. War der klassische griechische Bürger durch die Abgrenzungzwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem oikos –dem Ort reproduzierenden Lebens –und der polis –dem Ort politischen Handelns –definiert, scheint sich der/ die moderne Bürger*in vielmehr in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu bewegen –oder, um Hobbes’ Begriffe zu zitieren, zwischen dem physischen und dem politischen Körper. Die räumliche Materialisierung dieser Zone der Ununterscheidbarkeit zeigt sich in der Videoüberwachung der Straßen und der städtischen Plätze. Hier wurde erneut ein Apparat, der für Gefängnisse entwickelt worden war, auföffentliche Plätze ausgeweitet. Es ist jedoch ersichtlich, dass ein videoüberwachter Platz keine agora mehrist, sondern zu einem Hybrid des Öffentlichen und des Privaten wird; zu einer Zone der Indifferenz zwischen dem Gefängnis und dem Forum. Die Transformation des politischen Raumes ist sicherlich ein komplexes Phänomen, das eine Vielzahl von Gründen einbezieht, und unter diesen nimmt die Geburt der Biopolitik einen besonderen Platz ein. Der Primat biologischer vor der politischen Identität ist sicherlich mit der Politisierung nackten Lebens in modernen Staaten verbunden. Man sollte jedoch niemals vergessen, dass die Reduktion von sozialer aufdie körperliche Identität mit einem Versuch, Wiederholungstäter zu identifizieren, begonnen hat. Wir sollten heute nicht darüber erstaunt sein, wenn das normale Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen von Argwohn, police filing und Kontrolle geprägt ist. Das unausgesprochene Prinzip, das unsere Gesellschaft beherrscht, kann folgendermaßen formuliert werden: Jeder Bürger und jede Bürgerin ist ein*e potenzielle*r Terrorist*in. Aber was für ein Staat ist das, der von einem solchen Prinzip regiert wird? Können wir ihn immer noch als demokratischen Staat definieren? Können wir ihn überhaupt noch als etwas Politisches begreifen? In was für einem Staat leben wir heute?
Sie wissen vielleicht, dass Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen 8 eine typologische Klassifizierung moderner Staaten skizziert hat. Er zeigt, wie der Staat des Ancien Régime, den er den territorialen oder souveränen Staat nennt –und dessen Motto faire mourir et laisser vivre war –sich sukzessive zu einem Staat der Bevölkerung und einem Disziplinarstaat entwickelt. Dessen Motto kehrt sich nun um zu faire vivre et laisser mourir, weil der Staat sich um das Leben der Bürger*innen kümmern wird, um gesunde, wohlgeordnete und kontrollierbare Körper zu produzieren.
DerStaat, indemwirheuteleben, istkeinDisziplinarstaatmehr. Gilles Deleuze hatvorgeschlagen, ihn État de contrôle oder Kontrollstaat zu nennen, 9 denn sein Anliegen besteht nicht in der Anordnung und Auferlegung
8 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994.
9 Vgl. Gilles Deleuze, “Postskriptum über die Kontrollgesellschaften”, in: Ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254-262.
von Disziplin, sondern vielmehr darin, zu managen und zu kontrollieren. Deleuzes Definition ist richtig, denn Management und Kontrolle müssen nicht zwangsläufig mit Ordnung und Disziplin übereinstimmen. Niemand hat es so klar ausgedrückt wie der italienische Polizeibeamte, der nach den Genua-Aufständen von 2001 erklärte, dass die Regierung nicht wollte, dass die Polizei die Ordnung aufrecht erhält, sondern vielmehr, dass sie Unordnung managte. 10
Von Politik zu ‘policing’
Amerikanische Politikwissenschaftler*innen, die versucht haben, die konstitutionelle Transformation, die mit dem Patriot Act und anderen auf den September 2001 folgenden Gesetzen einherging, zu analysieren, bevorzugen es, von einem Sicherheitsstaat zu sprechen. Aber was heißt hier Sicherheit? Die Verbindung zwischen dem Begriffder Sicherheit –sureté, wie sie zu sagen pflegten –und der Definition der police etablierte sich während der französischen Revolution. Die Gesetze vom 16. März 1791 und vom 11. August 1792 haben in die französische Gesetzgebung den Begriffder police de sureté (Sicherheitspolizei) eingeführt, derdazuverdammt war, in der Moderne eine lange Tradition zu haben. Wenn man die Debatten liest, die der Abstimmungüber diese Gesetze vorausgingen, werden Sie sehen, dass sich Polizei und Sicherheit zwar wechselseitig bestimmen, aber keiner der Sprecher (Brissot, Heraut de Séchelle, Gensonné) in der Lage ist, Polizei oder Sicherheit unabhängigvoneinanderzudefinieren. Die Debatten bezogen sich aufdie Situation derPolizei in HinblickaufGerechtigkeit und rechtliche Macht.
Gensonné konstatiert, dass letztere zwei getrennte und unterschiedliche Mächte darstellen, doch obgleich die Funktion der rechtlichen Macht eindeutig ist, ist es unmöglich, die Rolle der Polizei zu bestimmen. Eine Analyse derDebatte zeigt, dass derOrtunddie Funktion derPolizei unbestimmbarist und unbestimmbarbleiben
10 Im Zuge des 27. G8-Gipfels in Genua vom 18. bis 22. Juli 2001 kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen globalisierungskritischen Demonstrant*innen und der Polizei. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der massiven Sicherheitsvorkehrungen (u.a. wurde das Schengen-Abkommen kurzzeitig ausgesetzt, 20.000 Polizist*innen waren im Einsatz) gerieten die Proteste am zweiten Tag des Gipfels außer Kontrolle. In Folge der Ausschreitungen, die durch ein hartes Eingreifen der Polizei begleitet wurden, waren aufSeiten der Protestierenden ein Todesopfer und über hunderte Verletzte zu beklagen. Der Guardian schrieb: “This isn’t fascism with jack-booted dictators with foam on their lips. It’s the pragmatism ofnicely turnedout politicians. But the result looks very similar. Genoa tells us that when the state feels threatened, the rule oflaw can be suspended. Anywhere.” (Nick Davies, “The bloody battle ofGenoa”, https://www.theguardian.com/world/2008/jul/17/italy.g8, zuletzt abgerufen am 10.11.2016.) muss, denn wenn sie wirklich in rechtlicher Macht absorbiert wäre, könnte die Polizei nicht mehr existieren. Das ist die willkürliche Macht, die heute noch die Aktionen des Polizeibeamten/ der Polizeibeamtin definiert, der/ die, in einer für die öffentliche Sicherheit konkreten Gefahrensituation sozusagen als Souverän handelt. Aber selbst wenn der Polizeibeamte/ die Polizeibeamtin diese willkürliche Macht ausübt, entscheidet der Polizeibeamte/ die Polizeibeamtin nicht tatsächlich und er/ sie bereitet auch nicht, wie das üblicherweise behauptet wird, das Urteil des Richters/ der Richterin vor. Jedes Urteil betrifft die Gründe, während die Polizei aufEffekte reagiert, die per definitionem unentscheidbar sind. Der Name dieses unentscheidbaren Elements ist heute nicht mehr raisond’État, oder Staatsraison, wie noch im 17 Jahrhundert, sondern vielmehr “Sicherheitsgründe”. Der Sicherheitsstaat ist ein Polizeistaat, aber –nochmal –in der juridischen Theorie ist die Polizei eine Art schwarzes Loch.
Alles, was wir sagen können ist: Als im 18. Jahrhundert die sogenannte “Polizeiwissenschaft” entsteht, wird der Begriff“Polizei” aufseinen ursprünglichen, aus dem Kontextdergriechischen politeia stammenden, Wortsinn zurückgeführt und als solcher der “Politik” gegenübergestellt. Allerdings ist es überraschend, zu sehen, dass die “Polizei” nun mit der tatsächlich politischen Funktion koinzidiert, während der Begriff“Politik” der Außenpolitik vorbehalten ist. Deshalb nennt von Justi die Beziehung zwischen einem Staat und anderen Staaten in seiner Abhandlung Policey-Wissenschaft “Politik”, wohingegen erdie Beziehungeines Staates zu sich selbst als “Polizei” bezeichnet. Es ist lohnend, überdie Definition, die Polizei sei die Beziehung eines Staates zu sich selbst, nachzudenken. 11
Ich würde gerne die Hypothese vorschlagen, dass der moderne Staat den Bereich der Politik im Namen der Sicherheit verlassen hat, um in ein Niemandsland einzutreten, dessen Geographie und Grenzen immer noch unbekannt sind. Der Sicherheitsstaat, dessen Name sich auf die Absenz von Sorgen (securus von sine cura) zu beziehen scheint, sollte uns vielmehr Sorgen bereiten –über die Gefahren, die er für die Demokratie mit sich bringt; denn politisches Leben in ihm ist unmöglich geworden, wobei Demokratie doch gerade die Möglichkeit politischen Lebens bezeichnet.
11 Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft, Göttingen 1782.
Gewalt.
Eine Lebensform wiederentdecken
Aberichmöchte zumSchluss kommen–oderbesser, einfach meine Vorlesung anhalten (in der Philosophie ist, wie in derKunst, kein Abschluss möglich, man kann seine Arbeit nur abbrechen) –mit etwas, das, soweit ich es im Moment überblicke, vielleicht das dringlichste politische Problem ist. Wenn der Staat, mit dem wir es zu tun haben, der von mir beschriebene Sicherheitsstaat ist, dann müssen wir die traditionellen, politischen Konfliktstrategien überdenken. Was sollen wir tun, welcher Strategie sollen wir folgen?
Das Sicherheitsparadigma impliziert, dass jede Form des Widerspruchs, jeder mehr oder weniger gewalttätige Versuch, die Ordnung zu stürzen, zu einer Möglichkeit wird, ebensolche Handlungen in eine profitable Richtung zu lenken. Evident wird dies hinsichtlich der Dialektik, die Terrorismus und Staat in einen endlosen Teufelskreis verstrickt. Angefangen mit der Französischen Revolution, hat sich die politische Tradition der Moderne radikale Veränderungen in Form eines revolutionären Prozesses vorgestellt, derals pouvoir constituant, als konstituierende Macht einer neuen institutionellen Ordnung agiert.
Ich denke, dass wir dieses Paradigma aufgeben müssen und versuchen sollten, eine Art puissance destituante –eine reine destituierende Macht –zu denken, die nicht von der Sicherheitsspirale eingenommen werden kann. Eine destituierende Macht dieser Art hat auch Benjamin in seinem Essay “Zur Kritik der Gewalt” im Sinn, wenn er versucht, eine reine Gewalt zu definieren, die die falsche Dialektik von rechtsetzender Gewalt und rechtserhaltender Gewalt durchbrechen kann –ein Beispiel dafür ist Sorels proletarischer Generalstreik. Am Ende seines Essays schreibt Benjamin: “Aufder Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen, aufder Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.” 12
Während eine konstituierende Macht das Gesetz zerstört, nurum es in einerneuen Form wiederherzustellen, kann die destituierende Macht –insoweit sie das Gesetz ein für allemal absetzt –eine wirklich neue historische Epoche eröffnen. Eine solche rein destituierende Macht zu denken, ist keine einfache Aufgabe. Benjamin schrieb einst, dass nichts so anarchisch sei wie die bürgerliche Ordnung. In gleichem Sinne lässt Pasolini in seinem letzten Film einen der vier Herren von Salò zu seinen Sklaven sagen: “Wahre Anarchie ist die Anarchie der Macht.” 13
Gerade deshalb, weil sich Macht durch den Einschluss und die Übernahme der Anarchie und Anomie konstituiert, ist es so schwierig, einen unmittelbaren Zugriffaufdiese Dimensionen zu bekommen; ist es so mühevoll, heute etwas als wahre Anarchie oder wahre Anomie zu denken. Ich denke, dass eine Praxis, der es gelänge, die Anarchie und Anomie, die von den regierungseigenen Sicherheitstechnologien eingenommen wurden, aufzudecken, als rein destituierende Macht agierenkönnte. Eine wirklichneue politische Dimension wird nur dann möglich sein, wenn wir die herrschende Anarchie und Anomie der Macht begreifen und absetzen. Aber dies ist nicht nur eine theoretische Aufgabe: In erster Linie beabsichtigt sie die Wiederentdeckung einer Lebensform; den Zugang zu einer neuen Gestalt desjenigen politischen Lebens, dessen Gedächtnis der Sicherheitsstaat um jeden Preis zu annullieren sucht.
12 Agamben bezieht sich hier auf: Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Ders., Gesammelte Schriften, II.1, herausgegeben von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1999, S. 179-204, hier S. 202.
13 Vgl. Pier Paolo Pasolini, Die 120 Tage von Sodom (1975).