#4 Gewalt

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Vom Staat der Kontrolle zu einer Praxis destituierender Macht [potenza destituente] von Giorgio Agamben

übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff

A

ngesichts der totalen Kontrolle des Staates und der rasch fortschreitenden Zerstörung der politischen Gesellschaft kann nur eine Theorie und Praxis destituierender Macht die Demokratie zurückfordern.1 Heute hier in Athen über das Schicksal der Demokratie zu reflektieren, ist in gewisser Hinsicht verstörend, denn eine solche Reflexion hält uns dazu an, das Ende der Demokratie an genau jenem Ort zu denken, an dem sie überhaupt erst entstand. In der Tat möchte ich die Hypothese vorschlagen, dass das derzeit vorherrschende Regierungsparadigma in Europa nicht nur undemokratisch ist, sondern dass es auch nicht als politisch angesehen werden kann. Demzufolge werde ich zu zeigen versuchen, dass die europäische Gesellschaft heutzutage nicht länger eine politische Gesellschaft ist; es handelt sich um etwas gänzlich neues, wofür uns eine entsprechende Terminologie fehlt – deshalb müssen wir uns eine neue Vorgehensweise ausdenken. Lassen Sie mich mit einem Begriff beginnen, der seit September 2001 jede alternative politische Begrifflichkeit ersetzt zu haben scheint: Sicherheit. Wie Sie wissen, funktioniert die Formel “aus Sicherheitsgründen” heutzutage in jedem Bereich – vom Alltagsleben bis 1 Bei dem Text handelt es sich um ein aus dem Englischen übersetztes Transkript einer öffentlichen Vorlesung des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, die dieser am 16. November 2013 in Athen hielt. Das Transkript ist zuvor von Chronos (http://www.chronosmag.eu/index.php/g-agamben-for-a-theory-of-destituentpower.html) und ROAR Magazine (https://roarmag.org/essays/agamben-destituentpower-democracy/) unter einer Creative Commons-Lizenz veröffentlicht worden.

hin zu internationalen Konflikten – als ein Codewort, um Maßnahmen aufzuerlegen, für deren Akzeptanz die Menschen keinen Grund haben. Ich werde zu zeigen versuchen, dass das tatsächliche Ziel dieser Sicherheitsmaßnahmen nicht, wie derzeit angenommen wird, die Verhinderung von Gefahren, Schwierigkeiten oder sogar Katastrophen ist. Zu diesem Zwecke werde ich zunächst eine kurze genealogische Analyse des Sicherheitsbegriffs vornehmen müssen.

Ein permanenter Ausnahmezustand Ein möglicher Weg, eine solche Genealogie zu skizzieren, wäre, ihren Ursprung und ihre Geschichte in das Paradigma des Ausnahmezustands einzuschreiben. In dieser Hinsicht könnten wir die Sicherheit bis zum römischen Prinzip Salus publica suprema lex – öffentliche Sicherheit ist das höchste Gesetz – zurückverfolgen und sie mit der römischen Diktatur verbinden, mit dem kanonischen Prinzip, dass Notwendigkeit keinerlei Gesetz anerkennt, mit den comités de salut publique während der französischen Revolution – und schließlich mit dem Artikel 48 der Weimarer Republik, der das juridische Fundament der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte. Solch eine Genealogie ist sicherlich zutreffend, allerdings glaube ich nicht, dass sie tatsächlich die Funktionsweisen der Sicherheitsapparate und Maßnahmen erklären könnte, die uns vertraut sind.


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