#4 Gewalt

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politisch-philosophische Einmischungen

ISSN 2413-4279 #4 | 2016/17 | 8 € | www.engagee.org

éengagée

Gewalt


engagée

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analytisch scharf, politisch involviert

Zur Produktivität der Gewalt

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Annäherung an das Wesen eines umstrittenen Begriffs

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Hate speech als Form verbaler Gewalt

Nirgends ist Gewalt nicht.

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Die Moderne als Kultur der Ver- gewaltigung

Subculture of violence through the perspective of the refugee crisis

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Staatsbürgerschaft zwischen Verfassung und Insurrektion

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Die Wiege der Gewalt

Über Sophie Wahnichs »Freiheit oder Tod. Über Terror und Terrorismus.«

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Vom Staat der Kontrolle zu einer Praxis destituierender Macht

Fanon and the Violence of the Mother Tongue

Die Ausnahme als Gründungsakt denken

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20

Diskussion: Ein Versuch, Donald Trumps Erfolg zu verstehen

37

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Eine sozialtheoretische Annäherung

Kulturkampf und soziale Frage

Angesichts der totalen Kontrolle des Staates und der rasch fortschreitenden Zerstörung der politischen Ge- sellschaft kann nur eine Theorie und Praxis destituie- render Macht die Demokratie zurückfordern.

Polizei – Demonstrationen – Gewalt

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Ihre Allmacht und Ohnmacht

Ihre Be-Gründungen und (Ab-)Gründe

Gewalt.

Nietzsche als Kritiker der Gewalt

Die Zerrissenheit der Welt

Auf welchem Wege wurde die Gewalt geboren?

48

Was bedeutet es, heute Bürger*in zu sein?

The Torture

Violence is not always a loud, explosive affair.


Ihre Beschränkungen und ihr Möglichkeitssinn

Ihre Aggression und ihre Sanftmut 52

LIST

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Aus einem Alphabet der Gewalterfahrung

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Eine Textmontage aus den Beständen der Öster- reichischen Exilbibliothek

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„Wir haben die Schnauze voll!“

1:72

»Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.«

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Ideological Scalpel

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OMG Armory Safety Solutions

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66

Dear friends of the OMG, art lovers and safety fanatics, the world is a dangerous place! Protect yourself – with OMG Armory Safety Solutions!

Small thoughts on violence in the shape of a mindmap No Border Camp 2016

Griechenland: Abschiebegefängnisse, Umverteilungszentren und das beste Hotel der Welt.

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Penetrante Männlichkeit

Auszug aus: Königreich der Dämmerung

»Sie werden Judenverstecke finden«, sagte er leichthin, als handele es sich um Waldbeeren, die es zu pflücken galt.

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Kampf gegen das Vergessen.

Urbane Protesträume kreativ statt gewaltsam aneignen.

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anthropophage engagée Die Diskussion über kulturelle Identität ist

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keine rein intellektuell zu entscheidende Frage, sondern auch ein körperlicher Prozess, eine performative Praxis.

The Case for Missionary Atheism

My hope is that philosophers free themselves of postmodernism and theology. Philosophers can and should strive to make this world a better place.

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call for action: engagées vielfältige Einmischungen ab 2017

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Autor_innen & Künstler_innen

Impressum

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enga Das Magazin für politisch-philosophische Einmischungen.

Mit dem Anspruch, analytische Schärfe und politische Involviertheit zu verbinden, wurde engagée im Jahr 2014 als Printmagazin und Plattform für politisch-philosophische Einmischungen gegründet. Auf inhaltlicher Ebene werden im Rahmen des Projekts gesellschaftliche Zusammenhänge reflektiert und emanzipatorische Perspektiven verhandelt, um Nicht-Orte aufzuspüren. Auf organisatorischer Ebene wagt engagée mit der offenen Redaktion ein partizipatives Experiment jenseits bloßer Vernetzung.

Der Name des Magazins ist inspiriert von Jean-Paul Sartres Begriff littérature engagée (dt. engagierte Literatur). engagée, im Sinne von „immer schon in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation engagiert bzw. eingelassen sein“, hebt hervor, dass wir uns nicht einfach aus diesen Verhältnissen herausversetzen können. Der Untertitel „politisch-philosophische Einmischungen“ zielt auf das strategische Moment, das es notwendig braucht, um Brüche und Diskontinuitäten mit dem Status quo herbeizuführen.

In Zeiten vermeintlicher Alternativlosigkeit spürt engagée das Undenkbare auf. Als Experimentierfeld für gemeinsamen Gedankenaustausch ist engagée ein Raum für kollektive und experimentelle Ausdrucksformen, die über das eigene Denken hinaus versuchen, Veränderungen anzustoßen. Mit kritischen Reflexionen über gesellschaftliche Zusammenhänge fordert engagée zu mutigen Einmischungen heraus. Ziel ist es, Bedeutungen zu verschieben und kritische Öffentlichkeiten zu erzeugen, um neue Denkweisen zu ermöglichen. engagée ist theorieaffin und praxisvernarrt und niemals verlegen, unterschiedliche Standpunkte zu verhandeln. engagée ist „work in progress“. Alle Einmischungen sind natürlich unfertig, weil sie sich in vielen unserer Gespräche und Handlungen fortsetzen; auf der Suche nach neuen Perspektiven einer zukünftigen Gesellschaft.


agée

engagée sucht nach wild wuchernden Zukünften, nach Aus- und Aufbrüchen aus Systemzwängen, nach Trampelpfaden, nach Umwegen und nach Einmischungen.

Offene Redaktion engagée bricht mit traditionellen hierarchischen Organisationsformen von Publikationsprojekten. Alle Personen, die Beiträge auf den offenen Call einreichen, werden Teil der Redaktion für die jeweilige Ausgabe [sofern der Beitrag der Richtlinie des Magazins entspricht, emanzipatorische Perspektiven zu verhandeln]. Die Redaktionsmitglieder begleiten den Redaktionsprozess mindestens eines Textbeitrags und beteiligen sich an der Themenfindung der nächsten Magazinausgabe. Tritt der Fall ein, dass die Anzahl der eingereichten Beiträge das 100-seitige Format von engagée übersteigt, stimmen alle über die definitive Auswahl ab.

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Gewalt.


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Ihre BeGründungen und (Ab-) Gründe engagée | 7


Gewalt.

Zur Produktivität von Gewalt Annäherung an das Wesen eines umstrittenen Begriffs

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ich dem Begriff der Gewalt kritisch zu nähern, erfordert zunächst die Überwindung eines Unbehagens. Gewalt lässt Leid vermuten. Sie verweist auf destruktive Momente in der Geschichte menschlicher Interaktion. Die Norm, dass Gewalt schlecht sei, beinflusst jede Auseinandersetzung mit derselben. Legt man die Unbehaglichkeit ab und wendet sich einer Kritik der Gewalt zu, geschieht das zumeist aus einer Position heraus, die meint, Gewalt durch Vernunft ersetzen zu können oder bereits über-

wunden zu haben. Das Credo, gewaltfreie Zustände herzustellen, bleibt stets bestehen. Am deutlichsten wird dies im Diskurs um Gewalt als legitimes Mittel. Zwei besonders prominente Positionen dieses Diskurses teilen dasselbe Ziel und unterscheiden sich lediglich in Hinblick auf die jeweiligen Beurteilungen der Gewalt als Instrument: entweder soll stets auf sie verzichtet werden oder sie soll genutzt werden, um einen als gewaltvoll erachteten Zustand zu überwinden. Diese beiden Argumentationen fußen auf der Prämisse,


dass Gewalt schlecht ist und widmen sich erst dann dem eigentlichen Phänomen: dem Wesen der Gewalt. Im folgenden plädieren wir dafür, den oftmals für selbstverständlich befundenen Ausgangspunkt einer vermeintlichen Gewaltfreiheit als Ziel zu problematisieren. Paradigmatisch für eine negative Konzeption der Gewalt ist Hannah Arendts Essay Macht und Gewalt von 1970. Arendt diskutiert die beiden Begriffe (‘Macht’ und ‘Gewalt’) in Hinblick auf die Frage nach der Konstituierung sozialer Ordnungen. Weil insbesondere Gründungsakte sozialer Ordnung von Bedeutung seien, problematisiert Arendt ein rein instrumentelles Verständnis von Gewalt (vgl. Arendt 1970: 8ff.; 47; 53ff.). Die Gestaltung sozialer Ordnung basiert für Arendt deshalb vielmehr auf Macht, welche nur da entsteht, wo Menschen miteinander interagieren. Macht ist Grundlage der Politik, das Ziel der Politik sei die Freiheit – anders: Politik und Freiheit fallen ineinander (vgl. Arendt 1994). Dieser Zusammenhang verdeutlicht die Rollen von Macht und Gewalt in Bezug auf Politik: Macht konstituiert Politik, Gewalt gefährdet diese. Arendt konzipiert Macht und Gewalt als qualitativ verschieden, weil sie jeweils nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Macht ist das Hervorbringende, das, was den Bereich der Politik konstituiert und Grundlage der Freiheit ist. Dagegen ist Gewalt das andere der Politik, notfalls ihr Mittel; notfalls Mittel, um die Macht der Anderen zu zerstören. Gewalt kann für Arendt nie am Anfang der Macht und damit der Politik stehen. Sie ist lediglich der Destruktion fähig und muss bei jedem Versuch, etwas zu schaffen, versagen. Was aber, wenn die Gewalt, entgegen dieser These, doch am Anfang steht? Was, wenn sie uns als hervorbringende Kraft vorausgeht? Wir glauben, dass eine differenzierte Betrachtung des Phänomens Gewalt eine Ambivalenz zum Vorschein bringt, die neben ihrer zerstörerischen Wirkung auf einen produktiven Gehalt verweist. Gewalt kann Recht einrichten. Gleichzeitig scheint sie ein maßgeblicher Faktor bei der Herausbildung des Subjekts zu sein. Diese beiden Aspekte – Gewalt als rechtseinrichtend und subjektbildend – wollen wir im Folgenden betrachten, um, vom produktiven Charakter der Gewalt ausgehend, die Frage nach dem Wesen der Gewalt neu zu stellen. Dabei mahnt Arendt uns, Gewalt und Macht sorgfältig zu trennen und als separate Phänomene zu behandeln.1 Einen ersten Anhaltspunkt dafür, Gewalt als produktiv zu betrachten, liefert Judith Butler. In ihrer 1 Aufgrund dieser Unterscheidung greifen wir explizit nicht auf Michel Foucault zurück. Bei ihm könnte von einer Produktivität der Gewalt gesprochen werden: „Recht, Frieden und Gesetze werden im Blut und im Schlamm der Schlachten geboren“ (Foucault 1999: 61). Die Gefahr bei Foucault ist, dass man sich mit ihm nicht explizit dem Phänomen der Gewalt nähert, sondern dem der Macht. Vgl. Foucault, Michel (1999): S. 52-75.

Kritik der ethischen Gewalt zeigt sie eindrücklich die Schwierigkeiten auf, die mit der Aufgabe verbunden sind, Rechenschaft von sich zu geben. Weil das Subjekt von zahlreichen Faktoren abhängig ist, die außerhalb seiner selbst liegen, ist es letztlich unmöglich, eine umfassende Erzählung des eigenen ‘Ich’ zu geben (vgl. Butler 2014: 178f.). Aufgrund dieser uns vorausgehenden Verwobenheit mit und in der Welt, wäre Gewalt für Butler jener Moment, in dem sich das Subjekt gegen diese ‚Relationalität’ stellt – Gewalt als Akt, “durch den ein Subjekt seine Herrschaft und Einheit wiederherzustellen sucht” (ebd.: 88). Butler geht es darum, angesichts permanenter Gewalt die Potentialität gewaltfreier Handlungen auszuloten. Indem sie diese Gewaltfreiheit nicht rechtfertigt, verfällt sie der Prämisse, gewaltlose Zustände als Ziel vorauszusetzen. Sie übersieht, dass Gewalt ihrer Argumentation zufolge das Subjekt konstituiert, was sich in der Abwesenheit eines expliziten Gewaltbegriffs in diesem Zusammenhang ausdrückt. Denn mittels Lévinas und Laplanche versucht sie zwar deutlich zu machen, dass allein der Andere dazu führt, dass das ‘Ich’ reflexiv wird und nur auf dieser Basis letztlich ein handlungsfähiges Subjekt entsteht. Obwohl sie davon schreibt, dass der Andere uns “umzingelt und verschlingt” (101), dass er uns “nicht nur verfolgt, sondern belagert” (121), dass “etwas […] unaufhörlich im Begriff ist, meine Stelle einzunehmen” (121), weigert sie sich aber, genau diese “primären Übergriffe” (alle ebd.: 101) an den meisten Stellen als Gewalt zu bezeichnen.2 Für uns scheint die Gewalt hingegen gerade in jenen Akten der Subjektkonstitution präsent zu sein – und zwar genau deshalb, weil diese Übergriffe “nicht gewollt und nicht gewählt sind” (ebd.: 118). Der Versuch, Rechenschaft von sich zu geben, sich also reflexiv auf sich zu beziehen, setzt bei Butler erst mit dem Einwirken des Anderen auf das Ich ein. Die Gewalt wäre demzufolge nicht nur jene “physische Verletzbarkeit, der wir nicht entrinnen können” (ebd.: 136), sondern zugleich die uns hervorbringende Kraft. Dieses ambivalente Urteil über die Gewalt müsste Butler aussprechen – sähe sie einmal von der Prämisse, gewaltfreie Zustände einzurichten, ab. Stattdessen fordert sie einzig, “das selbstgenügsame, als Besitz verstandene ‘Ich’ hinter sich zu lassen” (ebd.: 180). In einem Kommentar zur Kritik der Gewalt von Walter Benjamin denkt Butler die Möglichkeit, der Gewalt ein produktives Moment anzuerkennen. Am von Benjamin gewählten Beispiel der Niobe stellt sie die These auf, dass erst das Gesetz als mythische Gewalt das rechtliche 2 Die einzige Ausnahme scheint unseres Erachtens nach dort zu liegen, wo sie nach der Verantwortung und einer möglichen Antwort fragt (vgl. Butler 2014: 133; 134f.). Ihre Antwort – die Öffnung für das Andere – fragt jedoch nicht danach, ob und wie Gewalt dazu beiträgt, überhaupt erst ein Subjekt hervorzubringen, was zu dieser Öffnung fähig ist.

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Gewalt.

Subjekt hervorbringt (vgl. Butler 2006: 208f ). Rechtliches Subjekt zu sein, kennzeichnet sich laut Butler in diesem Falle dadurch, ein schuldiges Subjekt zu sein. Die Götter setzten das Gesetz gewaltsam als Antwort auf Niobes Handlung und Niobe verantworte sich ihnen gegenüber, indem sie die vorausgegangene Handlung als die eigene Tat rechtfertige. Das Rechtssubjekt legt Rechenschaft ab und reflektiert damit auf Handlungen, die es als die eigenen anerkennt. Erst dadurch wird das Subjekt schuldig. Warum aber scheint Gewalt mit dem Recht in einem Verhältnis zu stehen? Diese Frage behandelt Walter Benjamin in seinem oben erwähnten Aufsatz. Er stellt die These auf, dass Gewalt Recht als dessen Ursprung überhaupt erst ermöglicht. Geltendes Recht gründet seinem Verständnis nach auf einer mythischen Gewalt, die zunächst Recht hervorbringt, im selben Moment aber in eine Gewalt umschlägt, die das gesetzte Recht erhalten soll. Gewalt tritt damit als rechtsetzend und zugleich rechtserhaltend in Erscheinung. In dieser zyklischen Figur muss das Recht seine gewaltvolle Setzung stets re-affirmieren, was nichts anderes bedeutet, als den Gewaltakt zu wiederholen und so ein Gewaltmonopol zu beanspruchen – nicht aber mit dem Ziel, die Rechtszwecke (bspw. Freiheit oder Gerechtigkeit) zu sichern, sondern, um das „Recht selbst zu wahren“ (Benjamin 1991: 183). Das Ergreifen des Gewaltmonopols ist für Benjamin ein Ausdruck von Macht, den er als „Akt [...] unmittelbarer Manifestation der Gewalt“ versteht (ebd.: 198). Er sieht in der Politik und der Herausarbeitung eines Rechtszustandes keine Überwindung der Gewalt, lediglich ihre Verrechtlichung und darin die Verschleierung ihres eigenen gewaltvollen Ursprungs. Das Recht nimmt die Rolle einer gewalteinhegenden Instanz ein, die sich durch Gesetze den Anschein gibt, gewalt-avers zu sein. Dagegen meint Benjamin, dass „jede Gewalt als Mittel [...] an der Problematik des Rechts überhaupt teilhat [und] eine völlig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals auf einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann“ (ebd.: 190). Diesem Gedanken folgend, werden zwei Aspekte deutlich: erstens ist ein gewaltloser Rechtszustand

unmöglich, weil dieser in seinem „Ursprung“ auf Gewalt verweist und in seinem „Ausgang“ Gewalt da anwendet, wo ein Rechtssubjekt vertragsbrüchig wird (ebd.). Zweitens tritt Gewalt als eine produktive Kraft hervor, weil ohne sie kein Recht gesetzt werden kann. Wir halten also fest: Es gibt kein rein gewaltfreies Verhältnis zur Gewalt. Treten wir einen Schritt zurück von der omnipräsenten Destruktivität der Gewalt, wird ein neutralerer Zugriff auf Gewalt ermöglicht, der auch ihre produktiven Momente sichtbar macht. Doch es bleiben folgende Fragen: Wie genau wirkt Gewalt, um das Subjekt zu konstituieren? Wie schafft sie es, Recht zu setzen? Diese Fragen nach der Wirkungskraft der Gewalt beantworten weder Butler noch Benjamin direkt. Doch zu fragen, warum die Gewalt fähig ist, produktiv in Erscheinung zu treten, ist essentiell. Von hier aus wäre die Frage nach dem Wesen der Gewalt neu zu stellen. | Markus Hennig und Micha Steinwachs

Literatur Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. München: Piper. Arendt, Hannah (1994): Freiheit und Politik. In: Ludz, Ursula (Hg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper, 201–226. Benjamin, Walter (1991): Zur Kritik der Gewalt. In: Gesammelte Schriften. Band II.I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 179-203. Butler, Judith (2006): Critique, Coercion, and Sacred Life in Benjamin’s „Critique of Violence“. In: de Vries, Hent (Hg.): Political Theologies. Public Relations in a Post-Secular World. New York: Fordham University Press, 201-219. Butler, Judith (2014): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Zur ‚Privatisierung’ von gewaltsamem Protest. . e d e enr

eg G e Ein

I

n Deutschland und Österreich werden gewaltsam verlaufende Demonstrationen vonseiten politischer Autoritäten regelmäßig als besonders schreckliche Ereignisse gerahmt und nicht selten wird suggeriert, dass die staatliche Ordnung aufs schärfste bedroht sei.1 Politische Akteure und Polizei inszenieren derartige Veranstaltungen dann mit Hilfe der Medien als abartige Spektakel, mit der Folge der öffentlichen Dämonisierung und/ oder strafrechtlichen Kriminalisierung der Beteiligten und der Entpolitisierung der jeweiligen Proteste. Durch ihre regelverletzende Struktur, so der Diskurs, entleerten die Demonstrationen sich ihres politischen Gehalts; sie seien deshalb nie als potestas, sondern immer schon als violentia zu sehen. So titelte das österreichische Boulevardblatt „Krone“ in Zusammenhang mit einer Demonstration gegen den Aufmarsch der rechten Gruppe der „Identitären“ in Wien im Juni 2016 etwa, man hätte hier eine „Vorstufe zum Bürgerkrieg“ erlebt. Weiter zitierte sie Innenminister Sobotka mit den Worten: „Unter dem Deckmantel der Demonstrationsfreiheit Gewalt gegenüber Mitmenschen anzuwenden, ist in keinster Weise zu tolerieren.“2 In beiden Ländern genießt die Polizei großes Vertrauen und von diesem ist auch die Debatte um gewaltsame Proteste geprägt: 1 Dieser Beitrag ist eine stark gekürzte und veränderte Version des Artikels „Die Polizei in gewaltsamen Protestdynamiken: Eine sozialtheoretische Annäherung“, erschienen in juridikum 4/2016. 2 Krone v. 12.06.2016, http://www.krone.at/Oesterreich/Demo-Schlacht_war_wie_Vorstufe_zum_Buergerkrieg-Aufregung_im_Web-Story-514549 (23.8.2016).

Die Verantwortung für Gewaltausbrüche wird in der Regel den Demonstrierenden zugeschrieben. Die Politik der Menge auf der Straße wirkt dann eigenartig antiquiert, während der Einsatz der Polizei im Gegenzug als unabdingbar und rettend aufscheint: grundsätzlich wird erst einmal davon ausgegangen, dass letztere bei Demonstrationen ihrer formalen Aufgabenbeschreibung gemäß als befriedende Kraft auftritt. Legt man jedoch – in Kombination mit empirischen Ergebnissen über Gewaltdynamiken auf Demonstrationen – einige soziologische Grundbegriffe an, die in sozialen Situationen und öffentlichen Aushandlungsprozessen um Demonstrationen zum Tragen kommen, so mehren sich die Hinweise, dass die Polizei an der Entstehung von Gewalt nicht nur ausnahmsweise mitbeteiligt ist. Da sie Akteurin im Spiel ist, hat sie Anteil an der in der Öffentlichkeit als ‚privat’ dämonisierten Gewalt und in der Folge, der Destabilisierung der sozialen Ordnung.

Interaktionen Richtet man den Blick auf gewaltsame Eskalationen, so ist es häufig schwer zu sagen, wer verantwortlich für die Gewaltausbrüche war, und damit, wer die Eskalation verursacht hat. Hierauf verweist der Umstand, dass Gewalthandlungen auf Demonstrationen, sofern sie nicht an Nebenschauplätzen auf Gewalt gegen

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Sachen abstellen, in erster Linie Interaktionen zwischen Demonstrierenden und Polizei sind: Nach Max Weber ist soziales Handeln immer schon auf das Verhalten anderer bezogen3 und mit Erving Goffman lässt sich eine soziale Interaktion weiterführend definieren als eine „wechselseitige Handlungsbeeinflussung, die Individuen aufeinander ausüben, wenn sie füreinander anwesend sind.“4 Damit erweist sich für das Handeln der Demonstrierenden nicht nur das Handeln anderer Demonstrierender als relevant, sondern auch das wechselseitige Einwirken von Demonstrierenden und Polizei. Als besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der letzten Dekaden zu sehen, auf Demonstrationen erheblich mehr Personal einzusetzen. Die Demonstrationssituation entkoppelt sich hierbei tendenziell von interaktiven Prozessen zwischen Umstehenden und Demonstrierenden – der bis in die 2000er-Jahre gebrauchte Slogan „Bürger lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein“ macht nur Sinn, solange keine Polizeikette den Blickkontakt mit Umstehenden versperrt – und verlagert sich vermehrt auf jene zwischen Demonstrierenden und PolizistInnen. Geht man von interaktiven Prozessen aus, so ist es etwa beim ‚harten’ Policing erwiesen, dass dieses Gewalt auf Demonstrationen entweder produziert oder bereits gewalttätige Situationen intensiviert. Das können symbolische Handlungen sein, etwa wenn PolizistInnen mit dem Knüppel an ihre Schilde klopfen; zu verstehen als Ausdruck von GegnerInnenschaft oder Feindseligkeit gegenüber den Demonstrierenden, oder aber als Drohung, gegenüber diesen Gewalt anzuwenden. Für den deutschen und österreichischen Kontext ist weiter zu sehen, dass es im Kontext restriktiven Policings immer wieder auch zu unverhältnismäßigen und damit unrechtmässigen Handlungen der Polizei kommt, die wiederum Gewalt auf Seiten der Demonstrierenden auslösen.

prozesshaft hergestellt werden. Bedeutung wird den Dingen in diesem Sinne – sozialisatorisch bedingt und vor diesem Hintergrund situativ – aktiv zugeschrieben. Deutungen bestimmen und beeinflussen so Interaktionen. Nicht selten fundieren Gewalthandlungen demnach in konfligierenden Konzeptionen der Legitimität und Relevanz von Protest und spezifischen Protestformen abseits politischer Institutionen und damit auch von öffentlicher Ordnung und Sicherheit. Aufgrund der unterschiedlichen sozialen Prädispositionen der am Protestgeschehen Beteiligten können konfligierende Deutungen etwa auf unterschiedlichen Demokratieverständnissen beruhen.6 So kann man für die Demonstrierendenseite liberale oder radikaldemokratische politische Theorien heranziehen, bei denen die Entstehung politischer Legitimität nicht nur über formale politische Prozesse repräsentativer Demokratie als essenziell erachtet wird, sondern auch über zivilgesellschaftliche Aktivitäten, was zivilen Ungehorsam und militanten Protest teilweise mit einschließt. Die politischen Orientierungen von PolizistInnen sind dagegen eher konservativen Positionen zuzuordnen: Studien für den deutschen Kontext zeigen, dass Rechts- und Ordnungsvorstellungen von PolizistInnen stark jenen der CDU ähneln.7 Diese Ergebnisse treffen sich für den österreichischen Kontext mit Wahlergebnissen für die Polizeigewerkschaft aus dem Jahr 2014, bei denen an erster Stelle Christgewerkschafter, an zweiter Sozialdemokraten und an dritter Stelle die Freiheitlichen stehen. In diesem Zusammenhang ist etwa das Vorgehen des Wiener Polizeichefs Pürstl anzuführen, der sich zwar deutlich für das Grundrecht auf Versammlung ausspricht8, Praxen zivilen Ungehorsams – genauer: Sitzblockaden – jedoch seit einiger Zeit strafrechtlich als „Störung einer Versammlung“ einordnet. Räumungen von Sitzblockaden haben in Pürstls Amtsperiode denn auch immer wieder zu Gewaltdynamiken auf Demonstrationen geführt9. Es dürften hier miteinander unvereinbare, differierende Legitimitätsvorstellungen bzw. Demokratieverständnisse sein, die die Gewalthandlungen mitbedingten.

Situiertheit Ergänzen wir nun Webers eingangs genanntes Verständnis des sozialen Handelns um eine weitere soziologische, genauer, eine situierte Perspektive, so sehen wir, dass Handeln nicht allein in Interaktionen stattfindet, sondern auch hervorgeht aus der jeweiligen Deutung der Handelnden – und hier aus der sozialen Positioniertheit der AkteurInnen heraus5. Innerhalb der Soziologie hat es sich durchgesetzt, die Dinge nicht als an sich mit Bedeutung versehen zu verstehen, sondern auf sozialkonstruktivistischer Grundlage davon auszugehen, dass Bedeutungen durch Deutungsleistungen der Individuen 3 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (2002[1922]). 4 Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1969[1959]), hier: 18. 5 ZB Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1987[1969])

Macht Der soziale Ausgang einer gewaltsam verlaufenden Demonstration (auch im Sinne ihrer öffentlichen Rezeption) ist weiter nur dann verständlich, zieht man einen dritten so6. Vgl Reiner, Reiner, The Politics of the Police (2000), hier: 7. 7 ZB Liebl, Rechts- und Ordnungsvorstellungen in der Polizei, Lange (Hg), Die Polizei der Gesellschaft (2008) 213-226, hier: 222f. 8 Presse Print v. 03.06.2014, http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/3815267/Rechte-Linke-schutzen-Oder-den-Rechtsstaat (23.8.2016). 9 ZB Standard v. 18.03.2014, http://derstandard.at/2000001324837/IdentitaerenMarsch-Hunderte-Anzeigen-und-scharfe-Kritik-am-Vorgehen (23.8.2016); Vgl zu konfligierenden Deutungen im Bereich zivilen Ungehorsams für den deutschen Kontext Willems, Demonstranten und Polizisten. Motive, Erfahrungen und Eskalationsbedingungen (1988).


ziologischen Grundbegriff heran: jenen der Macht. Mit Foucault etwa ist Macht den Dingen nicht äußerlich, sondern sie emergiert aus dem Sozialen. Sie nimmt als auf ,,Handeln gerichtetes Handeln“ immer auf andere handlungsfähige AkteurInnen Bezug. In dieser Bezugnahme „erweitert [die Macht] Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein [...] und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen“10. Macht transportiert sich dabei durch die performative Struktur der Rede: Sie prägt sich aus über diskursive Setzungen und vermag so festzulegen, was als ‚wahr’ bzw. als ‚unwahr’ gilt. In diesem Sinne ist es für die AkteurInnen entscheidend, die eigene Deutung der Situation aufrechterhalten und durchsetzen zu können: Es ist dies die Voraussetzung für Handlungsspielräume innerhalb der Protestsituation oder aber die spätere Straffreiheit. Diesbezüglich stellen kriminologische Untersuchungen übereinstimmend fest, dass die Macht, eine Situation nachhaltig zu definieren, zumeist bei der Polizei liegt: Sie kann Situationen oder Personen qua institutioneller Legitimität und Autorität als gefährlich oder kriminell ausweisen; ihre Definitionen haben zudem vor Gericht erhebliches Gewicht. Der mittlerweile strategische Medieneinsatz der Polizei erhöht dabei ihre Chance, die Situation nachhaltig zu deuten: So beginnt und endet die Pressearbeit der Polizei bei großen Protestereignissen inzwischen Wochen vor bzw. nach einer Demonstration. Im Effekt ist die Polizei auf diese Weise zentral an der diskursiven Produktion von ‚Wahrheiten’ über Kriminalität und Sicherheit beteiligt. Sie schafft sich so selbst eine legitimatorische Grundlage für Maßnahmen. In Bezug auf eine Demonstration gegen den Akademikerball im Jahr 2014 waren dies etwa massive Grundrechtseinschränkungen durch die Abriegelung großer Teile der Stadt infolge der „Konstruktion gewaltbelasteter und damit gefährlicher Orte“.11 Nicht zuletzt ist es dieser Kontext der Macht über die Definition der Situation, der es zulässt, dass die Polizei sich gegenüber unterschiedlichen Demonstrierendengruppen unterschiedlich verhält. In der einschlägigen Literatur ist man sich einig, dass insbesondere die Sicht der Polizei auf die Legitimität eines Protests für polizeiliche Einsatztaktiken maßgeblich ist. Vor allem bei den von ihr als weniger legitim angesehenen Protesten können die Grenzen zwischen Kriminalität und Politik verschwimmen: Polizeien haben bei derartigen Protesten nachweislich eine geringere Toleranzschwelle – etwa, wenn es um Abweichungen von vorab festgelegten Absprachen geht. Es sind neben Demonstrationen vonseiten marginalisierter Gruppierungen und solchen, die sich gegen mächtige Interessengruppen richten, insbesondere mit Gewaltbereitschaft 10 Foucault, Subjekt und Macht, in: Foucault, Analytik der Macht (2005), hier: 240264. 11 Dopplinger/Kretschmann, Die Produktion gefährlicher Räume, juridikum (2014), 1928, hier: 25.

assoziierte Proteste, die „the use of forceful tactics [...] more likely“12 machen. Ebenso wie manche AktivistInnenkreise die Tendenz haben, die Polizei zu dämonisieren (erinnert sei an die Parole „all cops are bastards“ oder für Frankreich der in den Banlieus entstandene, aber mittlerweile sozialstrukturell verbreiterte Slogan „nique la police“), muss dies zumindest in der Tendenz auch für die Polizei gegenüber gewissen Protesten und Protestierendengruppen konstatiert werden. Hierbei können es vorangegangene Interaktionen mit spezifischen Protestgruppen sein, die in Folgedemonstrationen gewalttätige Racheakte herausfordern. Die Macht der Polizei, Situationen nachhaltig mit einer spezifischen Bedeutung zu versehen, ist jedoch nichts Feststehendes: In Anlehnung aus Marcel Mauss „Magietheorie“ wissen wir, dass Wahrheiten nur über Gemeinschaften autorisiert werden können.13 Somit hängt die Frage, ob etwas eine gerechtfertigte Zwangsmaßnahme oder aber eine Misshandlung ist, immer vom jeweiligen kulturellen Rahmen ab. Wenn also, wie eingangs beschrieben, Gewaltdynamiken auf Demonstrationen von politischen Autoritäten stets ursächlich den Demonstrierenden zugeschrieben werden, so hat dies auch mit der vielfach unhinterfragten Übernahme polizeilicher Berichterstattungen zu tun.

Mob oder Souverän? Vor dem Hintergrund des oben Erörterten wird deutlich: es ist entgegen der dominanten Diskurse über Gewalt auf Demonstrationen nicht immer ganz eindeutig, wer verantwortlich für die Gewaltausbrüche ist – und damit, wer eigentlich Mob ist und wer Souverän. Die Polizei ist auf Demonstrationen zwar „Organ des staatlichen Gewaltmonopols, sie schützt es und setzt es durch, aber sie selber repräsentiert jene Stelle, an der undeutlich wird, wo seine Grenze eigentlich verläuft“.14 Das Selbstverständnis westlicher Demokratien, ihre eigene Ordnungsstruktur als Grundlage für die Einhegung auch von politischer Gewalt zu sehen, weshalb sie gewaltsame Proteste aktuell nur in der „Metapher der Pathologie“ beschreiben können, ist vor diesem Hintergrund in Frage zu stellen. | Andrea Kretschmann

12 Ebd.; Mansley, Collective Violence, Democracy and Protest Policing (2013), hier: 55. 13 Mauss, Soziologie und Anthropologie Bd. 1 (2010[1950]). 14 Reemtsma, Organisation mit Gewaltlizenz, in: Herrnkind/Scheerer (Hg), Die Polizei als Organisation mit Gewaltlizenz (2003) 7-23, hier: 16.

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Gewalt.

Die Ausnahme als Gründungsakt denken Über Sophie Wahnichs

»Freiheit oder Tod. Über Terror und Terrorismus.« S ophie Wahnichs “Freiheit oder Tod. Über Terror und Terrorismus” ist vielleicht in erster Linie als Gegenerzählung zu verstehen – und das gleich in zweierlei Hinsicht. Zunächst legt die französische Historikerin eine Korrektur durchaus einflussreicher philosophisch-theoretischer Pauschalverurteilungen der jakobinischen Terrorherrschaft vor. Beispielhaft ließe sich diesbezüglich etwa, obgleich im Buch unerwähnt, Carl Schmitts populäre These von der Vereinbarkeit von Diktatur und Demokratie sowie dessen Präzisierung der souveränen Diktatur1 anführen: Im Gegensatz zur moderateren kommissarischen Diktatur des römischen Rechts habe die souveräne Diktatur – für die Schmitt beispielhaft den Jakobinismus anführt – nicht dazu gedient, einen Normalzustand über die zeitlich eingeschränkte Ausweitung der Machtbefugnisse eines berufenen Diktators wiederherzustellen. Vielmehr lasse sie Ausnahmezustand und Souveränität im Sinne einer “unbedingte[n] Aktionskommission eines pouvoir constituant”2 praktisch nahtlos ineinanderfließen, mit dem

Resultat einer in jeglicher Hinsicht unbegrenzten Diktatur – und nicht anders stellte der Plettenberger Staatsrechtler die ‘Herrschaft’ der terreur dar.3 Eine solche theoretische Betrachtung würde Sophie Wahnich wohl eher als einseitige Verklärung der Historie verurteilen, schreibt sie doch gerade gegen vorschnelle Parallelisierungen zwischen dem Jakobinismus und der Diktatur an, was sich exemplarisch anhand Wahnichs fruchtbarer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Kritik an Robespierres vermeintlicher Gleichsetzung zwischen Mitleid und Tugend offenbart.4 So nähert sich die Historikerin der französischen Revolution nicht etwa über die von Arendt kritisch fokussierte Leidenschaft, sondern über die Emotion, die sie als politisch entscheidend für den Verlauf der Revolution und die aus ihrer Sicht folgerichtige Institutionalisierung der terreur kennzeichnet. Wie eingangs erwähnt, geht es Wahnich jedoch nicht nur um eine Gegendarstellung zu philosophisch-theoretischen Versuchen über den jakobinischen Terror. Die Autorin antwortet vor allem auch zeitdiagnostisch auf gegenwärtige Verschiebungen im französischen Kollektivbewusstsein, das die jakobinische terreur mit wachsender Entfremdung – verklärt durch kulturindustriell bzw. medial

1 Vgl. Carl Schmitt, Die Diktatur, Berlin 2006, S. 144ff. John P. McCormick schreibt hierzu: “Schmitt is distrustful of the general historical trend wherein the concepts of sovereignty – increasingly popular sovereignty – and emergency action are merged. Again, for Schmitt, this culminates in the theorists of the French Revolution, such as Mably and Sieyès. In Schmitt’s view, they advocate a sovereign dictatorship that destroys an old order and creates a new one not on the authority of a specific constitutional document or legal charge but as the agent of such a vague entity as the “people”: ‘While the commissarial dictatorship is authorized by a constituted organ and maintains a title in the standing constitution, the sovereign dictator is derived only from quoad execitium and directly out of the formless pouvoir constitutant.’” (John P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology. Cambridge 1997, S. 137).

3 Eine zeitgemäße Interpretation dieses Zusammenhangs formuliert Giorgio Agamben: Vgl. Giorgio Agamben, “Vom Staat der Kontrolle zu einer Praxis destituierender Macht [potenza destituente]”, S. 30-31 in diesem Heft.

2 Carl Schmitt, Die Diktatur, S. 143.

4 Vgl. Hannah Arendt, On Revolution, New York 1991, S. 88ff.


inszenierte Rückblicke aufs Historische – zunehmend moralisch verurteile. Beispielhaft etwa schildert die Autorin das von jakobinerfreundlichen Historikern der Sorbonne veranstaltete jährliche Kalbskopfessen. Dieser republikanische Brauch, bei dem das Kalb symbolisch für den König steht, sei seitens der Studierenden spätestens seit Mitte der 1980er Jahre mit zunehmender Distanz wahrgenommen worden. Ähnliches gelte für Éric Rohmers Film Die Lady und der Herzog (2001), dessen minutiöse Schilderung der revolutionären Gewalt als rein destruktive selbst bei Kritiker*innen als allgemeingültige, objektive Schilderung eines historischen Sachverhalts gelte – und somit, so die Historikerin, eine neue “empfindsame” Rezeption der Französischen Revolution mitgeprägt habe. Repräsentativ sei in dieser Hinsicht auch eine Umfrage des Nouvel Observateur: “Musste man den König töten?” hieß es dort 1993 – für Wahnich nur eines der vielen Symptome der übergeordeneten Neubewertung des Jakobinismus. Erschwerend komme hinzu, dass insbesondere die französische Öffentlichkeit die terreur der Revolutionsregierung derzeit, insbesondere vor Hintergrund der Anschläge auf Charlie Hebdo, aber tendenziell bereits seit 9/11, unreflektiert in unmittelbare Nähe zum modernen Terror bzw. Terrorismus rücke. In dieser neuen Distanzierung vom vormals durchaus identitätsstiftenden Gründungsgestus der Republik erkennt die Autorin nun eine undifferenzierte, in gewisser Hinsicht auch tragische, Pauschalisierung von Gewalt: Die Notwendigkeit der souveränen Ausnahme (die hier erstmals Souveränität des neuzeitlichen demos war), in deren Konnex die verkrusteten, maroden Mechanismen des Ancien Régime erst zerstört werden mussten, um neues Gesetz – wie auch Gleichheit und Freiheit – im Sinne einer Creatio ex nihilo schaffen zu können, würde ignoriert. Gleiches gelte für die diffizilen Kontexte, die die praktische Ausübung dieser Souveränität prägten. Slavoj Žižek bekräftigt im – leider nur bedingt auf Wahnich eingehenden – Vorwort in ähnlicher Hinsicht, dass besonders liberale und konservative Kritiker*innen die französische Revolution als ultimatives Gründungsphänomen des modernen Totalitarismus darstellten. Überhaupt, so Žižek, gebe es eine – zwar simple, aber dennoch zutreffende – Klassifizierung derzeitiger Haltungen zur französischen Revolution: Entweder sei sie vollständig abzulehnen (“Konservative”) oder man unterschreibe das Motto “1789 ohne 1793” (“Liberale”). Alternativ halte man es mit Alain Badiou (den der Lacanianer unter dem Label “Radikale” subsumiert) – in Žižeks Worten hieße das, anzuerkennen, dass gewisse Werte nur um einen gewissen Preis (der

der französischen Revolution wäre dann die terreur) zu haben sind. Letztere Position vertritt auch Wahnich, wobei sie – fern von Badious Platonismus und dessen Ereignisdenken – auf Basis faktenlastiger und konkret historischer Analyse urteilt. Die Phasen der Revolution schildert die Autorin in Hinblick auf die jeweiligen Ökonomien der Emotionen, die das Zusammenspiel zwischen den Repräsentanten des Volkes und dem Volk selbst jeweils begleiteten. Hierbei orientiert sie sich an Schlüssereignissen, etwa dem Tod und dem nachfolgenden Begräbnis Marats, dem Septembermassaker von 1792 sowie der nachfolgenden Einrichtung des Revolutionstribunals. Wahnich geht es vor allem um eine Beleuchtung der Formen diverser Institutionalisierungen von Vergeltungsforderungen, die sie in erster Linie als Instrumente zur Einhegung andernfalls kaum zu bändigender Rachegefühle des demos gegenüber den Konterrevolutionären auffasst. Was die Historikerin hier also schildert, ist weder eine verherrlichende oder verharmlosende Version der terreur. Noch handelt es sich um ihre vorschnelle Gleichsetzung mit einer wie auch immer gearteten Tugend, führt die Autorin doch unverblümt die Zahl der Toten – 1376 Menschen starben etwa in nur anderthalb Monaten auf dem Schafott im Sommer 1794 – an. Tatsächlich geht es Wahnich um eine Verteidigung der (realpolitischen) Notwendigkeit der terreur in Hinblick auf ihre Funktion, die Emotionen des Volkes insbesondere in der Phase ab 1792“ nicht in sozialer Auflösung und Massakern münden” zu lassen. Danton etwa zitiert Wahnich mit den Worten, für diesen hätten “die Abgeordneten ‘würdige Regulatoren der nationalen Energie zu sein’”5. Die stärkere Institutionalisierung der terreur wird so auch als notwendige Antwort auf die Ausschreitungen des Septembermassakers von 1792 begreiflich. Wahnich charakterisiert letztere unter Rückgriff auf Walter Benjamins Bestimmung der göttlichen, nicht mythischen, Gewalt als “‘Insignium und Siegel, [...] niemals [aber] Mittel heiliger Vollstreckung’”6. Sie zitiert Agambens homines sacri – die Töt- aber nicht Opferbaren7 – und umschreibt so Formen der gewalttätigen Vergeltung, die bei dem Großteil 5 Sophie Wahnich, Freiheit oder Tod, Berlin 2016, S. 115. 6 Ebd., S. 91. 7 Eine präzise Zusammenfassung der Benjaminschen Position unter Rekurs auf Arendt findet sich in Markus Hennigs und Michael Steinwachs’ Essay “Zur Produktivität der Gewalt” in diesem Heft, vgl. S. 8-9. Desweiteren deckt Jan Philipp Schewe einen übergeordneten, in vielerlei Hinsicht diskussionswürdigen, Zusammenhang zwischen der terreur und einer ihr vorausgegangenen, vererbten Realität – einer sich historisch wiederholenden und potenzierenden Gewalt, die die Beziehung Achilles zu Hector in ganz ursprünglichem Sinne offenbart – auf. Vgl. Jan Philipp Schewes Essay “Die Zerrissenheit der Welt” in diesem Heft, S. 26-27.

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Gewalt.

der Zeitgenoss*innen als durchaus legitim galten. Die Begriffe Gerechtigkeit und Vergeltung etwa wurden – durchaus emblematisch für diese These – in den damaligen Kommentaren zu den Massakern synonym verwendet. Die hier zugrunde liegende Logik fasst Wahnich unter Rekurs auf Saint-Just zusammen: “Am 16. April 1794 stellt er [Saint-Just, scil.] die Geschichte ‘mehrerer Jahrhunderte der Torheit’ den ‘fünf Jahren des Widerstands gegen die Unterdrückung’ gegenüber und betont die Werte, für die der Name Franzose als Name des Volkes im revolutionären Projekt steht: ‘Was ist schon ein König neben einem Franzosen?’ Der Name Franzose erlaubt es, das Kommende und zugleich die wirkmächtige, konflikthafte Spaltung zwischen den Unterdrückern und Unterdrückten zu benennen. Darin liegt die wirkliche Bedeutung, die Saint-Just ihm gibt.”8 Solche Legitimationsversuche letzterer ‘göttlichen’ Gewalt, verstanden hier als produktiver Akt der Volkssouveränität – sei es in ‘institutionalisierter’ oder ‘nicht-institutionalisierter’ Form –, sind durchaus nachvollziehbar und überzeugend. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, dass “Freiheit oder Tod” stellenweise Gefahr läuft, Einzelschicksale unter dem Machtbegriff der ‘revolutionären Ausnahme’ sowie der ständigen Verteidigung ihrer Notwendigkeit in ebenjener Form vergessen zu machen. Exemplarisch könnte man hier Olympe de Gouges, die die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte in ihrer 1791 verfassten Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin für stark korrekturbedürftig erklärte und nur zwei Jahre später der Guillotine zum Opfer fiel, anführen. Ebenso ließe sich auf den Girondisten und Aufklärer Marie Jean Antoine Nicolas Caritat Condorcet verweisen, der in der Nationalversammlung einen kritischen Neuentwurf9 zu einem Verfassungsvorschlag der Jabokiner vorlegte und nur kurze Zeit nach dessen Scheitern unter ungeklärten Umständen in seiner Zelle starb.10 Dabei hatte Condorcets Plan de Constitution 8 Wahnich, Freiheit oder Tod, S. 94. 9 Condorcets Verfassungsentwurf (Plan de Constitution présenté à la Convention Nationale, les 15 & 16 février 1793, l‘an II de la République (Constitution girondine)) kann hier abgerufen werden: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k73809f. 10 Condorcets Plan de Constitution gilt noch heute als fortschrittlicher Entwurf innerhalb der Geschichte der Verfassungen wie auch als bedeutendes Korrektiv, das zwischen den populärsten Strömungen der französosischen Revolution – den getreuen Rousseauisten (wie Robespierre) und den Anhängern des Theoretikers Sieyès – zu vermitteln versuchte. Vgl. bspw. David Williams, Condorcet and Modernity, Cambridge 2004, insb. S. 268: “The plan for the 1793 constitution [...] would reflect, perhaps more than any other document, Condorcet’s vision for the ideal

die Verfassung selbst als tragendes Element einer auf Freiheit ausgerichteten Revolution und gerade auch als Schutz vor derjenigen ( jakobinischen) Verabsolutierung der Ausnahme begriffen, der er selbst zum Opfer fiel. Nachdrücklich plädierte er für einen pluralistischen Prozess sowie eine vernünftigen Korrektur des Rousseauschen radikalen Demokratiebegriffs, auf deren Basis der Gemeinwille weniger im spontanen Affekt als vielmehr langfristig-vernünftig und unter Einbezug eines funktionierenden institutionellen Gefüges ausgehandelt werden sollte. Mit Blick auf diese Beispiele hätte die “göttliche Gewalt” der Revolutionäre also durchaus kritischer beurteilt werden können.11 Demungeachtet ist die Differenziertheit des Essays schon allein deshalb nicht in Abrede zu stellen, weil es sich selbst zuvorderst als eine dem historischen Kontext verpflichtete Gegennarration gegen derzeit vorherrschende – eher verklärende als aufklärende – Erzählungen des Mythos “Französische Revolution” begreift. Dass diese bedenkenswert und unbedingt diskussionswürdig ist, steht letztlich außer Frage, vor allem auch in Hinblick auf den darin versteckten Appell, die souveräne Ausnahme aus ihrem derzeitigen gouvernementalen Normierungsgewand sowie aus ihrer alleinigen Kolonisierung seitens der Regierungen herauszuschälen – und zum Zwecke einer Neuartikulation eines demokratischen volonté générale fruchtbar zu machen; kurz: um die Ausnahme überhaupt erst wieder im Sinne des Gründungsgestus der französischen Revolution denken zu lernen. Nicht zuletzt versteht sich Wahnichs Abhandlung nämlich auch, wie bereits eingangs erwähnt, als Korrektiv gegenüber vorschnellen Vermischungen der Phänomene terreur auf der einen und Terrorismus auf der anderen Seite, wobei sie letzteren nicht allein auf Gewaltakte à management of the civil order, and of the Revolution itself, in accordance with the principles of the Enlightenment as enshrined in the Declaration of Rights. [...] Work on the new constitution took place against a background of conflicting interpretations of sovereignty and citizenship, originating with Montesquieu and Rousseau, the Rousseauist school being represented by Robespierre and his followers, and the Montesquieu school by Sieyès. The latter located sovereign power in an assembly of elected representatives, the former in the direct expression of public will. Neither school of thought, in Condercet’s view, took sufficient account of the need to educate the citizen in the exercise of political responsibility and the duties of citizenship, and he would seek to steer a course between the two. In this lay much of his originality as a political theorist.” 11 Vgl. hierzu insbesondere auch Derridas kritische Auseinandersetzung mit Benjamins Text: Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‘mystische Grund der Autorität’. Frankfurt a.M. 1991. Zur göttlichen Gewalt vgl. insb. S. 106ff.


la 9/11 oder den Anschlag auf Charlie Hebdo bezieht, sondern auch die ressentimentbesetzte Reaktion der USA auf den 11. September im Blick zu haben scheint. Was die herrschenden Formen des Terrorismus vom Gründungsakt, der unmittelbar mit der terreur verknüpft war, unterscheidet, sei die Absenz eines langfristigen, vom Volk ausgehenden Ziels der Menschlichkeit und Gerechtigkeit – d.h. hier auch der Artikulation einer Proposition der Gleichfreiheit bzw. Égaliberté, wie man hier mit Étienne Balibar ergänzen könnte12 – und der Verknüpfung mit einer artikulierten Volkssouveränität im Sinne eines volonté générale. Denn, so könnte man mit Wahnich argumentieren, obgleich George W. Bush seinen “war on terror” lautstark mit der vermeintlichen Verteidigung des “Fortschritts menschlicher Freiheit”13 verknüpfte, gilt Proudhons Diktum “Wer Menschheit sagt, will betrügen” wohl ungleich stärker für ihn als für die Jakobiner, die sich immerhin noch einem aufklärerischen, Rousseauistischen Erziehungsideal verpflichteten. Letzteres heißt auch, dass der Jakobinismus explizit gegen die alleinige mythische, d.h. nur rechtsetzende, Gewalt anzugehen versuchte – die Opferung des Lebens hätte allenfalls, so Wahnich, “zugunsten eines guten Lebens”14 erfolgen dürfen. Sie war also gekoppelt an ein die Realpolitik transzendierendes, moralisches Motiv. Dass das jakobinische Verfahren öffentlicher Vergeltung “erhebliche Risiken” berge und eine “furchtbare Prozedur” bleibe, ist die Autorin bereit, einzugestehen. Gleichzeitig müsse jedoch erkannt werden, dass “das politische Projekt des Jahres II der französischen Revolution” entgegen zeitgenössischen Formen des Terrorismus “auf eine universelle Gerechtigkeit zielte, die bis heute eine Hoffnung darstellt: die Hoffnung auf die Gleichheit der Menschen als wechselseitig gewährte Freiheit und auf die der Völker als wechselseitig gewährte Souveränität.”15 Gerade vor dem hier minutiös ausgebreiteten historischen Hintergrund scheinen Wahnichs zeitdiagnostische Schlussfolgerungen so verhängnisvoll wie alarmierend. Die Gewalt des gegenwärtigen Terrorismus stelle nämlich keines-

wegs, fern der Intentionen der revolutionären Schrekkensherrschaft,“ eine Form von Rechtsprechung” dar, “die auf die erneute Einigung der Gesellschaft abzielt”. Vielmehr nähmen derzeitige Gewalten “kriegerische” Gestalt an: “der Andere ist nur noch ein Feind, den es zu vernichten gilt.”16 Dieser demgemäß sehr klassisch-Schmittschen Freund-Feind-Politik17 steht derzeit, so Wahnich – und das ist das eigentlich alarmierende dieser durchweg zutreffenden Diagnose – ein weitestgehend handlungsunfähiger wie resignativer demos gegenüber: “Die Emanzipation hat an Terrain verloren, die Mutlosigkeit scheint eine Gesellschaft zu beherrschen, die wie 1793 gespalten ist.”18 Die emanzipatorische Perspektive, die der von Sophie Wahnich attestierten Mutlosigkeit entgegenzusetzen wäre, hätte sich also, und dafür formuliert “Freiheit oder Tod” hinreichend Gründe, auch heute nicht zuletzt an einem Neudenken der französischen Revolution zu orientieren – die die Ausnahme noch als Gründungsakt gegen das Bestehende zu denken im Stande war. Unter Rückgriff auf welche Formen der Gewalt oder Gewaltlosigkeit dieses Denken einer demokratisch-souveränen Ausnahme praktisch umzusetzen wäre, darüber stünde eine Diskussion freilich noch aus. Auf die Dringlichkeit einer solchen kritischen Auseinandersetzung hinzuweisen, ist jedenfalls die übergeordnete – gleichermaßen aufklärerische wie tugendhafte – Pointe dieses Buches. | Anna-Verena Nosthoff Sophie Wahnich Freiheit oder Tod. Über Terror und Terrorismus. Übersetzt von Felix Kurz Berlin: Matthes & Seitz 2016. 222 Seiten. 15 EUR ISBN: 978-3-95757-156-4

16 Ebd., S. 177.

14 Wahnich, Freiheit oder Tod, S. 127.

17 Eine der verheerendsten Formulierungen hierzu, die Schmitt Hegel entlehnt und an dieser Stelle für seine Freund-Feind-Unterscheidung fruchtbar zu machen sucht, findet sich in Der Begriff des Politischen: “Hegel hat endlich auch eine von neuzeitlichen Philosophien sonst meistens vermiedene Definition des Feindes aufgestellt: er ist die sittliche (nicht im moralischen Sinne, sondern vom ‘absoluten Leben’ im ‘Ewigen des Volkes’ aus gemeinte) Differenz als ein zu negierendes Fremdes in seiner lebendigen Totalität.” Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963 [1932], S. 62.

15 Ebd., S. 171.

18 Wahnich, Freiheit oder Tod, S. 177.

12 Vgl. Étienne Balibar, Gleichfreiheit. Frankfurt a.M. 2012. Vgl. hierzu auch Anastasiya Kaskos Überlegungen zu Balibar in diesem Heft, S. 46-47. 13 Vgl. G.W. Bush, address to a joint session of Congress and the American people, Friday, September 21st, 2001, online verfügbar unter: https://www.theguardian. com/world/2001/sep/21/september11.usa13.

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Gewalt.

N

Die Wiege der Gewalt

irgends1 ist Gewalt nicht. Mit und von Gewalt werden wir2 überwältigt und mit ihr und durch sie walten wir – allerorts und jederzeit3. Wir schaudern vor Berichten über Taten unaussprechlicher Brachialgewalt oder werden selbst von ihr verstümmelt, verletzt oder getötet – sei es physisch oder psychisch–wenn wir sie nicht selber vollziehen (und wahrscheinlich auch dann (teilweise))4. Wir erleben und leben Gewalt – sei sie subtil und zunächst kaum merkbar5 oder niederschmetternd – in unserem alltäglichen, sowohl sprachlich-kulturellen als auch körperlich-materiellen, Miteinander. Wir bauen unsere Staaten auf einem Fundament aus Gewalt, auf Säulen der Gewalt6; der Sockel unserer Gesellschaft ist nicht nur behauen7–, er haut auch. Wir alle, die wir andere hauen und uns hauen lassen, bilden diesen Sockel und erhalten und bewahren ihn. Und: In Zeitungen und wissenschaftlichen Abhandlungen, in der Literatur, im Kino bzw. Fernsehen und in der Musik, in Wirtshäusern, Straßenbahnen und Wohnzimmern (re)produzieren wir Menschen nicht nur Gewalt, sondern wir diskutieren sie auch. Wir reden und schreiben darüber, wo und gegen wen, oder was sie notwendig sei, und wo vielleicht weniger oder gar nicht, wie wir uns vor ihr und ihren Vollzieher_innen schützen können, wie sie am besten ausgeübt oder vermieden werden kann. 1 Dies gilt entweder absolut oder zumindest fast. 2 Gemeint sind alle Menschen. Ich versuche ein, wenn nicht das, Grundproblem menschlicher Existenz zu erörtern. Ich vermute, die Verallgemeinerung, die in der Annahme dieses Grundproblems steckt, ist zulässig. Jede_r Leser_in ist eingeladen, nachzudenken, ob bzw. in wie weit die Behauptung für ihn_sie tatsächlich zutrifft. Wer in einer völlig gewaltfreien Welt lebt, kann ja auf die Lektüre verzichten. Die Erscheinungsformen von Gewalt und die Reaktionsmöglichkeiten auf Gewalt (schaudern, sich verletzt fühlen usw.) sind natürlich nicht allgemein vorhersagbar, meine Aufzählungen sind als Beispiele zu verstehen. 3 siehe Fußnote 1. 4 Die Aussagen dieses sowie großteils auch des Folgesatzes belege ich nicht mit Quellen, da die entsprechenden Berichte durch ihr häufiges Vorkommen in den Massenmedien allgemein bekannt sind. Lediglich die Behauptung, dass auch subtilere (und nicht-physische) Gewaltformen allgegenwärtig sind, ist weniger selbstverständlich und wird von mir daher mit einem Beleg versehen. Sofern auch im weiteren Text Aussagen ohne Quellenbelege stehen, ist dies ebenfalls auf ihre allgemeine Bekanntheit zurückzuführen. 5 Vgl. Evans, Patricia (2014): Worte, die wie Schläge sind: Verbale Gewalt. In: re-empowerment.de, Zugriff: 27.07.2016*. *Ich verzichte hier auf Seitenangaben, da ich mich nicht auf einzelne Aspekte des Werkes beziehe, sondern auf ein Grundproblem des selbigen. Dies gilt auch im Folgenden für alle Quellenangaben, die mit einem Sternchen (*) versehen sind. 6 Vgl. URL 1 URL 1: https://www.parlament.gv.at/PERK/PARL/POL/ParluGewaltenteilung/, Zugriff: 12.09.2016*. 7 „Hauen“ steht hier metaphorisch für alle Formen der Gewalt.

Aber wie oder woher kommt sie überhaupt in unsere Welt? Dadurch, dass sie ausgeübt wird, na klar. Doch wie und wo beginnt die Ausübung von Gewalt? Wie wird sie überhaupt erst möglich? Diese Fragen sind entscheidend8 für jeden Versuch einer Gewalt-Verminderung oder gar einer Überwindung oder Beendigung der Gewalt9. Aus diesen Gründen wird diesen Fragen auch immer wieder eifrig nachgegangen. So erklärt etwa der historische Materialismus Gewaltverhältnisse als auf den historischen und gegenwärtigen Produktionsverhältnissen fußend10, poststrukturalistisch geprägte Theorien sehen eher die Eingeschriebenheit der Gewaltverhältnisse in unser sprachliches Denken als ihren sonstigen Manifestationen vorausgehend11. Doch beide Theorieansätze heben nur bestimmte Gewaltverhältnisse als besonders zentral hervor, können aber keine Antwort auf die Frage geben, welches Gewaltverhältnis allen anderen ganz grundsätzlich, logisch und auch zeitlich vorausgeht. Stattdessen möchte ich hier zumindest kurz andeuten, welches das primäre Gewaltverhältnis ist, das den Anfang bildet, von dem aus – die bereits angedeuteten – anderen Gewaltverhältnisse erst möglich werden. Es ist spätestens seit Arnold Gehlens „Der Mensch“12 allgemein anerkannt, dass es keine irgendwie vorbestimmte menschliche Natur gibt, keine allgemein menschliche Tendenz zur Gewalt oder zum friedlich-gleichberechtigten Miteinander, sondern dass der Mensch das ist bzw. wird, was sie_er aus sich macht. Dies bedeutet nicht, dass sich jeder Mensch unabhängig von seiner_ihrer Umwelt entwickeln kann, sondern dass wir uns selbst und gegenseitig durch Verhältnisse konstituieren, als die wir unser Zusammenleben konstruieren13. 8 Warum die Kenntnis der Ursache eines Problems entscheidend für seine Überwindung ist, scheint mir evident. 9 Ich beziehe mich bewusst nur auf diese Gewalt implizit oder explizit als problematisch und dezimierens- oder überwindenswert betrachtenden Ansätze. Ob es eine Gewalt um der (Maximierung der) Gewalt willen geben kann, ist höchst umstritten (vgl. z. B. Schmid, Hans Bernhard (2011): Moralische Integrität: Zur Kritik eines Konstrukts. Berlin: Suhrkamp). Ich gehe daher hier von der Arbeitshypothese aus, dass dies nicht der Fall ist und auch scheinbar rein destruktive Gewalt wiederum eine Antwort auf eine andere Gewalt, ein Versuch, mit einer solchen irgendwie umzugehen – also nur im Rahmen der sogenannten Gewaltspirale – zu verstehen ist. 10 Marx, Karl (1930): Zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz*. 11 Vgl. z. B. Butler, Judith (2006): Haß spricht: zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp* 12 Vgl. Gehlen, Arnold (1997): Der Mensch: seine Natur und seine Stellung in der Welt. Paderborn & Wien: Schöningh (u. a.)*. 13 Vgl. z. B. Engels, Friedrich & Marx, Karl (1999): Das kommunistische Manifest: eine moderne Edition. Hamburg (u. a.): Argument.*


Die Antwort auf die Frage, welches dieser Verhältnisse allen anderen vorausgeht, ist eigentlich trivial. Wie und warum bzw. unter welchen Umständen dieses die Bedingung der (Re-)Produktion einer grundsätzlich gewaltförmig organisierten Gesellschaft und eines Gewalt – sei es als Opfer oder Täter_in oder, wie wohl meist, als Opfer UND Täter_in – bejahenden Menschen ist, ist schon eher umstritten. Das primäre Verhältnis menschlichen Zusammenlebens heißt derzeit fast überall Erziehung. Dass jenes erste Verhältnis menschlicher Interaktion, das derzeit (fast) allerorts von der Erziehung geprägt ist, entscheidend ist sowohl für die Konstituierung des individuellen Menschen als auch für die der Gesellschaft, würde wohl kaum jemand bezweifeln.14 Es wird aber sehr viel darüber gestritten, welche Form der Erziehung mit welchen Formen der individuellen und interindividuellen Entwicklung in Verbindung gebracht werden kann. Diesem Streit liegt ein Missverständnis zugrunde. Die Überzeugung, es könne sowohl eine autoritäre Erziehung geben, wie auch eine antiautoritäre, eine, die die psychischen Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft schafft, ebenso wie eine, die den Grundstock einer faschistischen Gesellschaft bildet, eine, die emotional verkrüppelt, so wie auch eine, die jungen Menschen dabei hilft, glücklich zu werden, beruht auf einer Fehlannahme. Dieser Überzeugung liegt die Annahme zugrunde, die Erziehung wäre ein luftleerer Raum, der beliebig mit Inhalten gefüllt werden könne. Diese Annahme, dass die Erziehung ein politisches und beziehungspsychologisches Vakuum wäre, dem man nach Lust und Laune Inhalt geben könne, kann bei näherer Betrachtung relativ leicht als Irrtum entlarvt werden. Erziehung ist immer ein hierarchisches Machtverhältnis15. Erziehung bedeutet stets, dass ein (älterer) Mensch besser zu wissen glaubt, was für einen anderen ( jüngeren) Menschen gut ist, als dieser andere Mensch selbst. Erziehung bedeutet also immer, dass das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen nicht respektiert wird, sondern andere Menschen mittels mehr oder weniger subtiler Gewalt über sie_ihn und ihr_sein Leben verfügen. Die Mittel der Wahl mögen Erpressung durch (Androhung von) Liebesentzug und/oder (Androhung) physische(r) Gewalt und/oder Steuerungsversuche durch (Inaussichtstellen von) Belohnungen sein. In jedem Fall wird versucht, den Willen eines Menschen dem Willen eines anderen Menschen zu unterwerfen. Erziehung ist also – egal, welchen Idealen sie folgt, und egal, welche Erziehungsmittel sie wählt – gewaltvolle Unterwerfung. Erziehung ist aber nicht irgendeine gewaltsame Unterwerfung, sondern – wie bereits angedeutet – die allererste, die wir als Menschen erfahren. Wenn wir erzogen werden, so ist das das erste Mal, dass uns gegen unseren Willen etwas (nämlich: Ge-

14 Es gibt, soweit ich weiß, durchaus Diskussionen über den Grad der Relevanz, aber dass die Erziehung quasi nirgends als irrelevant erachtet wird, ist jedenfalls belegt – u. a. durch die Tatsache, dass sie noch kaum irgendwo abgeschafft ist. 15 Vgl. hierzu und zum Folgenden Braunmühl, Ekkehard von (2006): Antipädagogik: Studien zur Abschaffung der Erziehung. Leipzig: Tologo.*

walt) angetan wird. Wenn wir erzogen werden, so lernen wir menschliches Beziehungsleben als von gewaltvollen Machtverhältnissen bestimmt kennen. Wir lernen Gewalt als scheinbar notwendiges und legitimes Grundelement menschlichen Miteinanders kennen und reproduzieren daher in unserem weiteren Leben in der Regel auch jene von Gewalt geprägte Basalstruktur menschlichen Zusammenlebens. Wir lernen also durch Erziehung von Anfang an, es als ganz normal zu akzeptieren, dass andere uns Unrecht bzw. Gewalt antun, dass andere uns wehtun, unsere Integrität verletzen. Und wir lernen im Umkehrschluss auch, dass auch wir anderen Gewalt antun, anderen wehtun dürfen bzw. auch müssen16. Dies ist die Grundlage für jedes Verhalten, das die persönlichen Grenzen unserer Mitmenschen gewaltsam überschreitet. Dies ist die Grundlage17 für jedes antisoziale Verhalten und für die Notwendigkeit von Gegengewalt (z. B. in Form staatlicher Gewalt) zur (symptomatischen) Bekämpfung solcher Verhaltensweisen. Dies ist auch die Grundlage für die alltägliche gewaltvolle Unterwerfung durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse – sowohl für ihre Initiierung auf Seiten der Kapitalseigner_innen als auch für ihre Akzeptanz auf Seiten der Lohnabhängigen. Dieses primäre Gewaltverhältnis – die Erziehung – ist die Wiege jeglicher Gewalt in unserer Gesellschaft. Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns diese Tatsache vor Augen führen. Wenn wir das getan haben, können wir uns überlegen, ob wir weiterhin gewalttätig interagieren möchten, oder ob wir nicht doch mit dem Erziehen aufhören18 wollen.

| Nicola Spannring

16 Nähere Ausführungen würden leider den Rahmen sprengen. Bei Interesse dürfen Sie mich gerne kontaktieren (nicolaspannring@hotmail.com), liebe Leser_innen! Ich beschäftige mich seit etwa zehn Jahren ausführlich mit der Problematik und freue mich immer über Menschen, die hierzu mit mir diskutieren wollen. Außerdem empfehle ich allen Interessent_innen die Lektüre von Braunmühls Antipädagogik (vgl. Braunmühl, Ekkehard von (2006): Antipädagogik: Studien zur Abschaffung der Erziehung. Leipzig: Tologo). Ich teile nicht jede seiner Positionen vollständig und halte auch seinen Stil für zum Teil problematisch, aber er ist der Begründer der Analyse des hier angesprochenen Grundproblems und illustriert es zudem sehr schön.* 17 Das bedeutet nicht, dass jedes Gewaltphänomen ausschließlich auf die Erziehung zurückzuführen ist. Die Erziehung ist eine zentrale Bedingung der Möglichkeit von Gewalt. Dies meine ich, wenn ich sie „die Bedingung“ nenne und nicht, dass sie die einzige ist. Das bedeutet also nicht, dass nicht zusätzlich noch andere Umstände beseitigt werden müssten, wenn es keine Gewalt mehr geben soll. Und es bedeutet vor allem auch nicht, dass jede Erscheinungsform von Gewalt in ihrer Beschaffenheit vollständig durch die Erziehung determiniert ist. Erziehung ist wie gesagt die zentrale Bedingung der Möglichkeit, also Bedingung dafür, dass es überhaupt Gewalt gibt; wie diese Gewalt im Einzelfall aussieht, hängt natürlich von einer Reihe von Faktoren ab. 18 Dieses Ziel können wir erreichen, indem wir (auch mit der jüngeren Generation) „einfach“ nicht mehr hierarchisch interagieren, sondern (möglichst) gleichberechtigt (vgl. Braunmühl, Ekkehard von (2006): Antipädagogik: Studien zur Abschaffung der Erziehung. Leipzig: Tologo). Natürlich ist das nicht leicht unter den Bedingungen einer Erziehung erfordernden Gesellschaftsordnung, aber es ist notwendig, dies so weit wie irgendwie möglich zu versuchen, wenn wir diese Gesellschaftsordnung verändern wollen. Wie solche Versuche aussehen können, erläutert auch Braunmühl näher (vgl. Braunmühl, Ekkehard von (2006): Antipädagogik: Studien zur Abschaffung der Erziehung. Leipzig: Tologo).*

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Das A-/andere b-/Begehren.

Die Moderne als Kultur der

VER-GEWALTIGUNG Nietzsche als Kritiker der Gewalt


E

s steht […] nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind; selbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweckund Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit […]; Hybris ist unsre Stellung zu u n s , — denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am „Heil“ der Seele! Hinterdrein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, — die K r a n k m a c h e r scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und „Heilande“. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nussknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei, als Nüsseknacken; ebendamit müssen wir nothwendig täglich immer noch fragwürdiger, w ü r d i g e r zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger — zu leben?…1

Nietzsche nennt in diesem Absatz drei Hinsichten, in denen das „moderne Sein“ – unser Sein – „Hybris“ ist: Es ist Hybris, da wir der Naturbeherrschung keine Grenzen mehr setzen; es ist Hybris, da wir kein höchstes Wesen mehr außer uns selbst anerkennen und damit keine absolute Moral mehr kennen; es ist Hybris, da auch wir uns selbst zum unbeschränkten Spielball unseres Experimentierwillens machen. Das

Irritierende an dieser Diagnose ist fraglos, dass sie einerseits in einem ganz pejorativen Jargon vorgetragen ist – so, als brächte sie eine fundamentale Kritik an der Moderne zum Ausdruck –, dass sie andererseits jedoch genauso gut als Lob gelesen werden kann, geriert sich Nietzsche doch immer wieder als Apologet von Stärke, Macht und Machtbewusstsein und sieht in Gewalt und selbst Vergewaltigung keinesfalls notwendig etwas Schlechtes – im Gegenteil. Erst der weitere Verlauf der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral macht deutlich, dass es sich um eine grundsätzliche Kritik handelt. Nietzsche beschreibt hier die moderne Lebenswelt als äußerste Zuspitzung des vom Christentum geerbten Glaubens an das asketische Ideal, diese[m] Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, diese[m] Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese[r] Furcht vor dem Glück und der Schönheit, diese[m] Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst[.]2 Die Wissenschaftler und Philosophen, „diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen“3, glauben bei allem Unglauben letztendlich doch an eines: Das asketische Ideal selbst. Oder, anders gesagt, „sie glauben noch an die Wahrheit …“4, sie suchen noch nach objektivem Wissen, obwohl ihre eigene Epistemologie – die ihren höchsten Ausdruck bei Kant findet – zugleich lehrt, dass es ein Objekt ohne ein Subjekt, das es sich zum Objekt macht, eine reine leere Abstraktion ohne Inhalt ist. Die äußersten Zuspitzungen des modernen Wahrheitsstrebens – und damit der christlich-abendländischen Kultur überhaupt – sind somit universeller Skeptizismus, Relativismus und Nihilismus; die christlich-abendländische Kultur ist eine Kultur, die sich als Kultur gerade selbst aufhebt. 2 GM III, 28; S. 412.

1 GM III, 9; S. 357 f. (Aus der Genealogie der Moral [Nietzsche 1999] wird auch im Folgenden stets unter der Sigle GM und Angabe von Abhandlungs- und Abschnittsnummer zitiert.)

3 GM III, 24; S. 398. 4 GM III, 24; S. 399.

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Es ist kein Einwand gegen diese Diagnose, dass die moderne Kultur ja gerade nicht auf besonderer Sittenstrenge basiert, sondern auch alle möglichen Arten der Ausschweifung und des Vergnügens kennt. Denn Nietzsche beschreibt die vom asketischen Ideal beherrschte Kultur gerade als eine solche, in der die Menschen von jedwedem natürlichen Bedürfnis entfremdet werden, um das daraus folgende Gefühl der inneren Leere jedoch zu kompensieren, alle möglichen Formen künstlicher Ausschweifungen verabreicht bekommen. Nietzsche listet folgende Methoden auf: 1. Herabsetzung des Lebensgefühls auf den niedrigsten Punkt – also Vermeidung jeglichen Unlustgefühls durch äußerste Zuspitzung der Askese durch Praktiken der radikalen „Entselbstung“ und Abtötung des Leibes.5 2. Selbstbetäubung durch eine „machinale Tätigkeit“ in Form irgendeiner stumpfen, selbstlosen Arbeit.6 3. Das Glück der „kleinen Freude“.7 4. Die „Heerdenbildung“.8 5. Die „Ausschweifung des Gefühls“.9 Zu der letzten Variante, die er besonders kritisch darstellt, schreibt Nietzsche: [I]ch mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und „objektiv“ blicken; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle HornviehElemente des Volkes aufzuregen suchen […]. Europa ist heute reich und erfinderisch vor Allem in Erregungsmitteln, es scheint Nichts nöthiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende, verlogne, pseudoalkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wie viel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von HeldenKostümen und Klapperblech grosser Worte, wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls […], wie viel Stelzbeine „edler Entrüstung“ zur Nachhülfe geistig Plattfüssiger, wie viel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportirt werden müssten, damit seine Luft wieder reinlicher röche… Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels-Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen „Idealisten“ ein neues „Ge-

schäft“ zu machen — man überhöre diesen Zaunspfahl nicht! Wer hat Muth genug dazu? — wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu „idealisiren“!…10 All das liest sich wie eine Beschreibung auch unserer heutigen Kultur, der kaum etwas hinzuzufügen ist. Allerdings gilt es, genauer zu bestimmen, worin genau die „Vergewaltigung“ der modernen Kultur besteht und was sie genau so zerstörerisch macht. Der eigentliche Witz von Nietzsches Analyse liegt darin, dass die „Vergewaltigung“ der modernen Kultur genau darin besteht, eine Kultur ohne Gewalt sein zu wollen – und die mithin eine unaufrichtige, selbstwidersprüchliche Kultur ist, insofern auch sie, wie jede Kultur, auf Gewalt fußt. Dies wird ganz deutlich, wenn man das Ende des eingangs zitierten neunten Abschnitts betrachtet: Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung am Rechte der Gemeinde; man hat einst Busse dafür gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für sich anzumaassen […] . Die sanften, wohlwollenden, nachgiebigen, mitleidigen Gefühle — nachgerade so hoch im Werthe, dass sie fast „die Werthe an sich“ sind — hatten die längste Zeit gerade die Selbstverachtung gegen sich: man schämte sich der Milde, wie man sich heute der Härte schämt […]. Die Unterwerfung unter das Recht: — oh mit was für Gewissens-Widerstande haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf Vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt eingeräumt! Das „Recht“ war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt auf, als Gewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Jeder kleinste Schritt auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: dieser ganze Gesichtspunkt, „dass nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein! das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt hat“, klingt gerade heute uns so fremd[.] […] Nichts ist theurer erkauft […] als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der Sitte“ zu empfinden, welche der „Weltgeschichte“ vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere an sich überall in Geltung war!11

5 GM III, 27; S. 379-382. 6 GM III, 18; S. 382 f. 7 GM III, 18; S. 383. 8 GM III, 18; S. 383 f. 9 GM III, 19-21; S. 384-392.

10 GM III, 26; S. 407 f. 11 GM III, 9; S. 358.


Dementsprechend heißt es von jener modernen Wissenschaftlichkeit: [J]ene verehrenswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpflichtet, jener Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes Stehenbleiben-W o l l e n vor dem Thatsächlichen, dem factum b r u t u m , […] jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum W e s e n alles Interpretirens gehört) — das drückt, in’s Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung).12 Entscheidend ist hier zweierlei: Das moderne Recht unterscheidet sich vom vormodernen Recht darin, dass es nicht nur „mit“, sondern auch „als Gewalt“ auftritt, während das moderne Recht zwar nur dadurch funktioniert, dass es mit Gewalt auftritt, jedoch von sich behauptet, gerade keine Gewalt zu sein, sondern Mittel zur Herstellung des allgemeinen Friedens. Ebenso beansprucht die moderne Wissenschaft gerade keine Interpretation zu sein, sondern wirkliche Objektivität – obwohl sie, insofern sie Interpretation bleibt, dem Gegenstand notwendig Gewalt antut. Nietzsche sagt selbst, dass er in dieser Selbstwidersprüchlichkeit und Unaufrichtigkeit das größte Problem der modernen Kultur sieht: „Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es e h r l i c h ist! so lange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht!“13 Ein aufrichtiges asketisches Ideal müsste freilich von sich selbst in Nietzsches Logik sagen, dass es seinen eigenen Untergang und mit ihm den Untergang der gesamten Menschheit möchte – eine bei Nietzsche zwar mögliche, aber kaum wirklich einzunehmende Position. Wer will schon gegen das Leben und für den Tod sein? Wenn man das Leben bejahen möchte, muss man allerdings, so Nietzsche, auch die Gewalt bejahen. Freilich folgt daraus mitnichten eine Affirmation von jeder Form von Gewalt. Es folgt daraus zunächst nur, sich zur Gewalt in ein anderes Verhältnis zu setzen und nicht von der Utopie absoluter Gewaltlosigkeit – also etwa des Kantschen „ewigen Friedens“ – auszugehen. Man gibt schlicht das universelle Werturteil „Gewalt ist schlecht“ auf und beurteilt den je konkreten Einzelfall – ansonsten wäre auch Nietzsches Kritik der modernen Kultur als Kultur der Ver-gewaltigung absurd. Was er an der modernen Form der Gewalt kritisiert, ist, dass sie – gerade, weil sie sich selbst als Gewalt verleugnet, nicht mehr als Gewalt auftritt – kein Maß mehr kennt und dem Leben mit seiner Gewaltsamkeit auch jeden Sinn nimmt.

*** Wie jeder bedeutende philosophische Entwurf hat auch Nietzsches Modell eine große Suggestivkraft. Man darf freilich die eigentliche Pointe seiner Kritik der Moderne nicht übersehen: Während die meisten anderen Kritiken der modernen Gesellschaft dieser gerade vorwerfen, noch zu gewalttätig, zu partikularistisch, zu unaufgeklärt zu sein, dreht Nietzsche den Spieß genau um und kritisiert an der modernen Gesellschaft (und damit auch allen modernen Ideologien von rechts bis links) gerade die Abwesenheit von aufrichtiger Gewalt (sicherlich kein ‚zu wenig‘ an Gewalt, sondern im Gegenteil ja gerade ihre Maßlosigkeit). Wollen wir unsere eigene Kultur wirklich aus dieser Perspektive betrachten? Und was wäre der Gegenentwurf zu ihr? Die zitierten Stellen belegen klar, dass Nietzsche in konservativen und reaktionären Ideologien keinen tragfähigen Gegenentwurf zur modernen Kultur der Ver-gewaltigung sieht – es handelt sich um Mittel zur Berauschung, um dem sich sonst unweigerlichen Gefühl der Sinnlosigkeit auszuweichen; seine Hoffnungen setzt Nietzsche jedoch gerade in eine Zuspitzung dieses Gefühls. Denn nur am äußersten Punkt des Nihilismus kann der moderne Mensch die Frucht all seiner Bemühungen erkennen: Alle natürlichen Schranken wurden beseitigt, vor ihm liegt ein unendliches Meer an neuen, ungeahnten Möglichkeiten des Mensch-Seins. Das Problem der Moderne ist gerade, dass sie diese historisch einmalige Möglichkeit nicht ergreift – was immer eine gewisse Gewaltsamkeit, eine gewisse Anmaßung und Willkür bedeutet –, sondern vielmehr in Selbstverneinung und -verleugnung versinkt. Am Auslaufen gehindert wird das Schiff der Moderne an den zusammenhängenden Gewalten Macht und Staat – die ihre Gewaltsamkeit gerade verschleiern. Unter dem Banner von ‚Gleichheit‘, ‚Frieden‘, ‚Freiheit‘, ‚Menschenrechten‘ etc. wird gerade ein Zustand konserviert, der alle gleichermaßen in Arbeitssklaven verwandelt. Das sah in seiner Zeit außer Marx wohl niemand so klar wie Nietzsche – und es hat bis heute unverändert Gültigkeit.

| Paul Stephan

Literatur Nietzsche, Friedrich (1999): Zur Genealogie der Moral. In: Kritische Studienausgabe Bd. 5, S. 245 ff. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. [GM]

12 GM III, 24; S. 399 f. 13 GM III, 26; S. 407.

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Gewalt.

Die Zerrissenheit

der Welt

U

nd nachdem Achill ihn dreimal um die Stadtmauern Trojas gehetzt hatte, stellte sich Hector dem übermächtigen Gegner. Es heißt, Hector hatte seinen Mut wiedergewonnen, den er zuvor auf dem Schlachtfeld im Angesicht des schier unermesslichen Zorns Achilles’ verloren sah. Doch an welcher Einsicht hing sein neu gewonnener Mut? War es Trotz, gar Mut? Ergab er sich seinem Schicksal? Und war darin nicht auch das Schicksal des Achill verwoben? Vielleicht war Hector der erste Held wider Willen, der erste vormoderne Anti-Held, wie man ihn sonst nur aus dem Film-Noir kennt. Sicherlich nicht im klassischen Sinne aufgrund der Struktur, die einen Ausweg verunmöglicht hatte oder ihn in entgegengesetzter Richtung zu ihrem eigenen Versprechen aufstellt oder aufgrund der Korrumpiertheit der Welt, die den Helden ausschließlich noch negativ zulassen wollte. Hector handelte gewaltvoll gegen sich selbst. Gewaltvoll gegen die Vernunft, die ihm mit jeder Faser seines Körpers zur Flucht riet. Gewaltvoll musste auch sein Handeln gegen den eigenen Willen sein, um es mit dem von Dionysos beseelten Achill aufzunehmen. Gewalt musste in jede denkende und agierende Zelle kriechen und ihre Mechaniken mit geballter Faust umschließen, bis auch der letzte Nerv abgestorben war, der sich zaghaft Richtung Hoffnung gesehnt hätte. Hector richtete die Gewalt mit einer Härte nach innen, deren äußere Darstellung wohl nur der Kraterhölle von Verdun entsprechen kann. Mit einer unvorstellbaren Wucht torpedierte Hector sein eigenes Wirken. Geschoss um Geschoss ließ er auf seinen Fluchtreflex, seine Angst, sein Gewissen, seinen Instinkt, seine genealogischen Pflichten niederregnen – um sich und seine um die Stadtmauern eilenden Schritte aufzuhalten. Im Moment,

***

als er sich dem Verfolger zuwandte, schien es, als drehe sich die gesamte Erde unter seinen Füße mit ihm. In dieser Drehung lag alles Gewicht der Welt und ihre historische Gewordenheit, jede einzelne menschliche Existenz und ihre myriaden Erfahrungen waren darin aufgehoben. Die Eigentlichkeit der Vorsehung des Menschengeschlechts musste für einen winzigen Moment in der Geschichte des Universums nachgeben, so sehr hatte Hectors Kraftakt Raum und Zeit bis zu den Enden der Milchstraße durchschritten, und in dieser Abmessung seine Entscheidung unwiderruflich verfestigt. Mit der Vorwärtsverlagerung des Oberkörpers, dem Ausholen des Schwertes, seinem sich von oben herabsenkenden Schwung und dem Klang der aufeinandertreffenden Klingen bahnte sich die Gewalt ihre Spur. Die Gewalt, die er gegen sich hatte herrschen lassen, verwandelte sich in Energie, in physischen Widerstand, transzendierte seine Handeln, war von einer gänzlich neuen Qualität. Sie hatte sich nicht vom Leben leiten lassen, sondern ausschließlich von der ihr innewohnenden Zügellosigkeit. Sie war schnell, geschickt und trickreich. Alles in ihrem Weg walzte sie unerbittlich nieder und opferte es der spontanen Handlung. Insofern wäre es vielleicht richtiger, von einem Wandel der Form zu sprechen oder von einer zweiten Geburt einer anderen Gewalt – der inneren terreur. Gewalt hatte es schon immer gegeben. Der Mythos war übersät davon. Aber diese hier wollte sich feiern, obwohl sie feige war, wollte heroisch sein, obwohl sie winzig blieb. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf den etymologischen Ursprung des Begriffs ‚Gewalt’. Dieser wird im althochdeutschen von ‚waltan’ abgeleitet, was so viel bedeutet wie ‚beherrschen’ oder ‚stark sein’. Fer-


ner verweist ‚waltan’ auf die Konnotationen ‚für etwas sorgen’ und ‚etwas bewirken’. In Die Schrift und die Differenz1 bestimmt Jacques Derrida diesen Raum, diese dialektische Distanz, die nie eine tatsächliche sein kann, als das große „(Da)zwischen“, ein Raum in dem die différance ihre Präfiguration erfährt, ihr ent-gründeter Urgrund morphe Masse wird, ihre Potenz zur Konstruktion offenbart und ihren Zerfall in naive Semiotik simuliert. Michel Foucaults Untersuchung Die Sorge um sich2 beginnt nicht umsonst bei antiken Praktiken der Selbstsorge und ihren strukturellen wie kulturellen Initiationsriten. In gewisser Weise sind sie es, die Hector ein Interesse an der Gewalt vermitteln. Er sorgt nicht für sich selbst im Moment der Entscheidung. Ja, er sorgt sogar gegen sich. Dennoch möchte er etwas bewirken – dass seine Stadt verschont bleibt. Dass kein weiteres Blut mehr vergossen wird. Dass auch sein Name die Jahrhunderte überdauert. Jeder Partikularität beraubt, bleibt ihm nur noch die Flucht in den Pathos: Niederlage oder Sieg. Absolute Dichotomie, globaler Selbstbetrug – Wahnsinn. Es verwundert daher kaum, dass die Geschwister der Gewalt (Βία [griech.]: Kraft), Sieg (Νίκη [griech.]: Ruhm), Macht (Κράτος [griech.]: Stärke) und Eifer (Ζῆλος [griech.]: Streben) sind. Sie alle hatten im Kampf gegen die Titanen die Seite des Zeus gewählt und damit die erste Rebellion der Geschichte gegen die (Ur-) Väter unterstützt. Die vermeintliche zweite Rebellion des Hector ist jedoch grundlegender. Alle Eigenschaften der Götter vereinend, beantwortet er seine innere Zerissenheit zwischen ‚für etwas sorgen’ und ‚etwas bewirken’ mit einer Gewalt, die er nur auf sich richtet, die nicht für etwas sorgen kann und nichts bewirkt. Es war der aktive Versuch der Entleerung des Zeichens. Doch man kann nie nicht für etwas sorgen, genau wie man nie etwas nicht bewirken kann. Die Möglichkeit einer neuen Welt im „(Da)zwischen“ war sein Irrglaube. Denn im Glauben daran, die Gewalt nach innen zu richten und damit einer kontrollierten Implosion zu unterziehen, begeht er Verrat am Mythos und Verrat an der Rebellion. Diese erste3 nämlich war brutal und unnachgiebig, wie einst die Guillotine der Jakobiner im ausgehenden 18. Jahrhundert.4 Und war sie nicht auch rein, sogar unbefleckt? Diese erste Rebellion hatte sich um nichts und 1 Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 121-258.

niemanden geschert. Sie war losmarschiert und hatte die Titanen beseitigt. Diese zweite – sie ist deswegen eine, weil Hector gegen die bisherige Verfassung der Welt (Tod oder Leben) aufbegehrt – ist zaghaft, sie denkt zu viel, will es allen und jedem Recht machen, vor allem sich selbst. Unfähig, eine Entscheidung zu treffen, und verzweifelt auf der Suche nach einer Art drittem Weg, entblößt sich Hector schlussendlich als Vertreter zutiefst bürgerlicher Ordnungen. Er traut sich nicht zur Flucht und zwingt sich dann zum Kampf. Er erhält aufrecht, was er nicht aufrecht erhalten will. Hectors Gewalt war demnach Repression. Achilles’ Gewalt war Rache. Das Duell gewann Letzterer. Er band den Leichnam des Trojaners schließlich an die Enden seines Streitwagens und verhöhnte diesen Ort im Nirgendwo des Sandes zwischen politischem Leben (Bios) und bloßer Physis (Zoë). Er musste nicht zerrissen sein. Er hatte seinen geliebten Vetter Patroklos verloren. Ihn trieb die Rache, der gerechte Zorn. Und dieser trieb ihn weit und gut. Sie war ein Vorgriff Hectors, bevor dieser überhaupt erahnen konnte, welche Konsequenzen jene Form haben würde, die er bald darauf „seiner“ Gewalt verlieh. Sie war notwendig, denn zu oft in ihrer weiteren Geschichte würde die Welt sich ein Beispiel an Hector nehmen. Die Antwort musste Rache sein. Rache, weil die Welt einst zerrissen wurde. Weil ein Mensch ihr nicht standhielt. Weil er ihr denkend gegenübertrat. Seither bemüht sich die Welt um Heilung. Eine Heilung im Schatten der Repression. Aus der Beobachterperspektive bleibt festzuhalten, dass es zu allem Überdruss und entgegen dem Versprechen seiner Mutter Thetis nicht der Name Achill war, welcher die Jahrhunderte überdauerte. Es war das Erbe, die Gewalt Hectors, die wie eine Götze verherrlicht wurde und sich daher tief ins Menschengeschlecht und seine Kollektivpsyche vergrub. Wer nur hatte es zu verantworten, dass man dem Feigling, der es geschafft hatte, von allen als Held gesehen zu werden, huldigt? Hector hatte mit seiner Tat, trotz edler Absicht, den Lauf der Welt ein und für alle Mal verändert. So galt seither, was Nietzsche über die moderne Kultur erst noch behaupten würde, dass ihre „Vergewaltigung“ genau darin bestehe, eine Kultur ohne jegliche Gewalt sein zu wollen.5 | Jan Philipp Schewe

2 Foucault, Michel (1989): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 3 Während der Titanomachie hatten sich die Brüder Zeus, Poseidon und Hades gegen ihren Vater, den Titanen Kronos, verbündet und diesen nach langem, zähen Kampf schlussendlich besiegt. 4 Vergleiche hierzu auch Anna-Verena Nosthoffs Rezension zu Sophie Wahnichs Freiheit oder Tod in diesem Heft, S. 14-17.

5 Siehe dazu Paul Stephans Artikel “Die Moderne als Kultur der Ver-gewaltigung” in diesem Heft, S. 20-23.

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Gewalt.


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Ihre Allmacht und Ohnmacht engagĂŠe | 27


Gewalt.

Kulturkampf und soziale Frage

Diskussion: Ein Versuch, Donald Trumps Erfolg zu verstehen

N

ach dem Sieg von Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen läuft die Ursachensuche unter Linken auf Hochtouren.1 Die einen verweisen auf die sozialen Umwälzungen im Zuge des neoliberalen Klassenkampfs von oben. Andere führen den Erfolg des Vielfachchauvinisten auf einen rechten Kulturkampf zurück, bei dem es um den Erhalt der Privilegien der Weißen geht.

Wie bei vielen anderen Diskussionen der vergangenen Monate innerhalb der Linken ist auch bei der Analyse der USWahlen die Schlüsselfrage, ob wir es mittlerweile mit einer rechts wählenden Arbeiterklasse zu tun haben. Wie beim Brexit (ak 618) und den Stimmen für die AfD (ak 615) gilt auch in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen: Es wäre verkürzt davon zu sprechen, »die« Arbeiterklasse würde sich rechten Projekten anschließen. Auch Trump wurde nicht von allen Teilen der Arbeiterklasse gleichermaßen gewählt, sondern vor allem von weißen Arbeiter_innen, die - zumindest, was das Einkommen angeht - eher zu den Bessergestellten zählen. Laut der New York Times lag Hillary Clinton bei Wähler_innen mit einem Jahreseinkommen von unter 50.000 Dollar vorne, Trump bei allen Einkommensgruppen darüber. Gleichzeitig gewann er vier Fünftel der Stimmen der Wähler_innen, die ihre eigene finanzielle Situation heute schlechter einschätzen als früher. Der Kandidat der Republikaner konnte auch bei jenen punkten, die erwarten, dass es den zukünftigen Generationen schlechter gehen wird als ihnen. Trump fischte also vor allem 1 Der Beitrag ist erschienen in: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 621 / 15. 11. 2016.

bei jenen, die sich keinen Aufstieg mehr vom Neoliberalismus erwarten, sondern das Hab-und-Gut, das sie sich erarbeitet haben, schützen wollen. Was bei der Diskussion um das Wahlverhalten der einkommensärmsten Gruppen gerne vergessen wird: In den USA wie in Deutschland gehen die »Abgehängten«, die Ärmsten der Armen, meist gar nicht zur Wahl. So sinkt etwa in Deutschland die Wahlbeteiligung seit 40 Jahren kontinuierlich, allerdings nicht in allen Statusgruppen im gleichem Maße, sondern vor allem bei Menschen aus der Unterklasse. In den USA kommt erschwerend hinzu: Eine beträchtliche Zahl an Menschen sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie Probleme mit der Strafjustiz hatten. So durften in Swing States wie Virginia und Florida 30 bis 40 Prozent der schwarzen Männer gar nicht erst wählen. Der absolute Anteil der Stimmen aus der Unterklasse für Trump dürfte angesichts einer in den USA ohnehin traditionell relativ niedrigen Wahlbeteiligung äußerst gering sein. Doch wenn die Erklärung nach der Polarisierung zwischen Arm und Reich unzureichend ist, um Trumps Sieg zu verstehen, was polarisiert sich denn gerade? Diese Frage stellen sich Linke auch mit dem Aufstieg der AfD in Deutschland und angesichts der Flüchtlingsdebatte, die seit über einem Jahr läuft. Einer Antwort kommt man bei der Analyse des zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampfs näher. Clinton war nicht nur die Kandidatin des politischen Establishments, sondern auch - wenngleich als kleineres Übel - eines tendenziell jüngeren kosmopolitischen urbanen Bürgertums; derer, die in


den großen Städten an den Küsten leben, weltweit vernetzt und gesellschaftspolitisch liberal gesinnt sind, jener Postmaterialist_innen, die sich nicht so sehr für materielle Fragen interessieren müssen. In Städten mit über 50.000 Einwohner_innen holte Clinton 59 Prozent, Trump hingegen lag in Kleinstädten und ländlichen Gebieten mit 62 Prozent der Stimmen vorne. Doch Trump ist in erster Linie Präsident derjenigen, die zum einen Sorge haben, ökonomisch weiter Schritt halten zu können, und sich zum anderen kulturell abgehängt fühlen. Es sind Wähler_innen mit niedriger bis mittlerer formaler Bildung, mit Hang zu Nationalismus, Rassismus, Antifeminismus, die sich gegen Minderheitenrechte, gegen Einwanderung, gegen den weiteren Kampf für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. Clinton gegen Trump: Das war auch ein Kampf von Diversity gegen Monokultur - ein Kampf, der nicht nur in den USA stattfindet. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von einem weltweiten Widerstreit zweier kultureller Orientierungen. Es gebe auf der einen Seite »eine historisch außergewöhnliche kulturelle Öffnung der Lebensformen«: Geschlechternormen werden in Frage gestellt, und Lebensstile differenzieren sich aus. Dieses kosmopolitische Milieu ist hochindividualisiert und feiert die Selbstentfaltung und die Kreativität. Wir treffen es in den Metropolen dieser Welt, keineswegs nur an den Küsten der USA und in europäischen Hauptstädten, sondern auch in Beirut, Istanbul und Jakarta. Demgegenüber beobachtet Reckwitz - ebenfalls weltweit - Tendenzen der »kulturellen Schließung von Lebensformen, in denen eine neue rigide Moralisierung wirksam ist«. Diese Schließung sei kollektivistisch in einem identitären Sinne; Reckwitz zählt Nationalismus und Rechtspopulismus ebenso wie religiösen Fundamentalismus zu der Strömung der Kulturessenzialisten. Dieser Kulturkrieg dürfte tatsächlich die entscheidende Polarisierung dieser Tage sein, eine Polarisierung, die auch von Teilen der Linken mitgetragen wird: Wirtschaftliberale, Sozialdemokrat_innen, linksliberale Akademiker_innen bilden eine Front gegen die Bedrohung durch die Rechten und Fundis. In diesem kulturellen Bürgerkrieg bewegen sich Liberale wie Rechte im Rahmen der Kulturalisierung. Es ist ein Rahmen, in dem Emotionen eine größere Rolle spielen als Fakten. Doch die Wahl von Trump zeigt auch: Neben dem Kulturkrieg gibt es durchaus »rationale« Erwägungen für Teile der Arbeiterklasse, es mal mit Trump zu versuchen. Trumps Erfolg in den Swing States am Rostgürtel, der ältesten Industrieregion der USA an den großen Seen, ist dafür bezeichnend. Dort leben die Reste des fordistischen

Industrieproletariats, die entweder bereits in den vergangenen Jahrzehnten sozial abgestiegen sind oder sich zumindest um ihren erkämpften Besitzstand sorgen. Speziell für Industriearbeiter_innen im produktionsnahen Bereich können nationalistische Antworten auf ihre Problemlagen durchaus plausibel sein. In der Fabrik kommt ein festangestellter Arbeiter aufgrund der Vervielfältigung der prekären Arbeitsverhältnisse häufig in Kontakt mit Menschen, die zwar die gleiche Arbeit leisten, aber viel schneller je nach konjunktureller Lage entlassen werden können oder deutlich weniger Lohn erhalten. Der drohende Abstieg betritt personifiziert in Gestalt der Zeitarbeiterkollegen in jeder Pause die Kantine. Dass diese Abstiegsangst vor allem bei den Resten des Industrieproletariats rassistisch gewendet werden kann, hat zwei Gründe: Erstens finden vor allem im Industriebereich Standortverlagerungen statt. Das protektionistische Angebot eines Donald Trump kann bei denen wirken, deren früherer Arbeitsplatz sich jetzt in Mexiko oder Südostasien befindet - oder die sich um eine Verlagerung der Produktion ihres sogenannten Arbeitgebers sorgen. Zweitens hat sich zwar die Ungleichheit zwischen oben und unten in den vergangenen Jahrzehnten zugespitzt, gleichzeitig hat die vertikale ökonomische Ungleichheit anhand von Geschlecht und »Ethnie« zumindest gefühlt abgenommen. So haben etwa Frauen, »ethnische Minderheiten« und Migrant_innen zu Zeiten des weiß-männlichen Ernährermodells der 1950er- und 1960er-Jahre in den einstigen Industriestaaten aufgeholt - eben auch durch Kämpfe von Linken und Liberalen insbesondere nach 1968. Das hat den Druck auf die etablierten höheren Fraktionen der Arbeiterklasse verstärkt. Kulturkonservatismus und tief verankerter Rassismus treffen hier auf verschärfte Konkurrenzprinzipien im Kapitalismus. So kommt die explosive Mischung zusammen: Der rechte Kulturkampf und die berechtigten materiellen Sorgen von Teilen der Arbeiterklasse bilden eine ausgezeichnete Grundlage für eine reaktionäre Verarbeitung von Abstiegsängsten. Reaktionär sind diese, da sich nach einer Zeit zurückgesehnt wird, in der die eigene Stellung unter den Ausgebeuteten im Vergleich zu den anderen Ausgebeuteten besser war; reaktionär sind sie auch, weil sie letztlich nur eine Krisenverarbeitung innerhalb des neoliberalen Paradigmas sind. Nicht Kämpfe um höhere Löhne, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse, für Umverteilung stehen auf der Tagesordnung, sondern der Kampf gegen andere Gruppen, die sich auf dem nationalen - und weltweiten - Arbeitsmarkt wiederfinden. Trump hat es bestens verstanden, diese Nachfrage zu bedienen. | Sebastian Friedrich

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Vom Staat der Kontrolle zu einer Praxis destituierender Macht [potenza destituente] von Giorgio Agamben

übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff

A

ngesichts der totalen Kontrolle des Staates und der rasch fortschreitenden Zerstörung der politischen Gesellschaft kann nur eine Theorie und Praxis destituierender Macht die Demokratie zurückfordern.1 Heute hier in Athen über das Schicksal der Demokratie zu reflektieren, ist in gewisser Hinsicht verstörend, denn eine solche Reflexion hält uns dazu an, das Ende der Demokratie an genau jenem Ort zu denken, an dem sie überhaupt erst entstand. In der Tat möchte ich die Hypothese vorschlagen, dass das derzeit vorherrschende Regierungsparadigma in Europa nicht nur undemokratisch ist, sondern dass es auch nicht als politisch angesehen werden kann. Demzufolge werde ich zu zeigen versuchen, dass die europäische Gesellschaft heutzutage nicht länger eine politische Gesellschaft ist; es handelt sich um etwas gänzlich neues, wofür uns eine entsprechende Terminologie fehlt – deshalb müssen wir uns eine neue Vorgehensweise ausdenken. Lassen Sie mich mit einem Begriff beginnen, der seit September 2001 jede alternative politische Begrifflichkeit ersetzt zu haben scheint: Sicherheit. Wie Sie wissen, funktioniert die Formel “aus Sicherheitsgründen” heutzutage in jedem Bereich – vom Alltagsleben bis 1 Bei dem Text handelt es sich um ein aus dem Englischen übersetztes Transkript einer öffentlichen Vorlesung des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, die dieser am 16. November 2013 in Athen hielt. Das Transkript ist zuvor von Chronos (http://www.chronosmag.eu/index.php/g-agamben-for-a-theory-of-destituentpower.html) und ROAR Magazine (https://roarmag.org/essays/agamben-destituentpower-democracy/) unter einer Creative Commons-Lizenz veröffentlicht worden.

hin zu internationalen Konflikten – als ein Codewort, um Maßnahmen aufzuerlegen, für deren Akzeptanz die Menschen keinen Grund haben. Ich werde zu zeigen versuchen, dass das tatsächliche Ziel dieser Sicherheitsmaßnahmen nicht, wie derzeit angenommen wird, die Verhinderung von Gefahren, Schwierigkeiten oder sogar Katastrophen ist. Zu diesem Zwecke werde ich zunächst eine kurze genealogische Analyse des Sicherheitsbegriffs vornehmen müssen.

Ein permanenter Ausnahmezustand Ein möglicher Weg, eine solche Genealogie zu skizzieren, wäre, ihren Ursprung und ihre Geschichte in das Paradigma des Ausnahmezustands einzuschreiben. In dieser Hinsicht könnten wir die Sicherheit bis zum römischen Prinzip Salus publica suprema lex – öffentliche Sicherheit ist das höchste Gesetz – zurückverfolgen und sie mit der römischen Diktatur verbinden, mit dem kanonischen Prinzip, dass Notwendigkeit keinerlei Gesetz anerkennt, mit den comités de salut publique während der französischen Revolution – und schließlich mit dem Artikel 48 der Weimarer Republik, der das juridische Fundament der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte. Solch eine Genealogie ist sicherlich zutreffend, allerdings glaube ich nicht, dass sie tatsächlich die Funktionsweisen der Sicherheitsapparate und Maßnahmen erklären könnte, die uns vertraut sind.


War der Ausnahmezustand ursprünglich als vorübergehende Maßnahme konzipiert, die eine unmittelbare Gefahr bewältigen sollte, um den Normalzustand wieder herzustellen, begründen die Sicherheitsgründe derzeit eine beständige Technologie der Regierung. Als ich 2003 ein Buch2 veröffentlicht habe, in dem ich insbesondere zu zeigen versuchte, wie der Ausnahmezustand in westlichen Demokratien zu einem normalen Regierungssystem wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich meine Diagnose als derart treffend herausstellen würde. Der einzige eindeutige Präzedenzfall war die nationalsozialistische Herrschaft. Als Hitler die Macht im Februar 1933 übernahm, hat er unverzüglich ein Dekret erlassen, das sämtliche Artikel der Weimarer Verfassung, die persönliche Freiheiten betrafen, außer Kraft setzte. Dieses Dekret wurde nie widerrufen, sodass das gesamte dritte Reich als ein Ausnahmezustand aufgefasst werden kann, der über zwölf Jahre Bestand hatte.

2 Agamben bezieht sich hier auf sein 2003 auf Italienisch erschienenes “Lo stato di eccezione”, das ein Jahr später in der deutschen Übersetzung als zweiter Band seiner Homo-Sacer-Serie im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde (Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004). Die These von der Regelhaftigkeit eines normalisierten Ausnahmezustands, die darin als Paradigma modernen Regierens charakterisiert wird, zog international intensive theoretische Kontroversen nach sich. Vgl. hierzu exemplarisch: Matthew Calarco and Steven DeCaroli (Hrsg.), Giorgio Agamben. Sovereignty & Life, Stanford 2007; John Lechte and Saul Newman, Agamben and the Politics of Human Rights: Statelessness, Images, Violence, Edinburgh 2013; Jessica Whyte, Catastrophe and Redemption. The Political Thought of Giorgio Agamben, New York 2013. Im Januar 2004 weigerte Agamben sich, eine Vorlesung in den USA zu geben – aus Protest gegen die Beantragung eines US-VISIT Visums, in dessen Rahmen er der US Regierung biometrische Informationen zur Verfügung hätte stellen müssen. Sein diesbezüglicher Artikel “No to Bio-Political Tattooing” (“Non au tatouage biopolitique”, erschienen am 10.01.2004 in Le Monde Diplomatique) kann hier abgerufen werden: https://ratical.org/ratville/CAH/totalControl.html.

Was heute geschieht, ist jedoch noch anders. Ein formaler Ausnahmezustand wird nicht erklärt; stattdessen erkennen wir, dass vage nicht-juridische Begriffe – wie beispielsweise die Sicherheitsgründe – benutzt werden, um einen beständigen, gruseligen und fiktiven Notstand einzurichten, ohne dass eine eindeutig identifizierbare Gefahr bestünde. Ein Beispiel solch nicht-juridischer Begriffe, die als notstandsinduzierende Faktoren benutzt werden, ist der Begriff der Krise. Neben seiner juridischen Bedeutung als Urteil in einem Gerichtsverfahren, konvergieren in der Geschichte dieses Begriffs zwei semantische Traditionslinien, die, wie für Sie ersichtlich ist, vom griechischen Verb crino stammen: eine medizinische und eine theologische. In der medizinischen Tradition bezeichnet crisis den Moment, in dem der Arzt urteilen, entscheiden muss, ob der Patient sterben oder überleben wird. Der Tag oder die Tage, in denen die Entscheidung gefällt wird, werden crismoi genannt – die entscheidenden Tage. In der Theologie bezeichnet crisis das Jüngste Gericht, das von Christi am Ende aller Tage verkündet wird. Wie Sie sehen, ist die Verbindung zu einem spezifischen Augenblick innerhalb einer Zeitspanne essenziell für beide Traditionen. Die gegenwärtige Verwendung des Begriffs hebt diese Verbindung hingegen auf. Die Krise, das Urteil, wird von ihrem temporären Index getrennt; sie stimmt nun mit dem chronologischen Zeitlauf überein, sodass die Krise mit der Normalität koinzidiert –

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nicht nur in der Wirtschaft und der Politik, sondern in jedem Aspekt des Soziallebens – und nun auf diese Art und Weise zu einem Werkzeug der Regierung wird. Somit verschwindet die Fähigkeit zu entscheiden ein für alle mal und der kontinuierliche Prozess der Entscheidungsfindung entscheidet gar nichts. Um es paradoxer zu formulieren, könnten wir sagen, dass die Regierung angesichts dieses beständigen Ausnahmezustands dazu tendiert, die Form eines fortwährenden Staatsstreichs [coup d’état] anzunehmen. Im Übrigen wäre dieses Paradox eine exakte Beschreibung dessen, was hier in Griechenland und auch in Italien passiert – wo zu regieren heißt, eine fortdauernde Reihe von kleinen Staatsstreichen [coups d’état] auszuführen.

Die Effekte regieren Ich denke somit, dass das Paradigma des Ausnahmezustands nicht gänzlich angemessen ist, um die eigentümliche Regierbarkeit [governmentality] zu verstehen, unter der wir heute leben. Ich werde deshalb Michel Foucaults Vorschlag folgen und den Ursprung des Begriffs der Sicherheit von François Quesnay und den Physiokraten zu Anbeginn der modernen Ökonomie3 untersuchen, deren Einfluss auf die moderne Regierbarkeit [governmentality] nicht zu unterschätzen ist. Mit dem Westfälischen Vertrag4 haben die großen, absolutistischen, europäischen Staaten angefangen, die Idee, der Souverän müsse Sorge für die Sicherheit seiner Subjekte tragen, in ihren politischen Diskurs zu integrieren. Quesnay war jedoch der erste, der die Sicherheit [sureté] als zentralen Begriff der Staatstheorie etabliert hat – und das auf eine sehr spezifische Art und Weise. Eine der Hauptschwierigkeiten, die Regierungen zu dieser Zeit zu bewältigen hatten, war das Problem der Hungersnöte. Vor Quesnay bestand die übliche Methodik in dem Versuch, Hungersnöte mittels der Errichtung öffentlicher Getreidespeicher und dem Verhängen eines Getreideexportverbots zu bewältigen. Beide dieser Maßnahmen hatten negative Auswirkungen auf die Produktion. Quesnays Idee war, diesen Vorgang umzukehren: Anstatt des Versuchs, Hungersnöte zu verhindern, entschloss er sich, diese zuzulassen, um durch die Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels in der Lage 3 Vgl. hierzu insbesondere Foucaults Bezugnahmen auf die Physiokraten und Quesnay in der zweiten, dritten und der 13. Vorlesung in: Michel Foucault, Gesellschaft, Territorium, Sicherheit. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2006, S. 52-86, S. 87-133 bzw. S. 479519. 4 Gemeint sind hier die Vertragsabschlüsse im Zusammenhang der Verhandlungen um den Westfälischen Frieden (1648).

zu sein, sie zu beherrschen, sobald sie auftraten. “Zu regieren” behält hier seine etymologisch-kybernetische Bedeutung: ein guter kybernetes, ein guter Steuermann, kann Stürme nicht verhindern – aber falls ein Sturm aufzieht, muss er in der Lage sein, sein Schiff zu steuern, indem er die Kräfte der Wellen und des Windes zur Navigation nutzt. Das ist die Bedeutung des berühmten Mottos laisser faire, laisser passer: Es handelt sich hierbei nicht nur um das Stichwort des ökonomischen Liberalismus, sondern auch um ein Paradigma des Regierens, das die Sicherheit (in den Worten von Quesnay: sureté) nicht als Prävention von Schwierigkeiten versteht, sondern als Fähigkeit, sie zu regieren und zum Zeitpunkt ihres Auftretens in die richtige Richtung zu lenken. Wir sollten die philosophischen Implikationen dieser Umkehrung nicht vernachlässigen. Sie markiert eine epochale Veränderung der Idee des Regierens, die die traditionelle, hierarchische Relation zwischen Ursachen und Wirkungen aufhebt. Da das Regieren von Ursachen schwierig und kostspielig ist, ist der Versuch, die Effekte zu beherrschen, sicherer und nutzbringender. Ich würde vorschlagen, dass dieses Theorem von Quesnay das Axiom moderner Regierbarkeit darstellt. Das Ancien Régime war bestrebt, die Ursachen zu beherrschen; während die Moderne vorgibt, die Effekte zu kontrollieren. Und dieses Axiom trifft auf jeden Bereich zu, von der Ökonomie zur Ökologie, von ausländischen und militärischen Politiken zu den internen Maßnahmen der Polizei. Wir müssen realisieren, dass europäische Regierungen heute jeglichen Versuch, die Ursachen zu steuern, aufgegeben haben; dass sie nur die Effekte kontrollieren wollen. Des Weiteren macht Quesnays Theorem eine Tatsache nachvollziehbar, die andernfalls unerklärlich wäre: Ich meine die derzeitige, paradoxe Konvergenz zwischen einem absolut liberalen Paradigma in der Ökonomie und einem beispiellosen, ebenso absoluten Paradigma von Staatsund Polizeikontrolle. Wenn die Regierung auf die Effekte und nicht auf die Ursachen zielt, wird sie verpflichtet sein, die Kontrolle zu erweitern und zu multiplizieren. Ursachen erfordern, dass sie bekannt sind, wobei Effekte nur geprüft und kontrolliert werden können. Ein wichtiger Bereich, in dem dieses Axiom operiert ist, sind biometrische Sicherheitsapparate, die zunehmend jeden Aspekt sozialen Lebens durchdringen. Als biometrische Technologien zuerst im 18. Jahrhundert mit Alphonse Bertillon in Frankreich und in England mit Francis Galton, dem Erfinder des Fingerabdrucks, aufkommen, waren sie offensichtlich noch nicht dazu da, Verbrechen zu verhindern, sondern nur dazu, Wiederholungstäter zu erkennen. Nur, wenn ein zweites Verbrechen aufgetreten ist, kann


man die biometrischen Daten nutzen, um den Angreifer zu identifizieren. Biometrische Technologien, die für Wiederholungstäter erfunden wurden, blieben lange deren exklusives Privileg. 1943 hatte der Kongress der Vereinigten Staaten noch immer den Citizen Identification Act abgelehnt, der vorsah, jedem/r Bürger*in einen Ausweis mit Fingerabdrücken auszustellen. Aber einem gewissen Verhängnis oder ungeschriebenem Gesetz der Moderne zufolge würden die Technologien, die für Tiere, für Kriminelle, Fremde oder Juden erfunden wurden, letztendlich auf alle Menschen ausgeweitet werden. Biometrische Technologien sind also im Laufe des 20. Jahrhunderts auf alle Bürger angewendet worden – Bertillons Identifizierungsfotos und Galtons Fingerabdrücke sind derzeit überall für Ausweise im Gebrauch.

Die Entpolitisierung der Bürgerschaft Aber der äußerste Schritt vollzieht sich erst in unseren Tagen und befindet sich noch im Prozess seiner vollständigen Realisierung. Es entwickeln sich neue, digitale Technologien – wie beispielsweise optische Scanner, für die es ein Leichtes ist, nicht nur Fingerabdrücke, sondern auch die Netzhaut des Auges oder die Struktur der Iris aufzuzeichnen – die dazu tendieren, über Polizeistationen und Einwanderungsbehörden hinausgehend in unseren Alltag einzuwandern. In vielen Ländern wird der Zugang zu den Restaurants der Studierenden oder sogar zu Schulen von biometrischen Apparaten kontrolliert, auf die der Studierende nur ihre/ seine Hand legt. Die europäischen Industrien, die in diesem Bereich arbeiten und schnell wachsen, empfehlen, dass Bürger*innen sich schon während der frühesten Jugend an diese Form der Kontrolle gewöhnen. Dieses Phänomen ist wirklich verstörend, zumal sich unter den permanenten Mitgliedern der europäischen Ausschüsse für die Entwicklung der Sicherheit (wie das ESRP, European Security Research Program) die Vertreter der großen Industrien in diesem Feld befinden, bei denen es sich ausgerechnet um die alten Rüstungshersteller – wie Thales, Finmeccanica, EADS und BAE System – handelt, die zum Geschäft mit der Sicherheit übergegangen sind. Es ist einfach, sich die Gefahren vorzustellen, die von einer Macht ausgehen, der unbegrenzte biometrische und genetische Informationen all ihrer Bürger*Innen zur Verfügung stehen könnten. Unter Rückgriff auf eine solche Verfügungsmacht wäre die Vernichtung der Juden, die auf der Basis unvergleichlich weniger effizienter Dokumentation erfolgte, absolut gewesen und

unvorstellbar schnell erfolgt. Aber ich werde nicht bei diesem wichtigen Aspekt des Sicherheitsproblems verweilen. Die Überlegungen, die ich gerne mit Ihnen teilen würde, betreffen vielmehr die Transformation von politischer Identität und politischen Verhältnissen, die mit Sicherheitstechnologien zusammenhängen. Diese Transformation ist so radikal, dass wir nicht nur legitimerweise fragen können, ob die Gesellschaft, in der wir leben, noch eine demokratische ist, sondern auch, ob diese Gesellschaft überhaupt noch als politisch aufgefasst werden kann. Christian Meier hat gezeigt, wie im fünften Jahrhundert eine Transformation der Konzeptualisierung des Politischen in Athen stattfand, die auf dem basierte, was er als “Politisierung” der Bürgerschaft bezeichnet. War die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer polis bis zu diesem Zeitpunkt von einer Vielzahl von Bedingungen und von sozialen Statussen unterschiedlichster Art – zum Beispiel von der Zugehörigkeit zum Adelsstand oder zu einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft; Landarbeit oder Kaufmann, Mitglied einer gewissen Familie zu sein etc. – bestimmt, wurde Bürgerschaft von nun an zu einem Hauptkriterium sozialer Identität: “So entstand eine spezifisch griechische, die politische Identität jener Bürgerschaften. Die Erwartungen an die Bürger, sich ‘bürgerlich’ [...] zu betätigen, institutionalisierten sich.”5 Die Zugehörigkeit zu einer ökonomischen oder religiösen Gemeinschaft wurde auf eine sekundäre Stufe verlagert: “Indem die Bürger der breiten Schichten in den Demokratien sich dem politischen Leben hingaben, verstanden sie sich primär als Teilhaber an der Polis [...]. In diesem Sinne bestimmten sich auch künftig Polis und Politiken wechselseitig”6 – so wie auch die Stadt und die Bürgerschaft. Die Bürgerschaft wurde auf diese Art und Weise zu einer Lebensform, auf deren Basis sich die polis in einem Bereich, der klar vom oikos – dem Haus – getrennt war, konstituierte. Die Politik wurde so zu einem freien, öffentlichen Raum, der als solcher dem Ort des Privaten – dem ‘Reich der Notwendigkeit’ – entgegengesetzt wurde. Meier zufolge wurde dieser spezifisch griechische Prozess der Politisierung auf die westliche Politik übertragen, wobei Bürgerschaft das entscheidende Element blieb.7 Die Hypothese, die ich Ihnen vorschlagen möchte, ist, dass dieser fundamentale politische Faktor Einzug 5 Agamben bezieht sich hier auf die folgende Passage: Christian Meier, “Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr.”, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978, S. 193–227, hier S. 204. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd.

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in einen unumkehrbaren Prozess gehalten hat, den wir nur als einen Prozess zunehmender Entpolitisierung beschreiben können. Was zu Beginn eine Art und Weise zu leben, eine essentielle und irreduzibel aktive Bedingung war, ist nun zu einem rein passiven juridischen Status geworden, in dem Tätigkeit und Untätigkeit, das Private und das Öffentliche, zunehmend verschwimmen und ununterscheidbar werden. Dieser Prozess der Entpolitisierung der Bürgerschaft ist so eindeutig, dass ich darauf nicht näher eingehen werde.

Der Aufstieg des Kontrollstaates Ich werde vielmehr zu zeigen versuchen, wie das Sicherheitsparadigma und die Sicherheitsapparate eine entscheidende Rolle in diesem Prozess gespielt haben. Die wachsende Ausweitung von kriminalistischen Technologien auf Bürger*innen hat unweigerlich Konsequenzen für deren politische Identität. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist Identität nicht länger eine Funktion der sozialen Persönlichkeit und ihrer Anerkennung durch andere, sondern eine Funktion biologischer Daten, die keinerlei Bezug zu ihr haben – wie die Arabesken der Fingerabdrücke oder die Disposition der Gene in der Doppelhelix der DNA. Die neutralste und privateste Sache wird zum entscheidenden Faktor sozialer Identität, die deshalb ihren öffentlichen Charakter verliert. Wenn meine Identität heute von biologischen Fakten bestimmt ist, die in keinster Weise von meinem Willen abhängen und über die ich keine Kontrolle besitze, dann wird die Konstruktion von soetwas wie einer politischen und ethischen Identität problematisch. Welche Beziehung kann ich zu meinen Fingerabdrücken oder meinem genetischen Code aufbauen? Die neue Identität ist sozusagen eine Identität ohne Person, wobei der Ort der Politik und Ethik seinen Sinn verliert und von Grund auf neu gedacht werden muss. War der klassische griechische Bürger durch die Abgrenzung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem oikos – dem Ort reproduzierenden Lebens – und der polis – dem Ort politischen Handelns – definiert, scheint sich der/ die moderne Bürger*in vielmehr in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu bewegen – oder, um Hobbes’ Begriffe zu zitieren, zwischen dem physischen und dem politischen Körper.

Die räumliche Materialisierung dieser Zone der Ununterscheidbarkeit zeigt sich in der Videoüberwachung der Straßen und der städtischen Plätze. Hier wurde erneut ein Apparat, der für Gefängnisse entwickelt worden war, auf öffentliche Plätze ausgeweitet. Es ist jedoch ersichtlich, dass ein videoüberwachter Platz keine agora mehr ist, sondern zu einem Hybrid des Öffentlichen und des Privaten wird; zu einer Zone der Indifferenz zwischen dem Gefängnis und dem Forum. Die Transformation des politischen Raumes ist sicherlich ein komplexes Phänomen, das eine Vielzahl von Gründen einbezieht, und unter diesen nimmt die Geburt der Biopolitik einen besonderen Platz ein. Der Primat biologischer vor der politischen Identität ist sicherlich mit der Politisierung nackten Lebens in modernen Staaten verbunden. Man sollte jedoch niemals vergessen, dass die Reduktion von sozialer auf die körperliche Identität mit einem Versuch, Wiederholungstäter zu identifizieren, begonnen hat. Wir sollten heute nicht darüber erstaunt sein, wenn das normale Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen von Argwohn, police filing und Kontrolle geprägt ist. Das unausgesprochene Prinzip, das unsere Gesellschaft beherrscht, kann folgendermaßen formuliert werden: Jeder Bürger und jede Bürgerin ist ein*e potenzielle*r Terrorist*in. Aber was für ein Staat ist das, der von einem solchen Prinzip regiert wird? Können wir ihn immer noch als demokratischen Staat definieren? Können wir ihn überhaupt noch als etwas Politisches begreifen? In was für einem Staat leben wir heute? Sie wissen vielleicht, dass Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen8 eine typologische Klassifizierung moderner Staaten skizziert hat. Er zeigt, wie der Staat des Ancien Régime, den er den territorialen oder souveränen Staat nennt – und dessen Motto faire mourir et laisser vivre war – sich sukzessive zu einem Staat der Bevölkerung und einem Disziplinarstaat entwickelt. Dessen Motto kehrt sich nun um zu faire vivre et laisser mourir, weil der Staat sich um das Leben der Bürger*innen kümmern wird, um gesunde, wohlgeordnete und kontrollierbare Körper zu produzieren. Der Staat, in dem wir heute leben, ist kein Disziplinarstaat mehr. Gilles Deleuze hat vorgeschlagen, ihn État de contrôle oder Kontrollstaat zu nennen,9 denn sein Anliegen besteht nicht in der Anordnung und Auferlegung 8 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994. 9 Vgl. Gilles Deleuze, “Postskriptum über die Kontrollgesellschaften”, in: Ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254-262.


von Disziplin, sondern vielmehr darin, zu managen und zu kontrollieren. Deleuzes Definition ist richtig, denn Management und Kontrolle müssen nicht zwangsläufig mit Ordnung und Disziplin übereinstimmen. Niemand hat es so klar ausgedrückt wie der italienische Polizeibeamte, der nach den Genua-Aufständen von 2001 erklärte, dass die Regierung nicht wollte, dass die Polizei die Ordnung aufrecht erhält, sondern vielmehr, dass sie Unordnung managte.10

Von Politik zu ‘policing’ Amerikanische Politikwissenschaftler*innen, die versucht haben, die konstitutionelle Transformation, die mit dem Patriot Act und anderen auf den September 2001 folgenden Gesetzen einherging, zu analysieren, bevorzugen es, von einem Sicherheitsstaat zu sprechen. Aber was heißt hier Sicherheit? Die Verbindung zwischen dem Begriff der Sicherheit – sureté, wie sie zu sagen pflegten – und der Definition der police etablierte sich während der französischen Revolution. Die Gesetze vom 16. März 1791 und vom 11. August 1792 haben in die französische Gesetzgebung den Begriff der police de sureté (Sicherheitspolizei) eingeführt, der dazu verdammt war, in der Moderne eine lange Tradition zu haben. Wenn man die Debatten liest, die der Abstimmung über diese Gesetze vorausgingen, werden Sie sehen, dass sich Polizei und Sicherheit zwar wechselseitig bestimmen, aber keiner der Sprecher (Brissot, Heraut de Séchelle, Gensonné) in der Lage ist, Polizei oder Sicherheit unabhängig voneinander zu definieren. Die Debatten bezogen sich auf die Situation der Polizei in Hinblick auf Gerechtigkeit und rechtliche Macht. Gensonné konstatiert, dass letztere zwei getrennte und unterschiedliche Mächte darstellen, doch obgleich die Funktion der rechtlichen Macht eindeutig ist, ist es unmöglich, die Rolle der Polizei zu bestimmen. Eine Analyse der Debatte zeigt, dass der Ort und die Funktion der Polizei unbestimmbar ist und unbestimmbar bleiben 10 Im Zuge des 27. G8-Gipfels in Genua vom 18. bis 22. Juli 2001 kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen globalisierungskritischen Demonstrant*innen und der Polizei. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der massiven Sicherheitsvorkehrungen (u.a. wurde das Schengen-Abkommen kurzzeitig ausgesetzt, 20.000 Polizist*innen waren im Einsatz) gerieten die Proteste am zweiten Tag des Gipfels außer Kontrolle. In Folge der Ausschreitungen, die durch ein hartes Eingreifen der Polizei begleitet wurden, waren auf Seiten der Protestierenden ein Todesopfer und über hunderte Verletzte zu beklagen. Der Guardian schrieb: “This isn’t fascism with jack-booted dictators with foam on their lips. It’s the pragmatism of nicely turnedout politicians. But the result looks very similar. Genoa tells us that when the state feels threatened, the rule of law can be suspended. Anywhere.” (Nick Davies, “The bloody battle of Genoa”, https://www.theguardian.com/world/2008/jul/17/italy.g8, zuletzt abgerufen am 10.11.2016.)

muss, denn wenn sie wirklich in rechtlicher Macht absorbiert wäre, könnte die Polizei nicht mehr existieren. Das ist die willkürliche Macht, die heute noch die Aktionen des Polizeibeamten/ der Polizeibeamtin definiert, der/ die, in einer für die öffentliche Sicherheit konkreten Gefahrensituation sozusagen als Souverän handelt. Aber selbst wenn der Polizeibeamte/ die Polizeibeamtin diese willkürliche Macht ausübt, entscheidet der Polizeibeamte/ die Polizeibeamtin nicht tatsächlich und er/ sie bereitet auch nicht, wie das üblicherweise behauptet wird, das Urteil des Richters/ der Richterin vor. Jedes Urteil betrifft die Gründe, während die Polizei auf Effekte reagiert, die per definitionem unentscheidbar sind. Der Name dieses unentscheidbaren Elements ist heute nicht mehr raisond’État, oder Staatsraison, wie noch im 17 Jahrhundert, sondern vielmehr “Sicherheitsgründe”. Der Sicherheitsstaat ist ein Polizeistaat, aber – nochmal – in der juridischen Theorie ist die Polizei eine Art schwarzes Loch. Alles, was wir sagen können ist: Als im 18. Jahrhundert die sogenannte “Polizeiwissenschaft” entsteht, wird der Begriff “Polizei” auf seinen ursprünglichen, aus dem Kontext der griechischen politeia stammenden, Wortsinn zurückgeführt und als solcher der “Politik” gegenübergestellt. Allerdings ist es überraschend, zu sehen, dass die “Polizei” nun mit der tatsächlich politischen Funktion koinzidiert, während der Begriff “Politik” der Außenpolitik vorbehalten ist. Deshalb nennt von Justi die Beziehung zwischen einem Staat und anderen Staaten in seiner Abhandlung Policey-Wissenschaft “Politik”, wohingegen er die Beziehung eines Staates zu sich selbst als “Polizei” bezeichnet. Es ist lohnend, über die Definition, die Polizei sei die Beziehung eines Staates zu sich selbst, nachzudenken.11 Ich würde gerne die Hypothese vorschlagen, dass der moderne Staat den Bereich der Politik im Namen der Sicherheit verlassen hat, um in ein Niemandsland einzutreten, dessen Geographie und Grenzen immer noch unbekannt sind. Der Sicherheitsstaat, dessen Name sich auf die Absenz von Sorgen (securus von sine cura) zu beziehen scheint, sollte uns vielmehr Sorgen bereiten – über die Gefahren, die er für die Demokratie mit sich bringt; denn politisches Leben in ihm ist unmöglich geworden, wobei Demokratie doch gerade die Möglichkeit politischen Lebens bezeichnet. 11 Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft, Göttingen 1782.

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Gewalt.

Eine Lebensform wiederentdecken Aber ich möchte zum Schluss kommen – oder besser, einfach meine Vorlesung anhalten (in der Philosophie ist, wie in der Kunst, kein Abschluss möglich, man kann seine Arbeit nur abbrechen) – mit etwas, das, soweit ich es im Moment überblicke, vielleicht das dringlichste politische Problem ist. Wenn der Staat, mit dem wir es zu tun haben, der von mir beschriebene Sicherheitsstaat ist, dann müssen wir die traditionellen, politischen Konfliktstrategien überdenken. Was sollen wir tun, welcher Strategie sollen wir folgen? Das Sicherheitsparadigma impliziert, dass jede Form des Widerspruchs, jeder mehr oder weniger gewalttätige Versuch, die Ordnung zu stürzen, zu einer Möglichkeit wird, ebensolche Handlungen in eine profitable Richtung zu lenken. Evident wird dies hinsichtlich der Dialektik, die Terrorismus und Staat in einen endlosen Teufelskreis verstrickt. Angefangen mit der Französischen Revolution, hat sich die politische Tradition der Moderne radikale Veränderungen in Form eines revolutionären Prozesses vorgestellt, der als pouvoir constituant, als konstituierende Macht einer neuen institutionellen Ordnung agiert. Ich denke, dass wir dieses Paradigma aufgeben müssen und versuchen sollten, eine Art puissance destituante – eine reine destituierende Macht – zu denken, die nicht von der Sicherheitsspirale eingenommen werden kann. Eine destituierende Macht dieser Art hat auch Benjamin in seinem Essay “Zur Kritik der Gewalt” im Sinn, wenn er versucht, eine reine Gewalt zu definieren, die die falsche Dialektik von rechtsetzender Gewalt und rechtserhaltender Gewalt durchbrechen kann – ein Beispiel dafür ist Sorels proletarischer Generalstreik. Am Ende seines Essays schreibt Benjamin: “Auf der Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen

Rechtsformen, auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.”12 Während eine konstituierende Macht das Gesetz zerstört, nur um es in einer neuen Form wiederherzustellen, kann die destituierende Macht – insoweit sie das Gesetz ein für allemal absetzt – eine wirklich neue historische Epoche eröffnen. Eine solche rein destituierende Macht zu denken, ist keine einfache Aufgabe. Benjamin schrieb einst, dass nichts so anarchisch sei wie die bürgerliche Ordnung. In gleichem Sinne lässt Pasolini in seinem letzten Film einen der vier Herren von Salò zu seinen Sklaven sagen: “Wahre Anarchie ist die Anarchie der Macht.”13 Gerade deshalb, weil sich Macht durch den Einschluss und die Übernahme der Anarchie und Anomie konstituiert, ist es so schwierig, einen unmittelbaren Zugriff auf diese Dimensionen zu bekommen; ist es so mühevoll, heute etwas als wahre Anarchie oder wahre Anomie zu denken. Ich denke, dass eine Praxis, der es gelänge, die Anarchie und Anomie, die von den regierungseigenen Sicherheitstechnologien eingenommen wurden, aufzudecken, als rein destituierende Macht agieren könnte. Eine wirklich neue politische Dimension wird nur dann möglich sein, wenn wir die herrschende Anarchie und Anomie der Macht begreifen und absetzen. Aber dies ist nicht nur eine theoretische Aufgabe: In erster Linie beabsichtigt sie die Wiederentdeckung einer Lebensform; den Zugang zu einer neuen Gestalt desjenigen politischen Lebens, dessen Gedächtnis der Sicherheitsstaat um jeden Preis zu annullieren sucht.

12 Agamben bezieht sich hier auf: Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Ders., Gesammelte Schriften, II.1, herausgegeben von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1999, S. 179-204, hier S. 202. 13 Vgl. Pier Paolo Pasolini, Die 120 Tage von Sodom (1975).


Fanon and the Violence of the Mother Tongue

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ow to undermine one’s inmost organ? How to hear in the mother tongue not only oneself but also the voices of the mother and father that resound in it? Need one estrange oneself from those voices in order to hear in this mother tongue all that is not simply natural but also artificial? For even when one’s native language is known to be mediated by upbringing, education and violence, the tone and stress of familial voices persist as so many violent voiceovers that follow every thought and determine every action. “Be careful walking home at night,” a mother tells her daughter, “And don’t talk to men, foreigners especially: it’s too dangerous.” As a result, whenever a man crosses her path, the daughter’s heart races, her pace increases, and she is overcome by fear. But this fear is not only her own; she knows that it is taught, trained and practiced, and is itself mediated by the mother’s voice. Once she comes to recognize this, once she hears in the sound of her quickening steps the fear that resounds in her mother’s terrified voice, and knows that her movements are the effect of a voice that is not her own, then it is no longer the approaching man that figures the violence she feels, but the voice of the mother, internalized and communicated to a heart that pounds in her ear, directing her every step. Here, the voice of the mother is heard as belonging to that historical voice of prejudice and plunder that has always articulated the fear of the foreigner and projected onto him all that is bad, evil and violent. When the mother tongue is heard in this way, in all its historical and familial density, it reveals its participation in that violence which inscribes itself within the subject and thereby perpetuates violence “at every corner of the world” (Fanon 2008: 235).

A black man is the product of the racist. And racism is not exclusive to a single space. The black diplomat who works at the U.N. shares the same skin color with the black man selling drugs on the Wiener Gürtel - and while the former is trusted, the latter is feared as a danger to the life of the daughter. A “Hello, how are you?” from the diplomat is regarded as a friendly greeting capable of enhancing one’s own white social status (since interacting with people from all over the world is to one’s credit as a good white person) - but the same words, when they come from a black man on the Gürtel, are treated as harassment. Exclusive bilingual schools, years abroad, the experience of different cultures: all culminating in an all-too-common fear of those who look foreign, articulated in secret, in German, behind the back of English-speaking internationalism and the ideal of mul-

ticultural love. The purity and tolerance of white skin hides behind a mask that is gladly stripped off every night at the family dinner table, where the language of children is born and bred, and fear is installed as law. The masks of racist whites, and their secret, scared and to me, German - voices were first violently exposed by my reading of Frantz Fanon. I read his work in German rather than English translation because the German seemed uniquely capable of violating my mother tongue. Through Fanon’s German, the language I grew up with but distrusted on account of its perceived harshness could finally be addressed on its own violent terms. In Fanon’s Schwarze Haut, Weiße Masken [Black Skin, White Masks], whenever Fanon analyzed the ideal of whiteness I heard the echo of all those familiar and afraid German voices I know all too well. Indeed, Fanon knew their arguments better than they do. Is there a single good, Christian, Austrian grandmother who has not once asked herself: “Why did god create black people?” She cannot understand why God would make something black when he himself is white. Fanon concurs: “In the homo occidentalis the black man - or if you prefer, the color black - symbolizes evil, sin, wretchedness, death, war, and famine. Every bird of prey is black” (Fanon 2008: 167). He repeats such arguments and writes what such people would not dare to say but likely think. He lets slip their masks, even though he is not concerned with addressing them. “[Fanon’s text] talks about you, not to you,” Sartre writes of Fanon (Sartre 2004, xlv). Fanon addresses, instead, his compatriots from Martinique, those who also asked themselves about the “fact of blackness,” showing them how the violence of racism and the deification of whiteness lives on in the very people who have been and continue to be written off by white “humanity”. Fanon knew that this shared ideal is based on an ideal of whiteness, and called upon independent blacks to “develop a new kind of thinking, and endeavor to create a new man” (Fanon 2004: 239). In The Wretched of the Earth, Fanon calls on the Third World to leave Europe behind, to neither follow its path nor treat it as a model for society: “Let us leave this Europe that never stops talking of man yet massacres him at every one of its street corners, at every corner of the world.” (Fanon 2004: 235) French Original: “Quittons cette Europe qui n’en finit pas de parler de l’homme tout en le massacrant partout où elle le rencontre, à tous les coins de ses propres rues, à tous les coins du monde.” (Fanon 2002: 301) German translation: “Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.” (Fanon 2015: 263)


Fanon’s sentence knows Europe to be the land of broken promises. Its ideal of man, of multicultural societies, of bilingual tolerance are only so many alibis. Europe’s white ideal is used to shed the blood of those who do not fit its concept. In this, the above quote shows itself to be a commentary on all the dinner table conversations that daily play themselves out across Europe: The ideal that the people of all nations should work together, sideby-side, their children playing together in peace and togetherness, is itself based on the exclusion of those who work at places like the Wiener Gürtel and strike terror into the heart of every good white mother - such people are necessary for the consistency of an ideal from which they are themselves excluded. In this, their place within the logic of the ideal is determined by the process of projection. “Whenever I discover [...] something reprehensible in me,” Fanon writes, “I have no other alternative but to get rid of it and attribute its paternity to someone else. Thereby I put an end to the circuit of high tension that threatened to compromise my equilibrium” (Fanon 2008: 167). Ideals are based on equilibrium. Behind his mask, the white can chat about how he loves the other, adores him for his openness, but only so long as the white can remain masked. For once the mask is removed, the voice of the mother tongue becomes terrified of the consequences of such openness. Because it is spoken in the family, the mother tongue can give vent to these secret prejudices so long as there are many who are not privy to these conversations and whose exclusion is the very condition of group identity formation. Because Fanon’s German made this self-evident to me, his voice did violence to a mother tongue that wants for itself a naturalness and innocence it has never earned. Instead, it began to ring with historically mediated colonial violence, its volume and brutality increasing until it reached a pitch of violence that has forced my mother tongue to bear the weight of its crimes. Even the most cursory analysis of the language of the above sentence demonstrates this essential violence. As is typical of a language that tries to mask its force, the English translation leaves out the phrase “partout où elle le rencontre,” which is significant because the rencontre of the original refers not only to a meeting but also to a combat, a contest between forces: between Europe and man. In German, the phrase becomes “wo es ihn trifft,” and the German treffen, translation of rencontre, implies an even more physical, visceral combat, in which someone is not only met, but also struck at, in the sense of striking a blow. Similarly, a “Europe that never stops talking of man” - or, in French, of l’homme - resonates with the ideal of man, of humanism, of the declaration

of human rights, of what man is envisioned to be. By contrast, a Europe that, in German, won’t stop talking vom Menschen, speaks not only of an ideal, but also of the human as a thing of flesh and blood that is the object of violence. And this emphasis, in German, on the bodily, on violent encounters between man and Europe, gives the lie to the discourse of human rights in its English and French articulation. The latter express an ideal, immaterial body the German knows to be wholly material, open not to comity and peace, but to pain. This language of pain and fear is, in Fanon, shown to be the language of an historical violence that has survived the centuries. For Ingeborg Bachmann, all crimes against humanity are inscribed within and persist through language: “Prejudices - racial-prejudices, class prejudices, religious prejudices and all others - remain an outrage, even when they vanish through education and insight. [...] The disgraces, maintained by the continued existence of the words, may therefore be re-established at any moment” (Bachmann 1995: 50). But it is not only that they may be re-established at any moment; far more significant is the fact that they are re-established at every moment, hidden as they are under so many white masks. The mother tongue is violent to the extent that it subjects the child to the fear and projection of generations, thereby reproducing a violent, fearful subject that guarantees the continuation of past atrocities. Fanon undermines the force and substance of the mother tongue, and compels its language of fear to confess its guilt for continuing a violence that sustains an ideal of man whose costs have always been paid by actual men and women. | Sara Walker

Literatur Bachmann, Ingeborg (1995): The Thirtieth Year: Stories by Ingeborg Bachmann. New York: Holmes & Meier. Fanon, Frantz (2002): Les damnés de la terre. Paris: Éditions La Découverte & Syros. Fanon, Frantz (2004): The Wretched of the Earth. New York: Grove Press. Fanon, Frantz (2008): Black Skin, White Masks. New York: Grove Press. Fanon, Frantz (2015): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sartre, Jean-Paul (2004): Preface to The Wretched of the Earth. New York: Grove Press.

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Verbale Gewalt »Hate Speech« Im Kontext gesellschaftlich akzeptierter Simplifizierung

Ich lese keine Kommentare mehr, davon könnte ich immer kotzen.

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as macht es so schwer, gegen den Hass anzuschreiben? Und kümmern sich um „die schlimmen Aussagen“ nicht eh Admins – argumentativ bewaffnet mit dem Strafgesetzbuch? Es bedarf keiner besonderen Sensibilisierung oder persönlichen politischen Agenda, um eine scheinbar verrohte Netzgesellschaft auszumachen. Nach juristischen Gesichtspunkten ist eine Hassbotschaft, eine Hate Speech, eine Straftat, wenn sie »in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet«. (Strafgesetzbuch, §130(1)). Verbale Gewalt, Einschüchterung und Hassbotschaften beginnen jedoch (bereits) früher. Der rechtliche Rahmen deckt, wie so oft, nur die Extremfälle ab.

Verbale Gewalt kann verschiedene Formen annehmen und ist keineswegs immer durch Aggressivität, Menschenfeindlichkeit, Ausrufezeichen oder besonders viele Großbuchstaben zu erkennen. Bei eher unauffälligen Hate Speeches werden Stereotype bedient, um bei den Rezipient*innen des Ausspruches Abneigung hervorzu-

rufen. Die Grenze zwischen gesellschaftlich akzeptierter Verallgemeinerung und einer als inakzeptabel aufgefassten, diffamierenden Hasstirade ist dabei fließend. Hassbotschaften sind hierbei nicht auf bestimmte politische Lager oder Opferrollen beschränkt. Neben „den Asylschmarotzern“ kann es auch „faule Hartz-IV-ler“ oder „die da oben/ die verschwörerischen 1%“ treffen. Das Bemerkenswerte ist, dass sich die Messlatte von akzeptierter, polemischer Simplifizierung bis hin zu inakzeptablen Hassbotschaften verschieben kann. Während bestimmte Bezeichnungen heute „nicht mehr gehen“ und als „unpassend“ eingestuft werden, normalisieren sich andere Rassismen. Diese sich verändernde Einschätzung vollzieht sich dabei recht schnell. Manche homophobe Witze beispielsweise, die bis Ende der Neunziger gern im Mainstreamfernsehen verwendet wurden, sind heute eher unüblich. Gleichzeitig werden andere Bezeichnungen wie „der Islam“, „der nordafrikanische Mann“ oder „der Flüchtling“ zunehmend ethnisiert und in der „Mitte der Gesellschaft“ als Kategorie verankert. Zum einen werden diese Rollenbilder mit klaren Charakteristika verknüpft – beispielsweise einer sexuell enthemmten Art beim „nordafrikanischen, muslimischen Mann“. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass diese Bilder durch eine regelmäßige Wiederholung von Narrativen – wie „nordafrikanischer


Mann raubt/verführt das naive, biodeutsche Mädchen“ – gefestigt werden. Damit werden Aussprüche dieser Art nicht mehr als inakzeptabel und rassistisch aufgenommen, sondern als Teil einer polemisch-provokativen Diskussion, die gerne mit „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ endet. Eine gesellschaftliche Mehrheit erteilt sich hier eine Deutungshoheit und zeichnet mit stiller Gewalt ein herabwürdigendes Bild einer Menschengruppe. Um diesen Prozess zu verhindern, könnte man zu der berechtigten Schlussfolgerung kommen, dass jegliche Stereotypisierung zu vermeiden ist. Jedoch ist dieses Ziel nur schwer zu erreichen, da Sprache beschränkt ist und beinahe alle Aussagen Rollen und Bilder nutzen – objektivierend oder subjektivierend – und dabei Kontexte simplifizieren. Man möge einmal versuchen, einen Satz auszusprechen, der nicht in der einen oder anderen Weise stereotypisiert. Die Unmöglichkeit, eine nicht-vereinfachende Sprache zu benutzen, sollte jedoch nicht zugleich implizieren, dass dieses Ziel nicht zumindest angestrebt werden kann. Stereotype können beispielsweise gezielt durchkreuzt und durch den Hinweis auf Fakten und Widersprüche ad absurdum geführt werden. Gleichzeitig darf dieses Anliegen nicht zu politischer Paralyse führen. Wenn Stereotype nicht beim Namen genannt werden, ist es äußerst schwer, diese anzugehen. „Wir müssen über Rasse reden dürfen, wenn wir Diskriminierung angehen wollen“, sagt die Philiosophin Hourya Bentouhami. Wer also alle Stereotype immer verkompliziert und auf die Individualebene auflöst, kann weder über Klassenunterschiede, noch über Rassismus sprechen – und muss am Ende schweigen. Beim Namen genannt werden müssen auch die Urheber von Hate-Speech-Kommentaren, die gemäß einer Studie der Universität Zürich erstaunlicherweise oft unter Klarnamen kommentieren (Rost et al., 2016). Es gehört zur Absurdität der Generation Facebook und der Klarnamenpflicht des Netzwerks, dass Kommentare wie „Schick die Neger/Linken/Juden ins Gas“ von Menschen geschrieben werden, die mit ihrem Profilfoto und Namen oftmals sehr freizügig Einblicke in ihr persönliches Leben geben. Hier fehlen bisher empirische Daten, sodass nicht verallgemeinert werden kann, dass es sich hier vor allem um „angry, white, old men“ handelt. Doch unabhängig vom gesellschaftlichen Hintergrund des Absenders solcher Botschaften müssen die Kommentare beantwortet und/oder gemeldet werden, um die Einwirkungen auf das gesellschaftliche Klima zu minimieren.

Schließlich wird – jenseits der Gesetze und Definitionen von Straffälligkeit – in einer Gesellschaft immer auch mitverhandelt, was Satire, Polemik, Kunst oder Hassbotschaft ist und wer „wir“ und „die Anderen“ sind. Es sind diese Definitionen von einem Gruppenselbstverständnis und Prozesse wie Inklusion und Exklusion, die der Motivation, Hassbotschaften zu verbreiten, unterliegen. In einer Welt, die von Globalisierung inklusive weltumspannender Kommunikations- und Mediennetze sowie flexibler Normen geprägt ist, wird das „Wir“ scheinbar gern definiert, indem „das Andere“ besonders scharf konturiert und besonders fremdartig dargestellt wird. Sich darauf nicht einzulassen, ist nun die Aufgabe einer inklusiven, demokratischen Gesellschaft. Gesetze allein reichen dafür nicht aus. Die Erfahrung der Geschichte lehrt uns, wie Gesetzgebung von Herrschaftsstrukturen abhängt. Bleiben fremdenfeindliche Äußerungen, die nicht straffällig sind, unkommentiert, bestätigt das nicht nur den Absender und ermutigt ähnlich Denkende – darüber hinaus schüchtert es Menschen ein, die anderer Meinung sind. Der Terminus ‘Zivilcourage im Netz’ beinhaltet nicht ohne Grund das Präfix „zivil-“ – wir können uns also nicht allein auf Admins und die Strafanwaltschaft verlassen. Nur im Sinne einer solchen Kommunikation durch möglichst viele Menschen – der Zivilgesellschaft – kann eine Normalisierung von solchen Hassbotschaften verhindert werden, die noch nicht den Tatbestand einer Hassbotschaft erfüllt, jedoch bereits das gesellschaftliche Klima vergiftet oder die Basis für tätliche Gewalt schafft. Dennoch ist die Hürde, bei Hassbotschaften einzuschreiten, groß: Wer kommentiert, wird im Nu selbst angegriffen – unabhängig davon, ob die kommentierende Person der ursprünglichen Zielgruppe des Hasses selbst angehört. Während viele, die zu Kommentaren bereit wären, schlichtweg ihre Zeit anders einsetzen möchten, ist es auch diese verbale Gewalt, die viele potenzielle Kommentator*innen abschreckt. Ebenso abschreckend ist oftmals die vermeintliche Aussichtslosigkeit, eine Diskussion zu beginnen. Wer hier einschreiten will, muss sich über die Zielstellung im Klaren sein. Die Urheber von Hassbotschaften zu „überzeugen“, ist zwar meist eher illusorisch – einen Gedankenanstoß (beim Gegenüber) zu erreichen, ist es jedoch keineswegs. Genauso wichtig ist die pure Präsenz eines Gegenkommentars. Je nach Forum und Urheber*in des Hasskommentars kann Anonymität an dieser Stelle genauso wichtig sein wie auch eine etwaige Absprache mit Unterstützenden.

engagée | 41


Manche Gruppen arbeiten auch mit bissigem Humor und „public shaming“. So veröffentlicht beispielsweise die Gruppe „HoGeSa – Hooligans gegen Satzbau“ regelmäßig Screenshots von besonders dümmlichen Hassbotschaften und ihren Rechtschreibfehlern. Diese Taktik sorgt zwar für viele Likes und Retweets, kann aber zu einer Verharmlosung der Hassbotschaften führen. Subtiler ist hingegen die Aktion “Hass-Hilft”. Bei dieser unfreiwilligen Spendenaktion werden Hasskommentare mit einem “Hass-Hilft”-Kommentar versehen. Pro Kommentar geht dann ein Euro Spende an „Aktion Deutschland Hilft“ für Projekte mit Geflüchteten und „EXIT-Deutschland“, einer Initiative gegen Rechts. Egal ob ein Shitstorm, ein anonymer Kommentar, eine private Nachricht an einen Bekannten, Spendenkommentar oder belustigende Screenshots: Es gibt viele Herangehensweisen, um mit dem Netzhass umzugehen. Jede Taktik hat ihre Berechtigung und sollte im passenden Moment angewandt werden. Denn ein hasserfüllter Kommentar ist nie nur ein hasserfüllter Kommentar, sondern auch immer ein Test, ob „man das mal so stehen lassen kann“. Widerspruch bleibt wichtig.

Infobox: Don’t feed the troll, but don’t let ’em grow either. When to act? Bei der Entscheidung, ab wann ein Kommentar lohnt, hilft die Kategorisierung der Amadeu-Antonio-Stiftung: a) Direkte Hate Speech („Tötet alle Femnazis“ oder „Ausländer raus!“): In diese Kategorie fallen Aufforderungen zu bestimmten Taten. Eine Diskussion ist kaum durchführbar. b) Indirekte Hate Speech (“Israel muss aufgelöst werden“ oder „Das Asylrecht gehört abgeschafft!“): Kommentare in dieser Kategorie sehen zunächst unscheinbarer aus, als die der ersten Kategorie. Zu Ende gedacht, unterstützen und legitimieren sie jedoch bestehende Gewalt. Auch hier ist eine sinnvolle Debatte schwer möglich. c) Uninformierte Aussagen („Die Ausländer beuten die Sozialsysteme aus!“): Diese Aussprüche berufen sich auf falsche Fakten; einen Debattenversuch zu starten, könnte lohnenswert sein.

Hinweise für ein „follow up“: Relevante Studien: Heumann, M., Church, T. W., Redlawsk, D. P. (1997). Hate Speech on Campus: Cases, Case Studies and Commentary, Boston: Northern University Press. Jones, C. H. (1992). Regulating Campus Hate Speech: Is It Constitutional? San Francisco: National Constitution on Crime and Delinquency Press. Im Text zitierte Studien und andere Verweise: Rost, K., Stahel, L., Frey, B. S. (2016). „Digital social norm enforcement: Online firestorms in social media.“ PLoS one 11.6 (2016): e0155923. HoGeSa – Hooligans gegen Satzbau: http://www.hogesatzbau.de

| Marius Hasenheit

Hass-hilft: http://www.hasshilft.de


Subculture of violence through the perspective of the refugee crisis “The people in flight from the terror behind; strange things happen to them, some bitterly cruel and some so beautiful that the faith is refired forever.” ― John Steinbeck, The Grapes of Wrath

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he word “crisis” goes back to the Ancient Greek history. Its meaning varies through the flow of time, as it can be used in the context of law, in a religious context (Judgement Day in Greek language is phrased as Ημέρα Κρίσης – Day of Crisis), in the medical sciences, with the meaning of the more dangerous point of an illness, and so forth. But of course, it is also used as a historical change benchmark, with a positive or a negative outcome.

engagée | 43


Gewalt.

In the 18th century, modernity brought the word “crisis” to the European political context. Crisis is the opposite of normality. What’s normality? When every value and norm of social life works as it supposes to. And suddenly, an emergency comes to establish a crisis to that normality - destabilizing it. Europe is already suffering from the economic crisis and now the refugee crisis comes up, without any solution for either of them. Is this creating a new point of view, in which crisis is the new normality? Violence. A feared word. Actually, the public fear of violence may be greater than the amount of violent behavior within a community. The dominant, middle-class society morally denounces violence, partly because of a general principle which characterizes every established political power and the need to uphold nonviolence as a means of discouraging attacks against that power. That is why the idea of a “subculture of violence” refers to a system of norms and values set apart from the dominant nonviolent culture and which expects or requires the use of violence in many kinds of social relationships. Hostility, psychological and physical aggression, anger, and rage are all terms that have been associated with the meaning of violent responses to stimuli.

In Greece, violence is an outcome of both the economic crisis and the refugee crisis from both “sides”, the locals and the refugees as agents of violence. There is a subculture of violence in both of those social groups, reflected in the interactions between them. The rise of political groups on the extreme right of the establishment that calls for violence in their ideologies have actually engaged in collective aggressions as a common phenomenon in Europe. And Greece, as the first arrival center of the flows of refugees cannot be excluded. The “Golden Dawn” is an extreme right fascist group, with an increasing amount of members in the last years. But the problem is that people who do not support that group have also started to adopt such ideologies, forced by the image of the refugee as a potential danger for their jobs, their reli-

gions, their cultures. That leads to an excessive use of verbal or physical violence towards refugees, or leads to violent acts from institutional representatives such as the police, inside or outside the camps. Verbal violence towards the Mayor of Lesvos was shown by the locals of the Moria village, which is the closest in the Moria camp, so the first to react to the acts of violence and violations of the refugees towards their properties. But why are refugees committing violent acts in the welcoming country? In order to understand the causes behind that, I will give a brief explanation of the structure of the social life inside the Moria camp. This is the camp for newly arrived refugees, who have to register in Europe. As the refugees stand on a long waiting list for their asylum interviews, they spend some time there. And most of them stay there for quite a long time. For months even, without knowing what the future will bring, what will happen to them, when their interview will finally take place, with their rights to move, and to work as well as their dreams of going to a different country in Europe being restricted. If the external social environment is the area where the causative key to aggression is found, then the ignorance about the future and the chaotic bureaucracy are two of the most important causes of the establishment of a subculture of violence inside the camps. The normative systems of subcultures designate that in some types of social interaction, a violent and physically aggressive response is either expected or required by all members in that value system. Let us explore the examples that Moria provides. During the month before Ramadan (the Islamic fasting period), the refugees at place committed riots and excessive acts of violence. These were both among different nationalities of the refugees and from refugees against the police. The Afghans set the big Ramp Hall on fire, where 150 Pakistan refugees where sheltered, in order to show their power over their territory inside the camp. Another case was the riot of the African nationalities towards the police, accusing them of sexual gender based violence and racism. An important remark is that no NGO worker was targeted at any situation. The subcultural ethos of violence may be shared by all ages in a sub-society, but this ethos is most prominent in a limited age group, ranging from late adolescence to the


middle age. That is reflected inside the camp, with single men to be the main agents of violence along with unaccompanied minors. Both of them feel the rage that comes from the boredom of just sitting somewhere, being restricted in moving and performing activities, contrary to those dreams and hopes that young people have. It is not suggested that all persons in a particular ethnic, sex, or age group share a common use of potential threats of violence. But violence can become a part of the life style, the theme for solving difficult problems.

The existence of violence in a social community is best represented by the children of that community. Many fights happen every day between “gangs” of children, copying their parents. Different nationalities are usually the stimuli. There are so many more examples of violence inside a camp, so I cannot refer to all of them, and for sure I am not aware of all of them. I will just close with a questionable form of violence, the violence of “protection”. The police has a strong presence inside the camp, with patrols and fast arrests. Is that a form of violating refugees’ freedoms of acting and talking, and if so, is it more preferable than the acts of violence among them for silly reasons, such as the food distribution? In any case, to accuse the social community of a refugee camp for its violent acts, just because it is easy to observe and judge them, is a wrong perspective. Similar things happen in every community. We can observe examples of violence inside families, inside communities, and even violence perpetrated or condoned by states and institutions. Moria camp and Moria village are two local regimes coming into conflict every day. The refugees in Lesvos and the island’s locals are two different societies. The refugees in Greece and the Greek citizens are two different societies that are coming into conflict. And violence, in any form, is a common way to express that conflict. A bigger example would be that of the image of Europe opposing the flows of the “others”. That “otherness” is what makes the public fear of violence so aroused. Whatever is not “us” is alien and dangerous. Should we consider the violation of the borders of a country the first act of violence already?! | John Mamakos

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Gewalt.

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Staatsbürgerschaft zwischen Verfassung und Insurrektion

as bedeutet es, heute Bürger1 zu sein? Dieser Frage geht der französische Philosoph Étienne Balibar in seinem Werk Gleichfreiheit nach. Diese repräsentiert die interne Verschränkung von Gleichheit und Freiheit. Balibar zufolge klagt der Bürger, zwischen einer Politik der Verfassung und einer Politik der Insurrektion gefangen, die Gleichfreiheit immer dann ein, wenn er gegen die Erscheinungen der Ungleichheit bzw. der Unfreiheit vorgeht. Beide Prinzipien werden stets gleichzeitig angefochten. Laut Balibar sind „die (faktischen) historischen Bedingungen der Freiheit […] genau dieselben wie die (faktischen) historischen Bedingungen der Gleichheit“ (Balibar 2012: 94). Dies bedeutet, dass keine Situation eintreten kann, in der die Freiheit verletzt wird, die Gleichheit jedoch nicht und vice versa. Dieser Aufsatz untersucht das kritische Verhältnis des Bürgers zum Gesetz bzw. zum Recht und seine Rolle in dessen Manifestation. Einleitend skizziere ich das Verständnis der politischen Gemeinschaft bei Balibar. Im zweiten Schritt geht es um die Konzeption der Staatsbürgerschaft als eine kollektive Praxis. Abschließend werde ich eine Lösung für das Problem der Verzerrung der Rolle des politischen Subjekts bei Balibar vorschlagen, die entlang der Konzeption des Bürger-Subjekts von Jacques Rancière erfolgt.

Politische Gemeinschaft Die Gemeinschaftlichkeit an sich betrachtet Balibar als kontingent. Die Staatsbürgerschaft basiert nicht, wie in der Moderne angenommen, auf der nationalen Zugehörigkeit derer, die als Bürger eines Staates bezeichnet werden. Die Zusammensetzung der Individuen auf einem bestimmten Territorium, das sich als Staat bezeichnet, ist zufällig und lässt sich nicht auf irgendein höheres Prinzip zurückführen. Nur die kollektive Praxis der revolutionären Kämpfe vor dem Hintergrund der gleichen Freiheit und Gleichheit kann als Grund für die Mit-Bürgerschaft dienen. Die politische Gemeinschaft ist nicht etwas Gegebenes oder in der Welt Existierendes. Sie muss von ihren Teilnehmern fortwährend etabliert und der Grund für ihr Bestehen muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Sie ist nicht positiv zu bestimmen. Der Gemeinschaft der Bürger fehlt die unan1 Die Verwendung des generischen Maskulinums erfolgt im Folgenden aus rein stilistischen Gründen.

tastbare und unbestreitbare Begründung, deswegen „fehlt“ sie selbst ihrem Wesen nach (ebd.: 245). Balibar bezeichnet sie ganz in der Tradition von Jacques Derrida als eine „kommende Gemeinschaft, die es zu erfinden und durchzusetzen gilt“ (ebd.: 249). Sie weist auf ein nie zu erreichendes Ziel hin. Dieses Ziel findet seine Verkörperungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, es kann jedoch nie vollkommen verwirklicht werden. Und genau darin besteht seine Errungenschaft. Die innere Konflikthaftigkeit und Zerstrittenheit der politischen Gemeinschaft und ihre Offenheit für Eingriffe in ihre Struktur sind für ihre Konstitution unabdingbar. Vielmehr sind es gerade diese Eigenschaften, die ihr schöpferisches Moment verkörpern – ihre absolute Unbestimmtheit verleiht ihr die emanzipatorische Kraft.

Staatsbürgerschaft als kollektive Praxis Der einzige Anhaltspunkt für politische Gemeinschaften ist die Anerkennung des Rechts des Anderen, bestehende Rechte einzufordern und neue Rechte einzuklagen. Die Individuen werden zu Bürgern im Laufe und gerade durch den Prozess der Konstituierung der Staatsbürgerschaft. Da jeder seiner Teilnehmer vor dem Hintergrund seiner subjektiven Vorstellungen und im Namen seiner persönlichen Interessen agiert, führt dies zu Dissens, der den Kern der Demokratie ausmacht. Die Konfrontation zwischen Macht und GegenMacht spielt sich auf zwei Ebenen ab: zum einen als eine Konfrontation innerhalb des Volkes, bezüglich der Gründung von Verfassung; zum anderen als eine Konfrontation zwischen dem Volk als der konstituierenden und dem Staat als der konstituierten Macht. Balibar beschreibt sehr prägnant diesen der Demokratie immanenten Konflikt, wenn er konstatiert: „Die demokratische Staatsbürgerschaft ist konfliktgeladen oder sie ist nicht“ (ebd.: 236). Der Bürger befindet sich dabei in einer ambivalenten Situation. Er stellt eine „Schnittmenge“ zwischen dem Staat und der revolutionären Bewegung gegen den Staat dar. Wenn er sich auf die institutionalisierten Rechte bezieht bzw. von ihnen Gebrauch macht, tritt er auf der Seite der Verfassung auf. Zugleich ist der Bürger aber auch derjenige, der in der Lage ist, zum Aufstand gegen die Staatssouveränität aufzurufen. Diese Fähigkeit zum Ungehorsam, wenn sie nicht auf pure Gewalt und Zerstörung ausgerichtet ist, bezeichnet Balibar als eine „schöpferische, konstruktive politische Tugend“ (ebd.:


241). Die kollektive Ausübung des Widerstands ist unbedingt notwendig für die Neukonstituierung der Gemeinschaft. Sie ist ein Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen der Macht und der Gegen-Macht und liegt dem Paradox der politischen Staatsbürgerschaft zugrunde. Dieses besteht darin, dass der Bürger, um Bürger zu sein, in der Lage sein muss, dem Staat „Nein“ sagen zu können. Er lebt nur dann seine Staatsbürgerschaft vollkommen aus, wenn er die Möglichkeit hat, und diese gegebenenfalls auch nutzt, gegen den Staat bzw. gegen das Institutionelle schlechthin vorzugehen (ebd.: 235). Der Widerstand, der Aufstand und der Ungehorsam stellen Modalitäten eines kritischen bzw. negativen Verhältnisses des Bürgers zum Gesetz und zur Macht dar und sichern auf diese Weise eine dauerhafte Bedingung der Politik, die in der Konfrontation von institutionellen Logiken und sozialen Kräfteverhältnissen besteht. Balibar formuliert das universelle Recht auf Politik, das Recht des Rechts, das in der kollektiven Selbstregierung und politischen Selbstbestimmung besteht und gegebenenfalls auch gegen die institutionellen Regelungen ausgeübt wird: das Recht auf Ungehorsam (ebd.: 237). Es kristallisiert sich „das an-archische bzw. für die Konstituierung von Macht unverzichtbare Prinzip von Nicht-Macht, ohne dass die Macht sich nicht von Unterdrückung unterscheiden bzw. unvermeidlich darin zurückfallen würde“ (ebd.: 241 f.). An dieser Stelle wird eine problematische Facette der Konzeption der Staatsbürgerschaft im Sinne Balibars deutlich: Es scheint, als ob der Bürger bei Balibar lediglich dann Bürger ist, wenn er aktiv ist. Zwar spricht Balibar auch denjenigen Bürgern eine aktive Teilnahme zu, die mittels Repräsentation an dem Zustandekommen einer politischen Entscheidung beteiligt sind, jedoch übersieht er diejenigen Mitglieder einer Gemeinschaft, die an diesem Prozess nicht teilnehmen können oder wollen. Dies wirft die Frage auf, ob diese Individuen bzw. Gruppen im Rahmen der Balibarschen Theorie überhaupt noch als Mit-Bürger bzw. Teilnehmer der politischen Gemeinschaft zählen. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob Balibar dem passiven Bürger seinen Status egalitärer Souveränität aberkennt und ihn zum Untertan degradiert. Diese aktivistischen Bias in Balibars Theorie demokratischer Staatsbürgerschaft führen zu Exklusionseffekten, die den Status eines Bürgers in seinem zum gegebenen Zeitpunkt geltenden Umfang denjenigen Individuen absprechen, die sich als passive Bürger bzw. als bloße Nutznießer der von anderen erkämpften Rechte herausstellen.

Ein möglicher Lösungsvorschlag? Um der skizzierten problematischen Verzerrung der Rolle des politischen Subjekts bei Balibar theoretisch zu begegnen, schlage ich vor, die Vorstellung der Politik als Politik der Gleichheit von Jacques Rancière zu Hilfe zu nehmen. Beide Theoriekonzeptionen teilen grundlegende Überzeugungen: Zentral ist für beide eine positive Auffassung des Dissenses bzw. des Streits und seiner fruchtbaren Rolle in der Formation einer Gesellschaft. Darüber hinaus sind sich beide Theore-

tiker darin einig, dass ein auf der reziproken und allgemeinen Anerkennung basierendes Verständnis des Staatsvolkes notwendig ist und dem Konzept der Emanzipation eine essentielle Rolle zuzuschreiben ist. Rancière versteht Gleichheit als das Prinzip, das der Politik zugrunde liegt – sie ist ihre Logik und ihre Voraussetzung. Gleichheit bezeichnet für Rancière die Gleichheit zwischen Beliebigen, d.h. auch zwischen den Mitgliedern der herrschenden Ordnung und denjenigen, die keinen Anteil an dieser Ordnung haben, sprich den marginalisierten Gruppen (Rancière 2002: 28). Da jeder bestehende Grund für die Existenz einer gesellschaftlichen Ordnung sich im Laufe des Emanzipationsprozesses als kontingent und zu verwerfen entpuppen kann, muss die Ordnung der Gleichheit notwendigerweise als eine Leere definiert werden. Trotz ihrer unumgänglich negativen Definition stellt die Gleichheit als die Voraussetzung der Politik eine normative Größe dar. Nur vor ihrem Hintergrund kann ein Streit um die Grenzen der Gesellschaft entstehen. Aus diesem Grund ist sie für das Zustandekommen der Politik unentbehrlich. Rancières Auffassung von Gleichheit legt den Grundstein für eine wandlungsfähige Konzeption des politischen Subjekts. Die Aushandlung der Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren ermöglicht laut ihm die Hinterfragung hegemonialer Logiken der gesellschaftlichen Grenzziehung, demonstriert ihr kontingentes Zustandekommen und bewirkt dadurch, dass ihre Struktur angegriffen und verändert wird. Die Aushandlung selbst wird von Individuen durchgeführt. Diese behalten ihr Potential des politischen Subjekts auch nach der Austragung eines bestimmten Konflikts um die Verschiebung der Grenzen und der damit zusammenhängenden Inklusion in die anerkannten Teile der Gesellschaft. Die Konzeption des Bürger-Seins bei Rancière setzt keine permanente Revolution voraus, um dem Teilnehmer einer Gemeinschaft seine Fähigkeit zur politischen Transformation zuzugestehen. Eine politische Theorie der Gegenwart muss politische Subjektivität in all ihren Facetten in den Blick nehmen können; und dies sowohl in den Momenten der Insurrektion als auch zu den Zeiten der Organisation und Verwaltung des gemeinsamen Lebens. | Anastasiya Kasko

Literatur: Balibar, Étienne (2012): Gleichfreiheit. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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The Torture V

iolence is not always a loud, explosive affair. Violence can be committed quietly, insidiously and stealthily. Words like love can be violent. As a survivor of childhood sexual abuse, I am familiar with this term being used as a method of manipulation and for many years had a distorted overview of the meaning of the word. Interpreting it as something that caused emotional trauma, something that was purely sexual in nature and that was used for personal gain. In this respect the word ‚love‘ had evolved and become, not a joyful expression stemming from deep emotional connection to another person, but a placatory, secretive term to avoid confrontation and get what one wants, a quietly violent term. This shift in meaning happened over the course of many years and inspired me to look deeper at the potential, traumatic outcomes that this type of mental conditioning can have on a person. | Kate Steiner

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Gewalt.


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Ihre Aggression und ihre Sanftmut engagĂŠe | 51


L I S T

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ch kann nicht mehr. Muss zusehen, aber es geht nicht mehr. Der MENSCH ist doch die verwerflichste aller Gattungen und die Wenigsten dieser Spezies haben etwas dagegen. Er stellt es gerne unter Beweis – nicht absichtlich, nicht bewusst natürlich und schon gar nicht offiziell.

Reflektieren ist seltener geworden und wenn wir es aber dann mal getan haben, zu einer Meinung und zur gewonnenen Erkenntnis zu stehen... auch nicht angenehm. Und dann landet das eben ganz oben auf der Liste der bedrohten Handlungsarten. Man ist nun mal MENSCH, da kann das Verdrängen schon passieren, und die Anderen sollen bitte vor ihrer eigenen Haustüre kehren und aus. Können wir bitte über was anderes reden?! Weißt du, wen ich heut getroffen hab? Also kehre ich nun im Stillen vor mir hin und vor mich her und kehre und kehre und lese und schaue nach langem Kehren auch nur kurz die Nachrichten und denke mir, ob denn sonst niemand im Stande ist zu kehren. Oder, wie die da oben das schaffen, solche Strukturen aufzubauen, um allein den Gedanken ans richtige Kehren, ans Graben und Schürfen, bei gewissen Individuen, bevorzugt in gehobenen Rängen, auszuschalten. Manche MENSCHEN müssen eben nicht saubermachen – die findet man aber dafür selbst oft nach ganz wildem Kehren.

M

ahmud Ahmadinedschad für seine Hetze und Hinrichtungen unter ihm,

M

ohammed Farah Aidid, Warlord,

P

eter Akinola für seine aggressiv propagierte Intoleranz,

A

K

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A

bdullah Alpdogan für politische Morde und Hinrichtungen,

di Amin für dasselbe,

arl Brandt für durchgeführte Tötungsexperimente,

lois Brunner für Massenmord und andauernde Unmöglichkeit,

A

P

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T

ndreas Baader für dasselbe,

héoneste Bagosora für strategischen Völkermord,

aul Bulcke für Mitarbeit an weltweit ausgelöstem Sterben,

heodore Bundy für Serienmord,

A

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K

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rbi Barajew, Warlord,

laus Barbie, Schlächter von Lyon,

eorge W. Bush, Kriegspräsident,

erner Catel für willkürliche Kindereuthanasie,

U

mar Hasan Ahmad al-Baschir für Völkermord und Scharia in seiner Auslegung,

A

A

ugustin Bizimungu für unmittelbar ausgeführten Völkermord,

R

T

D

F P

riedrich Boßhammer für seine strategischen Geschicke,

hilipp Bouhler für Masseneuthanasie,

V P

ihomir Blaškić, Kriegsverbrecher,

iktor Bout, Händler des Todes,

eter Brabeck-Letmathe für sinnlos und selbstbereichernd ausgelöstes Sterben,

V

iktor Brack für Massenvernichtung,

li Chamene’i für Kettenmorde und seine Politik,

uhollah Chomeini für eine blutige Revolution und Hetze,

ean Corll für Sexualmord,

C

harles Cullen für Serienmord,

D

ecius für Glaubensmorde,

R

asim Delić für Kriegsverbrechen und persönliche Grausamkeit,

J

ohn Demjanjuk für Beihilfe zum Massenmord,

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odrigo Duterte für politische Fahrlässigkeit mit tödlicher Hetze,


I

rmfried Eberl für dilettantische Massenvernichtung,

H

ans Hefelmann für die Leitung der Masseneuthanasie,

J

oseph Kony für religiösen Fanatismus mit Mord, Misshandlung und Sklaverei,

K

A

ribert Heim für fehlgeleitete Schreckenstaten,

U

L

G

ottlieb Hering, kommandierte Massenvernichtung,

E

K

W

erner Heyde für Tötung unter einem wissenschaftlichen Vorwand,

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M

H

einrich Luitpold Himmler für die Hauptverantwortung bei einem Völkermord,

M

T

A

H

K

N

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S

arl Adolf Eichmann für Völkermord,

ynndie England für Folter und Kriegsverbrechen,

enan Evren für blutigen Putsch,

aria Fekter für Hetze und Intoleranz,

ommy Ray Franks für Invasionen,

arl Fritzsch für seine tödlichen Proben,

ohn Wayne Gacy für Serienmord,

S

tanislav Galić für hinterhältige Kriegsverbrechen,

O

dilo Globocnik für das Organisieren von Mord,

dolf Hitler, eh schon wissen,

orbert Hofer für die Verbreitung gefährlicher Ideologien,

erd Honsik für die Aufnahme von Habiten,

sama ibn Ladin für zahlreiche organisierte Morde,

rwin Lambert für seine Tötungsangelegenheiten,

erbert Linden für die strategische MENSCHENvernichtung,

ilan Lukić für seine Gemetzel,

orst Mahler für seine Verhetzung,

harles Manson für die Morde,

aw Maung für die tödliche Politik,

W

U

S

A

alter Huppenkothen für Massenmord,

addam Hussein für Bürgerkriegsverbrechen,

lrike Meinhof für den bewaffneten Kampf,

lfons Mensdorff-Pouilly für seine Tötungsmaschinerie,

H

ermann Göring für oberbefohlene Massenmorde,

K

D

A

mon Leopold Göth für direkte Grausamkeit und Massenmord,

E

S

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harles A. Graner für Kriegsverbrechen und Vieles, was wir noch nicht wissen,

H

u Jintao für unermessliche Todesstrafen und Folter,

R

R

K

im Jong-il für Verbrechen gegen die MENSCHlichkeit,

J

J

J

Z

olf Günther für effiziente Massenvernichtung,

oaquín Guzmán für eigennützige und prinzipielle Morde,

urt Jaager für seine Todesurteile und besondere Reflexionsresistenz,

rwin Jekelius für den Genozid,

ean Kambanda für die aktive Rolle im Genozid,

ragomir Milošević für die Massaker,

lobodan Milošević für Völkermord,

atko Mladic für die Kriegsmassaker,

oseph-Désiré Mobutu für die Hinrichtungen und das Regime,

rdavko Mucic für die Massenmisshandlungen und Morde,

L

aurenzius Hackenholt für innovative Tötungen,

H

F

S

abrina Harman für Folter und Kriegsverbrechen,

R

H

ans Kammler für Massenmord,

adovan Karadžić für das große Massaker,

ranz Murer, Schlächter von Vilnius,

ermann Paul Nitsche für die strukturierte Massenvernichtung,


O

K

J

H

orst Schumann für den akribischen Genozid,

M

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J

osef Schwammberger für die grausamen Morde,

M

liver North für die Provokation von Massenmorden,

ean Bosco Ntanga für unzählige Massaker und Misshandlungen,

osef Oberhauser für die zahlreichen Morde,

A

bdullah Öcalan für die tödlichen Kämpfe und die Hinrichtungen,

V

ojislav Šešelj für die Kriegsverbrechen,

ugusto Pinochet für politische Morde und Folter,

H

ladimir Putin für die organisierten Verbrechen und Morde,

T

A V J

iang Qing für die Hetze und Todesurteile,

Ž

eljko Ražnatović für Völkermord und Massaker,

A

xel Reitz für die Hetze und Dummheit,

G

eorg Renno für den Massenmord,

O

tto Riehs für besondere Reflexionsresistenz und Hetze,

M

arion Gordon Pat Robertson für dasselbe,

M

aximilien Robespierre für politische Hetze und Terror,

H

orst Jakob Rosenkranz für die Hetze,

D

onald Henry Rumsfeld für Kriegsverbrechen,

D

inko Šakić, Kriegsverbrecher,

I E

arlheinz Schreiber für die Tötungsmaschinerie,

lich Ramírez Sánchez für die Morde,

rnst Friedrich Sauckel für unfassbare, organisierte Grausamkeit,

arold Shipman für seine Morde,

han Shwe für die mordende Politik,

D

arshan Singh für die Hinrichtungen,

J

osef Stalin für die Massenmorde,

H

einz-Christian Strache für die Hetze,

C

harles Ghankay Taylor, Kriegsherr,

E

ugène N. Terre’Blanche für die Hetze und die Dummheit,

H

arry S. Truman für die Massenvernichtung,

H

üseyin Velioğlu für die religiösen Morde,

H

endrik Frensch Verwoerd für die Begründung rassistischer Morde,

E

rna Wallisch für die Massenmorde,

N

e Win für die tödliche Politik,

C

hristian Wirth für den Genozid,

C

hristian Worch für die Dummheit und Hetze,

A

hmad Yasin für die Hetze und Morde,

esbah Yazdi für die tödliche, religiöse Hetze,

ao Zedong für den Völkermord,

J

iang Zemin für die Hinrichtungen und Kriegstreiberei.

Hab keine diplomatischen Zwänge. Kriegsverbrechen ist eine Tautologie. Ob man ausführte oder befahl, ob man Einen oder Viele beklagen muss, oder ob direkt oder nur indirekt verantwortlich – Ausreden kann man ausreden, muss sie aber nicht ausreden lassen. Bei Personen aus unseren zivilisierten Breiten in unseren zivilisierten Zeiten ist da natürlich das Maß nicht so voll. Mag sein, doch der Physik zum Trotz läuft es immer wieder über. Traurig genug, dass auf keinen Fall und bei Weitem nicht ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann, weiß ich auch noch, dass sich für jeden Buchstaben des Alphabets und für jedes Land dieser Erde nicht nur ein Repräsentant oder nur eine Repräsentantin finden ließe und dass die Liste wohl stündlich erweitert werden müsste. In Verliese schicken ist unter den Teppich kehren. Ich steh da mehr auf das schwungvolle Aufkehren. Wie ein begnadeter Dirigent mit dem Besen in den Dreck zu fahren und durch den Staub zu wirbeln und alles aufwirbeln, dass sich die Strukturen in der Luft selbst umkreisen und dass sie wirbeln und man erst nach einiger Zeit wieder Licht sieht. Es muss sich zuerst verdunkeln, damit man dann das Licht am Ende des Raumes sieht. Wie ich da also so kehre, hoffe ich auf die Macht der Worte und auf die Einsicht, dass sie die einzige Möglichkeit des Kampfes ist und die verbale Konfliktlösung nicht im Geringsten auch nur die Möglichkeit haben oder geben darf, über die Worte hinauszugehen. Das hat sie ja schon per definitionem nicht, aber wer ungern reflektiert, ignoriert wohl umso lieber. Solche und ähnliche Worte sind schon und immer wieder gefunden worden und trotzdem nehmen die Leute ihre Besen nicht zur Hand im Kampf gegen das Vergessen. Und dass der Schmutz vor den Türen und unter den Teppichen wenigstens nicht mehr und immer mehr wird, sondern vielleicht sogar irgendwann weniger, wenn ich die Liste dann nicht mehr endlos fortsetzen kann. Irgendwann. Aber bis jetzt ist da natürlich nichts aufzukehren. MENSCHEN. | Roman Schneeberger


Aus einem Alphabet der Gewalterfahrung. Eine Textmontage aus den Beständen der Österreichischen Exilbibliothek.1 Zusammengestellt von Veronika Zwerger und Thomas Ballhausen.

1 Ausgehend von den facettenreichen Beständen der Österreichischen Exilbibliothek wird ein alphabetisch strukturiertes, nach Schlagworten angeordnetes Geflecht aus ausgewählten Textzitaten und -ausschnitten präsentiert, das die Thematik „Exil und Gewalterfahrung“ neu erfahrbar macht. Im Zusammenspiel aus literarischer Qualität/Prägnanz der ausgewählten Zitate und den strukturierenden, auf die Sammlung verweisenden Elementen (Schlagworte, alphabetische Gliederung, Nachweise und kontextualisierende Kommentare) wird ein (auch textuell vielschichtiges) Gefüge vorgelegt, das historische als auch aktuelle Begebenheit reflektieren lässt. Die zitierten Stellen folgen in Orthografie, Hervorhebungen usw. den vorliegenden Quellen. Der vorsätzlich umfangreich gehaltene Fußnotenteil ist Ausdruck der Gewissheit, dass es oftmals einen weiteren, zweiten Text braucht um einem ersten Text auch nur annähernd gerecht werden zu können. (vz/tb)

[Abwesenheit]

Walter Benjamin hat sich das Leben genommen, am 26.9., an der spanischen Grenze, in Port Bou. Er hatte ein amerikanisches Visum, aber seit dem 23. lassen die Spanier nur noch Inhaber „nationaler“ Pässe durch. – Ich weiss nicht, ob diese Zeilen Sie erreichen. Ich habe Walter mehrmals in den letzten Wochen und Monaten gesehen, zuletzt am 20. in Marseille. – Diese Nachricht erreichte uns wie seine Schwester mit fast 4 wöchentlicher Verspätung. Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.1

1 Schluss eines Briefes von Hannah Arendt an Gershom Scholem vom 21. Oktober 1940. Angeführt als zweiter Brief in folgender Edition: Hannah Arendt/Gershom Scholem: Der Briefwechsel. Herausgegeben von Marie Luise Knott. Unter Mitarbeit von David Heredia. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2010, S. 10.

[Familie]

Buchwald Vienna 15 Braunhirschengasse 52 Germany Cook hier sagt wagonlits cook informiert euch ueber eure quotenaussicht ab juli consul hat inzwischen vier affidavits bei positivem bescheid kabelt uns sofort via kultus falls rechtzeitige buchung durch kultus weiterhin zweifelhaft wir uebergeben dann jointbetrag plus aufzahlung 185 cook hier dadurch fixbuchung fuer spaetestens oktober lissabon oder japan aussichtsreich risiko $ 150 gibt cook unguenstige auskunft verbleibt betrag joint portugline risiko 350 zwischenland unerschwinglich shanghai 15001 Eure Cubavisa wurden vom Statedepartment in Havana soeben unter Nummer 8580 an Cubalegation in Berlin gekabelt Stop Am 27 Oktober Fahrt eingezahlt Joint $ 900 Mimi2

1 Telegramm von Mimi Grossberg an ihre Eltern Adele und Salomon Buchwald, aufgegeben am 17. April 1941. Signatur: N1.EB-17/2.1.1. 2 Telegramm von Mimi Grossberg an ihre Eltern, aufgegeben am 5. November 1941. Signatur: N1.EB-17/2.1.1. Salomon und Adele Buchwald waren bereits am 29. Juli 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden, am 21. September 1942 wurden sie nach Maly Trostinec gebracht. Dort mussten sich die Opfer „in einer Reihe vor 50 Meter langen und drei Meter tiefen Gräben aufstellen und wurden dann erschossen. Nach den Hinrichtungen wurden die Leichengruben von Traktoren planiert.“ Vgl. für diesen Beleg: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. II. Herausgegeben von Israel Gutmann. München: Piper Verlag 1998, S. 921f.; hier zitiert nach: Christian Klösch: Mimi Grossberg (1905–1997). Eine österreichische Exilautorin in New York. Begleitbuch zur Ausstellung der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus. Wien: Zirkular 1999, S. 24f.

engagée | 55


[Land]

Gewalt.

Aber wie Kolonisten finden in dem kleinen, schon halb ausgebluteten Lande? Portugal hat zu Beginn seiner Eroberungszeit höchstens dreihunderttausend erwachsene Männer, davon sind ein gutes Zehntel, die stärksten, die besten, die mutigsten mit den Armadas und von diesem Zehntel neun Zehntel schon dem Meer, den Kämpfen, den Krankheiten zum Opfer gefallen. Immer schwerer wird es, obwohl die Dörfer schon entvölkert, die Felder verödet sind, Soldaten und Matrosen zu finden, und selbst unter der Gilde der Abenteuerlustigen will keiner nach Brasilien. [...] Die einzigen Kolonisten, die freiwillig kommen, nicht aus Ketten, ohne Brandmal und richterliches Verdikt, sind die Christaos Novos, die frischgetauften Juden. Aber auch sie kommen nicht ganz freiwillig, sondern aus Vorsicht und Angst.1

1 Stefan Zweig: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Stockholm: Bermann-Fischer 1941, S. 29-31. Zweig nahm sich im brasilianischen Exil in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 das Leben.

[Sichtbarkeit]

Zurück im Illford House gingen wir gleich hinauf in unser Zimmer. Es war feucht, und wir schlüpften unter die Decke. Mein Vater schlief beinahe augenblicklich ein. Meine Mutter und ich taten so, als wären wir bester Laune. Wir tuschelten – vielleicht könnte ich nächstes Jahr nach Südengland in die Nähe meiner Eltern ziehen, und wir würden die freien Nachmittage immer miteinander verbringen. Wir fragten uns, ob wir wohl ein Zuhause für mich finden würden, das so gut war wie das, das ich bei den Levines in Liverpool hatte. Miss Joanne öffnete die Vorhangtür. „Oh!“ sagte sie. „Ich wußte nicht, daß jemand da ist“, und sie trat ins Zimmer und ging in die Dachkammer dahinter. Sie kramte in der Kammer herum und blieb eine halbe Stunde. Mein Vater wurde wach und setzte sich auf. Ein paarmal ging sie mit Schachteln durch. Ich beobachtete sie genau. Ich wußte nicht, ob sie mich überhaupt gesehen hatte.1

1 Lore Segal: Wo andere Leute wohnen. Aus dem Amerikanischen von Sabina Illmer. Wien: Picus 2000 (=Österreichische Exilbibliothek – Herausgegeben von Ursula Seeber), S. 114. Segal, die später als Autorin und Literaturwissenschaftlerin tätig war, bemüht sich in ihrem autobiografischen Text um eine Annäherung an ihre Kindheitserinnerungen und die entsprechende Perspektive auf die Umstände.

[Tortur]

Mein Rücken schmerzt so, daß ich es nicht ertragen kann. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß es so schwierig ist, auf einer Bank zu sitzen. Ich versuche aufzustehen, aber überall ist die Wand. Ich setze mich wieder nieder, diesmal seitlich und ziehe die Füße hoch. Die Bank ist so kurz, daß meine Kniee beinahe das Kinn berühren. Während ich nach einer erträglicheren Lage suche, fällt mir ein, daß ich in einem Buche über französisches Gefängniswesen eine Photographie sah, die eine sonderbare, inzwischen abgeschaffte Strafmethode zeigte, die in den Gefängnissen angewandt wurde: Gefangene, die wegen disziplinärer Vergehen bestraft wurden, hatten eine oder zwei Stunden, oder auch länger, auf einem hölzernen Sitz Platz zu nehmen, der einer viereckigen Kiste glich, – ein glatter Würfel ohne Lehne und ohne Beine. Auf den ersten Blick war es unmöglich zu verstehen, daß dieses bloße Sitzen auf dem Würfel eine Strafe bedeuten sollte. Es war einfach ein Stuhl ohne Rücken, nicht mehr. Dann aber las ich, daß die Maße des Würfels so beschaffen waren, daß das ruhige Sitzen nach kurzer Zeit das größte Unbehagen verursachte, das allmählich in Schmerzen überging, sodaß die Sitzstrafe gefürchteter war als viele andere bedeutend schärfere Strafen. Diese Tortur fällt mir jetzt ein.1

1 Elisabeth Janstein: Holloway Journal. Typoskript [ca. 1939]. Signatur: N1.EB-105. Janstein, eine Journalistin und Lyrikerin, war bereits 1938 nach Großbritannien geflüchtet und war dort als sog. „enemy alien“ interniert worden. Ihr Gefängnistagebuch blieb aufgrund ihres frühen Todes 1944 unpubliziert.


[Wahrheit]

Warum fällt es mir eigentlich so schwer, meine Erinnerungen, die mit der Auswanderung nach Plaestina [sic!] zusammenhaengen, niederzuschreiben? Schon ertappe ich mich bei einer Unwahrheit. Dachte ich allen Ernstes an eine Auswanderung? Versuchte ich mir nicht einzureden, ich gehe auf eine Reise, von der ich nach einiger Zeit wieder zurueckkehren werde? [...] Es waere leichter, darueber zu sprechen, was ich ja auch schon oefter tat, aber ich glaube nicht, dass ich verstanden wurde. Alles was ich damals erlebte war so doppelgeleisig, unaufrichtig, fast moechte ich sagen, verlogen. Verstand und Gefuehl lagen dauernd gegeneinander im Kampf, es waere Stoff, fuer einen Psychiater oder Analytiker. Mit einigen sollte ich ja auch im Laufe meines Lebens konfrontiert werden, denn ich litt zeitweise unter schrecklichen Depressionen. Wenn man Erinnerungen aufschreibt, muss man in erster Linie den Mut zur Wahrheit haben, und womoeglich nichts beschoenigen, aber gibt es ueberhaupt eine absolute Wahrheit?1

1 Anny Robert: Unbetiteltes Typoskript [o. J.]. Signatur: N1.EB-68. Für eine Edition der Erinnerungen der Autorin und Schneiderin vergleiche: Anny Robert: Herrlich ist’s in Tel Aviv – aus der Wiener Perspektiv’. Erinnerungen. Herausgegeben von Daniela Ellmauer, Miguel Herz-Kestranek und Albert Lichtblau. Wien: Böhlau Verlag 2006.

[Zeuge]

Nach einigen weitern Fausthieben ins Gesicht, wobei ich einen Zahn einbüsste, war ich so benommen, dass ich den Geschehnissen nicht mehr voll bewusst folgen konnte. Noch sehe ich einige Bilder aus dieser Schreckensnacht vor mir, Wachposten, die mit den Bajonetten stechen, andere, die mit den Fäusten den wehrlosen Opfern ins Gesicht, sehr oft in die Augen, schlagen. Viele sanken zu Boden. Manche standen nicht mehr auf. Zwei sprangen während der Fahrt aus dem Fenster und wurden erschossen. Vor meinen Augen lief einer meiner Mitgefangenen dem S.S.-Posten in das Bajonett. Es war, wie die beiden „Fluchtversuche“ klarer Selbstmord, wenn man diesen, auch so unfreiwilligen Tod so nennen darf. Betäubt von Schlägen, der Zwangshaltung und dem Lärm, verwirrter noch durch all die hier kaum angedeuteten Vorfälle muss ich in einen Dämmerzustand gefallen sein. Ich war überzeugt, mich in der Hölle zu befinden. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich junge wehrhafte Männer alten, wehrlosen Leuten mit den Fäusten ins Gesicht schlagen, ihnen Tritte versetzen, sie brutalisieren... Das konnte doch nicht die Erde sein, die Gott für den Menschen geschaffen hatte.1

1 Maximilian Reich: Mörder-Schule. Konzentrations-Lager. Kapitel „Das goldene Wiener Herz?“. Typoskript [o. J.]. Signatur: N1.EB-62. Vergleiche für eine Edition, die von der Tochter des prominenten Sportjournalisten und Fußballers besorgt wurde, auch: Maximilian Reich/Emilie Reich: Zweier Zeugen Mund. Verschollene Manuskripte aus 1938. Wien – Dachau – Buchenwald. Herausgegeben von Henriette Mandl. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2007.

engagée | 57


ÂťStell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.ÂŤ

Carl Sandburg, The People, Yes. (1936)


1:72 Objekt aus Plastik, Metall, Farbe ca. 100 x 60 x 82 cm unikat, 2014 http://www.timohoheisel.de

Meine Arbeit ist Krieg. In ihr drängen unzählige Soldatenleiber unterstützt von schwerem Kriegsgerät aufeinander ein. Getriebene, die letztendlich zu einer Masse verschmelzen. Es sind Militärmodelle im Maßstab 1:72 aus Plastik. Diese habe ich auf einem fiktiven Schlachtfeld in zwei Fronten aufeinander treffen lassen und miteinander verschmolzen. Dabei habe ich Nationen und Kriegsgerät aus verschiedenen Epochen gemischt. | Timo Hoheisel

engagée | 59


Gewalt.

Ideological Scalpel

S

eit einigen Jahren beschäftige ich mich mit dem Ersten Weltkrieg und mit der Zeit von 1933 bis 1938 in Österreich. Während die Zeit des „Great War“ gerade in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erhielt, wird der Zeitraum vor dem Zweiten Weltkrieg meines Erachtens vernachlässigt. Exemplarisch: Nach einem Call für eine Publikation mit dem Thema “Austrofaschismus” meldeten sich fast ausschließlich Personen, die Beiträge über die Zeit 1938 – 1945 publizieren wollten. Obgleich es immer wieder jemanden gibt, die/ der sich etwas zu oberflächlich mit einer solchen Ausschreibung auseinandersetzt, scheint mir der Umstand, dass 80% der Bewerber*Innen den Fokus falsch setzten, ein Beweis dafür zu sein, dass dieses Thema noch zu bearbeiten ist.

Diese Lücke der Aufmerksamkeit bildete für mich jedenfalls den Startpunkt für die hier publizierte Collage, die die Vorgeschichte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – des Austrofaschismus illustrieren soll. Im Zentrum stehen Bilder der Gewalt des Ersten Weltkrieges, die – nach Archivarbeit – mit unterschiedlichen historischen Materialien in Verbindung gebracht werden. So behandelt die Collage in erster Linie die Hungerkatastrophe, die sich 1914, ausgelöst von österreichisch-ungarischen Truppen, in Serbien ereignete. Im oberen Bildteil sieht man – beispielsweise – eine Postkarte (von einem Park in Serbien), die von österreichischen Offizieren nach Hause geschickt wurde. Darunter – als Kontrast – einen englischen Zeitungsauschnitt. | Patrick Schabus


engagĂŠe | 61


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engagée | 63


| Costanza Coletti


engagĂŠe | 65


NO

No Border Camp Thessaloniki, 15 - 24 Juli 2016


é - „Migrants` Pride“ Demonstration im Zentrum von Thessaloniki, 21. Juli 2016.

engagée | 67


NO

No Border Camp 2016 V

om 15. bis zum 24 Juli 2016 haben sich zeitweise bis zu 2000 Menschen in dem selbstorganisierten No Border Camp auf dem Aristotle University Campus in Thessaloniki zusammengefunden, um sich zu vernetzen, zu informieren und zu protestieren. Neben zahlreichen Workshops und Networking Meetings lag ein besonderer Fokus auf den politischen Aktionen selbst. So ist jeden Morgen eine Karawane mit Bussen, Autos und Motorrädern, lautstark hupend und fahnenschwenkend, zu einem der Umverteilungszentren in der Umgebung gefahren, um mit den Menschen vor Ort zu sprechen, sie über die Aktivitäten des No Border Camps zu informieren und sie dorthin einzuladen. Auch wurde auf Demonstrationen im Stadtzentrum von Thessaloniki, vor den Abschiebegefängnissen in Drama und Xanthi sowie an der griechisch-türkischen Grenze beim Evros-Zaun gegen die europäische Asylpolitik protestiert und den Neuankömmlingen hinter den Gefängniszäunen und Mauern gezeigt, dass es da draußen Menschen gibt, die sich für ihre Situation interessieren.


»

Migrants` Pride«

é - „Migrants` Pride“ Demonstration im Zentrum von Thessaloniki, 21. Juli 2016.

engagée | 69


NO

é - links und rechts oben: Relocation Center in Oreokastro, 19. Juli 2016.

EU-Türkei-Deal A

lle Neuankömmlinge, die ab dem 20. März 2016 ohne gültigen Aufenthaltstitel nach Griechenland gekommen sind, sollen laut EU-Türkei-Abkommen wieder in die Türkei abgeschoben werden. Im Gegenzug sollen aus türkischen Flüchtlingslagern Neuankömmlinge in die EU umsiedeln dürfen. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei dient in erster Linie als Abschreckungsinstrument und soll kommunizieren: „Die Überfahrt über das Mittelmeer lohnt sich nicht“. Bis heute wurden Umsiedlungen im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens nur in einem geringen Umfang vorgenommen. Gerade einmal 643 Geflüchtete wurden bis Anfang Oktober 2016 aus Griechenland zurück in die Türkei abgeschoben. Im Gegenzug übergab die Türkei der EU im Rahmen des Abkommens 1694 Flüchtlinge. Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass rund 368.000 Menschen seit Anfang 2016 Europa auf dem Seeweg erreicht haben, etwa 4600 haben die Überfahrt bisher nicht überlebt, das sind 1000 Menschenleben mehr als im Jahr 2015 (Stand November 2016).


Das (Über-)Leben in den „Lagern“ S

eit Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens am 20. März 2016 ist Griechenland für viele Neuankömmlinge Endstation. In sogenannten Registrierungszentren (Hotspots) sollen die Asylgesuche von Neuankömmlingen bereits auf den Inseln geprüft und abgelehnte Bewerber*innen zurück in die Türkei geschickt werden. Von den 400 Beamt*innen des European Asylum Support Office (EASO), das im Auftrag der EU die Asylanträge aufnehmen soll, sind bisher aber erst 30 vor Ort. Die Konsequenzen: langsame bis gar keine Asylverfahren und überfüllte Lager. Noch immer wird nur ein Bruchteil der in Griechenland ankommenden Neuankömmlinge auf andere Länder der EU verteilt. Von April bis Anfang Oktober 2016 wurden 4637 Geflüchtete von Griechenland in andere EU-Staaten umgesiedelt. Der Plan aber sah vor, dass insgesamt 160.000 Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren in Europa umgesiedelt werden sollten. Auch weil die Umsiedlungen so schleppend voranschreiten, halten sich derzeit schätzungsweise 15.000 Neuankömmlinge, doppelt so viele wie in den Lagern Platz haben, in Griechenland auf bzw. werden in Abschiebegefängnissen festgehalten. Viele Neuankömmlinge werden auch in sogenannten Umverteilungszentren (Relocation Centers) untergebracht. Die Lebensbedingungen in diesen Unterbringungen sind katastrophal, die Proteste häufen sich. Die Menschen protestierten gegen ihre Unterbringung und den zögerlichen Verlauf ihrer Asylverfahren. Aus purer Verzweiflung und Handlungsunfähigkeit haben Ende Oktober 2016 rund 70 Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos mehrere Container der Asylbehörde EASO angezündet und im Lager Moria Feuer gelegt (September 2016).

é - Demonstration vor dem Abschiebegefängnis in Xanthi, 20. Juli 2016.


NO

Das beste Hotel der Welt D

as leerstehende Hotel City Plaza, das mitten in der Innenstadt von Athen liegt, wurde im April 2016 von einer Gruppe von Aktivist*innen besetzt, um Wohnraum für Neuankömmlinge zu schaffen. Das Hotel ist heute bis auf den letzten Raum bewohnt. Auf sieben Etagen leben 400 Menschen, davon 180 Kinder und Jugendliche, verteilt auf 88 Räume. In zahlreichen Arbeitsgruppen (z.B. Küche, Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Reinigung), die sich aus solidarischen Unterstützer*innen und den dort lebenden Neuankömmlingen zusammensetzen, wird der alltägliche Betrieb gemeinsam organisiert.

Die Besetzung des Hotels City Plaza versteht sich dezidiert als politisches Projekt und ist Teil einer größeren Bewegung mit mehreren besetzten Häusern in Athen. Neben dem Anspruch, Räume zum Wohnen und für ein solidarisches Miteinander zu öffnen, werden Forderungen nach offenen Grenzen und der Achtung der Menschenrechte erhoben sowie wird mit den umliegenden Schulen kooperiert, um zu garantieren, dass die Kinder und Jugendlichen zumindest weiter eine Schule besuchen können. https://de-de.facebook.com/sol2refugeesen http://best-hotel-in-europe.eu

é - Hotel City Plaza in Athen, 24. Juli 2016.


engagĂŠe | 73


Penetrante

Männlichkeit


1.

Kill your fathers.

N

eulich lasen wir wieder einmal im AntiÖdipus, jenem Idolprojekt rebellischer Theoriegelüste und fröhlich vatermörderischer Entfesselungen einer nunmehr schon dritten Generation der Leser_innenschaft. Doch es wollte nicht klappen, diesmal. Eine ermattete Distanz lähmte unsere Diskussion, das dispersive Strömen und rhizomatische Weben der Gedankenfäden erschöpfte uns mehr als dass es uns packte. Hinzu trat plötzlich ein schales Gefühl: wofür das Buch sich so sehr ereifert, das kennen wir doch schon zum Überdruss aus unserer sozialen Realität. Im post-schizoiden Burnout wurde so eine einfache Hypothese geboren. Der Anti-Mythos ist zum Mythos geworden; mit dem Generationenwechsel des Deleuze-Guattari-Hypes ist das Ödipale zurückgekehrt. Der väterliche Phallus erscheint in neuer Gestalt, er webt nun Fäden, er beglückt in aufdringlicher aber nicht mehr notwendigerweise eindringlicher Weise mit seiner Frucht. Das Rhizom, welches Gesprächssituationen durchzieht, Lebensräume durchwebt, Diskurse subterran kolonisiert, ist der bildliche Ausdruck einer neuen, doch allwärts immer sichtbareren Gestalt des Geltungsdrangs und Dominanzstrebens männlich kodierter Subjekte. Um noch einmal anders und passenderweise bei einem grundmaskulin konnotierten Stichwort zu beginnen: Das Verstehen hat heutzutage schlechte Konjunktur. Redlich nach der Wahrheit suchen, die Verhältnisse ordnen („kodieren“), über den Gang der Dinge nach ihrem Passungsverhältnis mit einer vorgestellten Ordnung urteilen – das ist der krampfige Rationalisierungshabitus unserer Großvätergeneration. Er ist so engstirnig wie aufgeblasen, da er aus der Beschränkung der eigenen Gedankenbahnen auf die ganze Welt schließen möchte und dabei nur scheitern kann („Ich verstehe nicht, warum …“). Der Habitus des Verstehens erscheint heute als die lebenspraktische Bewältigungsstrategie eines Ordnungssubjekts, das die Kontingenzen scheut und die eigene Situierung, Verkörperung und Involvierung im Leben vor allem mit Beunruhigung wahrnimmt. Verstehend bewegt sich nur das Subjekt durch die Welt, dessen Begeh-

rensökonomie tief geprägt ist von der protestantischen Angst vor dem Kontrollverlust und vor der Auflösung im offenen Treiben, wo kein Ich den Trieben Einhalt und kein festes Wissen der Zerstreuung Rückhalt gebietet. Genau dieser Mythos vom Verstehen, von der Kodifizierung des Begehrens und von der Krampfigkeit eines altväterlichen ethos ist die Vorlage für den Anti-Mythos. Vor dieser Hintergrundfolie und gezeugt vom Drang der 68er lebt im Anti-Ödipus ein anderer, ein neuerer, ein freierer Geist auf – ein Geist des lustvollen Begehrens, des zerstreuenden Denkens, eines manisch-maschinischen Lebenswillens. Das Werk ist rastlose Raserei gegen die elternhäusliche Domestizierung der Wünsche, gegen deren Reduktion auf das ödipale Modell, dessen ewige Gewalt auf dem Gesetz von Vater und Phallus beruht. Dagegen bringen D&G ein immer schon produktives, entfesselndes, vitales Begehren in Stellung, das ganz die Freiheit besitzt, sich der Lust an Assoziationen und Impulsivitäten hinzugeben. Konnektive Operationen eines kreativen Geistes, der keinem Generationenverhältnis und keinem Vater-Mutter-Kind-Dreieck Rechenschaft leisten möchte. Ihre vollgültige Inkarnation findet diese Kraft auf der methodischen Ebene des AntiÖdipus selbst. In einem Schreiben des Strömens und Drängens in den Maschinenhallen der Metaphernraffinerie erscheint Zerstreuung nicht als Bedrohung, sondern als Befreiung eines viel zu lang auf seine Identität hin fixierten und dadurch der kapitalistischen Abschöpfungslogik preisgegebenen Subjekts. Gerade dieser Stil ist es, der sich in der dritten Generation der Begeisterten großer Resonanzen erfreut. Längst gehört es zur habituellen Selbstbeschreibung einer philosophisch-kulturwissenschaftlichen Crowd, sich auf ein rhizomatisches Denken zu berufen – und damit meint man, anti-patriarchal, anti-doktrinär, antikapitalistisch und auf irgendeine Weise emanzipiert zu sein – nicht nur im Denken, sondern zugleich im Sprechen, Schreiben und in der Lebensform. Die historischen Bedingungen, unter denen diese Resonanzen in der heutigen Generation der „Millenials“ zustande kommen, sind jedoch stark verändert. Nicht die eigene Opposition wird hier gelebt, sondern voll Bewunderung die der intellektuellen Eltern. Und derweil es aktuell durch Ausblendung gerade dieser Umstände zu einer Fetischi-

engagée | 75


Gewalt.

sierung der Schriften von Deleuze und Guattari kommt, versteigert sich ihr Geist zu einem neuen Mythos und ihr Habitus zu einer neuen Form von Dominanz: Diese ahmt in vielen Hinsichten nach, wie sich einst das „Verstehen“ zu einem hohlen Beherrschungswahn und hegemonialen Intellektuellengestus verfestigte. In dieser Situation kommt es darauf an, die Opposition zwischen dem Mythos des krampfigen „Verstehens“ und einer dagegen angeführten Betonung des lustvoll Konnektiven, Assoziativen und Impulsiven einmal neu ‚aufzufalten‘. Dann steht man vor einer grundlegenden Ambivalenz: Ist das Loslassen vom Verstehen und vom einheitlichen Ich heute immer noch emanzipatorisch? Und was den anti-kapitalistischen Impuls des schizoiden Treibens angeht: Wird diese Form der Subjektivität in den Formationen der post-industriellen Netz-, Konsum- und Kontrollwelten nicht längst strategisch hervorgebracht? Haben sich die Prinzipien kapitalistischer Verwertung von Facebook und Google nicht längst auf die dispersiv-schizoide Subjektivität spezialisiert – ja bringen sie diese nicht sogar gezielt hervor? Die vierzigjährige Rezeptionsgeschichte des AntiÖdipus fällt nicht zufällig mit dem historischen Feldzug des Neoliberalismus zusammen. Ohne damit in die schnöde „Deleuze ist neoliberal“-Kritik einstimmen zu wollen, ist dennoch klar, dass sich hinter der Oberfläche des rebellischen Werks längst verraten hat, dass es nicht nur den Weg zur Freiheit, sondern auch zu einer neuen, produktionsversessenen Dominanzform weist. Alles ist Produktion, Produktion der Produktion, Begehren ist Produktion, Produktion pfropft sich Produktion auf. „Ça fonctionne partout, tantôt sans arrêt, tantôt discontinu. Ça espire, ça chauffe, ça mange. Ça chie, ça baise.“1 Umtriebig ist dieser Text, atemlos, mit lauter Aufzählungen. Keinen Zwischenraum, keinen Aufenthalt bietet er an, sondern eine aufdringliche und zugleich undurchdringliche konstante Bespielung. Es ist ein stetes, rastloses Produzieren (Strom-Einschnitt-Strom-Einschnitt) – ein penetrantes Wichsen, repetitiv wie das Stampfen einer Maschine, deren Pleuelstange sich unablässig in der Umhüllung auf und ab bewegt. Eine sich klebrig überall ausbreitende Verspritzung der schöpferischen Keime eines Denkens

1 Gilles Deleuze & Félix Guattari: L’Anti-Œdipe. Paris 1972.

über Textoberfläche und Leser_in. Rezeptivität und ruhige Gedankenempfängnis kommen nicht vor, stattdessen vollzieht der Text ein sich ständig produzierenmüssendes Rammeln. Fast sehnt man sich zurück nach dem patriarchalen Phallus, der nur gelegentlich hervorgeholt wurde, um einer Situation kurz den Geist seiner Ordnung einzuimpfen und an ihr sein Penetrationsgeschäft zu erledigen. Der wichsende Phallus dagegen ist unablässig am Werk, gnadenlos narzisstisch, getrieben und ruhelos. Mit seiner Umwelt verbindet er sich gerne und jederzeit, aber bitte nur in der Form eines flächigen Besprenkelns. Er will nichts vorschreiben, kann nichts durchdringen. Allerdings ist er obsessiv darauf aus, alle ständig (zwangs-) zubeglücken. Hier herrscht keine Logik des Mangels! Hier herrscht spermisch überschäumender Überfluss! Ein besonderes Indiz für diese stilistisch-sexistische Maskulinität steckt in den Details der Gebrauchsweise sexueller und fäkaler Metaphern des Anti-Ödipus. Die weiblichen Begehrensmaschinen tauchen nur in mütterlicher Gestalt auf, nämlich dann, wenn der Mund sich an die Brustmaschine koppelt. Dem männlichen Sperma stehen nicht etwa vaginale Flüssigkeiten, sondern die Milch gegenüber, und so ist die Frau (mal wieder) ganz und gar als mütterlicher Nahrungsstrom zugegen. Fast unbemerkt verrennt sich die Anti-Mythos-Maschine, die ihren Freud- und Ödipus-Komplex überwinden wollte, entlang der Achse Mund-Brust-Anus in einer bewundernswert einseitigen Akzentuierung des Weiblichen als des Mütterlichen.

2.

Penetration und Penetranz

Dies führt auf die Frage, ob das Modell schizoider, dispersiver, nomadischer Organisation von Lust, Begehren und Subjektivität, das D&G der autoritären psychischen Organisation entgegenstellen, tatsächlich die Illusionen mancher Begeisterter rechtfertigt, darin eine Überwindung von maskulinem Dominanzstreben und Machtgehabe zu sehen. Die Desillusion, die wir dem


gegenüber verspüren, bezieht sich nicht allein auf die Art des philosophischen Sprechens, die sich bei Deleuze und Guattari vorfindet oder sich auf diese beruft. Viel allgemeiner noch gilt sie für jene Modalitäten des Seins in postmodern-ahierarchischen „maschinischen Gefügen“, in denen D&G’s Schreibstil eine gelebte Verkörperung findet. In der Implementierung flexibler Netzwerk- und Zusammenwirkungsstrukturen meinen die Subjekte dieses Dispositivs, einen Garant für die Überwindung patriarchalischer Dominanzformen zu finden. Unsere These ist: Nach dem aktuellen Stand der Dinge vollzieht der Übergang vom durchdringenden Verstehen zum Verknüpfungs- und Referenzdenken keineswegs eine Bewegung der Befreiung, sondern vielleicht bloß den Übergang von einer Dominanzform zur nächsten. D&G sind die neuen Väter. Aus Penetration ist Penetranz geworden. Aus dem Geiste des Anti-Ödipus – oder besser aus seiner Reinkarnation in den Deleuziano-Guattarismen der dritten Generation – ist eine neue Form männlicher Dominanz aufgestiegen. Dieser backlash ist die Reaktion einer im gender mainstreaming wackelig gewordenen Formation autoritärer Männlichkeit. Er kommt daher unter dem Deckmantel dessen, was kritisch und emanzipatorisch aneignungsfähig scheint – geadelt durch jahrzehntelanges Sträuben der institutionalisierten Philosophie gegen die verdrängte Wunschmaschine D&G –, und nichtsdestotrotz ist er dominant und hegemonial. Der neue, penetrante maskuline Habitus besitzt anstatt der penetrativen Tiefenfunktion eines begreifenden, durchdringenden Logos die Strategie einer aufdringlichen Flächigkeit – und doch ist er nicht weniger phallisch und nicht weniger dominierend. Zu beobachten ist eine Art des Sprechens, die zwar nicht durch Autorität des Logos bezwingend wirkt, aber laut und raumgreifend assoziiert und dabei im schieren Performativ enormer Redezeiten wirkt. Zu beobachten sind Begriffswelten, die zwar den akribischen Verwaltungsgestus leerer Typologien und größenwahnsinniger Systemphilosophien überwunden haben, aber stattdessen auf Bildsprache und sprachliche Blackboxes setzen, die im Gebrauch wie popkulturelle Gebilde zirkulieren, sich im Netzwerk des Diskurses zu penetranten Intensitäten steigern und dabei die esoterisch-immersive Blase nur oberflächlich kaschieren, die sie selbst erschaffen: Jeder will Teil die-

ser lustvollen Intensität werden, jeder will in die Blase hinein, und einmal drin, kann man nicht mehr anders, nicht mehr hinaus und nicht mehr mit anderen sprechen. Das Wirkprinzip dieser penetranten Form der Dominanz liegt nicht in der durchdringenden Organisation und Strukturgebung eines Diskurses von einem zentralen Punkt, sondern im Performativ der situativen Bündelung der Assoziationen, Konnexionen und Resonanzpunkte. Viel labern, zu allem etwas antworten können. Jeden sprechen lassen (Prinzip der Inklusion), nur um dann rasch zustimmend einzustimmen, den Gesprächsfluss wieder auf sich zu lenken, niemals antagonistisch, immer positiv und additiv, um so immerfort die eigenen Begriffs- und Ideenmakros in das Gespräch einzuweben. Den Leuten nicht zu Leibe rücken, nicht in den privaten Tiefen wühlen, sich nicht für Urgründe interessieren. Das heißt zugleich: nicht nachfragen was gemeint ist, der halblauten, unverständlichen, noch nicht zur Klarheit gediehenen Wortäußerung des Anderen nicht den Raum zur versuchsweisen Entfaltung geben, durch wohlwollend interessierte Fragen darauf einzugehen, sich einlassen; sondern „Ja“, „Ah cool“, „Ja, richtig“, und dann bei der nächsten etwas zu großen Gesprächslücke wieder von sich sprechen. Überhaupt, dass sie Lücken und Momente der Stille nicht ertragen kann, ist erstes und bestes Erkennungsmerkmal der penetranten Form der Dominanz. Ganz anders als der im sozialen Raum – von einigen professoralen Mittagstischen deutscher Prägung abgesehen – anachronistisch gewordene homo penetrativo, der sich bei Vagheiten, Unklarheiten, Unstrukturiertheiten schnell unwohl fühlt. Daraus folgt schließlich auch: Die phallische Strategie des Dispersiven ist stets auf Publikum angewiesen. Kontemplative Leere ist tödlich – nicht nur das Schweigen in einer Runde, auch der leere Tag, allein. Das patriarchale Familienoberhaupt phal-logischer Schule (penetrativer Typus) hatte immerhin noch die luxuriöse Ruhe, sich ins Studierzimmer zurückziehen und seinen Sublimationen nachgehen zu können. Ermöglicht wurde dies auf dem Fundament des geordneten Hausstandes und in dem beruhigenden Wissen, dass das ganze Gefüge aus Frau, Kindern, Personal fest um die symbolische Funktion des stadthaltenden Phallus herum organisiert ist – und genau diese symbolische Logik ermöglicht es, sich auch

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mal vorübergehend herauszunehmen, die Symbolstelle leer zu lassen. Alles in dieser Maschine des Haushalts ist nämlich auf Dauer gestellt, „kodiert“ und so organisiert, dass der Phallus hin und wieder – aber das reicht dann auch – sein Lustrecht verüben kann bzw. mit sanfter Gewalt sein Gesetz in Kraft setzt. Die Gewissheit dessen schafft dem Apparat alter Schule den Raum für das ganze Spektrum psychischer Erscheinungen der repressiven Engfassung: von der gelben Tapete, dem roten Boudoir, den Neurosen bis zu den elaboriertesten Sublimationen in Form von kleinodialen Briefmarkensammlungen und Dilettantenpraktiken. Das penetrant dominierende Subjekt hingegen, das Subjekt mit dem Flächen- und nicht dem Tiefenphallus, das Subjekt der ständigen Performanz und nicht der festkodierten tiefenpsychologisch verankerten Verhältnisse kann über diesen Raum nicht verfügen. Es hört seine eigenen Gedanken nur, wenn sie sich vor anderen ausbreiten und muss sich daher in jeder Mikroszene neu produzieren. Nur nebenbei gesagt: Bestimmte multinationale Konzerne haben es längst verstanden, für diesen Drang spezielle Plattformen und Netzwerke bereitzustellen. Das nie gestillte Begehren nach Selbstausdruck und Selbstproduktion wird dort in wohlgeordnete Bahnen gelenkt, wo es unermüdlich im Kreis fahren und sich erschöpfen kann. Nicht ohne dabei auswertbare Informationen zu hinterlassen, die anderswo als Finanzströme auf Konten fließen.

3.

Zwanghafte Männlichkeit und Verstehen als Achtsamkeit So ist das, was sich im sozialen Raum so insistierend als dominant behauptet, tatsächlich auch eine Sklavenposition. Wenn nur eine ständige Performanz die Selbstgewissheit garantiert, ist die Dauerproduktion zwanghaft. Sie zeugt von einer tiefen Existenzangst,

die nur durch kontinuierliches In-Erscheinung-Treten gebannt werden kann: Performen performen performen performen. Bei jeder Pause im Redefluss die eigene Auslöschung fürchtend, hält sich das penetrante Subjekt mit der rastlosen Kreation neuer Verlinkungen gerade so über der Wasseroberfläche seiner sozialen Zugehörigkeit – und meint doch ständig, zu ertrinken. Diese Doppeltheit von Dominanz und Versklavung, von sklavischer Dominanz könnte man sagen, ist es, was eine Männlichkeit ausmacht: Männlichkeit nicht als Eigenschaft einer Person von einem biologisch bestimmbaren Geschlecht, sondern als affektive und diskursive Praxis, die einer Beziehung zu sich selbst und den anderen entspringt, in der sich Dominanzstreben als Zwanghaftigkeit verkörpert. Mit dem Übergang zur Strategie der Penetranz zeigt sich somit ein Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie Herrlichkeit und Knechtschaft miteinander verkuppelt sind. Die eindringliche, das heißt penetrative Form der Dominanz, die in der Männlichkeit alter Schule durch die ständige Androhung physischer Maßregelung gestützt war, zahlte für ihre Herrschaft immer wieder den Preis, sich nicht hingeben zu können ohne von eigenen unerschlossenen Wünschen über‚mannt‘ zu werden. In der fröhlich schizoiden Wende zur penetranten Dominanz metamorphosiert sich diese Gewalt nun zu jener parasitären Form, welche die anderen und sich selbst durch Aufdringlichkeit erschöpft – durch eine einnehmende Dauerproduktion, die von der Furcht vor dem Nicht(s)-Sein getrieben ist, sich immer weiter verbinden will – und dennoch ohne Resonanz und Reziprozität im Leeren läuft. Das penetrante Wichsen verkommt so tendenziell zum Trockenrammeln: Ein Aufreiten, bei dem zwar mechanisch die Bewegungen der Befruchtung vollzogen werden, dessen generativer Akt jedoch misslingt. Wie kann sich diese arme neue Männlichkeit von ihrer penetranten Zwanghaftigkeit befreien? Die Emanzipation beginnt mit der Einsicht, dass die hyperaktive Selbstproduktion nicht nur für andere nervig ist, sondern einen auch selbst in einer Sklavenposition festhält. So wie das Sich-Hingeben- und Loslassenkönnen den emanzipatorischen Fluchtpunkt der penetrativen Männlichkeit bildet, liegt der Weg zur Erlösung für die penetrante Form darin, die Stille und die Berührung durch andere zu genießen. Es geht darum, rezeptiv sein zu können, ohne dabei den Selbstverlust zu fürchten. Die


Emanzipation erscheint hier als Arbeit des Subjekts am Verhältnis zu sich selbst, weil gerade dieses Selbstverhältnis der Einsatzpunkt gesellschaftlicher Regierungstechniken ist. Der Befreiung vom Zwang zur Performanz liegt darin, sich das Verstehen auf eine neue Art zu eigen zu machen: zuzugeben, dass es nicht immer etwas zu sagen gibt, da sein, ohne sich behaupten zu müssen. Nicht: Ich rede, also bin ich. Auch nicht: Ich vernetze mich, also bin ich wichtig. Wer versteht, lauscht in die Tiefe, ohne penetrativ zu sein, hört zu, ist aber nicht hörig, befruchtet und ist im gleichen Maße für Befruchtung empfänglich. Verstehen ist dann eine Art und Weise, sich in ein kollektives Geschehen einzuklinken und darin zu wirken. Eine wirkliche Macht der Gestaltung findet ihre Voraussetzung in Sensibilität für die Situation, für die anderen, für die eigenen Bezüge und Verflechtungen. Weder muss sie, wie es der penetrativen Männlichkeit entspricht, alles ausdiskutieren und durchdringen, bis sie auch den letzten Rest eines Gedankens beherrscht; noch muss sie mit ihren Assoziationen und Affirmationen das ganze Gebiet eines Diskurses kolonisieren, bis jede ähnlich laute Stimme überschallt und alles vorsichtig Keimende erstickt ist. Mit dieser Gelassenheit ist das neue Verstehen übrigens auch weniger für die Machtstrategie sozialer Netzwerkplattformen empfänglich, die ihren Subjekten im Sekundentakt Möglichkeiten des Selbstausdrucks anbietet, um die so produzierten Informationen zu Geld zu machen. Das verstehende Subjekt muss gar nicht ständig irgendwo angekoppelt sein und sich in Wort und Bild aktualisieren, um sich selbst zu verspüren.

Geltungsangst durchzuarbeiten: Weder immerfort zu fürchten, durch einen fremden Gewaltakt verletzt oder ausgelöscht zu werden (Angst der Penetration), noch Panik zu haben, übergangen worden zu sein, wenn einmal die anderen reden (Angst der Penetranz). Es geht uns also um eine Neuartikulation des Verstehensbegriffs, unbeschwert durch seine rituelle Zurückweisung, die in der ewigen Re-Inszenierung des Vatermordes festgefahren ist. Verstehen ist nur dann kodifizierend und in dieser Kodifizierung beschränkend, wenn es in blinder Wut und krampfigem Verwaltungszwang geschieht, wenn es zum Vehikel autoritärer Geltung ohne Substanz wird (und das kann es leicht werden, zugegebenermaßen). Dem achtsamen, verstehenden, freien Subjekt hingegen erschließt sich die soziale Szene nicht als Raum, der eingenommen werden muss, sondern als Locus einer gemeinsamen Improvisation, in welcher ein Rhythmus zugleich erspürt und subtil mitgestaltet wird. Die verstehende Haltung meint Bespielung, Befassung, Bemeisterung der Situation durch Sensitivität, aus der Freiheit heraus, sich in das Ganze einlassen zu können. Diese Haltung ist mächtig, ohne dominant zu sein. Die Emanzipation vom zwanghaften Dominanzstreben liegt tatsächlich in der ständigen Tätigkeit des Austarierens dieser beiden Kräfte. Sie ist ein Selbstverhältnis, ein Produkt von Bildung als Selbstbildung. Sie ist verkörpert, affektiv, intuitiv – und doch verständig. | Rainer Mühlhoff & Jorinde Schulz

Was uns hier vorschwebt, ist eine ethologische Thematisierung von Männlichkeiten. Nicht als individuelle Eigenschaften wollen wir sie anklagen, nicht auf Grundlage einer Moral verurteilen, sondern sie in ihren sozialen Wirkungszusammenhängen auffalten – und produktive Verschiebungen anbieten. Das neue Verstehen lockert die penetrante Form der Männlichkeit von innen heraus auf. Es tritt als eine bestimmte Beziehung zu sich selbst und zu den anderen hervor, als Sensitivität für Potentiale, als Fähigkeit zur gemeinsamen Fortbewegung aus dem Status quo. Es beruht darauf, die eigene

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Ihre Beschränkungen und ihr Möglichkeitssinn engagée | 81


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Auszug aus:

Königreich der Dämmerung von Steven Uhly

E

»«

r war einem hageren kleinen Mann in abgetragener Kleidung gefolgt, der niederträchtig genug schien, ein paar seiner Landsleute zu verraten. Sie verstecken sich in der Kirche, hatte der Pole mit breitem Akzent gesagt, und er hatte erwidert, Aber in der Kirche haben wir jeden Winkel durchsucht, dort war niemand. Der Pole sagte nichts weiter, zuckte nur mit den Schultern, als wolle er sagen, Es ist nicht meine Schuld, dass ihr sie nicht gefunden habt. Er wusste, dass der Deutsche ihm folgen würde, ganz gleich, ob er vermutete, der Pole wolle ihn in die Irre führen, ihn ein wenig hinhalten, um selbst am Leben zu bleiben, oder sonst irgendeine kleine Gemeinheit begehen. Der Deutsche würde ihm folgen, weil Aussicht auf noch mehr Juden bestand, vielleicht sogar Frauen, von Frauen hatte der kleine Mann vage gesprochen, wie um seine Verheißung nicht allzu marktschreierisch feilzubieten. Und er hatte recht gehabt. Der Deutsche folgte ihm durch die verwinkelten Gässchen, achtete nicht auf den Regen, der fein und unablässig wie ein kaltes, seidenes Tuch auf die Stadt fiel und allem einen silbergrauen Glanz verlieh, den geduckten schiefen Häuschen, die schmal waren und so dicht gedrängt standen, als wäre ihnen immerzu kalt. Die steilen Schieferdächer glänzten wie flüssiges Pech, und das unebene Straßenpflaster war schlüpfrig. Der Pole trug alte, ausgetretene Halbschuhe, seine Schritte erzeugten nur ein dumpfes Reiben auf den Steinen, das vom harten Klopfen der ihm folgenden Militärstiefel übertönt wurde. Der Deutsche

schritt mit der Selbstverständlichkeit eines Unantastbaren an den lauernden Fenstern vorbei. Überall verwehrten ergraute Vorhänge und verschlossene Fensterläden den Einblick in das Innere, aber er wusste, dass der Klang seiner Schritte von unzähligen Ohren verfolgt wurde, deren Besitzer schweigend verharrten, als könne sie die Bewegungslosigkeit vor seinem Zugriff retten. Er genoss das Gefühl der Macht, und noch mehr genoss er die Gewohnheit dieses Genusses. Zwei Jahre zuvor, als er nach Polen gekommen war, mit dem ersten wichtigen Auftrag seiner Karriere in der Tasche, hatte ihn die unvermittelte Bestätigung seiner Überlegenheit verwirrt und verunsichert. Er hatte kaum glauben können, dass die Besiegten wirklich so sehr und in jeder Beziehung unterlegen waren. Gleich am ersten Tag hatte ihn der Obersturmbannführer nach Turck mitgenommen, einer verwaschenen Stadt am Bug, einem schmalen, aber langen Flüsschen, das fünfzig Kilometer westlich in die Weichsel mündete. Wir werden ein Exempel statuieren, hatte der Obersturmbannführer gesagt, sein Name war Ranzner, ein großer, hartgesichtiger Mann, dessen schmaler Schädel von einer ledernen Haut bedeckt war, die im Alter keine tiefen Falten aufweisen würde, eher unzählige kleine Einschnitte an der Oberfläche, wie ausgetrocknete Flussläufe von den Schläfen zu den Augen und von den Mundwinkeln in alle Richtungen strebend. Vielleicht rührte die fehlende Tiefe seiner Gesichtszüge aus der Unbeweglichkeit seiner Mimik, vielleicht war sie rein physiologischen Ursprungs. Ranzner zeigte niemals


öffentlich Genugtuung über einen Sieg oder eine Hinrichtung, und auch seine sonstigen Regungen wirkten alle seltsam gebremst, als spare er stets Kraft für einen entscheidenden Augenblick. Er sah sich als strengen Leitwolf, der mit unerbittlicher Disziplin über ein blutrünstiges Rudel herrschte. Die betonte Passivität seines Auftretens und die kleine, runde Intellektuellenbrille auf seiner Adlernase wirkten nur auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zur Maskenhaftigkeit seines Gesichts. In Wirklichkeit waren es genau die Komponenten, die sich jener zulegt, der weiß, dass ihm nicht zwei, sondern tausend Hände jederzeit zur Verfügung stehen, wofür auch immer, und so wirkte Ranzner nicht schrecklich oder furchteinflößend, sondern eher wie eine wandelnde Statue, eine Allegorie menschgewordener Macht, glaubwürdiger als der Reichsführer SS, mehr Himmler als Himmler selbst, als wäre Letzterer eine Kopie von diesem und nicht umgekehrt. Sie waren in einem Kübelwagen mit offenem Verdeck über holprige Feldwege gefahren, in deren getrocknetem Schlamm die Spuren von Hufen, Stiefeln und Panzern zu einem chaotischen Relief erstarrt waren. Vor ihnen zwei Reihen Motorräder, hinter ihnen zwei Reihen Motorräder. Die Sonne hatte geschienen und er hatte neben Ranzner im Fond geschwitzt und sich gefragt, was wohl geschehen würde. Der Obersturmbannführer hatte ihn sogleich mit jener unbesorgten Milde des Ranghöheren behandelt, in deren Obhut er groß

geworden war und die er stets zu pflegen gewusst hatte. Vorgesetzte mochten ihn, und das hing nicht allein mit seinem Äußeren zusammen, seinem dicken strohblonden Haar, seinen perfekten arischen Gesichtszügen mit dem jungenhaften Blick. Sie fühlten auf Anhieb, dass er sie als das akzeptieren würde, was sie sein wollten, ganz gleich, was es war, und das beruhigte sie und weckte in ihnen etwas Väterliches. Während er aus den Augenwinkeln die sanft geschwungene Landschaft beobachtete, mit ihren reifen Feldern und den dunkelgrünen, saftigen Wäldern im Hintergrund, klärte Ranzner ihn im Plauderton über seine zukünftigen Aufgaben auf. Als Sturmbannführer würde er Ranzners Befehle in konkrete Ablaufpläne übersetzen. »Sie werden Judenverstecke finden«, sagte er leichthin, als handele es sich um Waldbeeren, die es zu pflücken galt. »Wie Sie das machen, ist mir ganz gleich. Aber Sie müssen alle finden. Ein einziges Versteck, das Sie nicht finden, kann die Brut einer neuen Pest bergen, denken Sie immer daran.« Ein einziges Versteck. Auch das wusste der schmächtige Pole, der vor ihm herging, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um den Hals vor dem kalten Nieselregen zu schützen, die Revers seiner verschlissenen Lederjacke mit der linken Hand zusammenhaltend. »Wir sind gleich da«, sagte er zu dem Deutschen, der ihn gleichgültig aus seiner arischen Höhe ansah, wie man engagée | 83


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einen vorbeihuschenden Hund betrachtet. Dieser Pole war das notwendige Mittel zu einem notwendigen Zweck. Nicht mehr und nicht weniger. Er würde alles tun, um am Leben zu bleiben, jetzt gleich, hier zwischen den lauschenden Häusern, vor den blinden, triefenden Fenstern, die doch voller Augen und Ohren waren, konnte er ihm den Befehl geben, die Hosen herunterzulassen und zu masturbieren, und er würde es tun. So wie damals, im ersten Kriegsjahr, die Juden von Turck singend durch die Bänke ihrer Synagoge krochen, während man ihnen die nackten Gesäße peitschte, so wie der Jude, der sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte, den anderen Juden seinen Kot ins Gesicht schmierte. Weil er den Befehl erhalten hatte, weil in der Ausführung selbst des perversesten Befehls die Verheißung des Lebens enthalten war wie eine verschlüsselte Botschaft, die nur der Empfänger verstand. Scheinbar teilnahmslos hatte Ranzner den Ekel und die Faszination im Antlitz seines neuen Sturmbannführers registriert, hatte ihm kurz auf die Schulter geklopft, wie um ihn wieder zu sich zu bringen, während die Juden mit ihren kotverschmierten Gesichtern und ihren blutigen Ärschen unter dem Gelächter ihrer Peiniger Ringelreihen tanzten und dann kurzerhand niedergestochen wurden. »Warum erschießt man sie nicht?«, hatte er Ranzner gefragt, als sie nur noch übereinander gesunkene Leiber inmitten einer sich allmählich ausbreitenden roten Pfütze waren. »Zu laut hier drinnen«, hatte Ranzner knapp geantwortet, »ist nicht gut für das Trommelfell.« Dann hatten sie die Synagoge verlassen, damit sie angezündet werden konnte. Fern in seinem Innern hatte er damals eine Stimme vernommen, die darauf bestand, dass hier etwas Ungeheuerliches geschehen war, eine zutiefst erschrockene Stimme, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Aber anders als in seiner Kindheit gelang es ihm jetzt, in Turck, diese Stimme der Angst und der Schwäche niederzukämpfen mit jener Stimme, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte wie ein Gegengift, das man heimlich jemandem entwendet hat. Er hatte gelernt, sein Leben lang hatte er gelernt, ein Mann zu sein. Jetzt wollte er seiner Aufgabe gewachsen sein, kein anderer Wunsch durfte Platz haben in seinem Herzen,

und er begriff, dass Ranzner ihn nicht zufällig mitgenommen hatte. Das Exempel hatte ihm gegolten, war nichts als eine Inszenierung für einen einzigen Zuschauer gewesen, damit dieser gleich zu Beginn erkannte, auf welcher Bühne er hier stand. Es regnete jetzt stärker, aus der kalten Seide war unverhofft ein schwerer Vorhang geworden, der die Sicht behinderte. Die Gasse war hier noch enger geworden, und die Häuser schienen sich vornüber zu lehnen, um einander an den Giebeln zu berühren. Die Gegend wirkte noch ärmer, die Häuser waren in einem verwahrlosten Zustand. Zwischen den Pflastersteinen war Schlamm hervorgequollen, der an manchen Stellen zäh fließende Pfützen bildete, so dass sie an die Hauswand ausweichen mussten. Zum ersten Mal seit sie aus dem Lager losgegangen waren, hatte er das Gefühl von Leichtsinn. Der Pole vor ihm war zu einem dunkelgrauen Schemen geworden, zu einem Kobold, der ihn durch eine Stadt führte, die sich nicht mehr über, sondern unter der Erdoberfläche befand. Während er weiter durch die enge Gasse ging, tadelte er sich für seine unmännlichen Gefühle. Sie waren höchstens zwei Minuten gegangen, sie mussten jeden Moment zur Kirche gelangen. Leise, damit der Pole vor ihm nichts bemerkte, zog er seine Pistole aus dem Halfter an seiner rechten Hüfte. Das schwere Gewicht der Waffe in seiner Hand war wie ein Anker, den er in die Wirklichkeit warf, damit die Angst ihn nicht abtrieb. Er war ein großer starker Arier, geboren, über andere Völker zu herrschen, und mit einer Waffe in der Hand würde ihn nichts und niemand besiegen. Der Pole blieb stehen, wandte sich halb zu seinem Begleiter und streckte mit einer kurzen kraftlosen Bewegung den Arm aus. Zu ihrer Rechten gab eine leicht abschüssige Gasse den Blick auf eine kleine Kirche frei. Wie alle anderen Gebäude in dieser Stadt war auch sie so klein und stämmig gebaut, wirkte so niedrig und in sich kauernd, als presse sie sich an die Erde, anstatt auf ihr zu stehen. In dem kurzen, breiten Turm gab es genau zwei Glocken, eine kleine und eine mittelgroße, er hatte sie bei der ersten Durchsuchung gesehen. Die Gasse war höchstens zehn Meter lang. Schlammiges Wasser rann über das Pflaster nach unten. Der Deutsche atmete auf, die Kirche war eine Orientierungsboje im verwirrenden Geflecht der Altstadt. Ohne es zu


bemerken, vertraute er dem Polen ein wenig mehr, und als sie die kurze Gasse betraten, ging er nicht mehr hinter, sondern neben ihm. Zur Linken öffnete sich eine kleine, knarrende Haustür. Eine junge Frau trat heraus. Sie trug einen langen, schweren Rock, der einmal rot gewesen sein mochte, jetzt aber ein blasses Grau-Rosa aufwies. Kopf und Oberkörper waren in schwarze Tücher gehüllt, wie viele, konnte man unmöglich sagen, es schienen unendlich viele zu sein, denn ihre Körperformen verschwammen vollständig unter der Kleidung. Allein ihr Gesicht war zu sehen, ein hübsches, längliches Gesicht mit schmaler Nase und vollen, ebenmäßig geschwungenen Lippen, die eigentümlich bebten. Ihre braunen Augen waren länglich geformt und standen ein klein wenig schräg, was ihr ein orientalisches Aussehen verlieh. Sie sah ihn intensiv an, während sie auf ihn zukam. Aus der Haustür drang ein Duft von frischem Brot. Der Pole blieb stehen und wies mit einer weiteren kraftlosen Armbewegung auf die Frau, die jetzt vor ihnen stand.

»Das ist Margarita Ejzenstain.« Seine Stimme verriet keine Gefühle, sie war so gleichgültig, als stelle er zwei Menschen, die ihm nichts bedeuteten, einander vor. Unter einem der vielen schwarzen Tücher von Margarita Ejzenstain erschienen zwei Hände, die sich um einen unwahrscheinlichen Revolver klammerten. Er sah so alt aus, dass der Deutsche noch dachte, er müsse aus dem letzten Jahrhundert stammen. Als sie mit beiden Daumen den Hahn spannte, verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse, und der Deutsche dachte noch, die Waffe müsse recht schwergängig sein. Die Pistole in seiner eigenen Hand hatte er vollkommen vergessen, spürte nicht mehr ihr Gewicht, nur noch das Gewicht in den Händen des Mädchens, er entschied, sie müsse fast noch ein Mädchen sein, so jung sah sie aus, als sie die Stirn runzelte, während ihre beiden Zeigefinger mühsam den Abzug betätigten. Als der Schuss donnernd an seine Trommelfelle fuhr und dann wie ein wildes Tier durch die Gassen jagte, wurde der Deutsche

nach links herumgerissen und stand jetzt genau vor dem Polen. Er wollte die Pistole hochreißen und den Polen töten, aber stattdessen fiel sein Arm herab und gaben seine Finger die Pistole frei, die mit einem scheppernden Geräusch auf das Pflaster schlug. Er dachte noch, dass es nichts mache, weil er sie ohnehin nicht entsichert hatte. Ein zweiter Schuss donnerte an seine Ohren und riss ihn von den Füßen, zuerst gegen die Hauswand hinter ihm, dann auf das kalte, nasse Pflaster. Er lag auf dem Rücken und sah, wie sich der Pole und das Mädchen über ihn beugten. Der Pole bückte sich und hob die Pistole auf. Er sah ihm dabei zu, wie er sie entsicherte und mehrmals auf ihn abfeuerte. Jetzt erschien erneut das Gesicht des Mädchens vor ihm. Ihre schönen vollen Lippen bebten immer noch, und Regen oder Tränen liefen ihr über die Wangen. Er sah ihr dabei zu, wie sie etwas sagte, das er nicht verstand, wie sie die Lippen schürzte und ihm ins Gesicht spie, wie der Pole sie hochriss und davonzerrte. Das Letzte, was er sah, waren unendlich viele Regentropfen, die durch den dunkelgrauen Spalt zwischen zwei schwarzen Giebeln direkt auf ihn herabfielen, immer weiter, bis der Spalt schwarz wurde und die Tropfen weiß, als betrachte man das Negativ eines Fotos oder als drücke man die Handflächen fest auf die geschlossenen Augenlider. Er roch noch den Duft von frischem Brot und fühlte noch die Kälte, die sich in seinem Körper ausbreitete, leise und schnell wie eine Armee im Dunkeln. Der hier abgedruckte Text bildet das erste Kapitel von Steven Uhlys Roman „Königreich der Dämmerung“, der 2014 im Secession Verlag für Literatur (Berlin/Zürich) erschienen ist.

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»Wir haben die Urbane Protesträume kreativ statt gewaltsam aneignen

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roteste im städtischen Raum haben weltweit zugenommen und auf dem afrikanischen Kontinent erstmalig die Anzahl an Bürgerkriegen numerisch überholt. Generell ist in den letzten Jahren sowohl die mediale Berichterstattung als auch die Häufigkeit von gewaltsamen und friedlichen Protestereignissen in Afrika gestiegen. Die Jugend geht öffentlich auf die Straße gegen verfassungswidrige Amtszeitverlängerungen von Präsidenten, mobilisiert für staatsbürgerliches Engagement, demonstriert gegen erhöhte Lebensmittelpreise oder leistet Widerstand gegen Landraub und Ressourcenausbeutung.

Dabei nutzt sie diverse Protestformen. Die senegalesische Protestbewegung Y’en a marre („Wir haben die Schnauze voll“) zeigt beispielsweise, wie sich Protesträume, abhängig vom räumlichen Zugang, auch ohne Gewalt strategisch und effektiv nutzen lassen. Gegründet 2011 aufgrund von Stromausfällen in den Vororten Dakars, politisiert die Bewegung massiv die senegalesische Jugend, um gegen soziale Ungleichheiten und fehlende Perspektiven aufzubegehren. In sogenannten pädagogischen Konzerten politisiert sie ihre Zuhörerschaft und ruft zur aktiven Interessensvertretung auf. Aufbauend auf vorherigen Bewegungen in den 1990er und 2000er Jahren, nutzen die Gründer ihre Bekanntheit und den daraus resultierenden Zugang zu Medien, um die Jugend als politische Bürger_innen zu aktivieren. Auf dem Place de l’Obélisque, einem der zentralen Plätze Dakars, legten die Aktivist_innen von Y’en a

marre zu Beginn der Proteste 2011 symbolisch einen tausend Beschwerden umfassenden Brief an die Regierung aus, den sie zuvor bei kleineren Kundgebungen unterschrieben ließen. Auf dem selben Platz veranstalteten sie im Laufe der Proteste eine Messe der Probleme, Foire aux problèmes, bei der die sozialen Missstände direkt mit einer Kritik an der Politik und dem alltäglichen Leben der Menschen verbunden wurden (Prause 2013). Um zu illustrieren, wie sich die Nahrungsmittelpreise seit der Amtszeit von Abdoulaye Wade entwickelten, stellten sie Nahrungsmittel mit der jeweiligen Preisentwicklung von 2000 bis 2012 aus. Nach den Aktionen rief die Bewegung zu gemeinsamen Aufräumarbeiten auf, zum einen, um ein Bild eines verantwortungsbewussten citoyen zu demonstrieren, zum anderen, um sich den öffentlichen als eigenen Raum anzueignen. Durch die plastische und erfahrbare Darstellung ihrer Forderungen, die sie mit dem politischen Fehlverhalten der politischen Elite direkt verknüpfen, können die Aktivist_innen eine breite Bevölkerungsschicht erfolgreich informieren. Urbane Räume bieten als Dreh- und Angelpunkt von Medien, Wirtschaft und Politik günstige Bedingungen für Protest. Besonders Hauptstädte sind als zentraler Austragungsort von Widerstandsaktionen ideal geeignet. Schließlich sind nationale Medienorgane entweder vor Ort angesiedelt oder unterhalten dort eine Hauptstadtrepräsentanz, weshalb hier Proteste vermehrt Beachtung erfahren. Ebenso sind Vertreter_innen der


Schnauze voll« Politik hier ansässig, sodass der Widerstand zwar ungehört, aber nicht ungesehen bleiben kann. Im Zuge von Protestwellen werden zentrale Plätze wiederkehrend besetzt und so zum Symbol des Protests. Der TahrirPlatz in Ägypten oder der Taksim-Platz in Istanbul beispielsweise sind Synonyme von Widerstand, aber auch Sinnbild seiner gewaltsamen Unterdrückung. Auf diese Weise werden die gepflasterten Orte im Stadtkern ikonisch aufgeladen. Die neu verliehene Symbolträchtigkeit dieser Plätze wird durch staatliche Demonstrationsverbote meist verstärkt als vermindert. Denn nicht nur die Protestierenden, sondern gerade auch die Regierung selbst illustriert auf diesen Plätzen ihre, in diesem Fall polizeiliche, oder gar militärische, Stärke. In diesen Räumen wird politisch ge- und verhandelt, Macht demonstriert, werden Forderungen artikuliert und wird Aufmerksamkeit gesucht. Ein Weg, um Interessen durchzusetzen und Stärke zu zeigen, ist die Anwendung von Gewalt sowohl auf Seiten der Protestierenden als auch auf Seiten des Staates. Gewalt kann sich hier physisch und strukturell-räumlich, beispielsweise durch Demonstrationsverbote, äußern. Welche Protestformen von Bewegungen angewandt werden, ob Gewalt oder Gewaltverzicht die Taktiken bestimmen, wird auch durch lokale Vorbedingungen, nationales Recht oder transnationale Gelegenheiten mitbestimmt (della Porta 2014). Werden friedliche Demonstrationen rechtlich verboten, eskalieren Protestaktionen meist. Erfahren nur gewaltsame, bildmächtige

Widerstände transnationale Aufmerksamkeit, kann Gewalt strategisch eingesetzt werden. Trotz rascher Demonstrationsverbote distanzierten sich die Protestanführer im Senegal öffentlich von der Anwendung von Gewalt. Stattdessen veröffentlichten die aus der Hiphop-Szene stammenden Sprecher den Song Faux! Pas Forcé während des Versammlungsverbotes Ende 2011. Darin riefen sie den Präsidenten Wade auf, seine Amtszeit nicht um eine weitere zu verlängern und prangerten die herrschende Korruption an. Wie bei allen Protestbewegungen hängt auch die Legitimität und die Unterstützung dieser Bewegung in der Bevölkerung stark von ihrer Glaubwürdigkeit ab. Durch gewalttätige Aktionen lassen sich Protestierende als irrationale Akteure darstellen und die staatlichen Repressionsmaßnahmen so legitimieren. Letztere, in Form von Straßensperren, erzeugen oft Gegengewalt. Um den gewaltsam verengten Protestraum zurückzugewinnen, nutzten die Mitglieder von Y’en a marre die Diffusionstaktik, zeitgleich an verschiedenen Orten auf die Straße zu gehen und sich trotz Kontrollen zum Place de l’Obélisque durchzukämpfen. Klassische, geschlossene Demonstrationsräume wurden durch künstlerische Ausdrucksformen umgangen und ausgeweitet (Niang 2015). Das heißt, dass durch eingeschränkte Versammlungsfreiheit zwar nicht mehr auf der Straße protestiert, dennoch aber durch andere Aktionen, wie Konzerte oder Informationsveranstaltungen, Forderungen geäußert und mobilisiert werden kann. Solche Taktiken stören

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die routinierten institutionellen Politikprozesse und können politischen Wandel auch ohne die Anwendung von Gewalt voranbringen (Nepstad 2011). Ähnlich fungieren Wahlen und ihre Prozesse, die als Momentum für mediale Aufmerksamkeit verstärkt zur Machtdemonstration genutzt werden und leicht in wahlbezogene Gewalt münden. Auch die Berichterstattung von Medien außerhalb des Protestraumes wirkt so auf die Austragungs- und Aneignungsformen ein. Transnationale Medienberichterstattung beeinflusst Taktiken als Staatsgrenzen übergreifender Faktor. Denn gewaltsamer Protest bietet in der Regel mächtige Protestbilder. Diese Bilder von brennenden Autoreifen, mit Tränengas umhüllten Protestierenden oder paramilitärisch aufgerüsteten Polizist_innen erinnern an kriegsähnliche Szenarien und fördern Interesse, Neugierde und Verkaufszahlen. Urbane Gewalt wird als sich verbreitendes und intensivierendes Phänomen so auch von den Medien selbst geschürt. Diesen Bildeffekten zu widerstehen und hier als Medienvertreter_innen Widerstand zu leisten, könnte einen Beitrag zur Präsenz der zahlreichen gewaltfreien Proteste und Revolutionen darstellen. Protestierende wiederum können andere starke Bilder nutzen, indem sie ihr kreatives Potential entfalten und mit Symbolen des Widerstands arbeiten. Hier lohnt sich der Blick nicht nur auf Europa, sondern auch auf afrikanische Protestbewegungen wie Y’en a marre. Nach zweijähriger Pause, einer Schonfrist für den seit 2012 amtierenden Präsidenten Macky Sall, erfahren die Gründer der Bewegung zwar eine zunehmende Medienpräsenz, beeinflussen jedoch nur noch marginal das politische Geschehen. Aktuell beschränkt sich die Rolle von Y’en a marre auf die Kommentierung nationaler Politikentwicklungen sowie die Umsetzung lokaler Projekte ihrer Ortsvereine. Ihr Fokus liegt nach den Straßenkämpfen auf der Politisierung von unten – durch Konzerte, Film- und Diskussionsveranstaltungen. So haben sie auch nach den Straßenkämpfen eine Ausdrucksform gefunden, um die demokratische Kultur mitzugestalten. | Nina-Kathrin Wienkoop Literatur della Porta, Donnatella (2014): Mobilizing for Democracy. Comparing 1989 and 2011. Oxford: University Press. Nepstad, Sharon Erickson (2011): Nonviolent Revolutions. Civil Resistance in the Late 20th Century. Oxford: University Press. Niang, Amy (2015): Dialectics of Subversion: Protest Art and Political Dissidence in West Africa. In: Ugor, Paul/Mawuko-Yevugah [Hgs.]: African Youth Cultures in a Globalized World, Farnham: Ashgate. Prause, Louisa (2013): Mit Rap zur Revolte: Die Bewegung Y‘en a marre. In: PROKLA, 170, 43: 1, 23-41.


engaged anthropologist 1975 beschreibt der US-amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth ein/e Künstler_in als „engaged anthropologist“1. Demnach bemühen sich Künstler_innen, genauso wie Anthropolog_innen, den Überblick über gesellschaftliche und menschliche Zusammenhänge zu erlangen. Aber, anders als Anthropolog_innen, beo

bachten Künstler_innen nicht nur: Sie verändern, was sie untersuchen. Wenn uns heute zwar die Überlegung konstruktivistischer und kybernetischer Theorie, dass ein_e Beobachtende_r stets beeinflusst, was sie/er beobachtet und darüber hinaus Teil des zu beobachtenden Systems ist, geläufig ist – so meint Kosuths „engaged anthropologist“ doch mehr als diese Unvermeidlichkeit. Laut Kosuth können Künstler_innen nicht nur nicht neutral sein, sie sind vielmehr bewusst am Eingriff interessiert. Künstlerische Praxis beobachtet wie Menschen sich selbst konstituieren und will gleichzeitig an dieser Konstitution aktiv teilnehmen. Das ist mit Sicherheit eine diskutable Ansicht, dennoch will ich diesem Gedankengang hier folgen: Der Wert von Kunst liegt in ihrer doppelten Rolle, sowohl Reflexion als auch Partizipation zu verlangen.

Anthropophagie und Barbarismus

Sabbern). Sie fordert von Kunst, organische Erfahrung zu generieren. Dies sollte durch Experimente mit sogenannten ‚Propositionen‘ erreicht werden, und aus der Konsequenz dieser Idee entwickelt Clark Performances, in denen Betrachtende durch die Ausführung der vorgeschlagenen Abläufe zu Partizipierenden werden. So auch in der Performance Baba antropofágica: Eine Person liegt auf dem Boden, während die anderen um sie kniend Fäden von Spulen aus ihrem Mund ziehen. Dieser stetige Akt, die mit Spucke behaftete Schnur auf den mittigen Körper herabfallen zu lassen, gibt, so Clark, den Partizipierenden nach und nach das subjektiv höchst intensive und zugleich kollektive Gefühl, sich die Eingeweide auf den Bauch zu ziehen. Die Performance ist ein fragmentierender Prozess: die Zerteilung in Stücke; sie ist Assemblage: das Sammeln der Stücke; und sie ist Rekonfiguration: die Verdichtung zu einem neuen Körperstück aus den einzelnen Stücken. Die Partizipierenden fragmentieren ihre Körper zu Spucke, Organen und Imaginationen und fügen die Fragmente zu einem kollektiven Körper zusammen. Dazu gehören auch die Gesprächsrunden nach den Performances, in denen sprachlich erfasst werden soll, was geschehen und imaginiert worden war.

1973 entwickelt die brasilianische Künstlerin Lygia Clark die Performance Baba antropofágica (anthropophagisches

Der Effekt sei die „suspension of psychophysical habits, the expansion of sensorial capacities, and the stimulation of perception as relation“ 2. Clark glaubt, dass Fantasien unsere Kräfte einschränken und dass kollektive

1 Kosuth, Joseph (1975): Artist as Anthropologist. In: http:// www.vizkult.org/propositions/alineinnature/pdfs/KosuthArtistAsAnthropologist-excerpts.pdf, Zugriff: 30.7.2016.

2 Fabiao, Eleonora (2014): The Making of a Body: Lygia Clark’s Anthropophagic Slobber. In: Lygia Clark. The Abandonment ofArt, 1948-1988. New York: The Museum of Modern Art, p.297.

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Praktiken, wie solche in Baba antropofágica diese Kräfte freisetzen können. Folgen wir ihrer Idee, dann sind Fantasien zwar sehr individuell, wurden aber als externe Macht inkorporiert. Clark will die Emanzipation des Körpers von solchen Fremdbestimmungen: Sie können, werden sie von den Partizipierenden aktiv als etwas Externes und zugleich Eigenes dargestellt, in Sabber aufgeweicht werden. 1928 verfasst der brasilianische Künstler Oswald de Andrade das Manifesto Antropófago, auf das Clark in ihrer Umwertung des Begriffes Kannibalismus als produktive Anthropophagie Bezug nimmt. Umwertung von woher wohin? Reisebücher aus Kolonialzeiten schildern Szenen kannibalistischer Rituale. In ihrer Brutalität zeigen diese Beschreibungen fremde Völker als barbarische, deren Gebaren jenseits menschlicher Moral liegt – und welche deshalb getrost zivilisiert, sprich dominiert und ausgebeutet werden sollen. Der Begriff Kannibalismus ist somit eng verknüpft mit der eurozentristischen Legitimation von Macht. Das Bodenrecht, ebenfalls eine eurozentristische Idee, des erstdagewesenen Ur-Stammes wird durch dessen Unmenschlichkeit unwirksam. Etymologisch enthält das Wort Kannibalismus diese Argumentation: Es entstand durch die falsche Aussprache spanischer Kolonialisten des Wortes „Karibs“, das die Ureinwohner der Karibik meinte. Andrades Manifest greift die kulturpolitische Dimension des Kannibalismus auf und schlägt die Assimilation an die Stigmatisierung als Kannibalen vor: Warum nicht davon profitieren und die sich als kulturell und zivilisatorisch überlegen Fühlenden einfach auffressen? Die dominante Kultur wird nicht tabuisiert, sondern wie ein Totemtier verschlungen, wodurch sich deren Kraft auf die Verschlingenden transferiert. Das Manifest geht als Collage aus Motiven sowohl brasilianischer als auch europäischer Kultur aber einen Schritt weiter: Es schlägt eine engagierte, kreative Strategie vor, kulturelle Differenzen zu inkorporieren, zu verdauen, neu zusammenzusetzen. „Cannibalism alone unites us. Socially. Economically. Philosophically. […] We want the Carib Revolution. Greater than the French Revolution.The unification of all productive revolts for the progress of humanity. Without us, Europe wouldn’t even have its meager declaration of the rights of man.”3 De Andrades Anthropophagie lehnt die europäische Kultur nicht ab, proklamiert aber auch keine Unterwerfung unter die koloniale Idee, Brasilien zu einer Kopie der Heimat Europa zu machen. Übertrieben affirmativ und ins Ironische gewendet, hinterfragt das Manifest die Möglichkeit einer integren kulturellen Identität. 2015 jedoch hat es mit solchen künstlerischen Umwertungen wohl kaum etwas zu tun, wenn die terroristischen Anschläge in Europa und dem Mittleren Osten als barbarisch verurteilt werden. Zum Beispiel von Matteo Renzi, Ministerpräsident Italiens: „Italien weint um die Opfer von Paris und ist vereint im Schmerz mit den französischen Brüdern. Das ins Herz getroffene Europa wird auf diese Barbarei zu reagieren wissen.“4 Die Verwendung des Begriffes Barbar durch Journalismus und Politik ist ein sprachlich gewalttätiger Akt, der offenbart, wie sehr der islamistische Terrorismus nicht nur menschliche Würde, son3 De Andrade, Oswald(1928): Manifesto Antropófago. Übersetzt von Leslie Bary, in: http:// www.corner-college.com/udb/cproK3mKYQAndrade_Cannibalistic_Manifesto.pdf, Zugriff: 30.07.2016. 4 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/637689/636972/634545/640031/4866310/ Reaktionen-auf-Terror_Anschlaege-auf-die-gesamte-Menschheit?gal=4866310&index=10& direct=&_vl_backlink=&popup=, Zugriff: 30.07.2016.

dern auch eurozentristische Ideen vom Wert der eigenen Zivilisation angreift. Das drückt auch AfD Politiker Alexander Gauland aus, wenn er auf einer Parteidemo verkündet: „Und nicht zu Unrecht werden in diesen Tagen die Bilder vom Untergang des Weströmischen Reiches aufgerufen, als die Barbarenstämme den Limes überrannten.“5 Ähnlich wie der Kannibale ist der Barbar eine Fremdbezeichnung. Die Anrufung des Anderen als Barbaren macht dessen Unberechenbarkeit deutlich, die daraus resultiert, dass er nicht nur einer anderen Kultur angehört, sondern einer minder zivilisatorisch erfolgreichen. Auch hier zeigt die etymologische Herkunft des Wortes Barbar, dass es diese Funktion zivilisatorische Differenzierung schon in sich trägt: Im antiken Griechenland wurden solche als Barbaren bezeichnet, die die griechische Sprache nicht sprechen und nur „bar bar“ sagen konnten.

anthropophage engagée Damit 2016 und in den folgenden Jahren die Angst vor dem unbekannten Barbaren nicht zu nationalistisch und fundamentalistischer Abschottung in das eigene wohlige Wertsystem – das nach wie vor kolonialistisch gedacht wird und vermeintlich das der gesamten Welt sein soll – führt, ist der Blick auf solche performativen und literarischen Praktiken der sogenannten Moderne Brasiliens fruchtbar. Ich rufe so aber keineswegs dazu auf, unmittelbare Körperlichkeit und kollektive Praxis als Garantie für eine authentische Identität zu verstehen, die irgendwo unter kolonialistischen Codes liegen könnte. Die Forderung nach Authentizität lässt, gerade in Verbindung mit dem Glauben an einen vermeintlich unbefleckten Körperausdruck, außen vor, wie Biomacht bis in die physischen, produzierenden und reproduzierenden Dimensionen unseres Alltags eindringt. Baba antropofágica und auch das Manifesto Antropófago tappen jedoch nicht in diese Falle. Vielmehr praktizieren sie die Vielschichtigkeit dessen, was Identität und Emanzipation von unterdrückenden Definitionen über Identität ausmachen: Sie zeigen, dass die Diskussion über kulturelle Identität keine rein intellektuell zu entscheidende Frage ist, sondern auch ein körperlicher Prozess, eine performative Praxis. Brutal in seiner Materialität, unnachgiebig in seiner gegenseitigen Abhängigkeit und in seiner Verachtung für die enge Sichtweise auf den authentischen Ursprung von Kultur. Wie Kosuths „engaged anthropologist“ übernehmen die Performance und das Manifest die Doppelrolle von interessierter Beobachtung und veränderndem Eingriff, stoßen einen zyklischen Prozess an. Und das unter anderem durch eine begriffliche Umwertung: Kannibalismus als Anthropophagie, als sabbernde, nach Worten ringende, fragmentierende Praxis, die Austausch ermöglicht. Auch heute sind Auffressen, Verdauen und Zusammensetzen kultureller Motive geradezu eine Notwendigkeit. Subjektiv und Kollektiv. Reflexiv und somatisch, sabbernd. Eigenbezeichnend eher als fremdbezeichnend. Von Künstler_innen, Anthropolog_innen, von Menschen ist dieses Engagement verlangt: im Sinne eines anthropophage engagée. 5 Van Laak, Claudia (7.11.2015): Als die Barbarenstämme den Limes überrannten. In: http:// www.deutschlandfunk.de/afd-demo-in-berlin-als-die-barbarenstaemme-den-limes.1783. de.html?dram:article_id=336236, Zugriff: 30.07.2016.


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eligion causes endless unnecessary suffering in the world. Just turn on the news to learn about another violent terrorist attack by fundamentalist Muslims. Maybe religion also provides (false) comfort. But, can this be balanced with the evil caused by it? If the police catch you while robbing a bank, can you justify your deed by saying: but I have been helping the poor all my life? It seems an evil (in the sense of unnecessarily harming others) cannot be compensated with (supposedly) doing good.

The Case for Missionary Atheism

There is no god. Let’s get over it. Grow up. And yes, it is impossible to proof that there is not ‘something somewhere’. However, the burden of proof is on the believers in supernatural fairy tales. And they have failed to provide even a shred of evidence that has stood the test of rational scrutiny for the existence of their imaginary friend/foe. But what is religion? Here are some reflections. Religion is the belief in the palpably untrue. Religion is believing despite the fact that there are no facts supporting that belief. Religion is institutionalized superstition. Religion is the manifestation of collective epistemological failure. Religion is a millstone to individual freedom. Religion is a lie that hampers individuals to develop their capabilities. Religion is existential illiteracy. If the core of philosophy is critical thinking, then philosophy leads to atheism. How is it possible that in the Age of Science, some three hundred years since the dawn of the Age of Enlightenment the majority of humans still live their lives based on a lie, even in modern secular technological societies?

It is time for missionary and militant atheism. Militant, not military, atheism should spread through peaceful dissemination of critical reasoning. Atheists should start to preach to the deluded and try to lead them to the light of reason. Not by force, not by indoctrination, but through education and debate. We must stop adhering to the idea that religion is in any way respectable. It is not. Religion should not be respected; it should be tolerated as long as no one is harmed by it. Religious believers should be helped to get over their mental handicap. It seems a moral obligation for those who can help, to help. Atheism should not only be a personal life stance, but more like Jehovah-witnesses: it needs to be spread for the benefit of the believers. Maybe not from door to door, but from Facebook page to Facebook page; from debate to debate; from book to book, from blog to blog. Ideas should always be critically contested and none of the religious truth claims can stand rational scrutiny. (If I am wrong, let me know and I will convert. Please check if the argument has not already been refuted.). Another point: If you make the definition of religion vague enough, like ‘religion is about love’, then even the most militant atheists will turn out to be believers. So: first ask believers what exactly they believe. engagée | 91


Gewalt.

A central part of much religious moral education is desensitization regarding out-group others or in-group others who deflect from the norm, like homosexuals who risk social ostracism. Religion has a tendency to limit individual liberty, even with the threat of violence like in the case of homosexuality and religious ‘honour’ killings.

is crap – all religions. Atheism is applied critical thinking concerning truth claims of the supernatural and the paranormal. Atheism is a sign of mental adulthood. Atheism is the awareness of the unicity of your life and the acceptance of its limits. You are not born an atheist. Thinking can – and will, if you dare follow reason – lead you to atheism.

It is important to always take the perspective of the victim, not of the perpetrator. In order to find out who the victim is, try to change places. Can you want to be forced to marry? Or circumcised? Or stoned to death? Or killed because you love someone your family does not improve of? Or killed because you do not believe in the religion of your parents? Or killed because you have written an atheist blog? To go one level deeper, can you, from an external point of view, place yourself in the perspective of a child in a religious family where you are brought up in a lie, withholden from the truth, and with absurd rules, restrictions and taboos? If you are a Muslim, imagine yourself in the shoes of an orthodox Jewish child. Can you? Can you want yourself to be a child in an intellectually and morally closed family setting? – I know what you are thinking! ‘What about being born in an atheist family? Is this not an indoctrination as well?’ Well, not necessarily. There is a fundamental difference between open and closed parenting and education. In a closed system, there is a mental and moral framework that is not open for debate. Parents force a (religious) worldview upon a child including shielding the child from information and enforcing irrational taboos on them, mostly sexual. In open parenting the parents strive to help the child to have the best available knowledge, knowing and accepting that their own knowledge is partly fallible, and autonomous moral values for which they provide arguments. Open parenting is about trying to help the child to be an autonomous individual, who can make her or his own choices, including adopting a worldview. This is not the same as atheist indoctrination.

The reason for my atheism is not an interest in religion itself; it is a concern regarding the harm caused by religion. I am an atheist because religion causes harm to victims. Much violence in the world has religious elements in it. Islamic terrorists are Muslims, they falsely belief that what they do is good and that they will go straight to heaven to fuck the 70 virgins. No one is concerned with the question if these virgins want to have sex with a man who has just blown people to shreds. By the way, some scholars of Islam have argued that there is confusion about a translation and that it is not 70 virgins but 70 raisins…

A world without religion would be a more peaceful place. It would be a much much better place! Atheism by itself is neither a worldview nor an ethical system. Atheism is just the idea that there are no good arguments for any supernatural entity whatsoever. Atheism is the conclusion of an intellectual journey that religion

There would be fewer victims, less unnecessary suffering in the world if there was less religion. That’s why atheists should come out of their closets and speak out against religion. To dare to question religious believers about the stupidity of their beliefs. We need to stand up for the victims of religion, worldwide. We need to question the basis of morality. Is it a set of values from a religion, or is it a set of values for which there are good arguments, such as human rights? For many people religion is not a joke or a hobby. Many people take their religion much too seriously. Deadly serious. Have a laugh about yourself! It is their moral and intellectual straightjacket in which they walk through their lives and want to put others in that straightjacket too. Atheists should help to free people from their mental and moral limitations. To guide them to moral and intellectual freedom. To guide them to secularism, scepticism and humanism. Humanism is a non-religious worldview based on reason and science, a core value of which is individual liberty. Atheism is not a life stance in the way that religions are. Atheism does not lead to a set of moral values or rules. Humanism does. And humanism does include atheism. By embracing humanism as an atheist, one frees her or himself from Stalin-accusation (‘Stalin was an atheist who killed


millions of people and he persecuted believers. Is that what you want?’ – Obviously not!). Most humanists are atheists, and many atheists are humanists. Philosophy is the human endeavour for wisdom. Wisdom is acting wisely on well-reasoned arguments in order to pursue truth, happiness and beauty. The journey of philosophy starts with atheism and, hopefully, humanism. Philosophy is a method. Atheism and humanism are outcomes. Philosophers, or more precisely, ‘wannabe-philosophers’ who do not embrace atheism are like aspiring physicists who do not pass their first math exam. Or, to put it even more strongly, these wannabe-philosophers are like aspiring physicist spending their time and energy on trying to construct a perpetuum mobile…. Philosophy ideally enlightens people’s minds, it should not darken it. Theology is the opposite of philosophy, in that it does not strive for clarity. Theology is a mental blind alley. Theology thrives on ambiguity, gullibility and vagueness. Postmodernism is the mix of theology with philosophy: postmodernist thinkers darken concepts; they can make every topic inaccessible for clearheaded people. Postmodernists thrive because other people are needed to interpret and reinterpret their writings. Postmodernists provide work for academics and a feeling of profundity. My hope is that philosophers free themselves of postmodernism and theology and that they will share their knowledge and skills with a broad audience to enlighten them, to teach how to think critically, and thus be atheists. Philosophers can and should strive to make this world a better place. A world with less unnecessary suffering, and more happiness. By the way: I have used a lot more words then John Lennon in his atheist manifesto Imagine. | Floris van den Berg

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call for action: engagées vielfältige Einmischungen ab 2017:

» Magazin.

Blog. é-vents.

Aktuelle Infos zum Konzept der offenen Redaktion, zum nächsten Call for Contributions und zu zukünftigen Formaten und Einmischungen auf:

www.engagee.org


Autor_innen & Künstler_innen Giorgio Agamben, geboren am 22. April 1942 in Rom, ist Philosoph und Staatstheoretiker. Er lehrt als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher (besondere Aufmerksamkeit erfährt die Reihe Homo sacer), zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag: Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma (2016). Thomas Ballhausen lebt und arbeitet in Wien. Der Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler lehrt u.a. an der Universität Wien und der Universität Mozarteum Salzburg. Zuletzt erschien sein Essay „Gespenstersprache. Notizen zur Geschichtsphilosophie“ (DER KONTERFEI, Wien 2016). Dona Barirani ist Doktorandin und Lektorin am Copernicus Institute of Sustainable Development der Universität Utrecht. Sie forscht zum Thema Global Environmental Governance auf der Schnittstelle zwischen Politik- und Rechtswissenschaft. Zudem ist sie Research Fellow beim Earth System Governance Project. Aus Liebe zur Politik, Philosophie und Kunst unterstützt sie engagée als Prozesskoordinatorin. Floris van den Berg is a philosopher and thus an atheist and a vegan. He strives for a world without religion and to free all animals. He has written several books including Philosophy for a Better World (Penguin, 2013). He is assistant professor of environmental philosophy at the Copernicus Institute of Sustainable Development of Utrecht University. F.vandenberg2@uu.nl. Costanza Coletti ist 1988 in Rom geboren. Nach dem klassischen Gymnasium und dem Bachelorabschluss in Architektur an der Università degli Studi Roma Tre hat sie beschlossen, ihr Masterstudium an der Kunstuniversität in Linz zu absolvieren. Seit vier Jahren organisiert und leitet sie zusammen mit Anna Firak und dem Institut Sustainable Architecture and Future Tactics einen Kurs über die Stadt der Zukunft im Rahmen der Kinderuni OÖ. Derzeit arbeitet sie an ihrer Masterarbeit zum Thema Revitalisierung einen Alpendorfes in den Dolomiten. Themenschwerpunkte ihrer Arbeit sind öffentliche Räume, Interaktionen in der Stadt und Performancekunst. Wenn sie groß wird, will sie als Grafikerin und Illustratorin arbeiten. Kristin Flade ist Theaterwissenschaftlerin. Sie forscht, lehrt und promoviert derzeit am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin zu angewandtem Theater und politisch engagierter künstlerischer Produktion in Palästina. Überlegungen zur Repräsentation von Gewalt und Gerechtigkeit in den visuellen und performativen Künsten im Nahen Osten und Nordafrika prägen auch ihre Arbeit als Autorin und Fotografin. 2010 erschien der von ihr gemeinsam mit Sascha Förster und Rafael Ugarte Chacón herausgegebene Band Paradiesische Zustände. Studentisches Denken: Marginalie an der Universität? Sebastian Friedrich ist Redakteur der linken Monatszeitung analyse & kritik und promoviert zur Problematisierung von Arbeitslosigkeit und Arbeitslosen. Er beschäftigt sich außerdem mit der Formierung der Rechten, Kritischer Sozialer Arbeit, Migration und Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. sebastian-friedrich.net Marius Hasenheit lebt in Berlin. Er arbeitet am Ecologic Institut – Umweltpolitik ist sein Steckenpferd. Weiterhin ist er nebenberuflich als Journalist für verschiedene Blätter und als Chefredakteur beim Magazin transform beschäftigt. Regelmäßig schreibt er gegen rechte Kommentare an – immer häufiger überlegt er, dafür anonyme Profile zu nutzen. Markus Hennig studiert im Master Politische Theorie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main und der TU Darmstadt. Mira Hirtz (1991) ist Kunsttheoretikerin und Performerin. 2016 schloss sie ihren Magister der Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der HfG Karlsruhe mit dem Thema Partizipation in choreografischer Performance-Kunst ab. Sie absolvierte ein Gastsemester am HZT Berlin und performte u.a. in den Ada Studios Berlin, im ZKM und im Badischen Kunstverein Karlsruhe. Sie ist Mitherausgebern des Online Journals „reciprocal turn“ (http://reciprocalturn.com/) und betreibt den Blog „On Choreography“ (http://mirahirtz.de/). Mira Hirtz’ Interesse gilt der choreographischen und performativen Sicht auf Kollektivität, Arbeit und Ästhetik. Theoretische und praktische Recherche gehen dabei Hand in Hand im Einsatz für emphatische Bewegung: im doppelten Sinne der Veränderung, als auch der konkreten Bewegung von Körpern. Timo Hoheisel, freier Künstler. www.timohoheisel.de Anastasiya Kasko, M.A., hat Politikwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre und Politische Theorie in Frankfurt, Darmstadt und Bern studiert. Sie promoviert bei Martin Saar zum Thema „Die Machttheorie und das politische Subjekt“ an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig. Andrea Kretschmann, Soziologin und Kriminologin, ist Post Doc am Centre Marc Bloch der Humboldt-Universität zu Berlin und Lektorin an der Universität Wien. Sie ist Mitherausgeberin des Kriminologischen Journals sowie der Reihe Verbrechen & Gesellschaft und Redaktionsmitglied des juridikum. Aktuell arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zum Thema „Protest Policing“.

Claudia Lomoschitz ist bildende Künstlerin, lebt in Wien und Hamburg. Sie ist Lektorin an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo sie an ihrer Promotion zum Verhältnis von Text und Körper arbeitet. Sie ist Mitbegründerin der One Mess Gallery Vienna und war zuletzt mit OMG Armory Safety Solutions bei der Parallel Vienna vertreten. claudialomoschitz.com John Mamakos is a post-graduate student at the University of Aegean, Lesvos Island, where he is currently pursuing a Master of Arts in Crisis and Historical Change. Felix Maschewski ist Germanist, Wirtschaftswissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsgestaltung Berlin. Er promoviert derzeit in neuerer deutscher Literatur an der HU Berlin und ist dort Mitglied des Graduiertenkollegs „Das Wissen der Literatur“. Im Rahmen seiner Promotion untersucht er die Interrelation zwischen literarischem und ökonomischem Wissen sowie den Einfluss narrativer Fiktion auf wirtschaftliches Handeln und Entscheiden. Rainer Mühlhoff studierte Mathematik, Philosophie und Gender Studies. Zur Zeit lehrt und arbeitet er als Post Doc am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ an der FU Berlin. Seine Themenschwerpunkte sind: Theorien des Subjekts, Aufklärungsphilosophie, Affect Studies und Digitale Gesellschaft. Er ist außerdem Programmierer und Mitglied des Kollektivs philosophy unbound. Anna-Verena Nosthoff ist freie Journalistin, Philosophin und politische Theoretikerin sowie derzeit Mitglied des Forschungsprojekts „Kritische Theorie und Religion“ an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit kybernetischen Automatisierungsprozessen des Politischen mit besonderem Fokus auf die Entwicklungsgeschichte kritischer Positionen zur Kybernetik im Denken des 20 und 21. Jhds. Ein Schwerpunkt ihrer derzeitigen Forschung bildet Bernard Stieglers Technikphilosophie, vor allem deren Bezüge zur frühen Frankfurter Schule. Philipp Pess, bildender Künstler, lebt und arbeitet in Wien. Seine Arbeiten konzentrieren sich auf großformatige Fotografien landschaftlicher Utopien, die mit medienübergreifend-installativen Elementen kombiniert werden. Gewohnte fotografische Darstellungskonzepte werden so modifiziert und schaffen unkonventionelle Verbindungen zwischen Objekt und Film. Julia Riederer fordert in ihren Arbeiten die Betrachter_innen heraus, ihren rationalen Blick auf die Welt zu hinterfragen, indem sie Humor und Absurdität zu Mitspieler_innen macht. Sie diplomierte 2016 in Kunst und Kommunikation und Moden und Styles an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo sie derzeit bildende Kunst mit erweitertem malerischen Raum – Aktion / Skulptur / Installation studiert. Der Fokus ihrer Kunst liegt auf Performance, Installation und zeitgenössischem Tanz. Neben Ausstellungen und Kooperationsprojekten im In- und Ausland betreibt sie außerdem die Kleidermarke nackt, ist Mitgründerin der One Mess Gallery Vienna und Mitgründerin und Tänzerin der Tanzkompanie Klaus. www.juliariederer.com / www.nackt-clothing. com / www.klaustanzt.at Patrick Schabus ist Künstler und Kurator. Seit 2015 ist er Kurator des Ausstellungsraums „Mandelkern project“. Daneben entwickelt er als freier Kurator Ausstellungsprojekte. Seine künstlerischen Arbeiten waren bereits an Orten wie dem Haus der Kulturen der Welt, dem Ars Electronica Festival, der Viennale und dem Loop Festival vertreten. Jan Philipp Schewe studierte Politische Theorie in Frankfurt und Philosophie in Paris. Nach seinem Abschluss bereitet er zur Zeit eine Dissertation zum Verhältnis von Stanley Cavell und Michel Foucault im Bereich der Ethik vor. Er interessiert sich besonders für die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts, Ideen vom Perfektionismus, Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse sowie eine Vermittlung zwischen Philosophie und Film. Jorinde Schulz studiert Philosophie und arbeitet am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ der FU Berlin. Sie schreibt über subkulturelle Selektionen, Männlichkeit in post-Zeiten und digitale Hörigkeiten. Mit dem Kollektiv philosophy unbound organisiert sie Veranstaltungen, die sich der Erforschung neuer Räume und Formate für philosophische Reflexion widmen. Zur Zeit versucht sie sich an einer Gebrauchsanweisung gegen Gentrifizierung. Johannes Siegmund koordinierte die offene Redaktion der engagée #3. Er ist Philosoph und Journalist sowie Teil des Kollektivs philosophy unbound. Derzeit arbeitet Johannes an seiner Promotion mit dem Arbeitstitel „Philosophie der Flucht“. www. lieberweltgeist.wordpress.com. Kate Steiner is an English artist now living in Vienna. She has a bachelor’s degree from the Arts University College in Bournemouth and an MA in illustration from the University of Hertfordshire. Her work is mostly figurative and invites the viewer to engage with the subject through empathy or inspiration. This series was created as part of a personal project that attempts to deal with her past and will be placed into a therapeutic book in 2017. You can see her most recent work at www.katesteiner.com Micha Steinwachs studiert im Master Politische Theorie an der Goethe Universität in Frankfurt a.M. und der TU Darmstadt. engagée | 95


Nicola Spannring ist in Wien geboren, in Niederösterreich im südlichen Waldviertel aufgewachsen und lebt, studiert und arbeitet nun wieder in Wien. Nicola hat eine allgemeinbildende höhere Schule, den Zivildienst in einer Wohngemeinschaft von Menschen mit psychischen Krankheiten und das Bachelorstudium Bildungswissenschaft in Wien (inklusive Erweiterungscurriculum Philosophicum) erfolgreich absolviert und besucht derzeit den Masterstudiengang Bildungswissenschaft, ebenfalls in Wien. Darüber hinaus arbeitet er als persönlicher Assistent für einen Menschen mit körperlicher Behinderung. Nicola liebt Musik und Kultur – insbesondere illegale Raveparties –, seine Freundin und viele seiner weiteren Mitmenschen sowie überhaupt alles (seinem Empfinden nach) Schöne und Gute. Ein besonderes Interesse brennt in ihm für Politik, Philosophie und (Anti-)Pädagogik bzw. Bildungswissenschaft und für den Versuch, alle drei zu verbinden. Paul Stephan schloss Ende 2015 sein Studium der Philosophie, Soziologie und Germanistik in Frankfurt am Main mit einer Arbeit zum Wahrheitsbegriff beim späten Nietzsche ab und plant, über die Authentizitätskonzeption bei Kierkegaard, Stirner und Nietzsche zu promovieren. Ziel ist dabei stets, Nietzsche als Sozialphilosophen von aktueller Relevanz zu verstehen vor dem Hintergrund ‚französischer‘ und ‚deutscher‘ ‚kritischer Theorie‘ des 20. Jahrhunderts. In den letzten Jahren organisierte Paul Stephan unter dem Titel „Eselsfest“ ein Nietzsche-Festival in Frankfurt und hielt einige Vorträge zu Nietzsche. Einige seiner Artikel und Aufsätze (nicht nur) zu Nietzsches Denken können auf dem Blog der „Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie“ (blog.harp.tf ) gelesen werden. Rahel Sophia Süß ist Politikwissenschaftlerin und Lektorin für politische Theorie an der Universität Wien und ab Januar 2017 Visiting Scholar am Center for the Study of Democracy an der Universität of Westminster in London (Research Collaborator: Chantal Mouffe). Sie beschäftigt sich im Rahmen ihrer Promotion mit einer hegemonietheoretischen Aktualisierung des demokratischen Experimentalismus. Bei Turia + Kant in der zweiten Auflage erschienen (2016) „Kollektive Handlungsfähigkeit Gramsci, Holzkamp, Laclau/Mouffe“.

Impressum engagée #4 „Gewalt“, 2016/17. ISSN 2413-4279 Medieninhaberin: engagée – Verein für politisch-philosophische Einmischungen (ZVR-Zahl: 807011148). Erscheinungsort: Hermanngasse 19/16 - 1070 Wien. Prozesskoordination: Dona Barirani, Felix Maschewski, Anna-Verena Nosthoff, Johannes Siegmund, Rahel Sophia Süß. Kontakt: info@engagee.org, www.engagee.org.
 Offene Redaktion #4: Dona Barirani, Kristin Flade, Marius Hasenheit, Markus Hennig, Mira Hirtz, Anastasiya Kasko, Felix Maschewski, Rainer Mühlhoff, Anna-Verena Nosthoff, Jan Philipp Schewe, Roman Schneeberger, Jorinde Schulz, Johannes Siegmund, Nicola Spannring, Kate Steiner, Micha Steinwachs, Paul Stephan und Sara Walker. Beiträge: Giorgio Agamben, Thomas Ballhausen, Floris van den Berg, Costanza Coletti, Sebastian Friedrich, Marius Hasenheit, Markus Hennig, Mira Hirtz, Timo Hoheisel, Anastasiya Kasko, Andrea Kretschmann, Claudia Lomoschitz, John Mamakos, Felix Maschewski, Rainer Mühlhoff, Anna-Verena Nosthoff, Philipp Pess, Julia Riederer, Patrick Schabus, Jan Philipp Schewe, Roman Schneeberger, Jorinde Schulz, Nicola Spannring, Kate Steiner, Micha Steinwachs, Paul Stephan, Steven Uhly, Sara Walker, Nina-Kathrin Wienkoop und Veronika Zwerger. Die Verfasser*innen sind für die Inhalte selbst verantwortlich. Die darin vertretenen Positionen spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider. Die Beiträge dürfen von Dritten nur unter der Bedingung der Rücksprache mit den Verfasser*innen verbreitet werden.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman „Mein Leben in Aspik“ ist 2010 und „Adams Fuge“, ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis, ist 2011 erschienen. „Glückskind“ (2012) wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für die ARD verfilmt. „Königreich der Dämmerung“ (2014) ist sein vierter Roman und wurde in der Kritik mit den Werken von Autoren wie Alfred Andersch und Primo Levi verglichen. Im Jahr 2015 folgte „Tagebuch – Gedichte 1981–2015“, 2016 mit „Marie“ sein fünfter Roman. Seine Werke erscheinen im Secession Verlag für Literatur (Berlin/Zürich).

Gestaltung: Rahel Sophia Süß.
Erscheinungsweise: 2 x jährlich. Preise: Einzelpreis: 8 €. Jahresabonnement 15 €: Das Jahres-Abonnement umfasst zwei Ausgaben von engagée zum Vorzugspreis von 15 € (inkl. MwSt. und zzgl. Versand). Förderabonnement 30 €: Das Jahres-Förderabonnement umfasst zwei Ausgaben von engagée zum Preis von 30 € (inkl. MwSt. und zzgl. Versand).

Sara Walker studiert Philosophie in Wien. Ihre Interessensschwerpunkte bilden Literatur, Kritische Theorie und Psychoanalyse. Sie ist Teil des Kollektivs der feministischen Zeitschrift fiber.

Druck: Rötzer Druckerei Eisenstadt.
engagée ist in ausgewählten Buchhandlungen und über www.engagee.org erhältlich. Eine Liste der Buchhandlungen ist über die Website aufrufbar.

Nina-Kathrin Wienkoop forscht über, veröffentlicht Artikel und berät zu Fluchtursachen in der Sahelregion, urbanen Protesten in Westafrika und Demokratisierungsprozessen. Von Haus aus Konfliktforscherin, untersucht sie seit Oktober 2014 als Promotionsstipendiatin der Leuphana Universität Lüneburg den Einfluss sozialer Bewegungen auf präsidentielle Amtszeitverlängerungen in Burkina Faso und im Senegal. Zudem ist sie assoziierte Wissenschaftlerin am Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) und koordiniert den Arbeitskreis „Bewegungen und Institutionen“ des ipb.

Kontoinformationen: Erste Bank: engagée - politisch-philosophische Einmischungen IBAN: AT96 2011 1827 7441 6100 BIC: GIBAATWWXXX

Veronika Zwerger leitet die Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Wien. Sie forscht zum Schwerpunkt „Exil“ und kuratiert thematisch darauf ausgerichtete Vermittlungsprogramme und Ausstellungen (www.literaturhaus.at).


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