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Produktiv sein und handeln
Foto: Peter M. Mayr
Wenn Sie diese Zeilen lesen, haben wir – was Covid betrifft – das Gröbste hoffentlich hinter uns. Doch auch wenn sich die Covid-19-Pandemie demnächst zur weniger bedrohlichen Endemie wandeln sollte, wird sie für viele noch nicht zu Ende sein. „It’s not over till it’s over“ gilt hier nicht. Denn die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Beherrschung, so nötig sie waren, haben ihre Spuren hinterlassen. Sie haben Lebensgrundlagen bedroht, die physische und die psychische Gesundheit nicht nur akut, sondern auch längerfristig angegriffen, die öffentliche Debatte polarisiert, Bildungschancen gemindert, und sie werden uns alle bei der Rückführung der aufgenommenen Schulden noch lange beschäftigen. Die Politik befindet sich noch immer in einer Art Ausnahmezustand. Auch die globale Wirtschaft muss ihre Strukturen neu sortieren. Wir sind jetzt mit Lieferkettenproblemen konfrontiert, mit branchenübergreifender Personalknappheit, explodierenden Energiepreisen und einer aus all dem resultierenden starken Inflation. Und die Geopolitik fährt nicht nur in der Ukraine große Geschütze auf und hat damit auch in Europa wieder klar Stellung bezogen.
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Die Pandemie hat uns wie unter dem Brennglas gezeigt, was mit Gesellschaften passiert, die sehr abrupt durch große Krisen erschüttert werden. So groß unsere Freude Anfang 2021 über in Rekordzeit entwickelte wirksame Impfstoffe war, so groß war unsere Ernüchterung zum Jahresende, dass der von der Wissenschaft empfohlene Weg aus der Pandemie durch Impfung von einem kleinen, aber lauten Teil der Bevölkerung in vielen Ländern nicht mitgetragen wurde. Angst und Zuversicht standen sich wütend gegenüber. Als wäre das alles nicht genug, haben uns große wetterbedingte Katastrophen 2021 wieder einmal deutlich gemacht, dass wir uns noch konsequenter mit der Klimakrise befassen müssen.
In den vergangenen Jahren sind grundlegende gesellschaftliche, technologische, politische und ökologische Parameter verschoben worden und so viel Selbstverständliches – das Vertrauen in die Wissenschaft, in den Frieden in Europa, in eine sichere Zukunft – ging verloren. Die Größe der Aufgabe, die Wucht dieser Transformation verlangt nach radikalen Ansätzen. Genau hier greift aber der Zweck der ERSTE Stiftung. Es ist uns schon früher gelungen, aus den Themen der Zeit, gemeinsam mit unseren Netzwerken, die richtigen Antworten zu geben. Und so war 2021 aus unserer Sicht eines der produktivsten Jahre seit Langem.
Um Wissenschaft zu stärken, investieren wir vermehrt in Forschung. So wollen wir die Kernkompetenz der Stiftung im Bereich „Finanzielle Gesundheit für alle“ erweitern. Eine auf drei Jahre
angelegte große Studie zum Thema finanzielles Wohlergehen in Mittel- und Osteuropa entsteht im Rahmen einer Forschungskooperation mit der Universität Tartu (Estland). Schon vor 15 Jahren haben wir mit der Zweite Sparkasse eine Bank für Menschen in finanziell schwieriger Lage gegründet (siehe Seite 52) und vor fünf Jahren haben wir den Erste Financial Life Park (FLiP) eröffnet (siehe Seite 38), um das fehlende Wissen über Geld bei Jugendlichen anzugehen. Beide Projekte sind sehr gut angenommen worden und haben zu Veränderungen in der Gesellschaft geführt. Die Idee der Zweite Sparkasse hat die EU-Kommission sogar als Vorbild für eine gesetzliche Regelung aufgenommen, die allen Bürger:innen einen Zugang zu einem Konto ermöglicht.
Warum wir uns so stark mit der Finanzbildung beschäftigen? Weil die finanzielle Gesundheit aller entscheidend ist, um mit kommenden Krisen gut umgehen zu können. Vergangenes Jahr hat die von uns mitgegründete Stiftung für Wirtschaftsbildung mit ihrer Arbeit begonnen. Sie wird Wirtschafts- und Finanzbildung in die Schulen bringen. Dass das Thema Finanzbildung in Österreich inzwischen sogar im Finanzministerium angekommen ist, zeigt, dass unsere bisherigen Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung Wirkung zeigen.
Um die derzeitigen geopolitischen Verschiebungen besser zu verstehen, denken im Europe’s Futures Fellowship, einer Kooperation mit dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen, die besten Köpfe darüber nach, wie sich eine souveräne Europäische Union heute behaupten und einen Beitrag zum Dialog zwischen Ost und West und zur positiven Entwicklung der Regionen in Mittel- und Osteuropa leisten kann.
Unser eigenes Lab Two Next, mit dem wir digitale Innovationskompetenz für drängende soziale Fragen schaffen, hat 2021 zwei Themen bearbeitet, die in postpandemischen Zeiten noch wichtiger geworden sind: die Unterstützung pflegender Angehöriger und Finanzinklusion.
Wir müssen dringend regenerative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle bauen, die auch zukünftigen Generationen ein (besseres) Leben im Einklang mit der Natur ermöglichen. Gerade Stiftungen können sich Mut zum Risiko leisten und weit nach vorne schauen, sie können innovativ sein, flexibel reagieren und sich ihre Aufgaben nach der Dringlichkeit der anzugehenden Probleme suchen. Es ist ein Gebot der Stunde, dass wir alle an einem Strang ziehen und neue Allianzen schmieden. Deshalb haben wir auf dem größten Treffen der europäischen Stiftungen im Oktober 2021 in Wien drei Tage lang darüber nachgedacht, was wir in den Bereichen Klima, Demokratie, Gesellschaft und Philanthropie als Nächstes tun müssen. Die Energie, der Wille zum Handeln und die Möglichkeiten dazu waren konkret spürbar.
Neues Vorstandsteam
So, wie das Jahr 2021 für die Inhalte der ERSTE Stiftung wichtig war, so war es auch ein wichtiges Jahr für unsere Governance. In der zweiten Jahreshälfte wurde der Vorstand erweitert und gestärkt. Mario Catasta, bei dem ich mich sehr herzlich für alles, was er in seinem Leben für die Erste Group und die ERSTE Stiftung geleistet hat, bedanke, und Franz Portisch, der die Entwicklung der ERSTE Stiftung in verschiedenen Funktionen von Beginn an begleitet hat, wechselten vom Vorstand in den Aufsichtsrat der Stiftung. Zum neuen CEO hat der Aufsichtsrat den bisherigen Stellvertreter Boris Marte bestellt. Ihm zur Seite stehen neben Eva Höltl, die dem Vorstand seit 2020 angehört, nun Wolfgang Schopf, der die Aufgabe des Chief Financial Officers (CFO) übernommen hat, sowie Martin Wohlmuth, seit 2016 Executive Director und Leiter des Bereichs Finanzen und Organisation, der das neue, nun vierköpfige Leitungsteam komplettiert. Er führt u. a. die Aufgaben der Stiftung als Koordinatorin des Syndikats der Kernaktionäre im Vorstand der ERSTE Stiftung als COO fort.
Ich danke außerdem sämtlichen Mitarbeiter:innen ausdrücklich für die in diesem wiederum herausfordernden Jahr geleistete Arbeit und wünsche Ihnen und uns allen Gesundheit, Tatkraft und Erfolg für die kommenden Herausforderungen.
Andreas Treichl
Chairman
Mitglieder des Aufsichtsrats
Andreas Treichl (Chairman) Bettina Breiteneder Mario Catasta Maximilian Hardegg Barbara Pichler Franz Portisch Johanna Rachinger Philipp Thurn und Taxis Markus Trauttmansdorff Manfred Wimmer Kurt Zangerle