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Wir wollen Lernen in ein Abenteuer verwandeln“
Heide Wihrheim, Projektmanagerin der ERSTE Stiftung, spricht mit Dóra Hegyi, der Direktorin von tranzit.hu, über den neuen Space of Opportunity in Budapest.
Die Kunstinitiative tranzit.hu eröffnete am 20. September 2021 den Space of Opportunity, einen neuen Raum für Kultur in der Budapester Josefstadt. Der Community-Space heißt junge Menschen mit einem vielfältigen Programm willkommen und lädt sie dazu ein, gemeinsam Kunst zu machen, über Philosophie zu diskutieren oder an Bewegungskursen teilzunehmen. Sie sollen sich ihres Potenzials als mündige und verantwortungsbewusste Bürger:innen bewusst werden und lernen, dieses zu nutzen.
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Oben: Eingang des Space of Opportunity, Foto: Panka Szeszák. Links: „Bewegung und Haiku“ mit Ági Sarlós und Judit Kemenesi, Foto: Ágnes Sarlós
Heide Wihrheim: Im Herbst 2021 hat tranzit.hu in Budapest den Space of Opportunity eröffnet. Was kann dieser Raum? Wie wird das Programm aussehen und wer entwirft es?
Dóra Hegyi: Wir haben unseren neuen Community-Space „Raum der Möglichkeiten“ genannt und es ist tatsächlich ein leerer Raum, der mit Ideen und Programm gefüllt werden kann. Wir mieten die circa 160 Quadratmeter großen Räumlichkeiten, die wir bis auf die Ziegelwände freigelegt und minimalistisch renoviert haben, in der Práter utca 63. Das war früher ein Kosmetiksalon. Es gibt fünf Räume mit verschiedenen Funktionen. Wir haben eine Bibliothek mit Leseraum, eine Galerie mit Kino, eine Küche, die auch Gemeinschaftsraum ist, einen Raum für kreative Tätigkeiten und ein Medienzimmer. Wir bieten regelmäßig verschiedene Workshops an, etwa zu Kunst, Philosophie, Bewegung und Meditation, und organisieren öffentliche Programme wie Diskussionen, Filmabende oder Ausstellungsprojekte. Die Mitbegründer:innen der Initiative sind im Kulturbereich tätig, alle mit einer Prise Idealismus ausgestattet, offen dafür, auch außerhalb der Spielregeln ihrer Profession zu agieren und transdisziplinär zu arbeiten. Das ist, glaube ich, ein Grundstein: Wir machen nicht nur Integrationsarbeit oder kämpfen für Menschenrechte, wir möchten über wichtige Themen mit Mitteln der Kunst und anderer kreativer Felder sprechen.
Das klingt, als hänge der Space of Opportunity auch mit der derzeitigen politischen Situation in Ungarn zusammen.
tranzit.hu ist seit 15 Jahren im Feld der zeitgenössischen Kunst tätig. Wie die anderen tranzitOrganisationen verstehen wir zeitgenössische Kunst als eine Form des Dialogs, als einen Diskurs, in dem Krisen antizipiert, aufgezeigt und Tabuthemen ans Tageslicht gebracht werden. In den letzten Jahren haben wir oft darüber gesprochen, dass die Transitperiode des ehemaligen Ostblocks nicht, wie erwartet, vorbei ist, sondern die globalisierte Welt sich im Wandel befindet. Wirtschaftskrisen, die Klimakrise und zuletzt die Covid19-Pandemie erschüttern alle Regionen der Erde.
Der Wohlfahrtsstaat des Westens scheint keinen Schutz mehr zu bieten, das System der Demokratie ist nicht stabil, einst als sicher geltende Wertesysteme halten nicht mehr.
Ungarn wird seit mehr als einem Jahrzehnt von einer antidemokratischen Politik bestimmt, die die machtgierigen Befürworter:innen der Regierung durch Korruption unterstützt, während sie die Bedürftigen im Stich lässt und notwendige Infrastrukturen zugunsten unnötiger Investitionen vernachlässigt. Eine offene und solidarisch funktionierende Gesellschaft wird systematisch demontiert, Institutionen demokratischer Kontrolle ausgeschaltet.
Und deshalb habt ihr den Space of Opportunity ins Leben gerufen?
Genau. In einer solchen Situation ist es überaus wichtig, die jungen Menschen, die Generationen der Zukunft, zu unterstützen und ihnen Methoden und Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie in der Lage sind, Kritik zu äußern und die richtigen Fragen zu stellen. Fähigkeiten, die sie in den meisten Schulen nicht erlernen. Alle jungen Menschen brauchen Unterstützung, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Besonders wichtig finden wir es jedoch, diejenigen zu stärken, die von zu Hause aus keine „Wegweiser“, keine Orientierungshilfe mitbekommen. Kunst und Kreativität erachten wir dafür als bestens geeignete Mittel, weil sie ein Denken out of the box ermöglichen und dazu anregen, das Gegebene zu hinterfragen. Wir wollen junge Menschen zwischen 14 und 26 Jahren erreichen, also Schüler:innen in der Mittelschule genauso wie junge Erwachsene, die noch auf der Suche sind.
Der Raum befindet sich im 8. Bezirk von Budapest. Was ist das Besondere an dieser Gegend?
Józsefváros – die Josefstadt – ist ein sehr lebendiger Bezirk und einer der multikulturellsten der Stadt. Es ist auch einer der ärmsten Bezirke in Budapest, der während des Sozialismus sehr vernachlässigt wurde. Es gibt viele schöne Häuser hier, die um die Jahrhundertwende gebaut worden sind, aber nur sehr langsam renoviert werden. In den letzten zehn Jahren wurde die Infrastruktur stark verbessert, es wurden zwei Metrostationen gebaut, aber die Menschen sind arm geblieben oder wurden durch die Gentrifizierung aus der Gegend vertrieben. Seit zwei Jahren hat Budapest einen progressiven Bürgermeister und auch der 8. Bezirk hat endlich eine offene und zukunftsorientierte Bezirksleitung. Heute gibt es hier Sozialprogramme für die Integration und Förderung der bedürftigen Bewohner:innen. Im Bezirksamt findet die Arbeit von Bürgerinitiativen inzwischen Anerkennung, wir fühlen uns hier wertgeschätzt und willkommen.
Eure Aktivitäten richten sich vor allem an ein jugendliches Publikum, das mit sozialer Benachteiligung kämpft. Wie schafft man es, diese gleichzeitig über- und unterforderten Jugendlichen nicht an ihre Frustration zu verlieren, sondern für die Gemeinschaft zu gewinnen?
Nach unserer Erfahrung sind gerade die jungen Menschen, die wir so gerne mit unseren Angeboten und Ideen motivieren und unterstützen möchten, am schwersten zu erreichen. Schüler:innen aus Kunstgymnasien oder Student:innen, die nach einer Gemeinschaft und guten Gesprächen suchen, finden leichter Zugang zu unseren Programmen. Wir wenden verschiedene Strategien an, um auch die „Unmotivierten“ und „Verlorenen“ zu erreichen, damit sie ihre Fähigkeiten entwickeln und Defizite ausgleichen können. Wir wollen für sie Lernen in ein Abenteuer verwandeln, sie sollen Partizipation als inneres Bedürfnis erleben. Oft müssen wir sie einzeln ansprechen und sie bringen dann ihre Freund:innen mit. Wer aber erst einmal den Weg zu uns gefunden hat, lässt sich inspirieren und bleibt gerne. Die Zusammenarbeit mit Schulen funktioniert auch sehr gut, da sind ganze Klassen in ein Projekt involviert.
Euer erstes Ausstellungsprojekt, Colonia Herbaria, das Ende 2021 eröffnet wurde, ist ein gelungenes Beispiel für so eine Schulkooperation. Gemeinsam mit einer Gartenbauschule habt ihr den Space of Opportunity in eine botanische Sammlung verwandelt.
Richtig, für Colonia Herbaria haben wir in Zusammenarbeit mit Künstler:innen und jungen Menschen permanente Installationen für unseren Raum entwickelt. Die Künstlerin Kitti Gosztola und die Kunstkritikerin Judit Árva, beide Mitbegründerinnen des Space of Opportunity, haben mit Schüler:innen eines Gartenbautechnikums kooperiert. Sie haben sich über die Geschichte der Zimmerpflanzen unterhalten und analysiert, wie diese mit der Geschichte der Kolonialisierung und der Wohnsituation zusammenhängen. Dann haben sich alle Teilnehmer:innen eine Pflanze ausgesucht und deren Eigenschaften beschrieben. So entstand eine gewisse Identifikation und diese ermöglichte es, über persönliche Empfindungen und die Beziehung zur Gemeinschaft zu sprechen. Die Pflanzen wurden dabei auch als Subjekte behandelt. Junge Setzlinge und Topfpflanzen, die wir über einen öffentlichen Aufruf gesammelt haben, wurden in den Räumen installiert. Sie erhielten Beschriftungen, durch die wir ihre „Stimmen“ hören konnten. Eine Monstera deliciosa ließ zum Beispiel wissen: „Die Löcher in den Blättern sind Wunden, die nie heilen – sie machen mich trotzdem stark.“
„Monstera Deliciosa” in der Ausstellung Colonia Herbaria, 2021, Foto: Zsuzsanna Simon
Die „Stimme“ einer Monstera deliciosa bei der Eröffnungsausstellung Colonia Herbaria
Colonia Herbaria-Workshop am 2. Dezember 2021, Foto: Anna Vörös
Space of Opportunity (Lehetőségek tere)
Práter utca 63 1083 Budapest
lehetosegektere.hu
facebook.com/lehetosegektere
tranzit.org
Dóra Hegyi ist Kuratorin und Kritikerin. Sie lebt in Budapest. Seit 2005 ist sie Direktorin von tranzit.hu, einem Mitglied des in Osteuropa ansässigen transnationalen Netzwerks tranzit.org. Sie ist Initiatorin, Kuratorin und Herausgeberin von Ausstellungen sowie von Bildungs-, Forschungs- und Publikationsprojekten, die Kunst als einen Raum für kritische Debatten betrachten, der zwischen verschiedenen Bereichen und Disziplinen vermitteln und als Katalysator für Veränderungen fungieren kann. Zu ihren jüngsten Projekten als Ko-Kuratorin und Mitherausgeberin gehören Creativity Exercises: Emancipatory Pedagogies in Art and Beyond (2014–2019), War of Memories (2015), Imagining Conceptual Art (2017), 1971 – Parallel Nonsynchronism (2018–2019) und Space of Opportunities (seit 2019).
Paris Viitorului – neuer Raum für zeitgenössische Kunst in Bukarest
Ansicht der Ausstellung Din fibre, un foc (Aus Fäden, ein Feuer) von Ioana Stanca aus der Ausstellungsreihe „Crimele sunt abolite. Nu mai există decât pasiuni. (Verbrechen sind abgeschafft, nur Leidenschaften bleiben)“, 2021, Foto: Edi Constantin
Im Jahr 2021 nutzte tranzit.ro/București die Schaufensterfläche im Erdgeschoß des Gebäudes, in dem der Verein sein Büro hat, als temporären Ausstellungsraum. Paris Viitorului ist inspiriert vom Namen der Straße, in der das Gebäude steht („Viitorului“ bedeutet Zukunft), sowie einer Reihe von Verweisen auf kulturelle Parallelen zwischen Bukarest und Paris im 21. und 19. Jahrhundert. Das Schaufenster lud dazu ein, Kunstwerke auszustellen, um der Frage nachzugehen, ob Kunst in Zeiten pandemiebedingter Einschränkungen Ware oder Notwendigkeit ist. Paris Viitorului – kuratiert von der Künstlerin Raluca Popa und tranzit.ro/ București – ist gleichzeitig Galerie, Schaufenster, Vitrine, Resonanzkasten, Ort der Beobachtung und Vorwegnahme sowie eine Einladung zur Reflexion über die Stadt als eine andere Welt: eine Welt der Möglichkeiten und der Vorstellungskraft, von vielfältiger Vertrautheit, kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Vertrauen in die Zukunft.
Paris Viitorului
Mihai Eminescu 182/Ecke Viitorului Sektor 2, Bukarest Die Ausstellungsreihe „Crimes are abolished. Only passions remain.“ fand von 20. September bis 31. Oktober 2021 statt.