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Wahrheit ist Arbeit

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Gremien und Team

Gremien und Team

Der Vorstand der ERSTE Stiftung: Boris Marte (CEO), Eva Höltl, Martin Wohlmuth, Wolfgang Schopf (stv. CEO), Foto: Peter M. Mayr

Das Motto unseres Geschäftsberichts 2021 lautet „Wahrheit herstellen“. Wer jetzt kritisch die Augenbrauen hebt, hat ein gutes Gespür für Sprache. Denn tatsächlich klingt diese Feststellung – die wir sogar als Imperativ, als Aufforderung mit einem unsichtbaren Ausrufezeichen gelesen wissen wollen! – ein bisschen wie „alternative Fakten fabrizieren“. „Wahrheit herstellen“ klingt nach dem Gegenteil dessen, was die Aussage behauptet: nach der Suche nach einer „anderen“ Wahrheit, nach Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und fundierten Nachrichten, die laut zu äußern inzwischen immer mehr Menschen ein Bedürfnis ist. Ein leises Misstrauen gab es bei einer kleinen Minderheit schon lange. „Die Wahrheit“ im Singular scheint schon vor Jahren ins andere Lager gewechselt zu sein. Bei Anhängern des Dekonstruktivismus steht sie ohnehin in einem Generalverdacht, den man früher „Herrschaftswissen“ nannte.

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Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat uns im vergangenen Jahr in einem ausführlichen Gespräch erklärt, dass das nicht stimmt (siehe Seite 12). Er widerspricht der postmodernen Ansicht „aus dem 20. Jahrhundert“, dass es Wahrheit nur im Plural geben könne, weil das aus seiner Sicht zur Auflösung jeglicher Gemeinschaft und zu Vereinzelung führe und damit alle schutzlos den Übergriffen ungezügelter Macht ausgeliefert seien. Er hält dagegen, dass das 21. Jahrhundert gezeigt habe, dass Demokratien nur dann funktionieren können, wenn die öffentliche Diskussion auf der Basis von Fakten geführt wird. Faktizität, eine von allen akzeptierte Wahrheit, fällt aber nicht vom Himmel. Sie muss – genau – in manchmal mühevoller Weise hergestellt werden. Wissenschaftlerinnen müssen ungehindert experimentieren und publizieren können, Journalisten recherchieren und kommunizieren; Lehrer sollten gesichertes Wissen unterrichten, Künstlerinnen alte Gewissheiten hinterfragen können, sie sollten Orte haben, um zu denken, zu gestalten, zu performen. Wir brauchen heute mehr denn je Ökonominnen und Ökologen, die im Feld und in der Bibliothek forschen können, Unternehmerinnen, die Innovationen zum Wohl der Gesellschaft entwickeln. Philosophen und ITlerinnen werden künstlicher Intelligenz gemeinsam gut begründete Anweisungen für richtiges oder falsches Handeln geben müssen.

Stiftungen wiederum können das Herstellen von Fakten, von Grundlagenwissen, von Übereinkünften zu richtigen Entscheidungen, von geschützten Räumen, von Kunst, von Wahrheit ermöglichen und fördern. Deshalb gibt es uns. Nichts beschreibt, erklärt, vermittelt und hinterfragt sich von selbst. Wahrheit herzustellen ist übrigens viel schwieriger, als kurzerhand das Blaue vom Himmel herunterzuerfinden. Fakten müssen

Wahrheit ist Arbeit lautete der Titel einer Ausstellung im Museum Folkwang in Essen im Jahr 1984, die die Künstler Werner Büttner, Martin Kippenberger und Albert Oehlen gestalteten.

belegt, Behauptungen bewiesen werden. Das ist Arbeit. Oftmals sind Zusammenhänge komplex, Lösungen für die Zukunft nicht leicht zu finden.

Deshalb hat die ERSTE Stiftung zum Beispiel ein Start-up wie Two Next gegründet, um jenen gemeinnützigen Organisationen den Zugang zu Lernerfahrungen zu ermöglichen, die digitale Produkte und Services anbieten wollen. Seit 2021 konzentriert sich Two Next besonders auf die Bereiche Pflege und pflegende Angehörige sowie finanzielle Inklusion. Eine Konferenz zum Thema pflegende Angehörige fand zu Jahresbeginn 2022 statt, eine digitale Lösung für diese Zielgruppe ist in Vorbereitung. Daran wird noch gearbeitet, deshalb mehr dazu in einem Jahr.

Diverse, inklusive und möglichst unterschiedliche Aspekte berücksichtigende Lösungen, sozusagen besonders robuste Wahrheit, entstehen im Austausch mit sehr vielen anderen, durch kontroverse Debatten und in Kooperationen. Deshalb bauen wir mit unseren Partnerorganisationen stabile Netzwerke, die sich gegenseitig inspirieren und stützen können. Ein großes Glück war daher die Zeit vom 18. bis 20. Oktober 2021, als wir endlich, nach eineinhalb Jahren pandemiebedingter Verzögerung, unsere europäischen Stiftungskolleg:innen bei uns als Gäste begrüßen durften. Das European Foundation Centre hielt seine erste (und – aufgrund eines wenig später erfolgten Zusammenschlusses mit Dafne, dem Dachverband der nationalen europäischen Stiftungsverbände, zu Philea – auch insgesamt letzte) Jahreskonferenz in Wien ab. Nach über zwei Jahren, in denen das wichtigste Kommunikationsmittel auch zwischen Stiftungen der Videocall war, konnten wir uns endlich wieder spüren und gemeinsam mit großartigen Redner:innen und 400 mehrfach geimpften und getesteten Teilnehmern ein Gefühl des Aufbruchs erleben. Einen Rückblick auf diese in jeder Hinsicht wunderbare und bereichernde Veranstaltung zu den wichtigen Themen Klima, Gesellschaft, Demokratie und Philanthropie lesen Sie ab Seite 26.

Eine spannende Erkenntnis aus vielen Konferenzgesprächen war aus unserer Sicht, dass praktisch alle Stiftungen derzeit in großen Umbrüchen stecken. Die Pandemie und ihre enormen Auswirkungen auf Individuen, Gesellschaft und Politik, aber ebenso das geschärfte Bewusstsein, was für eine Herausforderung es bedeutet, eine CO2-neutrale Zukunft schnellstmöglich herbeizuführen, wirken sich natürlich auch auf den Philanthropiesektor aus. Weil wir Innovation als Aufgabe für die Zukunft begreifen, haben auch wir einen internen Strategieprozess begonnen. Die ERSTE Stiftung, Hauptaktionärin der Erste Group, hat eine besondere Bedeutung für die Ausrichtung ihrer Bank und die gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit. Wir müssen umsetzbare Ideen und Lösungen entwickeln und Prozesse starten, die uns alle gemeinsam in eine gute Zukunft führen. Dafür wollen wir die historische Kernbotschaft der ERSTE Stiftung neu definieren und gleichzeitig unsere Programmatik anpassen wie auch neue Handlungsfelder entwickeln. Angesichts dramatischer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer und ökologischer Einschnitte wollen wir die Rolle der ERSTE Stiftung in der Zivilgesellschaft und gleichzeitig ihre Rolle als Haupteigentümerin der Erste Group neu denken. Nur wenn es uns in dieser Doppelrolle gelingt, eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, entsprechen wir auch zukünftig dem Gründungsgedanken der Stiftung. Mehr dazu ab Seite 19.

Als Stiftung, die über das Gedeihen einer über 200 Jahre alten Bank wacht, stehen wir außerdem fest hinter folgender Botschaft: 1 + 1 = 2! An den großen Gleichungen für ein gutes Leben künftiger Generationen müssen wir noch weiter arbeiten. Viel arbeiten. Aber die Gesetze der Mathematik und viele andere Methoden, die Welt zu lesen, zu verstehen und dann für alle besser zu machen, kennen wir. Es liegt an uns, die besten Lösungen zu finden.

Boris Marte CEO

Eva Höltl

Vorstandsmitglied

Wolfgang Schopf

stv. CEO

Martin Wohlmuth Vorstandsmitglied

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