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Für ein moralisches Bekenntnis zur Faktizität
Boris Marte, CEO der ERSTE Stiftung, im Gespräch mit dem Historiker Timothy Snyder
Im Rahmen der Videoreihe The Call (siehe auch Seite 122) diskutierte im vergangenen Jahr ERSTE Stiftung-CEO Boris Marte mit dem bekannten Historiker Timothy Snyder über „Trumpismus“, semi-autoritäre Regime, die Grenzen der digitalen Welt, die Macht neuer Medien und nicht zuletzt über die Notwendigkeit eines moralischen Bekenntnisses zur Wahrheit im 21. Jahrhundert. Der Professor für Geschichte an der Universität Yale und Autor der Bücher Die amerikanische Krankheit, Über Tyrannei, Der Weg in die Unfreiheit, Black Earth und Bloodlands erhielt für sein Werk den Literaturpreis der American Academy of Arts and Letters, den Hannah-ArendtPreis für politisches Denken und den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Am 8. Mai 2019 hielt er auf Einladung der ERSTE Stiftung im Rahmen der Wiener Festwochen eine viel beachtete „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Im Folgenden lesen Sie Auszüge aus dem Gespräch, das erstmals am 11. März 2021 in Tipping Point, dem Onlinemagazin der ERSTE Stiftung, veröffentlicht wurde.
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Zelte von Migrant:innen hinter dem Stacheldrahtzaun der belarussisch-polnischen Grenze in der Nähe des Dorfes Usnarz Gorny, wo sie am 25. Jänner 2022 zwischen den Stellungen des polnischen und des belarussischen Militärs festsaßen. Tausende von Migrant:innen versuchten 2021 die belarussisch-polnische Grenze zu überqueren. Der Westen machte das belarussische Regime für die Situation verantwortlich, das Menschen aus dem Nahen Osten und Afghanistan eine einfache Einreise in die EU in Aussicht stellte. Foto: Wojtek Radwanski/AFP/picturedesk.com
Boris Marte: Tim, Sie müssen zurzeit sehr zufrieden sein, da ja quasi täglich Geschichte passiert. Was bedeutet das für Ihre Arbeit als Historiker? Wie kann uns Geschichte zu einer besseren Zukunft führen?
Timothy Snyder: Das ist eine wichtige und gute Frage, Boris, weil sie wertschätzend ist. Aber aus der Sicht eines praktizierenden Historikers oder einer praktizierenden Historikerin fühlt sich unsere Realität gar nicht so an. Wir haben nicht den Eindruck, dass die Menschen sich für die Geisteswissenschaften oder für Geschichte interessieren. Im Gegenteil. Eine Ironie unserer Zeit, des frühen 21. Jahrhunderts, ist, dass wir Geschichte dringend brauchen, damit sie uns erklärt, was gerade geschieht. Dennoch wird sie im Allgemeinen ignoriert. Ich höre immer wieder: Ist dieser Vergleich wirklich angebracht? Kann man wirklich diese Analogie herstellen? Diese Reaktionen sind ein Zeichen dafür, dass die Menschen es vermeiden, über die Vergangenheit nachzudenken, weil sie glauben, die Gegenwart sei außergewöhnlich und so etwas wie jetzt hätte sich noch nie zuvor zugetragen. Das Problem an dieser Einstellung ist, dass sie alles zulässt. Sie entmachtet alle, denn wenn alles neu und anders ist, bedeutet das, dass wer immer gerade an der Macht ist, alles machen kann, was er oder sie möchte, ohne eine Diskussion, ohne Angabe von Gründen, ohne dass jemand innehält und nachdenkt. Historiker:innen sagen: „Nein, das ist nichts völlig Neues. Nichts ist jemals völlig neu. Alles hat eine Ähnlichkeit mit etwas anderem. Alles entsteht aus etwas anderem.“ Und wenn wir einmal kurz durchatmen und über plausible Parallelen und einige Zusammenhänge nachdenken, erkennen wir, was wir übersehen. Diese angeblich schockierende und neuartige Gegenwart, die eine unverzügliche Reaktion von denen zu erfordern scheint, die Macht ausüben, sieht plötzlich anders aus. Ab dem Moment, wo sie anders aussieht, gewinnen wir an Bodenhaftung und können aktiv werden. So kann Geschichte von Nutzen sein.
Aber wie können die Menschen in einer Demokratie durch eine kollektive Debatte lernen? Wie können wir sicherstellen, dass dieses Wissen Teil der öffentlichen Debatte ist, damit die Demokratie in unserer Zeit funktioniert?
Es ist die Erkenntnis des 21. Jahrhunderts, dass wir ein echtes Bekenntnis zu Fakten brauchen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts vertraten viele Leute, die sich für Befürworter:innen der Demokratie und der Menschenrechte hielten, die Meinung, dass wir uns nicht auf eine einzige Wahrheit festlegen müssen, dass es eigentlich keine Wahrheit gibt. Und dass es Teil unserer individuellen Subjektivität, also dessen, was wir beschützen wollen, ist, dass jede und jeder die Welt anders wahrnimmt. Wer bestimmt also, was Wahrheit ist?
Es stellte sich aber heraus, dass diese Einstellung zutiefst entmachtend ist. Wenn es keine Wahrheit gibt, die wir anstreben, wenn für jeden einzelnen Menschen nur seine oder ihre eigenen Ansichten zählen, bleibt am Ende nur Geld und Macht übrig, womit man sich groß in Szene setzt und die Menschen schnell überzeugt und dann einfach zum nächsten Ziel weiterzieht. Um die Menschen wieder zu ermächtigen, muss man ihnen sagen, dass es tatsächlich eine reale Welt gibt. Und in dieser realen Welt können sie sich gegenüber anderen Menschen, gegenüber Institutionen und Regierungen behaupten. In einer Fake-Welt kann
man sich nicht gegen Regierungen, Konzerne und die Mächtigen wehren. Es muss also ein echtes Bekenntnis und die entsprechenden Institutionen geben. Wir müssen klarstellen, dass Fakten nicht einfach da sind. Das ist auch eine Erkenntnis des 21. Jahrhunderts. Wir möchten gerne glauben, dass ein freier Markt und der normale Austausch zwischen Menschen die Fakten automatisch an die Oberfläche bringen. Dem ist aber nicht so. Wenn wir die Wahrheit wollen, müssen wir sie erschaffen. Wir müssen sie herstellen.
Wir sehen die wichtigen Wahrheiten nicht, die Dinge, die jeden Tag um uns herum passieren, womit wir wieder bei Ihrer ersten Frage wären. Die Umweltverschmutzung, Ungleichheiten oder auch die neue Pandemie, über die die amerikanischen Zeitungen nicht berichten, weil es keine Zeitungen mehr gibt. Darüber brauchen wir Fakten und diese Fakten müssen produziert werden, sie sind nicht einfach da. Wir brauchen Leute, die diese Fakten produzieren, Journalist:innen vor Ort, die dafür bezahlt werden, diesen Job zu machen. Aber in Russland und auch in meiner Heimat verschwindet dieser Job allmählich, und wenn das passiert, verschwinden die Fakten und damit auch das Vertrauen in Fakten. Dann befinden wir uns in einer seltsamen quasi-autoritären Situation, wo alles erlaubt ist. Es muss also ein moralisches Bekenntnis zu Fakten geben, egal ob links, rechts oder in der Mitte. Und wir müssen alles tun, um die entsprechenden Institutionen zu schützen, wie etwa Journalist:innen lokaler Medien, die Tag für Tag Fakten schaffen.
Wir leben in Zeiten, in denen große Technologiekonzerne dominieren und die Demokratie stark von diesen Tech-Konzernen abhängig ist. Als Donald Trump auf Twitter gesperrt wurde, war das ein Schock. Der Vorfall machte deutlich, wie sehr unsere Demokratien heute von einer Handvoll Kanälen abhängig sind, durch die sie die Menschen erreichen. Andere Kanäle existieren nicht mehr. Wo führt das noch hin?
Da sind wir wieder bei Ihrer ersten Frage zum Nutzen von Geschichte. Geschichte hilft uns genau in diesen Fragen. Sie hilft uns dabei, über neue Medien zu reflektieren. Neue Medien waren schon immer etwas Weltbewegendes. Nach der Erfindung des Buchdrucks verlor Europa rund ein Drittel seiner Bevölkerung in Religionskriegen, bis der Buchdruck sich etabliert hatte und die Fragen sich um Urheberschaft und Verifizierbarkeit drehten. Das Radio wurde von den Nazis eingesetzt, da sie früh die Möglichkeit erkannten, dieselbe Nachricht zeitgleich in alle Haushalte zu senden.
Dasselbe gilt jetzt für das Internet. Wir brauchen nicht zu denken, wir würden dieses Hightech-Medium vernünftiger nützen. Nichts in der Geschichte rechtfertigt diese Annahme. Vielmehr zeigt uns die Geschichte, dass jedes neue, mächtige Medium von Menschen lange Zeit dazu missbraucht wurde, damit verrückte Sachen anzustellen. Das trifft genauso auf das Internet zu.
Es ist wie eine neue Droge, die wir erst seit einer halben Stunde kennen und mit der wir noch experimentieren. Die Geschichte sagt uns: Diesmal haben wir keine 150 Jahre Zeit. Wir können es uns nicht leisten, noch mal 150 Jahre Religionskriege zu führen. Wir müssen in den nächsten Jahren eine Lösung finden. Die Geschichte lehrt uns auch, dass um jedes neue Medium schlussendlich ein regulierendes System entsteht. Dieses ganze Gerede, dass das Internet nicht regulierbar sei, dass es den Gesetzen des Marktes, der Freiheit folgen müsse, das stimmt einfach nicht. Jedes neue Medium hat zwangsläufig irgendwann seine eigenen Regeln. Die Frage ist nur, welche Regeln wir haben möchten. Ich habe kein Problem damit, wenn Twitter und Facebook Trump nur donnerstags freischalten oder ihn komplett sperren. Das ist keine Frage der Moral. Die Frage ist vielmehr, warum so wenige Medien so viel Macht besitzen. Es geht in Wahrheit nicht um unseren Zugang zu Information, sondern eher um deren Zugriff auf uns. Ob wir einen Tweet von Trump sehen oder nicht, hängt davon ab, was diese Firmen von uns zu wissen glauben. Und das bereitet mir Sorgen. Statt Menschen auf der Suche nach Wahrheit zu sein, werden wir selbst zu Suchobjekten. Meiner Meinung nach ist es egal, ob Trump auf Twitter ist oder nicht. Es ist natürlich besser, wenn er es nicht ist. Aber es geht darum, dass diese Unternehmen so viel zentralisierte Macht darüber haben, was wir zu sehen bekommen und was nicht.
Manche europäischen Staaten fanden „Trumpismus“ toll, manche liebäugeln mit Putin und führen zu Hause ein semiautoritäres Regime. Die Europäische Union ist auch etwas unglaubwürdig geworden, weil diese Länder Mitglieder sind. Es ist schwierig, einem Land am südlichen Balkan zu erklären, dass es bestimmte Werte einhalten muss, wenn es der EU beitreten möchte, während einige Mitglieder diese Grundwerte, auf denen die EU aufgebaut wurde, nicht einhalten. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Es gibt gerade eine günstige Gelegenheit für eine Debatte zwischen einigen europäischen Staaten und der neuen amerikanischen Regierung, denn die Auslandspolitik der neuen amerikanischen Regierung baut auf Demokratie. Ungarn und Polen standen gewissermaßen unter dem Schutz der Trump-Regierung. Vor allem die Beziehung zwischen der ungarischen Regierung und der amerikanischen Regierung unter Trump war besonders innig, wobei Trumps Leute eher in der lernenden Position waren als in der lehrenden. Ich finde, einige europäische Staaten und die USA sollten jetzt Gespräche darüber führen, wie De-
mokratisierung gelingen kann. Ich stimme Ihnen zu: Es ist schade, dass die Demokratisierungsauflagen der EU nur dann gelten, wenn man der EU beitreten will. Sobald man drin ist, kann man im Prinzip machen, was man will. Schlaue Politiker wie Orbán haben herausgefunden, wie man diese Logik bis zum Äußersten ausreizen kann. Ich habe da keine klare Antwort, weil meiner Meinung nach politische Fragen in der EU wichtiger sein sollten als wirtschaftliche. Aber so funktioniert die EU derzeit nicht. Für die EU ist das eine existenzielle Frage. Sie sind vollkommen zu Recht besorgt, weil die EU aufgrund ihres Image weltweit eine gewisse Autorität ausstrahlt. Das trifft jedenfalls auf die Vereinigten Staaten zu und auf Belarus, die Ukraine und Russland. Man kann diese Art von Autorität nicht erlangen, man hat sie einfach. Wenn es aber, sagen wir, zwei oder drei autoritäre Regime innerhalb der EU gibt, wird sie diese Autorität bald einbüßen.
Aber auch da bin ich nicht völlig pessimistisch. Nehmen wir Russland und Belarus als Beispiel. Die Revolutionsbewegungen dort sind hausgemacht. Die Ironie ist nun, dass Russland sich jahrelang bemüht hat, jegliche Art von demokratischem Widerstand in den postsowjetischen Staaten als Ergebnis von amerikanischer Einmischung darzustellen. Und dann kam Präsident Trump und gab ihnen auch noch recht. Er sagte: „Ja, das waren alles unsere Komplotte. Die Leute wollen doch keine Demokratie. Wir mischen uns jetzt nicht mehr ein. Und ich, Trump, finde dich, Putin, eigentlich ganz toll. Ich finde, dein Regime ist großartig.“ Und genau zu dieser Zeit entstanden enorme prodemokratische Bewegungen in Belarus und Russland, die ein Beweis dafür sind, dass nicht alles ein Resultat von Machenschaften Amerikas oder der EU ist. Unser Ruf wiegt mehr als unsere Taten, weitaus mehr. Aber viel wichtiger ist: Die Menschen wollen tatsächlich Demokratie. Wir hatten schon recht, als wir über die Entwicklungen in den USA oder in Ungarn und Polen lamentiert haben. Aber auf der anderen Seite haben wir die Slowakei, Belarus und Russland. Dort sehen wir klar, dass trotz der Verbreitung von autoritären Regimen in den letzten 15 Jahren die Leute nach Demokratie verlangen. Die Menschen wollen gehört werden. Das ist wie ein Weckruf, denn ich sehe einen Teil des Problems der EU und der USA darin, dass wir etwas zynisch in Bezug auf Demokratie geworden sind. Wir glauben nicht mehr an uns und deshalb ist es ganz gut, diese frischen Stimmen von außen zu hören, die uns daran erinnern, dass Demokratie etwas ist, wofür man Opfer bringt, und nicht etwas Selbstverständliches.