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Gunther Dietz (Themenheftherausgeber)
3 Gunther Dietz
Mit fremden Ohren. Überlegungen zur Didaktik des fremdsprachlichen Hör verstehens
11 Susanne Horstmann Hör verstehen authentischer Alltagssprache fördern. Didaktische Verzahnung von Top-Down- und Bottom-Up-Prozessen
21 Julia Festman, Sabrina Gerth, Christine Reiter (Zu)Hördidaktik in der Primarstufe. Ideen für den Unterricht, insbesondere für Kinder mit anderen Erstsprachen
30 Anika Meyer Mik ro-Hörübungen zu authentischer Alltagssprache. Ein Unterrichtsentwurf zu einem Gespräch der Plattform Gesprochenes Deutsch
36 Gunther Dietz Mik ro-Hörübungen. Sechs Beispiele mit Hörmaterialien der Plattform Audio-Lingua
41 Martin Wichmann, Juliane Michelini Arbeit mit authentischen Daten. Vorstellung einer Unterrichtsreihe zum Hörverstehen von Vorlesungen in studienbegleitenden DaF-Kursen
49 Dóra Pantó-Naszályi Lernen und motiviert werden. Aktivitäten mit authentischen Hörsehmaterialien im DaF-Unterricht
54 Christiane Bolte-Costabiei, Anja Schümann Kra sses Zeug. Deutschlernen mit den Songs der Band ok.danke.tschüss
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ÜBERLEGUNGEN ZUR DIDAKTIK DES FREMDSPRACHLICHEN HÖRVERSTEHENS
Das Hören ist für Deutschlernende und -lehrende eine ›sperrige‹ Fertigkeit. Der erste Teil dieses Basisartikel s ist den mentalen Prozessen gewidmet, die beim erst- und fremdsprachlichen Hörverstehen ablaufen. Im zweiten Teil werden – nach einer kritischen Analyse der gängigen Vermittlungspraxis –didaktische Perspektiven entworfen, die verstärkt die Arbeit an der lautlichen Substanz von Hörmaterialien und die Nutzung authentischer Materialien fokussieren.
VON GUNTHER DIETZ
Schlagwörter: Hörverstehen, Didaktik des Hörverstehens, Dekodieren, Hör-Seh-Verstehen, authentische Materialien, Mikro-Hören, auditives Sprachverstehen
Obwohl Hören die im Alltag am häufigsten verwendete sprachliche Fertigkeit ist und Lernenden den primären Zugang zu einer Fremdsprache (Solmecke 2010, 969) gewährt, wurde das Hörverstehen von der Fremdsprachendidaktik – im Vergleich etwa zum Lesen oder Schreiben – erst relativ spät als eigenständige und eigens zu trainierende sprachliche Fertigkeit entdeckt. Lange Zeit wurde die Fähigkeit zum Hören in der Fremdsprache einfach vorausgesetzt und Hörmaterialien wurden vorwiegend eingesetzt, um Grammatik- oder Wortschatzvermittlung zu betreiben (Field 2008a, 1).
Mittlerweile hat die Vermittlung des Hörverstehens ihren festen Platz in den DaF- und DaZ-Curricula gefunden und es liegen zahlreiche Fachpublikationen und Unterrichtsmaterialien vor. Im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) wird der Kompetenzbereich der mündlichen Rezeption in mehreren Skalen beschrieben, die sowohl monologische als auch interaktionale Kommunikationsformen erfassen EINFÜHRUNG
(Europarat 2020, 57–64; 86–100). Im schulischen Kontext wird Hörverstehen in der Regel sowohl für den erstsprachlichen Deutschunterricht als auch für den DaZ-Unterricht im Kompetenzbereich ›Sprechen und Zuhören‹ verortet. Trotz dieser fachlichen und unterrichtspraktischen Etabliertheit erweist sich das fremdsprachliche Hören für Lehrende und Lernende noch immer als ›sperrige‹ Fertigkeit.
Aus der Perspektive der Lehrenden stellt sich Hören weitgehend als unsichtbare, wenig greifbare Fertigkeit dar: Weder die im Kopf ihrer Lernenden ablaufenden Prozesse noch das Hörverständnis als Resultat können unmittelbar beobachtet werden –im Gegensatz zu den sogenannten produktiven Fertigkeiten wie Schreiben oder Sprechen, bei denen am Ende immer ein sicht- oder hörbares ›Produkt‹ in Form eines geschriebenen Textes oder einer mündlichen Äußerung steht. Zudem haben sehr routiniert hörende erst- und zweitsprachige Lehrpersonen oft nur eine vage Vorstellung von den konkreten Herausforderungen, mit denen ihre Lernenden beim Entschlüsseln des Lautstroms konfrontiert sind (Cauldwell 2018, 21–24), gerade weil sie die vielen Unregelmäßigkeiten des Inputs der Zielsprache –wie etwa ›verschluckte‹ oder ›verschliffene‹ Laute (›des is‹ statt ›das ist‹)– automatisch ›zurechthören‹. Aus der Perspektive der Lernenden lassen sich die besonderen Herausforderungen des fremdsprachlichen Hörens am besten im Vergleich zum Lesen veranschaulichen. Lesende können sich auf einen stabilen Input in Form eines schriftlich vorliegenden Textes stützen. Hier sind Wort- und Satzgrenzen durch Leer- und Interpunktionszeichen optisch klar markiert. Der visuell-graphische Input bleibt weitgehend konstant. Als Lesende können sie den Lesefluss jederzeit unterbrechen, sich im Text vor- oder zurückbewegen und– wenn nötig –einzelne Textpassagen noch einmal lesen. Lesende haben also eine weitaus stärkere Kontrolle über die Gestaltung des Verstehensprozesses.
Hörende sind dagegen weitgehend der Flüchtigkeit des gesprochenen und äußerst variablen auditiven Inputs (vgl. Grotjahn 2005, 123) ausgesetzt, ja bisweilen ausgeliefert: Sie müssen in Echtzeit im Lautstrom einzelne Sequenzen als Wörter identifizieren. Erschwerend ist dabei, dass Wortgrenzen nicht systematisch markiert sind und die konkrete Aussprache einzelner Laute, Silben und Wörter sehr variabel ist, d. h. sie kann sich immens unterscheiden – von Sprechenden zu Sprechenden, von Text zu Text und sogar innerhalb derselben Äußerung derselben Sprechenden. Je nach Hörsituation bleibt auch keine Zeit, um Pausen einzulegen oder Rückfragen zum Gehörten zu stellen.
In diesem Basisartikel möchte ich im ersten Teil auf die mentalen Prozesse beim Hören in der Erstsprache eingehen, um sodann die besonderen Herausforderungen des fremdsprachlichen Hörens zu beschreiben. Im zweiten Teil skizziere ich zunächst problematische Aspekte der gängigen Vermittlungspraxis und stelle dann alternative Ansätze zur Didaktik des Hörverstehens vor.
HÖREN IN DER ERSTSPRACHE, HÖREN IN DER FREMDSPRACHE
Hören in der Erstsprache unterscheidet sich nicht grundlegend vom Hören in einer Zweit- oder Fremdsprache. In beiden Fällen finden dieselben Prozesse im Kopf statt. Allerdings zeigt sich, dass fremdsprachliches Hören im Vergleich zum erstsprachlichen Hören in vielen Fällen weniger routiniert und kommunikativ gesehen oft weniger erfolgreich verläuft – natürlich je nach Kompetenzstand der Lernenden. Im Folgenden sollen zunächst die mentalen Prozesse beim Hören in der Erstsprache skizziert werden, bevor ich auf die Herausforderungen beim fremdsprachlichen Hören eingehe.
Was passiert im Kopf? Mentale Prozesse beim Hörverstehen
In der Psycholinguistikbesteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sprachliches Verstehen aus einem Zusammenspiel von daten- und wissensgeleiteten Verarbeitungsprozessen heraus entsteht. → Datengeleitete Verarbeitung wird dabei oft auch als → Dekodieren oder metaphorisch als → Bottom-UpVerarbeitung bezeichnet, → wissensgeleitete Verarbeitung als → Top-Down-Verarbeitung.
Auf Hörverstehen bezogen umfasst die BottomUp-Verarbeitung im Wesentlichen die Wahrnehmung der akustischen Signale des Lautstroms und deren Umformung in sprachliche Information (Field 2008a, 127). Als akustische Signale werden dabei vor allem Laute und Lautsequenzen sowie Silbeninformationen genutzt, die– weitgehend automatisch –mit den Bedeutungseinheiten abgeglichen werden, die mit dem Wortspeicher im Kopf (im sog. ›mentalen Lexikon‹) der Hörenden abgespeichert sind. Dieser elementare Prozess der → Worterkennung wird dadurch unterstützt, dass Hörende Signale für Wortgrenzen nutzen. Zu diesen gehören für die jeweilige Sprache typische Konsonantenverbindungen am Silben- bzw. Wortanfang oder -ende. So ist im Deutschen zum Beispiel die Verbindung [ ʃp] wie in Sport ein verlässliches Signal für einen Wortanfang, weil im Deutschen kein Wort auf diese Konsonantenverbindung endet.
Schließlich müssen Hörende die im Lautstrom sukzessive ermittelten Wörter so lange im Arbeitsgedächtnis zwischenspeichern, bis sie sie in größere Einheiten integrieren und so die (grammatischsyntaktischen) Beziehungen zwischen den Wörtern und Wortgruppen ermitteln können. Dies wird als syntaktische Verarbeitung oder Parsing bezeichnet (Field 2019, 11).
Bei der wissensgeleiteten oder Top-Down-Verarbeitung greifen Hörende auf Wissensbestände zurück, die in ihrem Gedächtnis abgespeichert sind, und beziehen diese auf das Gehörte. Hörende nutzen also etwa ihr Wissen über den Kontext der gerade gehörten Lautsequenz (Kontextwissen), über die Situation, in der die Äußerung erfolgt (Situationswissen), über die Kommunikationsteilnehmenden (Sprecherwissen), über die Charakteristika des Gesprächstyps (Textsortenwissen), über das behandelte Thema (thematisches Wissen), über typische Handlungsabläufe (pragmatisches Wissen) und über sprachliche Regularitäten und Muster (Sprachwissen).
Er st durch die Verknüpfung des via Bottom-upVerarbeitung gewonnenen »Bildes« des gehörten Inputs mit unseren individuellen Wissensbeständen gelangen wir – im Ideal fall – zu einem bedeutungsvollen Verständnis des Gehörten. Dabei nutzen wir auch die Fähigkeit des Inferierens, das heißt, dass wir auch nicht-wörtlich Ausgedrücktes wie Ironie, Einstellungen von Sprechenden etc. durch logische Schlüsse oder den Abgleich mit dem Wissen über die Sprechsituation und den Kontext er schließen.
Dieses Zusammenspiel von daten- und wissensgeleiteten Verarbeitungsprozessen erfolgt nicht sukzessive, sondern gleichzeitig. Das heißt, Hörende »warten« in der Regel nicht, bis sie datengeleitet zu einem (vorläufigen) Verstehensprodukt kommen, auf das sie dann ihr thematisches, kulturelles u. a. Wissen a nwenden, sondern sie initiieren Top-Down-Prozesse zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Verstehensprozesses, oft sogar schon vor dem Hören, und beeinflussen dadurch auch die BottomUp-Verarbeitung. Wenn wir beispielsweise wissen, dass es in einem Hörtext thematisch um Computer gehen wird, sind wir eher bereit, die gehörte Lautfolge [maʊs] als Eingabegerät zu deuten und nicht etwa als Nagetier.
Hörverstehen in der Erstsprache erfolgt in der Regel unbewusst und automatisch. Insbesondere dadurch, dass bei erstsprachigen Hörenden die datengeleiteten Prozesse der Worterkennung und der syntaktischen Analyse mühelos, schnell und routiniert verlaufen, verbleiben ihnen ausreichend
Verarbeitungskapazitäten, um Top-Down-Prozesse zu aktivieren.
Herausforderungen des fremdsprachlichen Hörens Fremdsprachliche Hörende sind mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert, die – in Abhängigkeit vom erreichten Kompetenzniveau – ein gelingendes Hören oft erschweren. Im Folgenden werden einige in der Fachliteratur angeführte Handicaps skizziert (Tab. 1).
FREMDSPRACHIGE LERNENDE MÖGLICHE KONSEQUE NZEN
… treffen auf unbekannte Wörter im Lautstrom (fehlendes Vokabular). → Der Verstehensprozess wird gestört. … erkennen Wörter, die sie eigentlich kennen, nicht in ihrer Lautform (fehlendes → Hörvokabular).
… können die lautliche Information nicht ausreichend genau wahrnehmen, oft weil ihre Wahrnehmung von Hörgewohnheiten ihrer Erstsprache geprägt ist.
… überhören oft Signale für Wortanfänge und -enden von Wörtern (Segmentierung des Lautstroms).
… können noch nicht routiniert syntaktische Erwartungen ausbilden.
… halten an (falschen) Verstehenshypothesen fest.
→
→ Wörter werden nicht korrekt erkannt, verwechselt, die Verarbeitungszeit verlängert sich.
… überhören oft akustisch unauffällige Funktionswörter und Endungen. → … können ihr Weltwissen (v. a. kulturspezifisches Wissen) nicht so effizient einsetzen wie in ihrer Erstsprache.
Ein genaues Verständnis der inhaltlichen Zusammenhänge bleibt aus.
→ Pragmatische Fehleinschätzungen und Missverständnisse
Tab. 1: Übersicht über Herausforderungen des fremdsp rachlichen Hörens
y Je nach Sta nd ihres Wortschatzes stoßen fremdsprachige Hörende immer wieder auf Lautketten, denen sie keinen Eintrag in ihrem mentalen Lexikon zuordnen können – einfac h, weil er nicht vorhanden ist. Fehlendes Vokabular führt in der Regel zu einer gravierenden Störung des Verstehensprozesses und zu Verständnislücken (Cutler 2012, 312).
y Doch selbst wenn ein Eintrag für ein gehörtes Wort im Wortspeicher vorhanden ist, gelingt es fremdsprachigen Hörenden oft nicht, die lautliche Information des fremdsprachlichen Inputs hinreichend genau zu analysieren, um auf den Eintrag zuzugreifen. Ein ›an sich‹, das heißt in seiner Schriftform bekanntes Wort, wird im Lautstrom schlichtweg nicht erkannt. Grotjahn
spricht hier von »unzureichend ausgebildetem Hörvokabular« (2005, 122).
y Eine der Hauptursachen für diese Schwierigkeit liegt darin, dass fremdsprachige Hörende –insbesondere in den frühen Phasen des Spracherwerbs – oft noch n icht in der Lage sind, die für die Zielsprache relevanten lautlichen Informationen wahrzunehmen. So können etwa Lernende, in deren Erstsprache die Länge von Vokalen nicht bedeutungsunterscheidend ist, oft keinen Unterschied zwischen gesprochenem bitte und biete ausmachen. Gerade der Bereich der fremdsprachlichen Phonemerkennung ist besonders anfällig für die Übertragung von erstsprachlichen Hörgewohnheiten auf den gehörten zielsprachlichen Input (Weber / Broersma 2018, 61–62).
y Fremdsprachigen Hörenden fällt es weiterhin schwer, Signale für Wortgrenzen zu erkennen, oder sie wenden Grenzsignale, die für die eigene Erstsprache gelten, auf den gehörten fremdsprachlichen Input an (Weber / Broersma 2018, 64–67). Beispielsweise können englischsprachige DaF-Lernende ein Wort wie Kreislauf nicht so klar in Kreis und Lauf trennen, weil im Englischen Silben (und damit Wörter) auch mit [sl] beginnen (slow) können, im Deutschen dagegen können [s] und [l] nur an einer Silben- bzw. Wortgrenze und nicht im Wortanlaut stehen.
y Noch instabiles oder fehlendes grammatisches Wissen führt potenziell zu Verzögerungen oder Störungen der syntaktischen Verarbeitung. So können syntaktische Erwartungen, die bei Hörenden in ihrer Erstsprache weitgehend automatisiert ausgebildet und durch den weiter eintreffenden Input bestätigt oder revidiert werden, ausbleiben oder nicht (schnell) genug korrigiert werden. So muss etwa die Interpretation des Äußerungsanfangs [ma ɪ n f ʁɔɪ nt k ɔmt ʔʋm d ʁɑɪ] (›Mein Freund kommt um drei‹) als Information über den Zeitpunkt des Eintreffens (›um drei Uhr‹) sofort revidiert werden, wenn die Fortsetzung ›Bücher abzuholen‹ lautet. Studien zeigen, dass wenig routiniert Hörende an einer Interpretation festhalten, auch wenn diese mit dem nachfolgenden Input nicht kompatibel ist (Field 2008b, 48).
y Eine besondere Herausforderung bei der syntaktischen Analyse stellt auch das Wahrnehmen von → Funktionswörtern (also Artikelwörter, Pronomen, Präpositionen, Konjunktionen) und Flexionsendungen dar, die den Hörenden wichtige Informationen liefern, in welchen Beziehungen die im Text vorkommenden Inhaltswörter
zueinanderstehen. Gerade im Deutschen können Funktionswörter und Endungen jedoch leicht überhört werden, weil sie akustisch vergleichsweise unauffällig, d. h. unbetont sind (z. B. in so ein s chöner Tag die Artikelform ein und die Flexionsendung -er) oder gar »verschluckt« werden (z. B. bei sog. Verschleifungen wie nen statt einen) (Field 2008a, 146).
y Schließlich kann auch lückenhaftes oder fehlendes außersprachliches Wissen (›Weltwissen‹, ›kulturspezifisches Wissen‹) dazu führen, dass fremdsprachige Hörende kein angemessenes Verständnis des Gehörten erlangen. So ergibt sich ein Bild des fremdsprachlichen Hörverstehens, das insgesamt geprägt ist von unterschiedlichen Erschwernissen gegenüber dem Hören in der Erstsprache. Damit soll nicht behauptet werden, dass diese für alle Lernenden in gleicher Weise gelten oder dass sie nicht im Laufe des Spracherwerbsprozesses überwunden werden können. Für die Sprachvermittlung ist es jedoch sehr wichtig, dass Lehrpersonen eine möglichst genaue Vorstellung davon haben, welche Prozesse beim fremdsprachlichen Hörverstehen ablaufen und wo mit Problemen zu rechnen ist.
Die Handicaps fremdsprachlichen Hörens betreffen sowohl die Teilprozesse des Dekodierens als auch den Rückgriff auf Vor- und Weltwissen, allerdings nicht zu gleichen Anteilen: Es steht zwar außer Frage, dass fehlendes Vorwissen zu einem eingeschränkten Hörverständnis führen kann, aber als wesentlich gravierender wird von den meisten Autorinnen und Autoren die unzureichende Dekodierung des Gehörten angesehen. Denn Probleme beim Dekodieren können nur in Ausnahmefällen einfach durch Rückgriff auf Wissenskomponenten ausgeglichen werden (Rossa 2012, 39). Für die fremdsprachliche Hörverstehensdidaktik kann somit der Schluss gezogen werden, dass den datengeleiteten Prozessen (Lautwahrnehmung, Worterkennung u. a.) eine w ichtigere Rolle als bislang zukommen sollte und demzufolge verstärkt auch Trainingsformate zum Einsatz kommen sollten, die die Lernenden beim Dekodieren des auditiven fremdsprachlichen Inputs unterstützen.
ZUR METHODIK UND DIDAKTIK DES FREMDSPRACHLICHEN HÖRVERSTEHENS
Zur groben Orientierung, welche Themenfelder in der bisherigen Literatur zur Methodik und Didaktik des Hörverstehens thematisiert wurden, seien hier stichwortartig einige genannt:
y die Differenzierung der Höraktivitäten nach Hörerrollen (Gesprächsbeteiligte, Zuhörende,
Mithörende), Hörstilen / -absichten (globales vs. detailliertes vs. selektives Hören) und Hörtextsorten (dialogische vs. monologische Hörtexte)
y die Frage, wie Hörverstehen – informell und formell – getestet werden kann und sollte und welche Schwierigkeitsfaktoren dabei berücksichtigt werden müssen (Grotjahn 2005; Field 2019)
y Kompetenzstufenbeschreibungen für das Hörund → Hör-Seh-Verstehen im GeR (Europarat 2020) bzw. für Zuhören in den Bildungsstandards (Kultusministerkonferenz 2004)
y die Nutzung digitaler Tools und Technologien für die Hörverstehensvermittlung, z. B. Smartphones, Hörstifte (→ Festman / Gerth / Reiter, S. 21)
y das Instrumentarium an einschlägigen Aufgaben- und Übungsformaten (Honnef-Becker / Kühn 2019, 178–188) (s. u.)
y die Auswa hl des geeigneten Materials (von didaktisiert bis authentisch) für das Hör-(Seh-)Verstehenstraining (s. u.)
y die Frage, in welchem Verhältnis Hörverstehen und Hör-Seh-Verstehen stehen (s. u.)
Im Folgenden gehe ich zunächst auf einige Schwachstellen der traditionellen Hörverstehensvermittlung ein und skizziere darauf aufbauend Entwicklungslinien, die möglicherweise für die zukünftige Gestaltung der Hörverstehensvermittlung eine Rolle spielen: das Konzept des Mikro-Hörens, die Nutzung authentischer Materialien und die Chancen des HörSeh-Verstehens.
Die traditionelle Hörverstehenspraxis und ihre Schwachpunkte
Das seit Jahrzehnten praktizierte methodische Vorgehen in der Hörverstehensvermittlung untergliedert die Arbeit an einem Hörtext bekanntlich in drei Phasen: vor, während und nach dem Hören (Honnef-Becker / Kühn 2019, 178–188).
y Die Vor-dem-Hören-Phase dient dazu, die Lernenden mit der Kommunikationssituation vertraut zu machen, in die der Hörtext eingebettet ist, und ihr Vorwissen zu aktivieren. Lernende werden ermutigt, Hypothesen zum nachfolgenden Hörtext zu bilden. Dabei findet häufig eine mehr oder weniger umfangreiche Wortschatzvorentlastung statt.
y In der Während-des-Hörens-Phase, bei der der Hörtext meist zwei Mal auditiv präsentiert wird, sollen die Hörenden in der Regel ›Fragen zum Text‹ beantworten.
y In der Nach- dem-Hören-Phase werden die Antworten im Kurs besprochen, oft auch unter Heranziehung des → Transkripts, mit dessen Hilfe etwa Wortschatz oder grammatische Strukturen
thematisiert werden. Daran können sich weitere mündliche oder schriftliche Aktivitäten (Rollenspiele, Textproduktion etc.) anschließen. An dieser Praxis, genauer an der Ausgestaltung dieser Phasen, ist in den letzten 15 Jahren zunehmend Kritik geäußert worden (Dietz 2021a, 2021b).
Namentlich der britische Psycholinguist und Hörverstehensdidaktiker John Field kritisiert an diesem von ihm als »Verstehensansatz« bezeichneten Verfahren, dass dieses zu sehr auf das Überprüfen des Textverständnisses abzielt und die zum Tragen kommenden Verstehensprozesse zu wenig berücksichtigt (Field 2008a, 26–31). Das größte Manko des Verstehensansatzes dürfte darin bestehen, dass durch die Fokussierung auf das inhaltliche (detaillierte, selektive oder globale) Verstehen des Textes die lautlich-akustische Qualität des Textes mit seinen jeweiligen lautlichen und intonatorischen Besonderheiten ignoriert wird. Die Lernenden müssen die in der Während-Phase de facto erfolgende intensive Arbeit an der lautlichen Substanz weitgehend auf sich gestellt bewältigen. Die Fähigkeit zu dekodieren wird bei den Hörenden augenscheinlich vorausgesetzt, jedenfalls in der Regel nicht zum Gegenstand didaktischer Bemühungen gemacht. Das heißt, es findet meist kein Training von Bottomup-Prozessen statt – wie Übungen zur Lautwahrnehmung, Worterkennung, Erkennung von Wortgrenzsignalen, syntaktische Analyse. Stattdessen sind als didaktische Maßnahmen fast ausschließlich Top-Down-Strategien vorgesehen, und zwar nicht nur zur Vorwissens-Aktivierung, sondern auch in der Während-Phase, wenn für möglicherweise auftretende Dekodierprobleme die Berücksichtigung des Kontexts empfohlen wird. Kontextuelles Raten ist jedoch nur dann möglich, wenn die Hörenden alles, was bis dahin gesagt wurde, hinreichend präzise dekodieren können, aber eben das kann nicht vorausgesetzt werden (siehe oben). Field (2019, 23) hält das Training von Ratestrategien erst ab etwa dem B2-Niveau für sinnvoll.
Dass sich der Verstehensansatz (zu) stark an der Lesedidaktik orientiert, zeigt sich auch darin, dass für das Hörverstehenstraining häufig nach wie vor schriftsprachliche Texte verwendet werden. Diese werden zwar mehr oder weniger ›hörerfreundlich‹ bearbeitet, führen aber tendenziell zu künstlichen Hörerfahrungen.
Vor dem Hintergrund dieser Kritik an der gängigen Vermittlungspraxis sollen im Folgenden einige neuere Ansätze vorgestellt werden, die möglicherweise zu einer Neujustierung der Vermittlung des Hörverstehens führen.
Jenseits von »Fragen zum Text«. Mikro-Hören als Arbeit an der lautlichen Substanz
Als Konsequenz aus den oben dargestellten psycholinguistischen Befunden zum fremdsprachlichen Hören und den Schwachstellen des Verstehensansatzes wird seit geraumer Zeit von zahlreichen Forschenden gefordert, verstärkt Prozesse des Dekodierens zu trainieren (Grotjahn 2005, 117; 2012; Rossa 2012). Dadurch sollen die Lernenden unabhängiger vom Rückgriff auf textexterne (TopDown-)Informationen gemacht werden. Ein vielversprechender Ansatz hierfür ist das sogenannte »micro-listening« (Field 2008a, 88), das Field im Englisch-als-Fremdsprache-Kontext als Trainingsformat vorgeschlagen hat. Hierzu hat er etwa 70 → Mikro-Hörübungen skizziert, die verschiedene Teilprozesse des Dekodierens fokussieren – von der L aut- und Silbenwahrnehmung über die Wortund Äußerungsebene hin zur Ebene der Intonation und der Gewöhnung an Sprechervariation (Field 2008a, 163–208).
Was ist mit ›Mikro-Hören‹ gemeint? Das Merkmal ›Mikro‹ bezieht sich auf eine kleinschrittige Vorgehensweise, bei der zum Teil sehr kurze Passagen von oft nur wenigen Sekunden des Hörmaterials mehrfach auditiv präsentiert und möglichst unmittelbar in der Unterrichtssituation reflektiert werden. Ausschlaggebend ist dabei, dass das zu übende Phänomen wiederholt im Hörmaterial vorkommt und so der Aufmerksamkeitsfokus auf eine bestimmte Komponente des Hörprozesses (z. B. Worterkennung) bzw. ein auditiv relevantes Phänomen gelegt wird. Beispiele sind etwa verschliffene Formen wie hamma (für haben wir) oder die Realisierung von Pausen oder von Intonationsverläufen. Dadurch werden Lernende angehalten, ihre Aufmerksamkeit auf die lautliche Substanz des Gehörten zu lenken. Durch diese Fokussierung und durch die Möglichkeit, MiniSequenzen wiederholt anzuhören wird die Komplexität der fremdsprachlichen Hörverstehensprozesse reduziert und dadurch das Selbstvertrauen der Lernenden in die eigene Hörkompetenz gestärkt. Mikro-Hörübungen können durchaus im Rahmen des gängigen Drei-Phasen-Modells in allen drei
Phasen zum Einsatz kommen und so einige der Schwächen des Verstehensansatzes ausgleichen. Sie können aber auch unabhängig von der Arbeit mit längeren Hörtexten als eigenständiges Trainingsprogramm durchgeführt werden, so dass über einen längeren Zeitraum hinweg systematisch unterschiedliche Aspekte des Dekodierens geübt werden. Während für das Englische zahlreiche praktische Umsetzungen des Mikro-Hören-Ansatzes vorliegen (z. B. Thorn 2013; Hancock / McDonald 2014), existieren für den DaF-Bereich bislang noch wenige konkrete Vorschläge (Dietz 2021b; Kruse 2022). In diesem Heft wird in den Beiträgen von Anika Meyer sowie Julia Festman, Sabrina Gerth, Christine Reiter und von Gunther Dietz exemplarisch aufgezeigt, wie Mikro-Hörübungen gestaltet und im Unterricht genutzt werden können: Anika Meyer präsentiert eine Unterrichtssequenz zu einem authentischen Alltagsgespräch, in der u. a. Phänomene spontan gesprochener Sprache (wie Wortverschleifungen, Modalverben ohne Infinitiv) mit Mikro-Hörübungen bewusstgemacht werden (S. 30–35). Julia Festman, Sabrina Gerth und Christine Reiter entwickeln eine Übungstypologie für Hörübungen im Primarbereich, in der auch Mikro-Hörübungen einen festen Platz haben (S. 21–29). Gunther Dietz stellt exemplarische Mikro-Hörübungen zu kurzen monologischen und dialogischen Hörtexten der Seite Audio-Lingua vor, die schon im Anfängerbereich verwendbar sind (S. 36–40).
Plädoyer für authentische Hör-Seh-Materialien
Die Frage, ob authentische Hör-Seh-Materialien für die fremdsprachliche Hörverstehensvermittlung sinnvoll sind – und wenn ja, welches Material für welche Vermittlungssituation – wird in der Fremdsprachendidaktik seit vielen Jahren diskutiert. Als authentisch werden dabei in der Regel Texte bezeichnet, die nicht eigens für didaktische Zwecke produziert wurden, sondern Ausschnitte aus der kommunikativen Lebenswelt einer Sprachgemeinschaft repräsentieren (Dietz 2022, 21).
Ohne hier im Detail auf die Diskussion um die Vor- und Nachteile der Nutzung authentischer Hörmaterialien eingehen zu können, gibt es jedoch einige gute Gründe, Lernende – neben und zusätzlich zu didaktisierten Hörmaterialen – mit ›echten‹ Gesprächsereignissen zu konfrontieren (vgl. Dietz 2021a, 72; Honnef-Becker / Kühn 2019, 177). So bieten authentische Hörmaterialien im Vergleich zu didaktisierten einen reichhaltigeren sprachlichen Input und damit potenziell mehr Gelegenheiten für Lernende, sich über Merkmale gesprochener Sprache bewusst zu werden. Insbesondere spontansprach-
liche Gespräche sind aufgrund ihrer typischen Merkmale wie Mehrfachnennung von Information, Abbrüche und Pausengestaltung oft sogar einfacher zu verarbeiten als Dialoge in Lehrmaterialien. Letztere basieren nämlich meist auf einer schriftlichen Vorlage und sind dadurch lexikalisch dichter und weisen weniger Redundanzen auf (Brown 2011, 136–137). Authentische Hör-Seh-Materialien bieten Lernenden weiterhin Gelegenheit, regionalen oder soziolektalen Varietäten des Deutschen zu begegnen – und zwar i n weitaus stärkerem Maße als dies die Hörmaterialien der gängigen Lehrwerke ermöglichen, die meist einer überregionalen Aussprachenorm verpflichtet sind. Dabei kann es nicht Ziel sein, DaF-Lernende zu Expertinnen und Experten für einzelne oder gar mehrere Dialekte zu machen. Jedoch sollte bei Lernenden ein Bewusstsein hinsichtlich der Vielfalt der Aussprachenormen im deutschsprachigen Raum angebahnt werden.
Die Arbeit mit authentischen Hör-Seh-Materialien kann also im Idealfall dazu beitragen, den notorischen »Realitätsschock« abzumildern, über den DaF-Lernende immer wieder berichten, die nach langjährigem Deutschunterricht in ihrem Heimatland irgendwann auf ›echte‹ Sprechende in einem der deutschsprachigen Länder treffen oder die eine starke Diskrepanz zwischen dem unterrichtlichen Deutsch und dem auf YouTube gehörten feststellen.
In diesem Heft finden sich Didaktisierungen zu authentischen Hörmaterialien der gesprochenen Alltagssprache (Susanne Horstmann, Anika Meyer und Gunther Dietz), aber auch der Wissenschaftssprache (Martin Wichmann / Juliane Michelini) sowie zu Radionachrichten (Dóra Pantó-Naszályi) und Popsongs (Christiane Bolte-Costabiei / Anja Schümann). Susanne Horstmann entwirft eine Unterrichtssequenz (ab B1.2-Niveau) zu einem Streitgespräch zwischen zwei Freundinnen (S. 11–20). In Anika Meyers Beitrag (für das B1-Niveau) steht ein Gespräch unter Familienmitgliedern über die gemeinsame Nachmittagsplanung im Fokus. Im Beitrag von Gunther Dietz zum Mikro-Hören werden kurze Vorstellungstexte der Plattform Audio-Lingua für Mikro-Hörübungen genutzt (ab A1). Demgegenüber steht bei Martin Wichmann und Juliane Michelini die Arbeit mit authentischen Vorlesungen im Rahmen eines studienbegleitenden Projekts zur gesprochenen Wissenschaftssprache (ab C1-Niveau) im Zentrum (S. 41–48).
Dóra Pantó-Naszályi stellt Hör-Seh-Aktivitäten für DaF-Lernende (ab Niveau B1) unter Verwendung des Spielfilms »Good Bye, Lenin!« vor (S. 49–53). Christiane Bolte-Costabiei und Anja Schümann widmen sich deutschsprachigen Popsongs der Band ok.danke. tschüss, die im Rahmen eines Projekts des Goethe-
Instituts und der Deutschen Welle entstanden sind und didaktisiert wurden (S. 54–60).
Eine Übersicht über Quellen authentischer Materialien, darunter auch Korpora gesprochener Sprache, finden Sie auf S. 63.
»Das Auge hört mit«: Chancen des Hör-Seh-Verstehens In den letzten zwei Jahrzehnten hat das Hör-SehVerstehen, also die um die visuelle Komponente erweiterte auditive Rezeption, in der Fremdsprachendidaktik an Relevanz gewonnen. So wurde der Kompetenzbereich des »audio-visuellen Verstehens« sowohl in die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (vgl. Porsch / Grotjahn / Tesch 2010, 157–160) als auch in den GeR mit einer eigenen Skala aufgenommen (Europarat 2020, 64).
Für den Einsatz audiovisueller Materialien in der DaF- und DaZ-Unterrichtspraxis spricht, dass HörSeh-Verstehen im Allgemeinen natürlicher ist als das reine Hörverstehen. Während Situationen rein auditiven Verstehens – Telefonate, Lautsprecherdurchsagen, Radio-Sendungen, Podcasts, Hörbücher, Hörspiele – im kommunikativen Alltag vergleichsweise selten vorkommen, kann die visuelle Komponente in der Mehrzahl mündlicher Kommunikationssituationen – z. B. als Gesprächsteilnehmende, als Schulkind in einer Unterrichtsstunde, als Zuhörende in einem Live-Vortrag oder als Rezipierende eines YouTube -Videos – immer beim Verstehen mitgenutzt werden. Mimik, Gestik, Körperhaltung der Sprechenden, Lippenbewegungen, aber auch die bildhafte Präsentation der Kommunikationssituation und der in ihr stattfindenden kommunikativen Handlungen – all diese visuellen Informationen können die auditiven Verstehensprozesse unterstützen, etwa dadurch, dass die bildliche Information einen Verstehensabbruch verhindert, wenn Hörende einzelne Wörter nicht (er)kennen.
Allerdings hat die Forschung auch gezeigt, dass visueller Input das Verstehen nur dann erleichtert, wenn er den auditiven Input »in sinnvoller Weise ergänzt« (Porsch et al. 2010, 181). Damit wird auf die Problematik verwiesen, dass (1) Videos und Bilder auch vom Hörtext ablenken können, (2) die Bilder von fremdsprachigen Lernenden anders gedeutet werden als intendiert und so zu (falschen) Erwartungen führen können (ebd. 150), und (3) »visuelle Hilfen von den Zuschauern nicht oder ungenügend wahrgenommen« (ebd.) werden können.
Die vorliegenden Untersuchungen zum HörSeh-Verstehen legen nahe, dass es sich beim fremdsprachlichen Hör-Seh-Verstehen nicht nur um ein visuell angereichertes Hörverstehen handelt, sondern um eine eigenständige Verstehens-Kompetenz.
Für die fremdsprachliche Vermittlungspraxis erscheint es daher wichtig, die visuelle Komponente stärker als bisher als bedeutungstransportierende Komponente (Quetz 2021, 177) zu berücksichtigen. Dabei müssten sowohl die bild- und filmtechnischen Gestaltungsmittel als solche erfasst als auch ihre Wechselwirkung mit der auditiven Komponente näher beleuchtet werden.
Eine instruktive didaktische Aufbereitung von Vorlesungs-Videos für internationale Studierende bieten Ide / Möhring (2019). Didaktische Vorschläge zum Hör-Seh-Verstehen finden sich in diesem Themen heft im Beitrag von Dóra Pantó-Naszályi zu Spielfilmen und Nachrichten sowie bei Christiane Bolte-Costabiei und Anja Schümann zu Videoclips von Popsongs.
Mit diesem Einführungsartikel habe ich zu verdeutlichen versucht, dass fremdsprachliches Hören ein hochkomplexer und aktiver Vorgang ist, der sowohl für die Lernenden als auch die Lehrenden zahlreiche Herausforderungen mit sich bringt. Um diese elementare kommunikative Fertigkeit wirksam zu fördern, bedarf es – so meine Ü berzeugung –Übung s- und Aufgabenformate, die stärker als bisher auch die lautlichen bzw. auditiv-visuellen Merkmale von Hör-(Seh-)Materialien in den Blick nehmen, wobei die Arbeit mit spontansprachlich-authentischen Materialien besonders lohnenswert erscheint. Natürlich sind weder Mikro-Hörübungen noch die Nutzung authentischer Materialien didaktische »Wundermittel«, aber sie sind geeignet, die etwas einseitige Ausrichtung der gängigen Hörverstehensdidaktik auf eine rein inhaltliche Erschließung von Gehörtem auszugleichen und sinnvoll zu ergänzen.
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