MARKT Leseprobe 1.16

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01.16 Heft

Ausgabe 61 24. Jahrgang 2016 www.MARKTdigital.de

MARKT Deutsch für den Beruf – Materialien aus der Presse ab B2

Marketing

Arbeitswelt Management Medien

Aus- und Weiterbildung Sprache

Informationstechnologie

Geld und Kapital Internet Karriere Messen

Wirtschaftspolitik

Schlüsselqualifikationen


Impressum / Editorial

MARKT Deutsch für den Beruf — Materialien aus der Presse 24. Jahrgang 2016 Erscheinungsweise: dreimal jährlich (April, Juli, November) in Printform und als eJournal www.MARKTdigital.de Herausgegeben vom

Redaktion: Dr. Bernd Schneider, Dr. Barbara Gerken Goethe-Institut e.V. Bereich 42 Bildungskooperation Deutsch Dachauer Str. 122 80637 München E-Mail: bernd.schneider@goethe.de Verlag: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG Genthiner Straße 30 G, 10785 Berlin Telefon (0 30) 25 00 85-0, Telefax (0 30) 25 00 85-305 E-Mail: ESV@ESVmedien.de, Internet: www.ESV.info Vertrieb: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG Genthiner Straße 30 G, 10785 Berlin Postfach 30 42 40, 10724 Berlin Telefon (0 30) 25 00 85-223, Telefax (0 30) 25 00 85-275 E-Mail: Abo-Vertrieb@ESVmedien.de Konto: Berliner Bank AG, Kto.-Nr. 512 203 101, BLZ 100 708 48 IBAN: DE 31 1007 0848 0512 2031 01 BIC(SWIFT): DEUTDEDB110 Bezugsbedingungen: Jahresabonnementpreis Printausgabe u 23,70, Einzelbezug Printausgabe u 10,00. Jahresabonnementpreis eJournal u 24,24, Einzelbezug eJournal u 10,00. Alle Preise jeweils einschl. Mehrwertsteuer und zzgl. Versandkosten. Die Bezugsgebühr wird jährlich im Voraus erhoben. Abbestellungen sind mit einer Frist von 2 Monaten zum 1. 1. j. J. möglich. Rechtliche Hinweise: Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. – Die Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift geben ausschließlich die Meinung der Verfasser wieder. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Zeitschrift berechtigt auch ohne Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Markenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Nutzung von Rezensionstexten: Es gelten die Regeln des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. zur Verwendung von Buchrezensionen. http://agb.ESV.info Zitierweise: MARKT Jahr, Seite ISSN Print: 2195-0318 ISSN eJournal: 2195-0326

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Liebe Leserinnen und Leser, herzlich Willkommen in MARKT 61. In Jubiläumsausgabe 60 gab es ein Kreuzworträtsel zu lösen. Auf die, die ihre Lösungen an uns geschickt haben, haben bis zu diesem Heft tolle Gewinne gewartet. Sehr viele haben sich beteiligt und wir waren sehr beeindruckt von der Zahl der Leserinnen und Leser, die mitgemacht haben, und von der Zahl der richtigen Einsendungen. Die Gewinnerinnen und Gewinner der ersten vier Preise stehen unten auf dieser Seite. Wir möchten allen Leserinnen und Lesern wieder äußerst interessante Texte zu Beruf, Karriere, Management, Marketing, Medien, Geld und Kapital … aus den verschiedensten deutschen Zeitungen und Zeitschriften anbieten und zu interessanten Diskussionen auffordern. Mit MARKT 61 möchte ich mich gleichzeitig von allen Leserinnen und Lesern von MARKT aus der Redaktion verabschieden und mich ganz herzlich beim Verlag in Persona von Lena Posingies sowie bei meiner sehr zuverlässigen und äußerst kompetenten Mitredakteurin, Dr. Barbara Gerken, für die tolle Zusammenarbeit und Unterstützung bedanken. Ab MARKT 62 übernimmt Beate Widlok von Seiten des Goethe-Instituts einen Teil meiner bisherigen Aufgaben. Für MARKT wünsche ich ihr ein gutes Händchen bei der Textauswahl und natürlich auch viel Erfolg. Mich führt mein weiterer Weg nach Belgrad, aber ich werde MARKT auf jeden Fall als Leser erhalten bleiben. Wie immer viel Freude beim Lesen und Diskutieren Ihr Dr. Bernd Schneider, Goethe-Institut e.V. München P. S. MARKT gibt es auch online unter www.MARKTdigital.de: Das ganze Heft, Artikel als Download, Suchfunktionen und Artikelregister sowie unser MARKT-Lexikon. Gewinner des Jubiläumskreuzworträtsels: 1. Preis (Sprachkurs) Yuan Tingting Shaanxi, China

2.–4. Preis (ESV-Kaffeebecher) Alexander Bejarano Hincapié, Bogotá, Kolumbien Nikola Sijak, Serbia Qiang GUO, Beijing, China

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Mit der Hauptgewinnerin/dem Hauptgewinner nehmen wir in den nächsten Tagen Kontakt auf.

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Inhalt

MARKT Deutsch für den Beruf – Materialien aus der Presse

Unternehmen & Management Die Chefsache 3 Porsche plant Elektroauto 7 Arbeitswelt „Manchmal werden Mitarbeiter ins Ausland entsorgt“ 8 Droht in Zukunft Massenarbeitslosigkeit? 9 Wo geht´s hier nach Bitzfeld-Bretzfeld? 11 Mehr als Paletten stapeln – Lagerlogistiker brauchen Köpfchen 13 Gesellschaft Arbeitsmarkt: Zum Nichtstun verdammt 14 Bis die Achse bricht 17 Aus- & Weiterbildung Die Schule probt den digitalen Hochsprung 20 Zeit für digitale Medien in der Schule 22

Kommunikation & Neue Medien Alle mal herhören: So weckt die Stimme im Job Aufmerksamkeit 23 Wie Facebook Sie durchleuchtet 24 Die Wolke macht´s möglich 26 Von A – Z: Das Berufsleben 28 Marketing Fährt die Jugend wirklich nicht mehr auf Autos ab? 30 Werbung für Deutsch-Türken: Jung, markenbewusst, kauffreudig 32 Geld & Kapital Studie: Menschen würden bei Finanzengpass beim Ausgehen sparen 33 Die Vermögensfrage: Welche Risikoklasse soll es sein? 34 Die letzte Seite Pseudo-Englisch: Wehe, wenn der Beefträger kommt 36 Impressum / Editorial 2

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Gesellschaft

Arbeitsmarkt

Zum Nichtstun verdammt Die deutsche Wirtschaft sieht im Zustrom der Flüchtlinge eine Chance für Wachstum und Wohlstand – wenn bürokratische Hemmnisse abgebaut werden.

Wir und die anderen: Die deutsche Bevölkerung schrumpft, Fachkräfte werden rar. Eine schnellere Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt könnte Abhilfe schaffen, sie würde zudem die Sozialkassen entlasten. Said Haschimi schwitzt. Gut zwei Stunden lang hat er das Lager neben dem Büro neu sortiert, Metallschränke aufgebaut, Kisten ein- und wieder ausgeräumt. Seit knapp einem Jahr macht der 18-Jährige aus Afghanistan eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker bei Heizung-Obermeier, einem Heizungsbaubetrieb mitten in Münchens Altstadt. Die Arbeit werde nie langweilig, sagt er, „ich mag die Kollegen und bin oft auf dem Bau unterwegs“. Er hatte einen langen Weg zur Arbeit. Said Haschimi ist das älteste von vier Kindern. Der Vater starb im Krieg. Als Said 15 Jahre alt war, floh er aus Dschalalabad. Fünf Monate dauerte seine Reise vom Nordosten Afghanistans nach München. Von Kabul flog er nach Teheran, schlug sich weiter durch, zu Fuß und mit Bussen, von der Türkei nach Griechenland, über Italien nach Deutschland. Mal in der Gruppe, mal allein. Über 6 000 Kilometer. Ohne seine Familie. Als er in München angekommen war, betreute ihn die Jugendhilfe. Am Anfang war es schwer, sich als Fremder zurechtzufinden. „Ich konnte niemanden verstehen“, sagt Haschimi. Inzwischen spricht er fast fließend Deutsch. Seinen Hauptschulabschluss absolvierte er mit der Note 1,3. Dann machte er ein Praktikum als Autolackierer – ein weiteres bei Heizung-Obermeier. Dort bekam er vergangenes Jahr seine Chance. „Wenn er möchte, kann er auch seinen Meister bei uns machen“, sagt Geschäftsführer Olaf Zimmermann. Vor zwei Jahren merkte Zimmermann, dass es noch schwieriger geworden war, Fachkräfte zu finden. Schon damals beschäftigte er Menschen aus fremden Ländern. „Wir haben schon ganz Europa hier gehabt. Alle Hautfarben sind erlaubt“, sagt 14

Zimmermann, „die Arbeit steht im Vordergrund, alles andere interessiert nicht.“ Derzeit beschäftigt Zimmermann zwei Flüchtlinge. Probleme hat er nur mit der Bürokratie. Er weiß nicht, ob Haschimi auch nach seiner Lehre noch in Deutschland bleiben darf. Said Haschimi ist eines von Tausenden Kindern, die Jahr für Jahr in Deutschland stranden, oft wurden sie von ihren Eltern losgeschickt, in der Hoffnung auf ein sicheres Leben und gute Bildung. Auf Zukunft. Nach Schätzungen waren es 2013 über 5 000, über 10 000 im vergangenen Jahr. Ihre Zahl steigt ebenso wie die der Asylbewerber und Flüchtlinge insgesamt. Für dieses Jahr rechnet die Bundesregierung mit bis zu 800 000 Asylbewerbern. Der Strom der Fremden stellt die Gesellschaft vor immense Herausforderungen. Viele Kommunen sind überfordert, Flüchtlingsheime, Containerdörfer und Zeltstädte überfüllt. Er belastet die Sozialkassen und staatlichen Haushalte mit Kosten in hoher Milliardenhöhe. Doch der Zustrom birgt auch Chancen – für die Wirtschaft des Landes. Denn die braucht, trotz fast 2,8 Millionen offizieller Arbeitsloser, dringend Arbeitskräfte. Und jeder Flüchtling, der Arbeit findet, entlastet die öffentlichen Kassen. Die deutsche Wirtschaft ist auf Zuwanderung angewiesen – aus Europa ebenso wie aus Ländern, deren Bürger heute vor allem über das Asylrecht kommen. Weil die deutsche Bevölkerung schrumpft, können viele Stellen nicht mehr besetzt werden, Fachkräfte werden zunehmend rar. Ein Trend, der sich in den nächsten Jahren verschärfen wird. Der künftige Wohlstand des Landes ist in Gefahr. Spätestens seit Mitte der Sechzigerjahre, als die Zahl der Gastarbeiter die Millionengrenze überschritt, ist Deutschland ein Einwanderungsland. Ein modernes Einwanderungsgesetz gibt es allerdings bis heute nicht. Inzwischen setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass die Fähigkeiten der Menschen, die bereits im Land sind,

Abhilfe schaffen Problem lösen akribisch sorgfältig, sehr genau Anlagenmechaniker Fachmann, der Elemente für Maschinen herstellt, zusammenbaut und prüft Autolackierer (der) Experte, der nach der Produktion des Autos die „Farbe“ wie Spray hinzufügt fließend Deutsch sprechen sicher und ohne Mühe auf Deutsch kommunizieren Blitzschutzmonteur (der) Fachmann, der technische Anlagen konzipiert und prüft, die Gebäude vor Schäden durch Blitz schützen Hochbetrieb (der) (hier) Zeit, in der viele Kunden im Laden sind immens groß, enorm Inhaber (der) derjenige, dem das Geschäft gehört jmdn. losschicken (hier) Kinder ohne Eltern nach Europa fliehen lassen Kühlhauswärter (der) Experte, der kontrolliert, dass Waren z. B. in Lagerhäusern von Märkten oder Restaurants korrekt gekühlt werden können rar selten schrumpfen Gegenteil von „wachsen“ sich durchschlagen (hier) wandern und mit großer Mühe das Ziel erreichen stranden hier: an einen Ort kommen, an dem man fremd ist undurchdringlich (hier) unverständlich, nicht transparent

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Gesellschaft nicht ungenutzt bleiben dürfen. Mehrfach veränderte die Regierung in den vergangenen Monaten Verordnungen und gesetzliche Regelungen, um die Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dennoch ist es oft nur Zufall, wenn Menschen wie Jacob Sousani Arbeit finden. Der Syrer hatte in Damaskus einen Friseursalon, fünf Angestellte, eine 70 Quadratmeter große Wohnung, ein Auto, gesellschaftliches Ansehen. Geblieben von damals ist ihm nur eine Verletzung am Rücken. Sie stammt von einem Bombenanschlag. Sousani floh vor dem Bürgerkrieg, fünf Monate lang über den Libanon, die Türkei, Griechenland, Italien, bis er letztlich nach Dresden kam. Sein Vater und zwei seiner Brüder sind in Damaskus geblieben. Wo die übrigen seiner Geschwister sind, darüber will Sousani nicht reden. Es ist Donnerstagabend und Hochbetrieb in dem kleinen Friseursalon Director‘s Cut in Dresden Neustadt. An einem der Friseurstühle steht Sousani, akribisch blondiert der Mann mit den buschigen schwarzen Augenbrauen seiner Kundin den Haaransatz. Seit über einem Monat arbeitet er in dem Laden, seit einem Jahr lebt er jetzt in Deutschland. „Es ist ein berühmter Salon“, sagt Sousani. In Dresden fand er eine neue Heimat, eine Wohnung und Arbeit. „Ich dachte nicht, dass mich je einer einstellen würde“, sagt Sousani. Der 31-Jährige hatte Glück. Ein Nachbar, ebenfalls aus Syrien, erzählte Inhaber Christoph Steinigen von Sousani. Nach einer Probewoche stellte der ihn ein. 20 Stunden arbeitet Sousani pro Woche, am Vormittag besucht er eine Sprachschule. Den letzten Test bestand er mit über 80 Prozent richtigen Antworten. „Er ist wirklich gut“, sagt Steinigen. „Ein bisschen moderner müssen seine Schnitte vielleicht noch werden.“ Nicht nur das Friseurhandwerk hat Nachwuchssorgen. Heute leben fast 46 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, die theoretisch arbeiten könnten. Ohne Einwanderung werden es in gut 30 Jahren unter 29 Millionen sein. Selbst wenn das Rentenalter auf 70 Jahre steigen würde und ebenso viele Frauen wie

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Männer berufstätig wären, würde in diesem Zeitraum die Zahl zusätzlicher Arbeitskräfte nur um 4,4 Millionen steigen. Weniger Arbeitskräfte bedeuten weniger Menschen, die in die Rentenkasse und die Krankenversicherung einzahlen. Weniger Menschen, die konsumieren und produzieren. Weniger Menschen, die Steuern zahlen, mit denen etwa Schulen oder Straßenbau finanziert werden. Weniger Menschen be-

deuten ein geringeres Wachstumspotenzial und damit einen geringeren Wohlstand. Natürlich lässt sich angesichts der technologischen Entwicklung und der Digitalisierung des Lebens der Bedarf an Arbeitskräften in der Zukunft nur schwer berechnen. Dennoch kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung in allen berechneten Szenarien zu dem Schluss, dass an Zuwanderung kein Weg vorbeiführt. Auf dem europäischen Arbeitsmarkt wird Deutschland seinen Bedarf allein nicht decken können. Noch immer kommen die meisten Zuwanderer aus den EU-Staaten, wegen der Osterweiterung und der Wirtschaftskrise in Südeuropa waren es in den vergangenen Jahren besonders viele.

Nur wird es so nicht bleiben. Dabei geht es nicht nur um hoch qualifizierte Akademiker, sondern auch um Fachkräfte mit mittlerer und niedriger Qualifikation. In den vergangenen vier Jahren entstanden rund eine Million Arbeitsplätze für Ausländer in Bereichen ohne formale Ausbildung – Hilfskräfte in der Pflege, in der Gastronomie und der Landwirtschaft. Beständig steigt die Zahl der offenen Stellen, im Juli waren es nahezu 600 000. Das Handwerk hat längst begonnen, um Flüchtlinge zu werben. Wenn Christoph Karmann nicht in seinem Büro in der Münchner Innenstadt sitzt, besucht er Berufsschulen. Auf deren Schulbänken sitzen junge Flüchtlinge mit vielen Fragen, sagt Karmann: Was kann ich machen? Welche Chancen werde ich haben? Wie funktioniert die Ausbildung in Deutschland? Als einer von zwei sogenannten Ausbildungsakquisiteuren der Handwerkskammer für München und Oberbayern vermittelt Karmann Flüchtlinge an Ausbildungsbetriebe. Bayerische Handwerksbetriebe suchen händeringend nach Lehrlingen und Fachkräften. Im Frühjahr schrieb die Handwerkskammer über 7 000 Betriebe in Oberbayern an und fragte, ob sie einen Flüchtling einstellen würden. Als Antwort kamen Angebote für 1 200 Praktikums- und Lehrstellen zurück. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, drängen Unternehmen und Wirtschaftsverbände darauf, wenigstens die Potenziale der Flüchtlinge, die in Deutschland leben, besser zu nutzen. Daimler appellierte als erster Großkonzern an die Politik, Flüchtlingen schon nach einem Monat zu ermöglichen, eine Arbeit aufzunehmen. Seit Anfang 2014 läuft das Modellprojekt „Early Intervention“ der Bundesagentur für Arbeit, um Flüchtlinge möglichst früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie will damit herausfinden, welche Kompetenzen, Instrumente und Ressourcen sie zusätzlich benötigt, um die Aufgabe bestmöglich erfüllen zu können. An zwölf Standorten identifizieren Talentscouts gut ausgebildete Flüchtlinge und versuchen, sie in Betrieben unterzubringen. Fehlende Deutschkenntnisse sind das größte Hindernis für Flüchtlinge auf dem 15


Gesellschaft

Arbeitsmarkt. Doch um in einem Integrationskurs Deutsch zu lernen, müssen sie in der Regel einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus haben. Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge haben zwar ein Recht, durch die Jobcenter beraten und auf dem Arbeitsmarkt vermittelt zu werden, aber keinen Zugang zu den Integrationskursen. Was wiederum verhindert, dass sie von den Jobcentern erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt vermittelt werden können – ein Teufelskreis. Bislang ist die Einwanderung im Zuwanderungsgesetz geregelt. Den Wirrwarr aus Einzelgesetzen und Verordnungen verstehen selbst Deutsche ohne juristische Vollausbildung kaum, für Fremde ist er undurchdringlich. Die Exceltabelle „Förderübersicht Asylbewerber/Flüchtlinge“ der Bundesagentur für Arbeit listet 17 verschiedene Arten der „Aufenthaltsgestattung“, „Aufenthaltserlaubnis“ und der „Duldung“ für Flüchtlinge auf. Und von jeder leitet sich in unterschiedlicher Weise ab, wann sie arbeiten dürfen oder welche Förderkurse sie erhalten. Unter welchen Bedingungen sie Anspruch auf Bafög, Kindergeld oder Elterngeld haben und wie viele Monate oder Jahre sie sich dafür bereits in Deutschland aufhalten müssen. Zudem wechseln die Flüchtlinge immer wieder in der Zuständigkeit zwischen Arbeitsagentur und Jobcenter hin und her. Das alles kostet Zeit, Geld und Nerven – den Staat und seine Mitarbeiter, aber auch die Flüchtlinge. Viel weiß der Staat nicht über die vielen Fremden, die ihn als Zufluchtsort wählen und von denen viele zumindest auf Zeit seine Bürger sein werden. Sicher ist, dass sie im Schnitt jünger sind als die deutsche und 16

ausländische Bevölkerung, die hier bereits lebt. 2014 waren 32 Prozent der Menschen, die Asyl beantragten, unter 18 Jahre alt, die Hälfte aller Antragsteller war zwischen 18 und 35 Jahre alt. Es kommen mehr Männer als Frauen, insbesondere aus den Ländern, in denen Krieg und politische Verfolgung herrschen wie etwa Syrien. Nur ein Drittel aller Antragsteller war 2014 weiblich. Doch von diesem Punkt an werden die Erkenntnisse dünner. „Zur Qualifikationsstruktur der Asylbewerber und Flüchtlinge gibt es keine repräsentativen Untersuchungen“, sagt Herbert Brücker vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Er hat die vorhandenen Daten ausgewertet. Die Qualifikationsstruktur der Asylbewerber und Flüchtlinge fällt auseinander: Knapp ein Fünftel haben wohl ein Hochschulstudium absolviert – aber zugleich verfügen 50 bis 60 Prozent über keine abgeschlossene berufliche Qualifikation. „Dazwischen gibt es kaum etwas“, sagt Brücker. „Die Zuwanderung über Asylrecht und Familiennachzug führt zu einer Polarisierung.“ Dabei mangelt es dem deutschen Arbeitsmarkt an Fachkräften mit mittlerer Qualifikation. Schon seit vier Jahren gibt es bereits eine „Positivliste“ der Bundesagentur für Arbeit, die Menschen von außerhalb der EU den Weg über die Arbeitsmigration öffnen soll. Auf dieser Liste sind über 20 Berufsgattungen mit 77 Berufen aufgeführt, in denen ein Mangel an Bewerbern herrscht – vom Blitzschutzmonteur über Kühlhauswärter bis zu Fachkrankenschwestern und -pflegern in der Onkologie. Wie die meisten Arbeitsmarktökonomen plädiert Brücker dafür, auch auf dem Westbalkan stärker für Arbeitsmigration zu werben und die Hürden dafür eher zu senken.

So könnte man Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung und einer verbindlichen Arbeitsplatzzusage mit garantiertem Mindestlohn ein befristetes Aufenthaltsrecht einräumen. „Die durchschnittlichen Deutschkenntnisse in dieser Region dürften höher sein als in vielen anderen Ländern“, sagt Brücker. Es gibt noch viele Möglichkeiten, die Situation von Flüchtlingen zu verbessern und gleichzeitig den Arbeitsmarkt zu entlasten. Man kann Menschen, die schon hier leben, aus dem Asylverfahren herausholen und ihnen ein Aufenthaltsrecht gewähren, wenn sie über eine Arbeitsplatzzusage verfügen. Man kann die Menschen, die eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit haben, direkt nach der Einreise zu Integrationskursen verpflichten, um die Eingliederung zu beschleunigen. Es gibt noch Stellschrauben bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen, bei der Arbeitsvermittlung, bei Bildung und Ausbildung. Die Arbeitsmigration zu fördern und dafür offensiv zu werben, wird das aktuelle Flüchtlingsproblem nicht lösen. Aber es kann entlasten. Vor allem ist die Arbeitsmigration der Schlüssel zu einer zukunftsorientierten, gesteuerten Zuwanderung, an der für Deutschland kein Weg vorbei führt. Bis vor einem halben Jahr musste Said Haschimi alle sechs Monate zur Ausländerbehörde in München. Einen Antrag stellen, warten, wieder Antrag stellen. Jetzt darf der Lehrling aus Afghanistan vorerst für drei Jahre in Deutschland bleiben. Was dann passiert, weiß er nicht. Er würde gern für immer in München leben. Dass sein Wunsch für ihn doch vielleicht schneller in Erfüllung gehen könnte als für die meisten anderen Flüchtlinge, verdankt er einem Talent. Haschimi ist Kickboxer, dieses Jahr wurde er zum zweiten Mal deutscher Meister bei den Junioren. Weil er keinen Pass hat, kann er nicht bei internationalen Wettkämpfen im Ausland antreten. Sein Kickbox-Verein will ihn deshalb bei der Einbürgerung unterstützen. Said Haschimi, der Junge, der mit 15 Jahren allein von Afghanistan nach München zog, möchte bei Europameisterschaften für die deutsche Nationalmannschaft antreten. Er sagt einen Satz, der vertraut klingt, er sagt: „Ich habe einen Traum.“ Fotolia / ivanho80 / Zerbor / ehrenberg-bilder (Fotos) 22. 08. 2015

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Gesellschaft

Bis die Achse bricht Stressfaktor Pendeln Köln – Frankfurt, Erding – Augsburg, Hamburg – Berlin: Millionen Menschen fahren täglich stundenlang zur Arbeit. Das kostet die Pendler Zeit und Nerven – und die Unternehmen Geld. Studien zeigen: Führungskräfte und Mitarbeiter auf Achse sind öfter krank als ihre Kollegen, die um die Ecke der Firma wohnen. (…) Was erleichtert die tägliche Tortur? Zwei Jahre lang lief bei Annette Meixner jeder Morgen gleich ab. Aufstehen um sechs, duschen, anziehen, die beiden Jungs wecken, gemeinsam frühstücken, Schulbrot herrichten, den Tag besprechen: „Vergiss deine Flöte nicht, heute Nachmittag ist Tischtennis, bitte in Deutsch die Wörter lernen.“ Punkt halb acht fiel die Tür ins Schloss, die Jungs trabten zu Fuß zur Schule, die Account Managerin sprang ins Auto und fuhr los. So wie Meixner sind täglich Millionen Menschen unterwegs. Mit dem Auto oder ICE, mit Regionalexpress und SBahn rollen sie durchs Land zur Arbeit. Laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes pendeln etwa sechs Prozent der Erwerbstätigen täglich. Hinzu kommen diejenigen Beschäftigten, die mehrmals die Woche pendeln, und solche, die nur am Wochenende nach Hause fahren. Die Prozentsätze sind zwar seit dreißig Jahren etwa konstant. „Doch wenn man die Berufsbiografien der einzelnen Beschäftigten in den Blick nimmt, wird sichtbar: Dreißig Prozent durchleben mindestens einmal im Laufe des Berufslebens eine Pendlerphase“, bilanziert Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. „Das sind mehr denn je.“

Köln-Frankfurt und zurück: Viele fahren 300 Kilometer pro Tag. Neu ist zudem: Pendler legen immer längere Strecken zwischen Arbeitsplatz und Wohnung zurück. In Köln wohnen, in Frankfurt am Main arbeiten, in Berlin-Mitte leben, in Sachsen-Anhalt Geld verdienen, im beschaulichen oberbayerischen Glon wohnen, im unbezahlbaren München schaffen – oft fahren Pendler täglich mehrere Hundert Kilometer. Das zeigt das deutsche Mobilitätspanel, das im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums das Mobilitätsverhalten der Deutschen untersucht (…). Die Gründe für das Kilometerfressen: Wer sich in guten Positionen weiterentwickeln will, begnügt sich nicht mit dem Posten um die Ecke – wenn es den überhaupt gibt. Zwei, drei Jahre eine neue Herausforderung fernab der Heimat anzunehmen, ist besonders für hochrangige Manager nichts Ungewöhnliches, das zeigt sich schon an den Laufzeiten der Verträge. Doch für einen Job auf Zeit gibt niemand mehr so schnell die vertraute Umgebung auf, schon gar nicht, wer Familie hat, schulpflichtige Kinder oder ein Eigenheim. Für die wachsende Zahl der gut qualifizierten Doppelverdiener ist Pendeln ohnehin häufig die einzige Möglichkeit, berufliche und private Belange zu verbinden. Und oft gibt es in den teuren Metropolen zwar Arbeitsplätze, aber kein Haus oder keine Wohnung, die den Bedürfnissen und dem Geldbeutel der Beschäftigten entspricht. Also pendeln. „Alles nachvollziehbare Motive“, sagt Norbert Schneider. Nur: Auf Dauer kann Pendeln auf die Knochen gehen. Wie stark Pendler tatsächlich bela-

Absacker (der) Drink am späteren Abend in einer Kneipe, usw. Abschalten (das) Entspannung, Ruhe auf Achse sein (mit dem Auto) unterwegs sein bis die Achse bricht bis das Auto nicht mehr funktioniert das Schweigen brechen über etwas sprechen, nachdem man lange Zeit nichts gesagt hat den Garten umgraben im Garten die obere Erde wenden / umdrehen Doppelverdiener (Pl.) Paare / Familien, bei denen beide Partner arbeiten Eigenheim (das) Haus, das man für eine Familie gekauft hat etw. geht auf die Knochen etw. ist stressig oder macht müde etw. / jmd. rauscht an etw. / jmd kommt an /erreicht etw. oder jmdn. etw. klappt etw. läuft / funktioniert wie geplant etw. laugt aus etw. macht sehr müde oder stresst stark etw. wegdrücken etw. ignorieren, nicht an etw. denken E-Mails checken E-Mails lesen / prüfen Französisch auffrischen Französisch wiederholen, üben Geldbeutel (der) (hier) Budget, verfügbares Geld Gestaltungsspielraum (der) Möglichkeit, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen hochrangig in einer Spitzenposition im Unternehmen Jobticket (das) Ticket für Bahn, Bus, usw., das die Firma für Mitarbeiter bezahlt Landstraße (die) Straße außerhalb der Stadt, aber keine Autobahn Laufzeiten (Pl.) (hier) Zeiträume / Perioden, in denen Verträge gültig sind nachvollziehbar verständlich, klar Nadelöhr (das) (hier) eine Straße, auf der es oft Staus gibt Niedergeschlagenheit (die) traurige Stimmung, leichte Depression

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Gesellschaft stet sind, untersucht der Mobilitätsforscher seit 2007 alle zwei Jahre in der Studie „Job Mobilities and Family Lives in Europe“ mit seinem Team (...). Dabei interessiert die Forscher weniger, wie viele Kilometer Pendler täglich auf Straße oder Schiene zupauschalisieren etw. sehr generell formulieren pendeln regelmäßig von zu Hause zum Arbeitsplatz fahren punkt halb acht genau um 7:30 Uhr morgens Regionalexpress (der) Zugtyp der Deutschen Bahn, der kleinere Städte verbindet Reizbarkeit (die) leichte Nervosität Satellitenwohnung (die) zweite kleine Wohnung schaffen (hier) arbeiten schnippeln etw. in kleine Stücke schneiden Schulbrote herrichten Kindern Frühstück für die Schule machen Segen und Fluch zugleich sein Vor- und Nachteile haben sich an feste Regeln halten Regeln respektieren und nach ihnen handeln sich umorientieren hier: sich einen neuen Job suchen stricken etw. aus Wolle herstellen, z. B. einen Pullover,usw. traben (hier) laufen, gehen unterwegs sein (hier) zur Arbeit fahren Unwägbarkeit (die) etw. Unerwartetes / Ungeplantes viele Kilometer auf Straße und Schiene zurücklegen oft und / oder lange mit dem Auto oder mit dem Zug fahren Vehemenz (die) Intensität, Stärke vertraute Umgebung (die) (hier) das Zuhause, die Wohnung, das Haus Vorsorgeuntersuchung (die) medizinischer Test, usw. um Krankheiten früh zu erkennen Zweckoptimismus (der) positive Gedanken, mit denen man sich selbst stimulieren möchte

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rücklegen, sondern vielmehr, wie lange sie unterwegs sind. Pendler sind nach Schneiders Definition Leute, die mindestens dreimal die Woche 60 Minuten oder mehr für eine Strecke benötigen („Tagespendler“) oder für vier bis fünf Tage zu einem weit entfernten Arbeitsplatz mit einer Satellitenwohnung fahren („Wochenendpendler“). Schneider: „Was wir sicher wissen, ist: Das Belastungserleben steigt signifikant ab einer Fahrzeit von 45 Minuten.“ Freiwilligkeit und Kontrolle entscheiden über den Grad der Belastung. Das jedenfalls ist die Regel. Ob und mit welcher Vehemenz sie eintritt, hängt nach den Forschungen der Wiesbadener Wissenschaftler im Kern von zwei Faktoren ab – Freiwilligkeit und Kontrolle. Freiwilligkeit heißt: Wer für sein Haus im Grünen pendelt oder damit der Partner seine hervorragende Stelle nicht aufgeben muss, steckt die Belastung besser weg als jemand, der sich aufgrund einer Betriebsschließung umorientieren muss. Kontrolle bedeutet: Wer weiß, dass er gegen den Berufsverkehr über die Landstraßen rauschen kann, tut sich leichter, als wenn permanenter Stau, eine neue Baustelle auf der Autobahn oder geänderte Zugfahrpläne den Alltag immer wieder unerwartet durcheinander wirbeln. Schneider: „Das ist Stress pur.“ Wie sehr die tägliche Fahrerei die Psyche angreifen kann, hat im vergangenen Jahr der Fehlzeiten-Report 2012 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gezeigt. „Wir konnten empirisch belegen, dass Pendler ein 20 Prozent höheres Risiko haben, psychisch zu erkranken“, so der Mitherausgeber und stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. Insbesondere, wenn pro Tag mehr als 50 Kilometer pro Fahrt zurückgelegt werden müssen. Konkret bedeutet das: Pendler weiter und damit zeitraubender Strecken leiden öfter unter Niedergeschlagenheit, Nervosität, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Depression und Ruhelosigkeit (s. auch Interview). Zugverspätung, Wetter, Stau: Unwägbarkeiten setzen Pendler unter Druck. Sabine Siegl kann das nachvollziehen. Für die Präsidentin des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen in Berlin ist Pendeln Segen und Fluch zugleich. „Die Möglichkeit, nicht mehr nur vor Ort arbeiten zu können, macht uns zwar flexibel – schränkt aber zugleich unsere Handlungsfähigkeit ein und nimmt uns ein großes Stück unserer Spontanität.“ Morgens in der Schule mit den Kindern für die Pause Karotten und Äpfel schnippeln, in der Mittagspause mit dem Partner zum

Italiener, nach der Arbeit mit den Kumpels auf einen Absacker in die Lieblingsbar – unmöglich, wenn man viele Kilometer entfernt im Büro sitzt oder auf den Straßen unterwegs ist. Hinzu kommt die permanente Unsicherheit: Schaffe ich es heute pünktlich zur Arbeit und wieder zurück? Wie sind die Wetterverhältnisse, staut sich der Verkehr schon vor einem der vielen Nadelöhre, hat der Zug Verspätung, klappen die Anschlüsse? „Das alles setzt Pendler unter enormen Druck“, sagt Siegl. Dennoch warnt die Psychologin davor, zu pauschalisieren. Aussagen wie „Pendeln macht krank“ seien Quatsch. Es müsse heißen: „Pendeln kann krank machen, muss aber nicht.“ Es kommt auf die Umstände und den Menschen an. Kann er mit Stress umgehen? Pendelt er schon seit Jahren, oder fängt er damit erst im höheren Alter an? Versteht er die Signale seines Körpers, und ist er dann bereit, Konsequenzen zu ziehen? Siegl: „Viele drücken ihre Symptome viel zu lange weg und glauben an den Mythos Leistungssteigerung durch Mehrfachbelastung.“ Sabine Siegl pendelt selbst bereits ihr ganzes Berufsleben lang. Im Moment lebt sie in der Nähe von München und fliegt von Montag bis Donnerstag nach Berlin oder Duisburg, freitags arbeitet sie von zu Hause aus. „Das klappt auf Dauer nur, wenn man bereit ist, ein durchorganisiertes Leben zu führen“, sagt Siegl. Dazu gehört es, sich an feste Regeln zu halten und am Wochenende nicht zu versuchen, alles Verpasste nachzuholen: Freunde treffen, Großeinkauf, Sport, mit den Kindern den Schulstoff durchackern, den Garten umgraben – alles zusammen geht nicht. Denn, so Siegl: „Pendler brauchen oft mehr Regeneration als Nichtpendler.“ Schönes tun: Die Fahrzeit als „Jetztbestimme-ich“-Zeit betrachten. Den Ratschlag vieler Experten, die Fahrzeit zur Arbeit zu nutzen – schon mal E-Mails checken oder die Powerpointpräsentation überarbeiten – kann Sabine Siegl nicht verstehen. „Das verlängert die Arbeitszeit künstlich und bringt keine Entlastung.“ Ihr Tipp: Abschalten, die Gedanken schweifen lassen, mit einer Sprach-CD sein Französisch für den nächsten Urlaub in der Bretagne auffrischen, stricken, die Mitreisenden im Zugabteil beobachten, alle Bücher der Spiegel-Bestsellerliste lesen, kurz: etwas tun, das einem Spaß macht – und zu dem man sonst nicht richtig kommt. Wem es wie Väth und Siegl gelingt, die Pendelzeit auf diese Weise für sich zu nutzen, erlebt sie tatsächlich mitunter als „subjektiv entlastend“, wie Christian Maletz,

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Gesellschaft Partner bei der Personalbetratung Kienbaum, es nennt. So wird Pendeln zu einem automatischen Zeitpuffer, zum Atemholen zwischen Powerjob und Privatleben. Auf der anderen Seite bestehe jedoch die Gefahr des Gegenteils – nämlich, dass zum Abschalten keine Zeit bleibe, so Maletz. Das Handy klingelt, E-Mails rauschen via Smartphone an. Pendler sind vor und nach dem Job meist sogar besser zu erreichen als ihre Kollegen, die mit ihren Familien beim Frühstück oder am Abendbrottisch sitzen. Maletz warnt: „Insofern führt Pendeln im Grunde zu einer schleichenden Ausweitung der Arbeitszeit.“ Schweigen brechen: Pendeln darf kein Tabu-Thema sein. Nicht nur deswegen versuchen viele Pendler, ihre langen Fahrzeiten zu verbergen. „Gerade Fernpendler fürchten, sonst als weniger belastbar, weniger leistungsfähig, weniger flexibel zu gelten“, beobachtet der Wiesbadener Mobilitätsforscher und Soziologe Norbert Schneider. Die Sorge von Pendlern, im Unternehmen skeptisch beäugt zu werden, überrascht ihn nicht. „Die meisten Firmen erwarten schlicht, dass ihre Leute funktionieren“, so Schneider. Wie lange sie zur Arbeit brauchen, interessiert sie bislang nicht. Trotz erhöhter Fehltage der Pendler: Unternehmen tun wenig. Auf praktischer Ebene aber geschieht nur wenig. Das zumindest beobachtet Norbert Schneider. Dabei könnten schon kleine Dinge viel bewirken. Der erste Schritt: Daten erheben. Wie viele Mitarbeiter pendeln? Wohin? Wie lange? Mit welchem Verkehrsmittel? Der zweite Schritt: Offensiv kommunizieren. Schneider: „Das ist ein wichtiges Signal der Wertschätzung an die Mitarbeiter, die schließlich eine zusätzliche Anstrengung auf sich nehmen, um beim Unternehmen zu arbeiten: Schaut, wir sehen das Problem und kümmern uns.“ Im dritten Schritt heißt es kreativ werden. Wie können wir unsere Leute dabei unterstützen, den weiten Weg zur Arbeit möglichst effizient und kostengünstig zu bewältigen? Wie kann unnötiger Druck aus dem Arbeitsalltag rausgenommen werden? Zum Beispiel mit Jobtickets, Firmenbussen, flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice-Tagen. Immerhin, erste Unternehmen senden Signale: der Hamburger Versandhandelsriese Otto zum Beispiel. „Wir unterstützen unsere Mitarbeiter auch in Fragen der Organisation ihrer Arbeit und der Abstimmung auf die jeweilige Lebenssituation“, sagt Marcus Wilke, Bereichsleiter „Beratung Personal & Service Center Personal“. Flexible Arbeits-

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zeiten und Homeoffice sind Standard. Seit 1991 bekommen Mitarbeiter die Proficard für den öffentlichen Nahverkehr der Hansestadt bis in die umliegenden Gemeinden gratis, in internen Foren organisieren sich Fahrgemeinschaften der Pendler. Rat an Pendler: Freundlich Forderungen stellen. Es ist allerdings nicht nur an den Unternehmen, etwas zu tun. Auch die Mitarbeiter sollten aktiv werden, rät Psychologin Siegl. Statt aus Furcht vor negativen Konsequenzen davor zurückzuschrecken,

den Stress mit der Pendelei zum Thema zu machen, solle man es ruhig wagen, Forderungen zu stellen – z. B. ein Tag in der Woche Homeoffice oder freitags früher nach Hause und montags später anfangen. Siegl: „Die Gestaltungsspielräume in vielen Firmen sind gewachsen.“ Anja Dilk und Heike Littger (Text) Februar 2014 Fotolia / Frank Waterführer(Foto)

„Für die meisten wird die Fahrerei zur Quälerei“ Die körperlichen Folgen beruflicher Belastungen – das ist das Forschungsfeld von Andreas Hillert. managerSeminare fragte den Chefarzt einer medizinischpsychotherapeuthischen Klinik in Bayern: Was bewirkt das Pendeln? Herr Hillert, macht Pendeln krank? Andreas Hillert: Alle großen Studien, die Pendler mit Nichtpendlern vergleichen, legen diesen Schluss nahe. Pendeln ist eine enorme Belastung. Es gibt aber natürlich Menschen, die gut damit zurechtkommen. Voraussetzung ist die Freiwilligkeit: Ich pendle, weil ich mich bewusst und aus freien Stücken dafür entschieden habe. Und nicht, weil ich mir die teuren Mieten in der Stadt nicht leisten kann oder Angst habe, aufgrund meines Alters nichts anderes zu finden. Wie wirkt sich Pendeln konkret auf die Gesundheit aus? Pendlern fehlt oft die Zeit für Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, Sport und Freundschaften. Hinzu kommt der permanente Zeitdruck. Auf Dauer führt das bei Pendlern weit häufiger zu Erkrankungen wie Bluthochdruck, Übergewicht, Kopf- und Rückenschmerzen, Erschöpfung, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit und Burnout-Erleben. Studien sprechen von Nah- und Fernpendlern, ist diese Unterscheidung sinnvoll? Das macht für mich wenig Sinn. 20 Kilometer Stadtverkehr können belastender sein als 70 Kilometer über Land. Es kommt eher auf die Zeit an, die man im Auto oder Zug verbringt, und die Beschaffenheit der Strecke: Fahre ich über eine gut ausgebaute Landstraße, oder quäle ich mich

über eine verstopfte Autobahn mit vielen Baustellen und Unfällen? Der Rat der Experten lautet unisono, die Fahrzeit für sich zu nutzen – warum klappt das nicht bei jedem? Viele nehmen sich das zwar vor, halten es aber auf Dauer nicht durch. Sie sind dann eben doch zu müde, um Französisch zu lernen oder sich auf ein Hörbuch zu konzentrieren. Auch hier spielt die Strecke eine große Rolle: Wie hektisch geht es auf der Straße zu, fährt man alleine oder mit Kollegen, gibt es im Zug immer freie Sitzplätze, wie oft muss man umsteigen, wie laut ist es im Abteil? Was tun, wenn die tägliche Fahrerei zu sehr auslaugt? Bilanz ziehen: Was spricht für das Pendeln, was dagegen? Welche Alternativen gibt es, was würde ein Jobwechsel beziehungsweise ein Umzug für die Ehe, die Kinder, die Karriere bedeuten? Die meisten Pendler, die ich kenne, sehen jedoch keinen Ausweg. Manche entwickeln mit der Zeit eine Art Zweckoptimismus und reden sich die Fahrerei schön: nicht so schlimm, bis zur Rente halte ich noch durch. Andere fühlen sich regelrecht an die Wand gedrängt und werden krank. Müssen Sie pendeln? Nein, nicht mehr, ich habe mein Leben so eingerichtet, dass ich bei Wind und Wetter meinen Arbeitsplatz zu Fuß in 20 Minuten erreichen kann. Wie gesagt, als junger Mensch mag das Pendeln seinen Reiz haben, doch wenn es der Karriere nicht mehr dienlich ist und kein Ende in Sicht, wird die Fahrerei für die allermeisten zur Quälerei. Das Interview führte Heike Littger

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