Zeitschrift für deutsche Philologie

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DAS HÖFISCHE ALS DISTINKTIONSMERKMAL:

Zu den Grenzen des Transkulturellen im „Herzog Ernst B“ von

Abstract:

Im Modus eines close readings analysiert der Beitrag den „Herzog Ernst B“ im Horizont transfer-, inter- und transkultureller Parameter. Dabei steht die Frage nach der Poetisierung von Kulturkontakten in der Versdichtung im Mittelpunkt, wie sie in höfischen Handlungsformen des Ansehens, Schenkens und Nehmens, aber auch des Raubens und Sammelns hervortreten. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, mit welchen Axiologien die Beanspruchung solcher, transkulturell verfügbarer höfischer Praktiken durch verschiedene Machteliten im Text versehen ist. Im Durchgang durch den Reichs- und Reiseteil der Erzählung werden auf dieser Grundlage die literarischen Verfahren rekonstruiert, die gerade auf der Basis komplex geschilderter Kulturkontakte letztlich die Superiorität des christlich-europäischen Adels im „Herzog Ernst B“ begründen.

Adopting a close reading mode, the article analyses “Herzog Ernst B” with the help of transfer-, inter- and transcultural parameters. The focus is on the question of the poetisation of cultural contacts in the poetic work, as these contacts appear in courtly actions involving prestige, giving and taking, but also robbing and collecting. In this context it is of interest to see which axiologies are used in the text to claim these transculturally observable courtly practices on behalf of various power elites.

Analysing the ‘Reichs’- and ‘Reiseteil’ of the narration enables us to reconstruct the literary procedures which ultimately justify the superiority of the Christian-European nobility in “Herzog Ernst B”, precisely on the basis of complex descriptions of cultural contacts.

I. Einleitung

Es gehört zu den durchaus diskutablen Konventionen der Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten, ihre theoretisch-methodischen Grundlagen und Parameter einem Ablösungs- und Erneuerungsnarrativ einzuschreiben, das international in der seriellen Verwendung des Terminus turn, 1 im

1 Zu den turns in den Kulturwissenschaften vgl. den Überblick von Doris BachmannMedick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Zu zentralen Konzepten der Kulturwissenschaften vgl. bes.: Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, hg. v. Iris Därmann, Christoph Jamme, München 2007, sowie Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006. Zur Entwicklung der Geisteswissenschaften im Horizont der cultural turns vgl. Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe: Zur Einführung, in: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, hg. v. dens., Reinbek bei Hamburg 1996, S. 7–24.

deutschsprachigen Raum über die Präposition nach explizit wird.2 In seinem Rahmen werden theoretische Perspektiven und die ihnen zugehörigen Analyseparameter überschrieben, manchmal auch, um ältere Ansätze unter veränderter Perspektive dann wieder neu zu beleben.3 Die Hinwendung zu einer kulturwissenschaftlichen Befassung mit den Gegenständen der verschiedenen Disziplinen im Horizont des cultural turns hat bekanntlich in der Nachfolge von Poststrukturalismus und Diskurstheorie sehr grundlegend die Frage nach den machtbezogenen Konstruktionsprinzipien und Ermöglichungshorizonten von Subjekt und Gesellschaft der Vorstellung eines selbständig und souverän handelnden autonomen Subjekts entgegenstellt.4 Daraus ergibt sich bis heute die Notwendigkeit der Rekonstruktion von historischen Voraussetzungen, Funktionen und Folgen kultureller Ordnungsmuster und ihrer Potenz, „in die scheinbare Privatheit und Einzigartigkeit der Individuen einzudringen“.5 In diesem Kontext stehen die zahlreichen turns, wie sie sich in linguistic, iconic, spatial, postcolonial, performative, material etc. ausdifferenzieren, nicht nur für die Ausweitung von Forschungsgegenständen und die Notwendigkeit einer interdisziplinären Befassung mit ihnen, sondern eben auch besonders für die Ausweitung eines Fragehorizonts durch die Berücksichtigung verschiedener Ansätze in den Einzeldisziplinen, unter denen kultursoziologische, ethnographisch-anthropologische, gendertheoretische, post- und de-koloniale in letzter Zeit besonders hervortreten. Wohl vor allem im Kontext der ethnographischen und postkolonialen turns reflektiert die Geschichtswissenschaft (und nicht nur diese) seit einigen Jahren die Voraussetzungen historischer Befassung.6 Im Kontext

2 So z. B.: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, hg. v. Martin Huber, Gerhard Lauer, Tübingen 2000.

3 So zuletzt: Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur, hg. v. Maximilian Benz, Gideon Stiening, Berlin, Boston 2022.

4 Vgl. dazu Andreas Reckwitz: Habitus oder Subjektivierung? Subjektanalyse nach Bourdieu und Foucault, in: Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens, hg. v. Daniel Šuber, Hilmar Schäfer, Sophia Prinz, Konstanz 2011, S. 41–61, hier: S. 41: „Wenn es den aktuellen Sozial- und Kulturwissenschaften […] um ‚das Subjekt‘ geht, dann geht es immer um Subjektformen in der paradoxen Doppelbedeutung des Begriffs: um Instanzen, die sich einer sozial-kulturellen Ordnung unterwerfen, diese sich einverleiben und die im Zuge dieser Unterwerfung –den jeweiligen gesellschaftlichen Kriterien folgend – zu sich selbst steuernden, kompetenten und intelligiblen Wesen werden“ (Hervorhebung im Original).

5 Ebd.

6 Zur methodischen Öffnung einer vergleichenden Geschichtswissenschaft vgl. zusammenfassend Wolfram Drews, Christian Scholl: Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne. Zur Einleitung, in: Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne, hg. v. dens., Berlin, Boston 2016, S. VII–XXIII, hier: S. IX.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal der Anforderungen einer Relationierung von Global- und Glokalgeschichte,7 die den Eurozentrismus kulturhistorischer Forschung zu überwinden sucht, widmet sie sich verstärkt den Dynamiken kultureller Identitätsbildungsprozesse, wenn sie nach den Peripherien und Herkunftsphantasmen „imperialer Herrschaftsräume“, nach Migrationsgeschichten und Kulturkontakten durch Fernhandelsbeziehungen,8 nach hybriden kulturellen Identitätskonzepten oder nach Möglichkeiten der Koexistenz differenter religiöser und sozialer Gemeinschaften und Ähnlichem fragt.9 Methodisch nimmt sie, so Wolfram Drews und Christian Scholl, ihren Ausgang von Verfahren des Kulturvergleichs in einer Historischen Komparatistik:10 Die hier im Zentrum stehende Frage nach den Kulturtransfers mündet über die Rekonstruktion von Interkulturalität in die Perspektivierung von Transkulturalität als einer Verflechtungsgeschichte.11 Für letztere markiere, so Ingrid Kasten, das „Präfix trans […] die Setzung einer Grenze ebenso wie deren Überschreitung“ und öffne damit gerade „einen Raum für die Erkundung von dynamischen Prozessen, Überlagerungen, Verschiebungen und hybriden Strukturen innerhalb einer Kultur wie auch zwischen verschiedenen Kulturen“.12 Solche Dynamiken bildeten die Begriffe Kulturtransfer und Interkulturalität nicht adäquat ab.13 Denn der Terminus Kulturtransfer richtet sich auf die Bewegung von Menschen, materiellen Gegenständen, Konzepten und kulturellen Zeichensystemen im Raum und dabei vorzugsweise zwischen verschiedenen, relativ klar identifizierbaren und gegeneinander abgrenzbaren Kulturen mit der Konsequenz ihrer Durchmischung und Interaktion.14

Kulturadaptierende Verfahren der „De- und Rekontextualisierung“ im Modus eines von – nach stehen damit im Zentrum des Interesses: Das Schlaglicht fällt hier auf die Aufnahme eines ‚Kulturgutes‘ als kreativer und umdeutender Akt

7 Vgl. dazu Ingrid Kasten: Einleitung, in: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext, hg. v. ders., Laura Auteri, Berlin, Boston 2017, S. 1–17, hier: S. 7.

8 Vgl. dazu grundlegend: Drews, Scholl [Anm. 6], S. VII.

9 Vgl. dazu ebd., S. XVII.

10 Zur Historischen Komparatistik als Ausgangspunkt transkultureller Geschichtsschreibung vgl. ebd., S. VIII. Vgl. dazu außerdem Antje Flüchter: Einleitung: Der transkulturelle Vergleich zwischen Komparatistik und Transkulturalität, in: Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in transkultureller Perspektive, hg. v. Wolfram Drews u. a., Berlin, Boston 2015, S. 1–31, hier: S. 2 f.

11 Vgl. ebd.

12 Kasten [Anm. 7], S. 2 (Hervorhebung im Original).

13 Vgl. dazu ausführlich Drews, Scholl [Anm. 6], S. XI–XIII.

14 Matthias Middell: Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: Metropolen und Kulturtransfer im 15./16.  Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien, hg. v. Andrea Langer, Georg Michels, Stuttgart 2001, S. 15–51, hier: S. 17.

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seitens der rezipierenden Gemeinschaften.15 Dieses Konzept eines „einseitigen und monodirektionalen Austauschprozess[es]“ wird durch die Akzentuierung inter- und transkultureller Paradigmen erweitert und überschrieben,16 die wiederum Transferprozesse als Wechselwirkungen zwischen den Kulturen in den Blick zu nehmen helfen. In diesem Zusammenhang wird auch das Postulat „vermeintlich fester Grenzen“ kritisch akzentuiert,17 was bereits auf das oben angesprochene Anliegen transkultureller Analysen verweist. Für die Erschließung von Verflechtungsgeschichten, die den vielfältigen Zusammenschlüssen von kulturspezifischen und kulturübergreifenden Ordnungsmustern in ihren jeweiligen Dynamiken nachgeht, böten sich die Kulturen des Mittelalters besonders an, denen, so Ingrid Kasten, „der Begriff der Nation […] im heutigen Sinn fremd“ sei. Vielmehr prägten sie Mehrsprachigkeit und politische Alterität.18

Die Frage nach den transkulturell wirksamen politischen Ordnungskategorien vormoderner Kulturen in der Geschichtswissenschaft fördert wichtige Erkenntnisse und Falsifikationen zutage, die auch für literaturwissenschaftliche ReLektüren bekannter Texte Maßstäbe setzen. So taugt im Rahmen transkultureller Analysen personenbezogener Herrschaftsformen der in den Wissenschaften lange eingeschliffene Verweis auf den Adel als einer ubiquitär an der Macht des Herrschenden partizipierenden Gruppe offensichtlich nicht.19 Vielmehr stellt der auf Herkunft, Bildung, Lebensweise und ein exklusives Selbstverständnis fußende europäische Stand in seiner Eigenschaft als wichtiges Instrument und Partner, aber auch als zentraler Widerpart monarchischer Herrschaft und im Blick auf die „generationenübergreifende Kontinuität“20 seiner politischen Vorrangstellung eine „weltgeschichtliche Besonderheit“ dar.21 Wenn für transkulturelle Analysen von Herrschaftskonzepten mithin der Begriff der Machtelite als kulturübergreifende politische Ordnungskategorie weit besser geeignet scheint als der des Adels,22 dann gilt es in diesem Zusammenhang auch zu überlegen, inwieweit das Konzept des Höfischen in seinen materialen, kommunikativen, verhaltensregulierenden und Exklusivität statuierenden, repräsentativen Aspekten ein den europäischen Adel besonders auszeichnendes Phänomen ist.

15 Peter Burke: Kultureller Austausch. Aus dem Engl. v. Burkhardt Wolf, Frankfurt/ Main 2000, S. 13.

16 Drews, Scholl [Anm. 6], S. XI.

17 Ebd., S. IX.

18 Kasten [Anm. 7], S. 2.

19 Vgl. dazu Christoph Dartmann, Antje Flüchter, Jenny Rahel Oesterle: Eliten in transkultureller Perspektive, in: Herrschaftsformen [Anm. 10], S. 33–173, hier: S. 35 f.

20 Ebd., S. 36.

21 Gudrun Gersmann: Adel, in: Enzyklopädie der Neuzeit 1 (2005), Sp. 39–54, hier: Sp. 39 f.

22 Vgl. dazu Dartmann, Flüchter, Oesterle [Anm. 19], S. 38.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal

Für die mediävistischen Literaturwissenschaften stellt sich in diesem Rahmen die Aufgabe, dem „neuen“ höfischen Erzählen,23 wie es – häufig selbst ein Produkt „vielfältige[r] grenzüberschreitende[r] Bewegungen von Stoffen und Texten“24 –seit dem 12. Jahrhundert vor allem in den Volkssprachen als Teil der für den europäischen Adel der Zeit zentralen Repräsentations- und Äußerungsformen entsteht,25 noch einmal im Horizont der Filiationen und Distinktionen nachzugehen, die die Texte an den geo- und topographischen sowie fabulösen Kontaktzonen der imaginierten Personenverbände christlicher Provenienz entfalten.

Das Höfische des literarisch entworfenen Imaginären als Ausdruck einer ausgeprägten ‚Aristophilie‘ dokumentiert sich dabei zum einen in einer selbstbezüglichen Ausrichtung adeliger Gesellschaften an schönen Dingen und schönen Körpern.26 Dabei ist die höfische Materialkultur, wie sie in den Erzähltexten als auszeichnender Maßstab einer Repräsentationskultur europäisch-adeliger Gemeinschaften beschrieben ist, historisch gesehen Konsequenz eines auch in den Texten häufig erwähnten kulturadaptierenden Verfahrens. So zeigt sich im Blick auf die höfische Mode bereits im frühen Mittelalter die Übernahme reich drapierter und mit Edelsteinen verzierter Stoffe aus dem byzantinischen Raum durch christliche Adelige sowie die Wertschätzung einer bunten Farbenpracht und vieles mehr.27 Zugleich gehören „[l]euchtende, kräftige und bunte Farben“ sowie eine ausgeprägte Materialkultur aus christlich-europäischer Perspektive „zum Inventar von Imaginationen des Orients“ in der volkssprachlichen Literatur.28 Hier fungieren die Luxuswaren auch als Differenzmarker. Im Span-

23 Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014, S. 3.

24 Bent Gebert: Vertreibung – Flucht – Suche. Migrationswahrnehmungen in höfischer Epik (Eneasroman, Herzog Ernst, Parzival), in: Euphorion 114, 2020, S. 249–288, hier: S. 254.

25 Vgl. Strohschneider [Anm. 23], S. 9.

26 Der Begriff der ‚Aristophilie‘ bezeichnet nach James A. Schultz ein auf den eigenen Stand gerichtetes Begehren der Adelsgesellschaft. Vgl. dazu: James A. Schultz: Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality, Chicago 2006, S. 79. Zum in der Literatur entworfenen „Traum einer kommunikativen Welt im Zeichen der cortoisie“ vgl. Karlheinz Stierle: Cortoisie. Die literarische Erfindung eines höfischen Ideals, in: Poetica 26, 1994, S. 256–283, hier: S. 283, sowie Martin Baisch: Anerkennung und Vertrauen. Günstlingsdiskurse in der Vormoderne, in: Transkulturalität und Translation [Anm. 7], S. 145–160, hier: S. 145.

27 Vgl. dazu John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 2001, S. 61. Zur Aneignung des „Orients“ durch den europäischen Adel vgl. außerdem Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des deutschen Mittelalters, Berlin 2014, S. 242 f. Zum „Fernhandel[ ] mit orientalischen Luxuswaren“ im 12. und 13. Jahrhundert, der zu großen Teilen „über das byzantinische Reich, speziell über die Hauptstadt Konstantinopel“, verlief, vgl. bes. Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1989, S. 169.

28 Klein [Anm. 27], S. 243.

nungsbogen von habitueller Anverwandlung repräsentativer Materialien und Moden, die in der höfischen Literatur in ausladenden descriptiones Erwähnung finden, und der Entwicklung sprachlich-künstlerischer Verfahren, die der Darstellung und Imagination eines die eigene Identität profilierenden Anderen dienen, werden im volkssprachlichen Erzählen höfisch anmutende Materialkulturen als transkulturelle Erscheinungsformen manifest, die freilich unterschiedlich codiert und somit mit differenzierenden Wertungen versehen werden. In den Texten werden teure und aufwendig hergestellte Materialien (Kleidung/ Rüstung/Zelte etc.) Kulturen jenseits des europäisch-christlichen Bereichs in Serie attribuiert, können hier aber zugleich als Differenzmarker fungieren: Als solche suchen sie die imaginierte christlich-europäische Welt von der orientalischen Welt, als deren Anderem, mithin da zu unterscheiden, wo durch die transkulturelle Zuschreibung materialreicher Ausstattung Differenzen zugleich oder zunächst scheinbar eingeebnet werden.29

Zum anderen verbindet sich mit dem Begriff des Höfischen bekanntlich auch eine normativ-axiologische Ebene.30 Besonders im Horizont christlicher Anforderungen reguliert ein idealer Maßstab disziplinierender Verhaltenscodices Herrschaftspraktiken, die entlang von zuht und adeligem Tugendethos (triuwe, stete, milte etc.) das politische Handeln der adeligen Akteure ebenso bestimmen wie Habitus adeliger Kriegergesellschaften, die durchaus mit diesen Idealen konfligieren.31 Im Referenzrahmen dieser Normhorizonte erfahren zahlreiche Kommunikationscodes höfisch-politischen Gebarens in den volkssprachlichen Texten eine Applikation auf Herrschaftsgebiete, die durch Topographie, Religion, ethnische Herkunft, mitunter auch Sprache von den Herkunftsreichen der Protagonisten unterschieden sind. In diesem Zusammenhang gilt es, den Funktionen nachzugehen, die solche Zuschreibungsverfahren für die Darlegung trans- und interkultureller Ver- und Entknüpfung im Horizont eines

29 Zu den Spezifika einer Poetisierung des Orients in der Literatur des Mittelalters vgl. bes. ebd., S. 243 f.: „Der Umgang literarischer Texte mit dem fernen, fremden Orient kann also hinsichtlich seiner Konnotierung als extrem negativer oder positiver Raum variieren, je nachdem, ob das Fremde als exotisch, attraktiv, verführerisch oder bedrohlich hinsichtlich der eigenen Welt bewertet wird. Dabei wird das religiöse, kulturell-zivilisatorische, sprachliche, ästhetische sowie topographische Fremde mittels Strategien der Exklusion oder Inklusion handhabbar zu machen versucht.“

30 Vgl. dazu Strohschneider [Anm. 23], S. 9.

31 Zu den Voraussetzungen einer höfischen Axiologie vgl. bes. Gerd Althoff: Brüchige Helden: Herzog Ernst und Kaiser Otto, in: Brüchige Helden – Brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht, hg.  v. Anne-Katrin Federow, Kay Malcher, Marina Münkler, Berlin, Boston 2017, S. 21–34, hier: S. 21, der die „Herrscherund Ritterethik“ als Ergebnis einer „Amalgamierung“ der Wertvorstellungen der adeligen Kriegergesellschaft mit den Anforderungen beschreibt, „die die christliche Religion an Herrscher und Ritter richtete“. Die sich aus dieser Ethik ergebenden Verhaltensformen bezeichnet Althoff bekanntlich als „Spielregeln“, um sie von „modernen Gesetzen und anderen rechtlichen Regelungen zu unterscheiden“.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal poetischen Identitätsdiskurses des christlich-feudalen Adels zu erkennen geben. Welche Aspekte des Höfischen als inter- und transkulturelle Ordnungsmatrices von Verflechtungsgeschichten der sich begegnenden Machteliten unterschiedlicher Provenienz werden ausgestellt, welche werden abgeblendet? Und welche Funktionen haben die Konkretionen des Höfischen, sei es im Blick auf die höfische Materialkultur, sei es im Blick auf die Ausprägungen der politischen Praxis der Mächtigen, wie sie im literarischen Diskurs verhandelt sind? Auf welche Weise generieren die Texte transkulturelle Projektionen des Höfischen? Welche feinen Unterschiede zwischen den imaginierten Kulturen heben sie hervor, durch welche literarischen Verfahren weisen sie sich als legitimierende Medien einer Superiorität des in ihnen ausgestellten christlich-adeligen Standes aus? Welchen Anteil haben die Texte in dieser Funktion an jenen orientalistischen Meistererzählungen der Vormoderne, die den europäisch-adeligen Exklusivitätsanspruch über Distinktionsmarker zum je Anderen gerade auf der Grundlage einer imaginierten Ubiquität von Materialkulturen und herrschaftlichen Verhaltensmodalitäten begründen? Und stellen die Texte Verfahren der in- und exkludierenden kulturellen Identitätsbildung unter dem Dach des Höfischen auch kritisch aus?

Um diesen Fragen an einem Beispiel nachzugehen, versuche ich im Modus des close readings eine Re-Lektüre des in Mittelalter und früher Neuzeit in deutschen und lateinischen Fassungen überlieferten, populären Epos vom „Herzog Ernst“,32 das seit einiger Zeit im Kontext postkolonialer und interkultureller Fragestellungen wieder verstärkt Aufmerksamkeit erfahren hat.33 Am Beispiel

32 Zur Popularität des „Herzog Ernst“ vgl. bes. Otto Neudeck: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur, Köln 2003, S. 99: Ohne einen „wertenden Gestus“ könne von „einem der attraktivsten Stoffe des Mittelalters gesprochen werden“. Vgl. dazu etwas einschränkender zuletzt Seraina Plotke: Nachwort, in: Herzog Ernst C. Lateinisch – Deutsch, nach dem Text von Thomas Ehlen übers. u. mit Anmerkungen vers. v. Beno Meier, ders., hg. v. ders., Tübingen 2021, S. 119–131, hier: S. 126: Die „insgesamt reiche Anzahl an deutschsprachigen und lateinischen Versionen belegt eindrucksvoll, dass es sich beim Herzog Ernst-Stoff im Mittelalter um eine sehr beliebte Materie handelte […]. Auffällig ist jedoch, dass sämtliche Fassungen mangelhaft oder gar nur unikal überliefert sind.“ 33 Beispiele hierfür sind: Carsten Morsch: Lektüre als teilnehmende Beobachtung. Die Restitution der Ordnung durch Fremderfahrung im Herzog Ernst (B), in: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger, Horst Wenzel, in Verb. mit Kathrin Stegbauer, Stuttgart 2003, S. 109–128; Stephen Mark Carey: „undr unkunder diet“: Monstrous Counsel in Herzog Ernst B, in: Daphnis 33, 2004, S. 53–77; Barbara Haupt: Von der bewaffneten Pilgerfahrt zur Entdeckungsreise. Die mittelhochdeutsche Dichtung Herzog Ernst, in: Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance, hg. v. ders., Wilhelm G. Busse, Düsseldorf 2006, S. 67–92; dies.: Ein Herzog in Fernost. Zu Herzog Ernst A/B, in: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: „Germanistik im Konflikt der Kulturen“, hg. v. Jean-Marie Valentin, unter Mitarbeit von Ronald Perlwitz, Bd. 7, Bern 2008, S. 157–168; Yücel Sivri: Mitteldeutsche (Fortsetzung der Fußnote auf Seite 386)

der Empörergeste in der Rahmenerzählung, der Kreuzfahrt in ferne, aber bekannte Reiche und der Grippia-Episode des Binnenteils in der höfisierten Fassung B, die ins späte 12. oder beginnende 13. Jahrhundert datiert wird,34 werde ich im Rekurs auf die oben erläuterten Parameter trans-, inter- und transferkultureller Geschichtsschreibung den hier poetisierten Verknüpfungen, Unterscheidungen und Überlappungen der miteinander konfrontierten und interagierenden Kulturen exemplarisch nachgehen, wie sie im Horizont einer als transkulturell angelegten Praxis höfisch-machtpolitischen Agierens entworfen sind.35 Dabei gilt mein Augenmerk jenen konventionalisierten Handlungsmustern, die im Referenzrahmen höfisch-christlich-kriegerethischer Axiologien hervortreten und die die unterschiedlichen Formen der Interaktion zwischen

Orientliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. ‚Graf Rudolf‘ und ‚Herzog Ernst‘. Ein Beitrag zu interkulturellen Auseinandersetzungen im Hochmittelalter, Frankfurt/Main 2016; Gebert [Anm. 24]. Ältere Forschungsarbeiten zum Orientteil des „Herzog Ernst“ sind: Hans Szklenar: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen, Göttingen 1966; David Blamires: Herzog Ernst and the otherworld voyage. A comparative study, Manchester 1979; Albrecht Classen: Die guten Monster im Orient und in Europa. Konfrontation mit dem ‚Fremden‘ als anthropologische Erfahrung im Mittelalter, in: Mediävistik 9, 1996, S. 11–37; Alexandra Stein: Die Wundervölker des Herzog Ernst (B). Zum Problem körpergebundener Authentizität im Medium der Schrift, in: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger, in Verb. mit Alexandra Stein, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 21–48. 34 Zu Entstehung, Überlieferung, deutschen und lateinischen Fassungen des „Herzog Ernst“ vgl. bes. Hans Szklenar, Hans-Joachim Behr: „Herzog Ernst“, in: 2VL 3 (2010), Sp. 1170–1191, hier: Sp. 1175–1191. Zur Struktur des „Herzog Ernst“, bes. zum Verhältnis von Empörergeste (Reichsteil) und Orientreise und deren stoffgeschichtlichen Grundlagen vgl. zusammenfassend: Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander‘, im ‚Herzog Ernst B‘ und im ‚König Rother‘, Tübingen 2002, S. 151–166; Plotke [Anm. 32], S. 120 f.: Während die Empörergeste aus zwei historischen Ereignissen kombiniert ist (Aufstand Herzog Ernsts von Schwaben gegen seinen Stiefvater, Kaiser Konrad II., 1030; Kampf des Herzogs Liudolf von Schwaben gegen seinen Vater, Otto I., 953), speist sich der Orientteil aus „Motive[n] und Versatzstücke[n] aus der antiken Ethnographie und den hellenistischen Reiseromanen“ (ebd., S. 120). Zur Tradition der Wundervölker vgl. v. a. Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 161–164. Zum Verhältnis der beiden Teile zueinander vgl. außerdem Jürgen Kühnel: Zur Struktur des Herzog Ernst, in: Euphorion 73, 1979, S. 248–271. 35 Vgl. dazu Seraina Plotke: Lücken und Leerstellen – Explorative Erprobungen gleichgeschlechtlicher Beziehungsmodelle im Herzog Ernst B, in: Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive, hg. v. Ingrid Bennewitz, Jutta Eming, Johannes Traulsen, Göttingen 2019, S. 75–90, hier: S. 76, die darauf aufmerksam macht, dass die in der älteren Forschung als Spielmannsepen rubrizierten Texte sämtlich „die kulturellen Beziehungen zwischen Europa und dem Orient“ verhandeln, „indem sie an bestimmten Konfigurationen und Handlungsmustern spezifische Relationsverhältnisse durchspielen und die verschiedenen Positionen in Beziehung aufeinander jeweils neu definieren. Zu diesen Konfigurationen und Handlungsmustern gehören die Brautwerbung, die Irrfahrt als Entdeckungsreise oder auch die symbolische Degradierung und Vertreibung aus der Heimat.“ Leseprobe,

Das Höfische als Distinktionsmerkmal dem imaginierten christlich-europäischen Feudaladel und den Machteliten verschiedener Herrschaftsbereiche im „Herzog Ernst B“ bestimmen, als da wären: ansehen, schenken und nehmen, rauben und sammeln.36

II. Transkulturalität? Verflechtungsgeschichten (nach innen) im „Herzog Ernst B“

Die Hinführung auf die Geschichte des bayerischen Herzogs Ernst, die diesen von Bayern ausgehend an den Kaiserhof und nach einer gegen seine Vorrangstellung beim Herrscher gerichteten Intrige des Pfalzgrafen Heinrich sodann im Rahmen einer zunehmend in exotischere und wunderbare Räume führenden Wegstruktur schließlich wieder in das Reich Ottos zurückführt,37 erfolgt im Prolog der anonym überlieferten Versfassung sehr prononciert über eine Verknüpfung potentieller Handlungsräume mit einem Ideal männlicher Kühnheit.38 Die einleitenden Verse setzen dabei auf die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem als Thema der Erzählung und zugleich als ihre Anlage strukturierendes Paradigma. Dabei ist die asymmetrische Relation, die als Basiskonfiguration kulturelle Identität über eine Abgrenzung des als Eigen markierten vom ausgeschlossenen Anderen generiert, auf markante Weise in die einführende Sentenz der Erzählerrede eingelassen. Denn diese unterscheidet zwei Typen junger Männer danach, ob sie nur daheim (dâ heime; v. 9) bleiben oder aber das Wagnis eingehen, in fremde[ ] rîche[ ] (v. 23) zu ziehen.39 Die Konfiguration von dâ heime und fremde[ ] findet hier indes eine bemerkenswerte Deutung, wenn das Publikum erfährt, dass vermezzenheit (v. 25), also eine im Begriff positiv konnotierte ritterliche Verwegenheit, nur in der Konfrontation mit unkunder diet (mit unbekannten Menschen; v. 27) zu demonstrieren sei, während das Daheimbleiben den auf Feigheit gründenden Verlust von Ansehen nach sich ziehe.40 Eingebunden wird diese Behauptung schließlich noch in die topischen

36 Zur „Normenkonkurrenz“ mittelalterlicher Verhaltensregularien im Bereich der Herrschaft vgl. nochmals Althoff [Anm. 31], S. 21.

37 Zur Wegstruktur des „Herzog Ernst“ vgl. bes. Julia Weitbrecht: Heterotope Herrschaftsräume in frühhöfischen Epen und ihren Bearbeitungen. König Rother, Herzog Ernst B, D und G, in: Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie, hg. v. Maximilian Benz, Katrin Dennerlein, Berlin, Boston 2016, S. 91–119, hier: S. 98.

38 Zum Prolog und den darin profilierten „heldenepische[n] Inhalte[n] im höfischen Kontext“ vgl. bes. Robert Luff: Wissen als Macht im ‚Herzog Ernst B‘, in: Höfische Wissensordnungen, hg. v. Hans-Jochen Schiewer, Stefan Seeber, Göttingen 2012, S. 83–101, hier: S. 87.

39 Ich zitiere den „Herzog Ernst“ nach folgender Ausgabe: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A, hg., übers., mit Anmerkungen u. einem Nachwort versehen v. Bernhard Sowinski, durchges. u. verb. Ausgabe, Stuttgart 1979, im Folgenden abgekürzt als HE.

40 Vgl. HE, vv. 8–16.

Bemerkungen zur historischen Glaubwürdigkeit des nachfolgend Berichteten: Während die Feigen die Erzählungen von Tapferkeit für unglaubwürdig erklärten, zweifelten diejenigen, die sich der Erfahrung des Fremden stellten, nicht an ihnen.41

Auf dieser Basis entfaltet der Text das erzählte Geschehen nicht allein über die vieldiskutierte Dichotomisierung zwischen dem Reichsteil der Rahmenerzählung, dem Eigenen des Bayernherzogs, und dem Orientteil der Binnenhandlung, dessen Anderem.42 Vielmehr ist schon die Herkunftsgeschichte des Protagonisten im Rahmen einer Glokalgeschichte nach innen akzentuiert: Denn der Text markiert die für die Herrschaft im Reich konstitutive Differenz zwischen regionalen Herrschaftsformen und der diesen übergeordneten kaiserlichen Regentschaft christlich-europäischer Prägung. Biographie und Identität Ernsts werden in der Erzählung auf die strukturell-asymmetrische Verbindung zwischen dem Herzogtum Bayern und dem rîche des Kaisers Otto bezogen. Dabei setzt das Geschehen beim Herkunftsort des Protagonisten an, im Herzogtum Bayern, das – anders als die abschätzige Bewertung über das Daheim im Prolog dies nahelegt – als Ort über die Darlegung einer vorbildlichen Jugend, Ausbildung und Regentschaft Ernsts eine durch und durch idealisierte Kennzeichnung im Horizont höfischer Leitbegriffe erfährt.43 Moderne Regentschaft vollzieht sich ganz im Zeichen höfischer Werte, sie inkludiert eine über die Ausbildung des Herzogs in Griechenland erworbene wîsheit (v. 75) ebenso wie seine Weltgewandtheit und Anerkennung in fremdiu lant (v. 81), eine durch soziale Verantwortung (êre; v. 98) und christliche Gebote (durch got; v. 98) habitualisierte Freigebigkeit (vgl. v. 99), die sich in der Verteilung von schatz und gewant dokumentiert (v. 151), ein formvollendetes Kommunikationsverhalten gegenüber sîne[n] man, die er gruozte schône (v. 100), ferner eine über die Schwertleite initiierte vorbildliche Beherrschung der wâfen (v. 113) sowie die Befähigung zur Evokation von triwen (v. 157) bei seinen Untergebenen, die in der lebenslangen Freundschaft zum Grafen Wetzel bereits hier Erwähnung findet (vgl. vv. 130–136). An der rîchen gewalt des Herzogs (v. 140) entwickelt die Erzählung die Partikulargewalt Ernsts in Bayern als Ideal und Standard einer auf höfischen Werten basierenden Regentschaft, die diesem eine herausgehobene Position und zahlreiche Gefolgsleute sichert und die, so der Erzähler, niemanden in allen diutschen rîchen (v. 143) „enttäuscht[e]“ (v. 141). Dazu fügt sich die Beschreibung seiner Mutter, Adelheid, deren Klugheit, Macht und

41 Vgl. ebd., vv. 17–30.

42 Zur Grundstruktur von „Rahmen- bzw. Reichsteil und Binnen- bzw. Orientteil“ und den Forschungspositionen dazu vgl. Weitbrecht [Anm. 37], S. 100.

43 Aus der Perspektive der Transkulturalität bleibt fraglich, ob der Rahmenteil allein die „Idealität“ des Reichs in der „gemeinsamen Herrschaft Ottos und Ernsts“ fasst (so Stock [Anm. 34], S.  188). Zugleich sind im Text die Voraussetzungen der kaiserlichen Reichsgewalt als Transkulturalität nach innen entfaltet. Leseprobe,

Monika Schausten

Das Höfische als Distinktionsmerkmal formvollendetes Gebaren auch ihren tugentlîchen ruom (v. 167) in anderen Ländern begründet. Die exponierte Stellung von Mutter und Sohn sowie Adelheids ablehnende Haltung gegenüber zahlreichen fürstlichen Heiratsangeboten lassen in der descriptio Bayerns zunächst so etwas wie das Phantasma eines politisch autochthonen Ordnungsgefüges jenseits der Realität reichspolitischer Gebundenheit erkennen.44

Eine erste Dynamisierung erfährt es da, wo ein Heiratsangebot des Kaisers an Adelheid eine exponierte Form der Verflechtung von Partikular- und Reichsgewalt unausweichlich werden lässt. Die Strukturierung der Figurenexposition, wie sie der Text in der Abfolge Ernst/Adelheid – Kaiser zu erkennen gibt, markiert das Setzen und Überschreiten von Grenzen innerhalb des Sacrum Imperium als Ausweis seiner transkulturell angelegten Herrschaftsordnung. Einerseits wird die Homogenität von lokaler und übergeordneter Regentschaft da explizit, wo der Kaiser parallel zu Ernst als idealer Herrscher mit ähnlich höfischen Attributen versehen wird wie dieser:45 Ein edel künic hêre (v. 217), der hôhe[ ] tugende kunde phlegen (v. 223), ein edel ritter guot (v. 228), stets hilfsbereit und freigebig. Andererseits stellt die Erzählung Ottos Leistungen als Kriegsherr (Eroberung der Wenden und Friesen), als Stifter einer dauerhaften Friedensordnung in Sachsen sowie seine Gottesfurcht heraus, die Grundlage der Stiftung des Erzbistums Magdeburg sei.46 Der idealisierten und damit notwendig abstrakt bleibenden Schilderung von Ernsts Regentschaft wird in der Erzählung eine an realpolitischen Erfordernissen sich bemessende Herrschaft des Kaisers unter Bezugnahme auf historische Ereignisse an die Seite gestellt. Reichs- und Partikularherrschaft erfahren sodann eine exponierte Verflechtung im kaiserlichen Heiratsangebot an Adelheid, das wie ein Gebot im höfischen Gewand eines kaiserlichen Minnebriefes daherkommt.47 Im realpolitischen Setting des Erzählerberichts ist das Ansinnen des Kaisers als ehrenvoll für Bayern ausgewiesen, als Verheißung einer Mehrung des bayerischen Ruhms im Reich. Adelheid, Ernst und die man (v. 452) Ottos: Alle bewerten die Heirat als politischen Erfolg verheißendes Unterfangen.48 Ein Beispiel gelungener transkultureller Verflechtung nach innen möchte man meinen, die Ernst eine dauerhafte

44 Aus einer anderen Perspektive bemerkt auch Stock [Anm. 34], S. 175, dass der „Herzog Ernst B“ die „entworfene Welt“ um den „Einzelhelden“ gruppiere.

45 Zur Figurenexposition von Ernst und Kaiser vgl. bes. Katharina Hanuschkin: Intrigen – Die Macht der Möglichkeiten in der mittelhochdeutschen Epik, Wiesbaden 2015, S.  97–99.

46 Vgl. HE, vv. 180–219.

47 Das Minnegebot des Kaisers im eigenhändig geschriebenen Brief, ebd., vv. 362–367: nu solt du dîn gemüete  / wenden an mîne minne. / ich mache dich küniginne / ob allen rmischen rîchen. / sô kan sich dir gelîchen / in der werlde kein wîp.

48 Vgl. ebd., vv. 414–422.

Vorrangstellung beim Kaiser sichert, der diesen nach der Eheschließung als ein einigez kint (v. 610) väterlich (vaterlîchiu; v. 609) behandelt.49

Im Referenzrahmen des hofkritischen Diskurses entwirft die Erzählung dann aber dieses exklusive Näheverhältnis als Anlass eines tiefgreifenden politischen Konflikts um die Position beim Kaiser, dessen rasch eskalierender und schließlich gewaltsamer Verlauf die Fragilität der politischen Struktur der Herrschaftsordnung im Reich offenbart.50 Ernsts Favoritenposition beim Herrscher dynamisiert das lange etablierte politische Gefüge (sîn name stuont in allen obe / die ze manigen jâren / des keisers rât wâren; vv. 632–634) und schürt den mortlîchen haz (v. 877) eines kaiserlichen Verwandten, des Pfalzgrafen Heinrich vom Rhein (daz er im von herzen wurde gram, /  wan man in ze hove niht vernam / sô wol alse dô vorn; vv. 665–667).51 Dessen geschickt beim Kaiser platzierten lügenlîche mre (v. 677) über Ernsts vorgebliche Ambitionen, dem Regenten die Macht mit Unterstützung der ihm wohl gesonnenen Fürsten gewaltsam zu entreißen („sît im die fürsten gestênt, / daz sie wol rîtent unde gênt / gên dir gewalteclîche / mit brennen in dem rîche“; vv. 793–796), bewirken eine tiefgreifende Krise, die erst recht eigentlich das Erzählen in Gang setzt. Die Intrige des Grafen offenbart die Leichtgläubigkeit des Herrschers (er wânde daz ez alsô wre / als im sîn neve sagte; v. 800 f.) und bewirkt dessen Bereitschaft, auf den Rat Heinrichs hin und mit dessen Unterstützung Bayern mit roube und mit brande (v. 860) zu überziehen. Der Verflechtung von Regionalherrschaft und Kaisertum als Konstituens des transkulturell angelegten Ordnungsgefüges, in dem Ernst über die verwandtschaftliche Bindung als Stiefsohn des Herrschers einen hervorgehobenen Status erhält,52 werden hier im wahrsten Sinne des Wortes Grenzen gesetzt. Im kriegerischen Überfall des Reichs auf das Herzogtum Bayern werden die Herrschaftsverhältnisse gestört, wird das hierarchisch strukturierte Ineinander von Reichs- und Territorialherrschaft in ein Gegeneinander aufgelöst. Auf die weitgehende Einebnung der räumlichen und machtpolitischen Differenzen, wie sie in der einvernehmlichen und mehr-

49 Zu den politischen Implikationen der Substitution der väterlichen Position durch den Kaiser vgl. Baisch [Anm. 26], S. 155.

50 Zum Diskurs der Hofkritik, der sich schwerpunktmäßig am Hof Heinrichs II. von England im 12. Jahrhundert in lateinischen Texten unterschiedlicher Gattungszugehörigkeit ausbildet und der den Typus des um die Favoritenstellung konkurrierenden Höflings ebenso hervorbringt wie die ihm zugeschriebenen Verhaltensweisen von affabilitas (Umgänglichkeit, Leutseligkeit, Liebenswürdigkeit, Ansprechbarkeit) und adulatio (Schmeichelei), die im „Herzog Ernst“ auf Ernst und seinen Widersacher Heinrich appliziert werden, vgl. bes. Julia Stiebritz-Banischewski: Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Epik. Studien zur Interdiskursivität der Musik- und Kleiderdarstellung in Gottfrieds von Straßburg Tristan, Hartmanns von Aue Ereck, der Kudrun und im Nibelungenlied, Berlin, Boston 2020, hier: S. 23–49 mit weiterführender Literatur.

51 Zur Favoritenposition Ernsts beim Kaiser und ihren politischen Konsequenzen vgl. auch Stein [Anm.  33], S. 24 f., sowie Baisch [Anm. 26], S. 155.

52 So auch Stock [Anm. 34], S. 175.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal jährigen Regentschaft Ottos und Ernsts im Reich zutage tritt, folgt deren agonal ausgetragene Re-Aktualisierung. Vor dem Hintergrund einer struktural-semiotischen Literaturanalyse, die bekanntlich den intrinsischen Zusammenhang von topographischer und normativer Ordnung als Spezifikum des Erzählens betont,53 indiziert das unangekündigte Überschreiten der bayerischen Grenze durch die Truppen des Kaisers musterhaft eine massive Überschreitung höfischpolitischer Normen. Nun werden die politischen Entscheidungen des Kaisers nicht mehr durch eingehende Beratung mit seinen Fürsten, sondern durch zorne (v. 1159) und vorhte (v. 1178) bestimmt, die er bei diesen auslöst.54 Auf dieser Grundlage erweisen sich alle konventionalisierten Versuche verbaler Konfliktvermeidung durch Ernst, die Fürsten und seine Mutter beim Kaiser als vergebens. Der herrschaftliche Furor erwirkt schließlich die vollständige Isolation Ernsts. Freunde und Verwandte müssen sich gegen ihn stellen (sîne mâge muosen gên im tragen / wâfen; v. 1186 f.). Die Folgen der sechsjährigen Auseinandersetzungen sind als Konsequenz einer Veränderung kaiserlicher Herrschaftsführung markiert: Die sozial zuträgliche und umsichtige Beraterkultur des Hofes wird durch das Ausüben autokratischer kaiserlicher Gewalt, durch die erzwungene Abkehr aller Fürsten von Ernst ersetzt. Erzählt wird, wie die Eskalation der kriegerischen Auseinandersetzung schließlich auch das Verhalten des vorbildlichen Bayernherzogs verändert: Als dieser fürchten muss, die Herrschaft über sein ererbtes Stammland zu verlieren, erbittet er zunächst von Gott eine Rache an dem vil ungetriuwen man, / von dem ich disen schaden hân (v. 1203 f.). Der Text markiert diese Anrufung Gottes durch Ernst als Wendepunkt, als eine über die politischen Umstände erzwungene endgültige Abkehr von allen Modi höfisch-zivilisierten Verhaltens:

„unz an dise stunde was mir ie sîn [Ottos, M.S.] schade leit“, sprach der ritter gemeit.

„nu muoz ich werben sînen schaden. mohte ich mich des wol entladen gein im mit den êren mîn, des wolde ich immer frô sîn. des weiz got wol die wârheit daz ich mit keiner tumpheit sîne hulde hân verlorn. nu bewart er sînen zorn vil ungenedeclîche.“ (vv. 1214–1225)

In der Figurenrede kündigt sich bereits an, was wenig später durch einen gewaltsamen Angriff Ernsts auf den Pfalzgrafen und den Kaiser substantiiert wird:

53 Vgl. dazu grundlegend: Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München 1972, S. 332, 338.

54 Stein [Anm. 33], S. 27, spricht von „Defizite[n in] der kommunikativen Interaktion“.

Ernst dringt mit Wetzel in die kaiserliche kemenâte (v. 1278) ein, er nimmt an Heinrich Rache – die in der Figurenrede als Ultima Ratio allen Handelns ausgewiesen ist. Schließlich überschreitet er selbst wissentlich – mit Verweis auf die besonderen Umstände seiner Lage – jede Form des höfisch-loyalen Benehmens da, wo er angesichts des abgeschlagenen Kopfes des Pfalzgrafen in einem Soliloquium bedauert, dass sich der Kaiser vor seinem Überraschungsangriff in der Kemenate in Sicherheit bringen konnte:55

er sprach „der keiser habe undanc daz er ie gevolgte dir. nâch im stuont mîns herzen gir, der mir sus enpharn is: er hte von mir gewis enphangen den grimmen tôt.“ (vv. 1294–1299)

Intrige, Krieg, Mordabsicht und Tötung eines kaiserlichen Verwandten führen zur dauerhaften Feindschaft Ottos gegen seinen Stiefsohn (er kunde im nimmer mêr vergeben / die schulde umb sînes neven tôt; v. 1408 f.), zur Aberkennung von eigen unde lêhen (v. 1420), zum Entzug seines Erbes (vgl. v. 1421) und schließlich zur Reichsacht gegen Ernst und seine Begleiter (der keiser über in gebôt / sîn âhte und über die sîne; v. 1426 f.).

An der Geschehensfolge wird deutlich, dass sich mit der dem Reich zuvor attestierten Vorbildlichkeit politischen Gebarens stets deren Kehrseite verbindet –die guten Sitten, das kommunikative Verhalten sowie die unbedingte Loyalität sind im Erzählen vom Konflikt in ihrer Relationalität auf ihr Gegenteil hin ausgestellt: Die höfische Etikette politischen Agierens kippt in eine gewaltsame Auseinandersetzung, kippt in eine Mordtat. Die Schattenseite des Höfischen in Form gewalttätigen, nicht-disziplinierten Agierens ist deutlich als Bestandteil der kaiserlichen Regentschaft selbst ausgestellt. Als zunächst abgeblendeter Aspekt einer höfischen Ordnung christlich-europäischen Zuschnitts wird deren Kehrseite im Reichsteil der Erzählung als deren konstitutives Merkmal explizit. Der Text, so meine Hypothese, entwirft somit in seinem ersten Teil zwar „das höfisch-feudale Referenzsystem“ der Erzählung.56 Dabei aber entwickelt er im Horizont der transkulturellen Anlage nach innen, die die Beziehung zwischen bayerischer Regionalregentschaft und übergeordnetem Reich zeitigt, eine Ausdifferenzierung dieses Referenzsystems im Syntagma der Erzählung.57 Der Text

55 Althoff [Anm. 31], S. 27, macht darauf aufmerksam, dass die Schilderungen von Ottos und Ernsts Verhalten in diesem Konflikt kaum kompatibel seien „mit den Regeln, die in einer solchen Situation in der historischen Realität Geltung beanspruchen konnten“. Zur ‚Schuld‘ Ernsts vgl. außerdem Stein [Anm. 33], S. 25.

56 Weitbrecht [Anm. 37], S. 97.

57 Vgl. dazu pauschal ebd.: „Der Beginn der Herzog Ernst (B) entwirft einen homogenen Herrschaftsraum, das rîche, der sich weithin erstreckt, aber durch die allgemein verbindliche höfische zuht und das damit zusammenhängende Tugendsystem verbunden ist.“

Das Höfische als Distinktionsmerkmal exponiert in einer topographisch unterlegten Abfolge personenbezogener Herrschaftsformen, die von der höfisch-idealen Landesherrschaft Ernsts in Bayern über die politisch-pragmatisch wirksame transkulturelle Ordnung der kaiserlichen Machtentfaltung mit den angeheirateten bayerischen Verwandten schließlich in eine Abgrenzung autokratischen Herrschaftsgebarens vom höfischen Ideal mündet, Voraussetzungen und Risiken des höfisch-feudalen Verhaltenscodex. Er akzentuiert die normativen Maßstäbe politischen Handelns in der Rahmenhandlung im Blick auf die Folgen der Intrige am Kaiserhof nicht allein im Rekurs auf ein diszipliniert-wohlfeines und sozial zuträgliches Gebaren einer westlich-adeligen Elite, sondern zugleich in ihrer relationalen Gebundenheit an gewaltsame Handlungsformen im Rahmen einer adeligen Körperpolitik, aus deren Ausschluss sich das im Bayernteil umfassend idealisierte disziplinierende Konzept öffentlichen Gebarens allererst ergibt. Sofern also die Erzählung höfische Modi politischen Agierens als transkulturell verfügbare Verhaltensformen ausstellt, indiziert deren erster Teil, dass diese Formen mit gewaltausübenden Praktiken adeliger Machtpolitik konfligieren. Zugleich aber wird explizit, dass letztere (als Kehrseite integrativen Gebarens) unverzichtbarer Teil machtpolitisch verfügbarer Handlungsformen im Bereich christlicher Nobilität sind.

III. Politisches Handeln im Kontext höfischer Praktiken: Möglichkeiten und Risiken interkultureller Beziehungen

Während die Rahmenhandlung den Prozess einer zunehmenden Entfremdung Ernsts von seinem Herkunftsraum und damit verbunden die Destruktion jener Verhaltensformen ausstellt, die als Teil einer nur eingangs der Erzählung als homogen beschriebenen, christlich-feudaladeligen transkulturellen Ordnung nach innen gesetzt sind, richtet sich der umfassende Reiseteil der Erzählung – entsprechend der im Prolog mobilisierten Dichotomie von daheim und fremde – auf die sorgfältig skalierte Darstellung einer Konfrontation des Helden und seiner Gefährten mit einer Welt jenseits des rîche 58 Die Fahrt akzentuiert eine Vielzahl von Formen interkultureller Begegnungen, die auf Seiten der Bayern „in steigendem Maße durch Kontingenzerfahrung und Desorientierung gekennzeichnet“ sind.59 Wie schon in der Rahmenhandlung ist auch in der Binnenhandlung die Relationierung von geographisch-topographischer Raumordnung und Figur Grundlage für die Verhandlung eines über die gesellschaftliche Wahrnehmung sich realisierenden adelig-ritterlichen Identitätskonzepts

58 Zu Geschichte und Implikationen der terminologischen Differenzierung des Epos nach Rahmen- und Binnenteil vgl. ausführlich und kritisch Stein [Anm. 33], S. 30–32 mit weiterführender Literatur.

59 Weitbrecht [Anm. 37], S. 98.

weltlich-westlicher Eliten.60 Was die topographische Ordnung angeht, beschreibt die zweigeteilte Binnenerzählung einen Weg des Helden von West nach SüdOst, der diesen zunächst über „geographisch entfernte, aber dennoch bekannte Wegstationen […] von Ungarn […] über die bulgarischen Wälder nach Konstantinopel“ führt.61 Diese Strecke führt die Bayern und ihr Gefolge vom geographisch-topographisch Bekannten in ein fabulöses Unbekanntes, das freilich im Blick auf die Kartographie der Zeit für die Rezipierenden „geglaubte Wirklichkeit“ war.62 Der Weg vom „Kreuzzugsorient“ zum „fabulose[n] Orient“63 ist weiter durch die unterschiedlichen Perspektiven gekennzeichnet, durch die Machteliten der Länder und Reiche, in die die Helden im Kreuzzugsteil reisen und in die sie im fabulösen Orient verschlagen werden, deren sozialen Status jeweils fixieren. Dass es die öffentliche Wahrnehmung im Modus des An­Sehens ist, welche die ritterlich-adelige Identität begründet, ist als eingeschliffene Praxis personenbezogener Herrschaftsformen im Text noch vor der Ausfahrt der Bayern exponiert, um in der Folge unterschiedlichste Korrelationen von Selbstund Fremdwahrnehmung mit changierenden Identitätskonzepten im Kontext interkultureller Begegnungen durchzuspielen. Seinen Anfang nimmt dieses Spiel bei der Degradierung seines sozialen Status, die die Reichsacht des Kaisers für Ernst und seine Gefährten nach sich zieht: Als Ernst sich muose […] vertrîben lân (v. 1738), wolden auch seine Gefährten mit im vertrîben sîn (v. 1751). Die über die Wiederholung des Verbums vertrîben sehr prononcierte Zuweisung des sozial inferioren Status an die Bayern wird im erzählten Geschehen durch Ernst selbst explizit überschrieben. Dieser ersetzt in seiner Ansprache an seine Gefährten die ihnen durch den Kaiser zugewiesene prekäre soziale Position des Geächteten durch eine deutlich angesehenere, positiv konnotierte Identität: Der Held kündigt die erzwungene Ausreise als Kreuzzug und zugleich als Bußfahrt an, deklariert auf diese Weise sich und seine Männer als Kreuzfahrer und erklärt wiederum die Fahrt zur Bewährungsprobe dafür, schließlich wieder in das Land des Kaisers zurückkehren zu können. Damit aber weist er sich und den

60 Vgl. ebd. Zur strukturellen Bezogenheit von Reichsteil und Orientreise vgl. Stein [Anm. 33], S. 32: „Die Orientreise ist weder ein ‚Fremdkörper‘ innerhalb der ‚eigentlichen‘ Erzählung, noch stellt sie einen eigenen Handlungszusammenhang dar; sie ist vielmehr eine konsequente Fortsetzung dessen, was vorher erzählerisch entwickelt worden war.“

61 Zum Reiseweg Ernsts im Abgleich mit der Kartographie der Zeit vgl. bes. Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 162: „Ernsts Reiseweg entspricht zunächst der bekannten Geographie: von Bayern auf dem Landweg über Ungarn und Bulgarien nach Konstantinopel und von dort über das Meer mit dem Ziel Jerusalem; auf dieser Strecke verlief der 2. Kreuzzug (1147–49), und auch Heinrich der Löwe nahm 1172 diesen Weg auf seiner Fahrt ins Heilige Land.“ Vgl. zum Reiseweg auch Weitbrecht [Anm. 37], S. 98.

62 Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 161.

63 Szklenar [Anm. 33], S. 177. Zur Differenzierung zwischen dem fabulösen Orient und dem Kreuzzugsorient im Reiseteil des „Herzog Ernst“ vgl. ebd.; Stock [Anm. 34], S.  190; Weitbrecht [Anm. 37], S. 100.

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Das Höfische als Distinktionsmerkmal Gefährten eine gesellschaftlich anerkannte Identität zu, die wiederum an einen vorgezeichneten zirkulären Weg in die bekannte, aber ferne Welt und zurück gebunden ist:64

„ob ez iuch herren dunket guot, sô sol uns des durch got gezemen daz wir durch in daz kriuze nemen ze dienste dem heilegen grabe. sô komen wir sîn mit êren abe, ê wir uns sus vertrîben lân. wir haben wider gote getân daz wir im billîch müezen ûf sîn hulde büezen, daz er uns die schulde ruoche vergeben her nâch, obe wirz geleben, und wider heim ze lande komen. swaz uns der keiser hât benomen, daz wirt uns allez wider lân.“ (vv. 1812–1825)

Die Ächtung durch den Kaiser wird in der Rede Ernsts zum Gottesauftrag umcodiert, der gefahrenträchtige Status des Vertriebenen durch die sozial anerkannte Identität des Kreuzfahrers substituiert, die Teil christlich-feudaladeliger Ordnungen ist. Auf dieser Grundlage jedenfalls können sich viele Männer in tiutschem lande (v. 1891) sowie vil ritter ûz fremden landen (v. 1915), die ouch gote dienen wolden (v. 1889), der Fahrt Ernsts anschließen. Der Herzog avanciert durch den Aufruf zum Kreuzzug vom Vertriebenen zum Anführer einer inter­nationalen Truppe, deren Bereitschaft zur Mitreise Ernsts Ansehen in der eigenen und fremden Welt dokumentiert.

Die Binnenerzählung entfaltet auf dieser Grundlage ganz generell einen intrinsischen Zusammenhang zwischen der Identifikation bzw. Identifizierbarkeit der Ankommenden in den jeweiligen Ländern und deren Wertschätzung, Skepsis oder Ablehnung, die über Möglichkeiten und Limitationen einer interkulturellen, auf die Wechselseitigkeit der Beziehungen ausgerichteten Begegnung im Horizont höfischer Praktiken distinkt voneinander unterschiedener Kulturen entscheiden. In Ungarn und Griechenland ist die Geschichte des Helden vom Hörensagen bekannt, und dieser Umstand genügt, um eine überaus freundliche Aufnahme der Kreuzfahrer in beiden Ländern zu erwirken. In diesem Zusammenhang finden mögliche Sprachbarrieren zwischen Ankömmlingen und

64

Vgl. dazu Gebert [Anm. 24], S. 270, der den „Herzog Ernst“ im Horizont einer vormodernen Ästhetik der Migration liest. Gerade in diesem Zusammenhang scheint mir wichtig zu betonen, dass der Text hier nicht den Anschluss Ernsts an einen Kreuzzug erzählt, sondern den Prozess der Zuweisung einer sozial anerkannten Identität, die wiederum eine Überführung des ungerichteten und kontingenten Weges in einen zielgerichteten gestattet und damit die „Verschiebungs- und Reorientierungsprozesse“ zu vermeiden sucht, die sich mit Migration verbinden (vgl. ebd., S. 252).

Gastgebern keine Erwähnung.65 Über die Einschätzung der Bayern durch die jeweiligen Herrscher werden vielmehr deutliche Differenzen zwischen dem rîche und den zunächst aufgesuchten Ländern markiert: So heißt der König von Ungarn Ernst willekomen / durch daz er hâte vernomen / von im solich manheit (vv. 2013–2015). Und derjenige, der in Griechenland des rîches […] wielt (v. 2047), wusste, so der Erzähler, dass Ernst âne schulde was vertriben (v. 2051). Was im Reich des Kaisers Signum einer sozialen Degradierung ist –der Vertriebenenstatus –, ist in der Perspektive beider Herrscher Zeichen einer besonderen Auszeichnung des Bayernherzogs, die das politische Interesse an seiner freundlichen Aufnahme begründet. Die Bewunderung für die manheit (v. 2015) des Empörers gegen Otto weist diesem aus der Perspektive ferner Reiche einen herausgehobenen Wert zu und objektiviert so einmal mehr aus der Figurenperspektive sein Handeln gegen den Kaiser. Zugleich deutet die Wertschätzung Ernsts in beiden Ländern politische Vorbehalte gegen Otto wenigstens an: Verknappt werden die beiden Stationen der Fahrt in die bekannte ferne Welt auf dieser Grundlage abgehandelt, wobei die Erzählung im Modus einer – was die Intensität der geknüpften Verbindungen zwischen den sich begegnenden Kulturen angeht – sich steigernden Wiederholung voranschreitet. Die höfischen Praktiken der Anerkennung konkretisieren sich in Akten der Begrüßung (er begunde vil wol enphân / den herren und al sîne man; v. 2019 f.; mit grôzem flîze er enthielt /  den herzogen und sîn geste; v. 2048 f.), Bewirtung, Beherbergung, Beschenkung (dô gap er dem helde /  sîn gâbe frôlîche; v. 2026 f.) und im Geleit der Truppen (der künic frumte sie dô / durch der Bulgre walt; v. 2032 f.).66 Sie sind als interkulturell verbindliche und transkulturell wirksame Grundlagen politischer Praxis ausgewiesen, in deren Rahmen sich rasch freundschaftliche Filiationen zwischen Ankömmlingen und den Herrschenden der besuchten Länder herstellen lassen. Für das Knüpfen nachhaltiger Bindungen bedient man sich in beiden Ländern der Praxis des Schenkens sowie des Annehmens von Geschenken.67 An Art, Qualität und Quantität der Gaben bemisst sich die Wertschätzung des Bayern, die im Land der Griechen gegenüber Ungarn deutlich gesteigert ist.68 Hier werden Bindungen geschaffen, die

65 Vgl. dazu Stein [Anm. 33], S. 28 f.

66 Zur Relation von Anerkennen und Erkennen vgl. bes. Baisch [Anm. 26], S. 146.

67 Zur Herausbildung einer ars donandi im frühen Mittelalter vgl. bes. Jürgen Hannig: Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im früheren Mittelalter, in: Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, hg. v. Richard van Dülmen, Frankfurt/ Main 1988, S. 11–37, 275–278; zur Poetisierung von Gabenpolitik in der volkssprachlichen Literatur vgl. außerdem: Monika Schausten: Agonales Schenken. Rüdigers Gaben im Nibelungenlied, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. v. Anna Mühlherr u. a., Berlin, Boston 2016, S. 83–109 mit weiterführender Literatur.

68 Vgl. dazu auch Rasma Lazda-Cazers: Hybridity and Liminality in Herzog Ernst B, in: Daphnis 33, 2004, S. 79–96, hier: S. 81.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal im Rahmen höfischer Gabenpolitik konkrete Gestalt annehmen: Ein Schiff, das die Kreuzfahrt erst ermöglicht, Lebensmittel für ein halbes Jahr sowie sîn golt (v. 2079) erhält Ernst vom König, der dem herzogen holt [was] / durch sîn grôze frümekeit (v. 2080 f.). Im Gegenzug sagt dieser dem griechischen Herrscher die Dienstbarkeit der Bayern zu: „dar umb wir immer suln sîn /  dir mit dienest undertân, / die wîle wir daz leben hân“ (vv. 2092–2094). Ernst verpflichtet sich und seine Gefährten hier einem anderen künec, und der Text lässt offen, ob es sich dabei um ein – angesichts der Herkunft des Helden – unbedachtes oder sehr zielgerichtetes Versprechen handelt, um die Existenz der Bayern angesichts der Reichsacht dauerhaft zu sichern. Doch nicht nur im Handeln des Bayernherzogs deutet die Erzählung hier einen Fall totaler Verausgabung an.69 Auch auf Seiten der Griechen fällt eine übermäßige Bereitschaft zu geben auf. Aus liebe und durch friuntschaft (v. 2115), so der Erzähler, und weil ihnen der Herzog so gut geviel (v. 2112), schiffen sich viele ihrer Männer auf fünfzig Schiffen mit ihm ein und unterstellen sich seiner Führung (wâren im gehôrsam; v. 2119), um ihn sicher in das Heilige Land zu begleiten (vgl. vv. 2120–2123). Auch wenn der Erzähler dieses Verhalten nicht weiter kommentiert und das politische Handeln der Griechen das ausgezeichnete Ansehen Ernsts in der fernen bekannten Welt im Rahmen eines höfischen Wertecodex (êre; v. 2023) einmal mehr hervorhebt, evoziert das weitere erzählte Geschehen bei den Rezipierenden doch auch Zweifel an der politischen Klugheit der Gastgeber. Denn die im Kontext höfischen Gebens und Nehmens geknüpften interkulturellen Beziehungen erfahren am neuralgischen Punkt der Binnenerzählung einen jähen Abbruch. Im Referenzrahmen des antiken, Kontingenzerfahrung und Haltlosigkeit indizierenden Topos bewirkt ein Seesturm eine markante Zäsur des Reiseweges.70 Auf dem Weg nach Syrien kommen die Helden auf hoher See von ihrem Weg ab und werden von den Griechen getrennt (daz ir keiner nimmer mê / den andern lebendic sît gesach; v. 2146 f.). Und hier nun stellt der Erzähler die besondere Aufmerksamkeit für die eigene Gruppe als Ausweis einer besonderen politischen Umsicht des Herzogs aus: doch hâte der helt guot dar an wîslîchen getân: er hâte alle sîne man und die küenen wîgande, die im von tiutschem lande und ûf der strâzen wâren komen, die hâte er alle genomen zuo im ûf sînen kiel: daz im sider vil wol geviel daz sie alsô wâren bliben. (vv. 2154–2163)

69 Zum Prinzip der verschwenderischen Ausgabe als Teil vormoderner Gabenpolitik vgl. Hannig [Anm.  67], S. 19 f.

70 Zum Topos des Seesturms vgl. z. B. Weitbrecht [Anm. 37], S. 102.

Im Zeichen der Gefahr wird der prioritäre Fokus auf die eigene Gruppe in der Verwendung des Adjektivs tiutsch exponiert: Die Grenzen interkultureller Verbindungen und Verbindlichkeiten im Horizont höfischen politischen Gebarens statuiert der Erzähler hier über die Verwendung des Nationenbegriffs zur Bezeichnung der eigenen Gruppe. Der Terminus definiert offensichtlich als nicht weiter reflektierte Grundlage die Identität des Personenverbandes. Für die verlorenen Helden der Griechen und deren Tod auf der Fahrt bleibt nur das durch den Erzähler konstatierte Bedauern über deren Schicksal übrig: Dem herzogen begunde leiden / daz er alsô solde scheiden / von den kriechischen mannen (vv. 2149–2151).

Auf der Grundlage politischer Interessenlagen (Unterstützung der Kreuzfahrt/ Bindung eines exzeptionellen Helden an die eigene Gruppe) erweist sich die Geschenkepraxis im Rahmen höfischer Leitbegriffe (liebe, friuntschaft, êre) im ersten Teil der Binnenerzählung durchgehend als Medium politischer Interessenlagen, die die erzeugten Filiationen zwischen den sich begegnenden Kulturen bedingen. Sehr sorgfältig differenziert die Erzählung zwischen den bloß auf die Zukunft ausgelegten Loyalitätsangeboten des Herzogs und der Vielzahl konkreter, aufwändiger und risikobehafteter Unterstützungen durch die gastgebenden Länder. Letztere legitimieren die Vorrangstellung des exzeptionellen Helden, an dessen Ansehen die Geber durch großzügige Geschenke partizipieren wollen und das sie über diese Gaben zugleich erhöhen. Die Praxis der gastfreundlichen Aufnahme sichert Ernst im Rahmen höfischer Geschenkepolitik den größten materiellen und personellen Ertrag, während die Griechen mit dem Tod zahlreicher Männer und einem großen Materialverlust nur Verluste aus ihren Bemühungen ziehen können. Die Grenzen und Asymmetrien interkultureller Vernetzung distinkt voneinander unterschiedener Kulturen werden besonders im Blick auf die krisenhafte Erfahrung von Naturgewalt ausgestellt, die – so der Erzähler – das Favorisieren des Eigenen als Ausweis politischer Klugheit des Herrschers dokumentiert. Höfische Geschenkepolitik als Medium gegenseitigen Austausches und interkultureller Verknüpfungen akzentuiert die Erzählung hier letztlich als Mittel der Vorteilnahme im Rahmen einer transkulturell wirksamen herrschaftspolitischen Praxis.

IV. Situationen des First Contact: Grippia

und Interkulturalität als Projektion

Die Bindung einer stets sozial bestimmten Identität an stetig wechselnde Topographien und Räume bestimmt die Anlage des erzählten Geschehens schließlich besonders da, wo Ernst und seine Gefährten durch den Sturm jegliche Orientierung verlieren und sich auf unbekanntem Terrain behaupten müssen. Die Naturgewalt bewirkt ein immer weiter voranschreitendes Abdriften der bayerischen Helden in topographisch entlegene Welten, wie sie die mapp mundi am „äußersten Rand der Erde“ als „Heimat allerlei fremdartiger und fabulöser

Das Höfische als Distinktionsmerkmal Völker, der Heiden, sowie diverser, bereits aus der Antike bekannten monstra“ verorten.71 Im Kontext einer durch Zentrum und Peripherie organisierten Weltordnung geraten die Helden an deren Rand. Und mit der räumlichen Desorientierung geht ihre soziale Marginalisierung im wahrsten Sinne des Wortes einher. Die Bewährungsprobe der Heldenfahrt nimmt erst an diesem neuralgischen Punkt in Form einer Selbstbehauptung in gänzlich unbekannten und undurchdringlichen Räumen (im fabulösen Orient) und in der Erstbegegnung mit völlig unbekannten Ländern und ihren Bewohnern jenseits des heldischen Erfahrungsraumes ihren Anfang.

Die prekäre Lage Ernsts und seiner Gefährten ist über eine markante Inversion des Zusammenhangs von Sehen und Gesehen-Werden bereits da angezeigt, wo die Helden das erste Land, Grippia, erblicken, nachdem sich der Sturm verzogen hat.72 Dass sie in der nicht bekannten Welt über keinerlei An-Sehen mehr verfügen, deutet schon die Inversion der internen Fokalisierung an, die die Erzählung von der Begegnung zwischen Ankommenden, Stadt und Bewohnern im Rahmen der ersten Landung dominiert. War es im fernen, aber vertrauten Kreuzzugsorient die Sicht der Herrschenden auf die Ankömmlinge, die deren An-Sehen im Rekurs auf höfische Konventionen öffentlichen Handelns im aufgesuchten Land zur Maxime ihrer freundlichen Aufnahme machte, ist es nun, auf gänzlich unbekanntem Territorium, die Perspektive der Helden, aus der heraus die erzählten Versuche der Kontaktaufnahme mit der fremden Kultur dargelegt sind. Dabei leitet der Erzähler die Begegnung im expliziten Hinweis auf die wetterbedingten Voraussetzungen der Wahrnehmung ein. Ein klarer Himmel und die dadurch bedingte ungetrübte Sicht auf die neue Umgebung verheißen zunächst einen unverstellten Blick auf die sich darbietende Stadt (der himel wart vil wol gevar, / daz mer lûter unde clâr; v. 2197 f.). Der Text akzentuiert den ersten Kontakt als Blickkontakt der Ankommenden auf ein hêrlîchez lant (v. 2205), eine hêrlîche burc (v. 2213) und eine äußerst wehrhafte Stadt (diu was al umbevân / mit einer guoten miure; v. 2214 f.).73 In der Anschauung der Helden fällt Grippia zunächst durch eine besondere ästhetische Fülle, vor allem aber durch robuste Bauten und die beeindruckende Uneinnehmbarkeit auf: diu burc stuont gar unervorht: / sie vorhte niemannes her (v. 2240 f.). Die Figurenrede Ernsts lässt erkennen, dass das Gesehene in der Wahrnehmung der Helden als Steigerung des eigenen Erfahrungsraums und damit als partiell vertraut erscheint, und auf dieser Grundlage Rettung verheißt: Nahrungsbeschaffung

71 Klein [Anm. 27], S. 237 (Hervorhebung im Original).

72 Zur Verortung Grippias als „Greifenland“ in der Nähe Indiens, zur Etymologie vom „lateinischen gryphs“ sowie zur Situierung eines Volks der Greifen (grife gentes) am nördlichen Rand der Ebstorfer Weltkarte vgl. zuletzt Simone Hacke: Der Reiseweg des Herzog Ernst auf der Ebstorfer Weltkarte, in: ZfdA 146, 2017, S. 54–69, hier: S. 61.

73 Zur „Logik der Sichtbarkeit“ als medienästhetisches Prinzip im „Herzog Ernst“ vgl. bes. Morsch [Anm.  33], S. 116.

sei in der Stadt möglich (vgl. v. 2263), Gott habe sie an diesen Ort geschickt (vgl. v. 2259 f.). In diesem Kontext schätzt Ernst die Lage und die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit den Bewohnern der Stadt im Rekurs auf die Kreuzfahreridentität ein, mit der er sich und seine Gefährten zum Eingang der Reise versehen hatte. Die Risikobewertung, die der Figur angesichts des bevorstehenden Eintritts in die fremde Stadt zugeschrieben ist, bemisst dabei die Möglichkeiten der Nahrungsbeschaffung an der religiösen Zugehörigkeit ihrer Bewohner: Entscheidend sei, so die wörtliche Rede Ernsts, ob sie heiden sîn od cristen (v. 2273). Mit Klugheit (mit listen; v. 2274) sei dafür zu sorgen, dass die Bewohner ihnen spîse ze koufe (v. 2275) anböten. Für den Fall aber, dass in der Stadt Heiden wohnten, prognostiziert Ernst einen tödlichen Angriff der Gegner (sô lâzent sie uns niht genesen; v. 2277), der aber im Kontext der Kreuzfahrt hinzunehmen sei: sît wir durch got sîn ûz komen, / deste baz suln wirz verklagen, / ob wir hie werden erslagen (vv. 2280–2282). Die Rede der Gefährten statuiert einmal mehr in Form eines Bekenntnisses zum Dienst an Gott die untadelige Gesinnung der Ankömmlinge sowie ihre Identität als Kreuzfahrer: „wir sîn ûz komen / durch got und anders keine nôt“ (v. 2286 f.). Entsprechend ergibt sich die Zurüstung der Streiter vor Eintritt in die Stadt fast wie von selbst: Rüstung und Bewaffnung weisen den kriegerischen Gottesdienst der Gruppe sichtbar aus. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Hissen einer Fahne durch Ernst, deren rote Farbe, das hat Mareike Klein überzeugend erarbeitet, die christlich inspirierte Mission der Gefährten zur Anschauung bringt.74 Im Horizont paradigmatischer Erzählstrukturen muss hier auffallen, dass die in der Erzählung verhandelte Volatilität gesellschaftlich präfigurierter Identität auch durch eine Symbolpraxis unterstrichen wird, die auf die Notwendigkeit der Anpassung der Personenverbände an unterschiedliche Handlungsräume deutet. Kämpft der bayerische Verband des Herzogs in den Auseinandersetzungen mit dem Kaiser unter grüner Fahne, exponiert der Protagonist seinen Verband nun unter der Farbe Rot.75 Bilden die Komplementärfarben auf poetologischer Ebene die die Erzählung strukturierende Gegenbildlichkeit von Okzident und Orient ab,76 so weisen die Konnotationen der roten Farbe mit dem Blut Christi und dem der Märtyrer die Gruppe als Christusstreiter aus. Zudem kann, so Klein, Rot als Farbe des Krieges sowie als „Herrschaftsfarbe“ gesehen werden, und sie inkludiert schließlich – damit einhergehend – ganz generell den „Assoziationsbereich der ‚Gewalt‘“.77

Doch die vielfältigen Bemühungen darum, über die kalkulierte visuelle Inszenierung der Gruppe eine gesteigerte Aufmerksamkeit potentieller Betrachter zu erzeugen, laufen in Grippia im wahrsten Sinne des Wortes konsequent ins

74 Vgl. dazu Klein [Anm. 27], S. 288.

75 Vgl. dazu ebd.

76 Vgl. dazu Stock [Anm. 34], S. 203, Anm. 171.

77 Klein [Anm. 27], S. 289.

Monika Schausten

Das Höfische als Distinktionsmerkmal Leere. Die höfische Praxis des Angesehen-Werdens als mögliche Initiation eines ersten Kulturkontakts scheitert: Die Helden finden die Stadt unbewohnt vor, die Tore sind geöffnet, sie können sie ohne jeden Widerstand betreten, und sie werden nicht gesehen.78 Der Eindruck der Wehrhaftigkeit, der den Blick der Ankömmlinge auf Grippia dominiert hatte, wird über die Möglichkeit eines uneingeschränkten Zugangs in den fremden Raum als trügerisch ausgewiesen. Das Erstaunen (wunder; v. 2315), das die mangelnde Bewachung und die offenen Türen auslösen, weist die Wahrnehmung der Helden bereits hier als eine Projektion der eigenen Erfahrungswelt auf die unbekannte Welt aus. Und so erweist sich die Irritation über den ungehinderten Eintritt in das Reich in der Grippia-Episode als Ausgangspunkt eines langgezogenen Prozesses, in dessen Verlauf das Scheitern all jener höfischen Formen und Praktiken immer deutlicher hervortritt, die sozial stabilisierende Funktionen im Rahmen von Kulturbegegnungen haben. Die Orientierungslosigkeit im Umgang mit dem unvertrauten Raum spiegelt sich dabei in einer sich stetig intensivierenden Unwirksamkeit der vertrauten „Regeln des höfischen Miteinanders“.79 Dabei ist es die Korrelation von Raum- und Normordnung, auf deren Grundlage in der Erzählung eine komplexe Verhandlung dieser Regeln erfolgt: Das Betreten der fremden Stadt signifiziert in einer sich sukzessiv steigernden Folge von Ereignissen eine zunehmend mit prekären Auswirkungen sich verbindende Überschreitung normativer Ordnung. Dabei wird die partielle Unwirksamkeit höfischer Verhaltensregularien zunächst nicht im Hinweis auf das unvertraute und zunehmend martialisch erscheinende Gebaren der Grippianer begründet. Bereits angesichts des Vordringens an die prächtig gedeckte und mit allen erdenklichen Kostbarkeiten überladene Tafel der Grippianer werden höfische Konventionen in der Figurenrede der Ankömmlinge explizit und geraten damit auf intra- und extradiegetischer Erzählebene zunächst im Blick auf die christlichen Invasoren in die Reflexion. Das Sich-Bedienen an der fremden Tafel durch die – ob der langen Reise fast verhungerten – christlichen Helden erfährt im erzählten Geschehen eine Rechtfertigung. Ernst deklariert den reichgedeckten Tisch als ein göttliches Wunder (ein michel wunder; v. 2424), und spricht das sich anschließende Essen am Tisch der nicht anwesenden Grippianer von jeder sünde (v. 2409) frei. Die gemeinsame Mahlzeit ist hier als Mundraub legitimiert, indem dieser in der Figurenrede Ernsts von einem möglichen unstatthaften Entwenden der kostbaren Gegenstände auf der Tafel unterschieden wird. An dieser Stelle werden Handlungsformen des Raubens, des Sich-Bereicherns an den Besitztümern anderer thematisch, wobei nur der Raub von kostbaren materiellen Gütern (gold[ ]; v. 2413) als eine von höfischen Verhaltensregeln

78 Vgl. HE, vv. 2311–2315: Diu burctor wâren ûf getân. / dô sâhen die küenen man / nieman an den zinnen, / weder ûze noch innen. / des nam sie michel wunder.

79 Weitbrecht [Anm. 37], S. 98.

abweichende Praxis gekennzeichnet wird.80 Die Aufforderung Ernsts indes, seine Gefährten (und zwar alle: arme und rîche; v. 2427) mögen an den Tischen frôlîche essen und sich laben (v. 2428), ist demgegenüber als kluger und mit den Werten des Christentums kompatibler politischer Rat ebenso ausgewiesen wie die Aufforderung, hernach die Schiffe mit weiterer Nahrung zu beladen.81 Der abschließende Hinweis, das Land sodann möglichst rasch zu verlassen, weil die Bewohner in der Nähe seien,82 wirft nur punktuell ein irritierendes Licht auf die Angemessenheit dieser Handlungsanweisungen, die aber letztlich über die Erzählerstimme da eine weitere Legitimation erhalten, wo diese das Vorfinden von ausreichend fleisch wîn unde brôt (v. 2466) als Weisung Gottes bezeichnet (vgl. v. 2465).

Die Diskursivierung von etablierten Normen höfischen Verhaltens, die sich in der Frage nach ihren möglichen Überschreitungen hier Bahn bricht, erfährt im Rahmen des Paradigmas der Erzählung noch weitere Steigerungen. Die Aufforderung zum zeitigen Aufbruch, wie sie Ernst zunächst formuliert, wird von diesem selbst verworfen, und zwar im Hinweis auf seine lust[ ] (v. 2485),83 die wunderbare Stadt erneut erkunden zu wollen.84 Was zunächst wie ein motivationaler Bruch der Handlung daherkommt, macht bei genauerer Betrachtung durchaus Sinn. Denn im Paradigma der Erzählung werden in gesteigerter Intensität Handlungsformen des Raubens und Sich-Bereicherns, des Sich-Ermächtigens und Sich-Bemächtigens am Beispiel des Verhaltens der christlichen Helden auf unvertrautem Terrain thematisch. Immer deutlicher tritt die Grippia-Welt

80 Die Erzählung diskursiviert am Beispiel des Mundraubs hier ein allgemein anerkanntes Praxiswissen. Zu „Konventionen der Literatur“, die „gerade nicht von einer abgeschlossenen Analogiebildung zwischen Einzelfall und Erfahrungswissen“ ausgehen, „sondern […] konkrete Situationen in ihrer Heterogenität“ entfalten, vgl. grundlegend: Udo Friedrich, Christiane Krusenbaum-Verheugen: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne. Zur Einführung, in: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters, hg. v. dens., Monika Schausten, Berlin 2021, S. 7–61, hier: S. 51, mit weiterführender Literatur.

81 Vgl. HE, vv. 2431–2435.

82 Vgl. ebd., vv. 2440–2445: „[…] ich bin des worden innen: / disiu burc ist nie sô frî, / ir liute sint etwâ hie bî / vil nâhen“, sprach der jungelinc. / „dar nâch schaffen unser dinc. / sie koment uns vil schiere.“

83 Vgl. ebd., vv. 2483–2489: dô sprach der herzoge Ernest sân / zem grâven Wetzel sînem man / „mich lustet vil sêre / daz ich hin wider kêre / und die burc baz besehe, / swaz halt mir dar inne geschehe: / sie ist sô rehte wol getân“. Vgl. wieder: vv. 2702–2705: ze dem grâven Wetzel er dô sprach / „vil sneller degen hêre, / mich lustet vil sêre / daz wir in daz bat gân“.

84 Zur curiositas des Helden und ihrer kritischen Akzentuierung als „Augenlust“ in der Grippia-Episode vgl. bes. Klein [Anm. 27], S.  272 f. mit Forschungsdiskussion und weiterführender Literatur; vgl. dazu außerdem Andreas Moltzen: Curiositas. Studien zu „Alexander“, „Herzog Ernst“, „Brandan“, „Fortunatus“, „Histoira von D. Johann Fausten“ und „Wagnerbuch“, Hamburg 2016, S. 85–87. Motivparallelen zur Neugier Alexanders im „Straßburger Alexander“ sowie zu Sindbads Neugier erläutert Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 159 f.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal dabei als volatiler Ort hervor, der zunächst ausschließlich als „Anschauungsraum“ der christlichen Protagonisten gestaltet ist.85 Als Heterotop konzipiert und dementsprechend mit einem spezifischen „System der Öffnung und Abschließung“ versehen,86 gibt der Text ihn anfänglich und über eine lange Erzählstrecke hinweg über die geöffneten Türen in einer schier überfordernden Prachtentfaltung den Blicken und der Erkundung der Ankömmlinge regelrecht preis. Er erweist sich als Ort ihrer Rettung in existentieller Not, vor allem aber als Ort, „der […] betrachtet und erkundet werden will und soll“.87 Mit dem erneuten Eintritt der Helden in die Stadt indes, der durch keinerlei existentielle Notlage mehr motiviert ist, verändert sich die Akzentuierung des Raums zunehmend, der nun im Blick auf die Evokation einer nicht zu stillenden curiositas des Helden als einer konzipiert ist,88 dem dieser sich selbst im Bewusstsein politisch-vernünftigen Handelns im wahrsten Sinne des Wortes nicht entziehen kann. In der Figurenrede wird die Augenlust in mehrfacher Hinsicht als Anlass des erneuten Eintritts thematisch:89 Während Ernst der Wunsch nach einem genauen Betrachten der prächtigen Bauten treibt, interessiert seinen Gefährten Wetzel die Motivationslage der in Grippia von ihm vermuteten Menschen (liute; v. 2513). In der Figurenrede wird die Nicht-Sichtbarkeit der Bewohner im Rahmen der im Reich konventionalisierten körperbezogenen Politik als Zeichen gedeutet, dessen Bedeutung Wetzel nachzugehen sucht: „swaz man dâ mit bediute daz si sich niht wellent enbarn, ich wn sie wellen uns ervarn waz wir wellen an gân. nu sie uns niht wellent bestân, sô suln wir mit sinnen an in werden innen wes in gên uns ze muote sî.“ (vv. 2514–2521)

85 Klein [Anm. 27], S. 254.

86 Das „System der Öffnung und Abschließung“ ist einer der Grundsätze, die Michel Foucault als Spezifika der Heterotopien kennzeichnet, wie sie alle Gesellschaftsformen ausbilden, vgl. dazu ders.: Von anderen Räumen, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. v. Jörg Dünne, Stephan Günzel, in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch, Roger Lüdeke, Frankfurt/Main 2006, S. 317–329, hier: S. 325: „Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht.“ In diesem Zusammenhang beschreibt Foucault eine Form der Heterotopie, die der Faktur des imaginierten Grippia im „Herzog Ernst“ entspricht: Es gebe Heterotopien, die „vollkommen offen“ wirkten, aber „in Wirklichkeit auf seltsame Weise verschlossen“ seien. „Jeder hat Zutritt zu diesen heterotopen Orten, aber das ist letztlich nur Illusion. Man glaubt, den Ort zu betreten, und ist gerade deshalb schon ausgeschlossen“ (S. 326).

87 Klein [Anm. 27], S. 256.

88 Zur curiositas des Helden vgl. nochmals Anm. 84.

89 Zur Kennzeichnung der curiositas als Augenlust (concupiscentia oculorum) bei Augustinus vgl. Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 2006, bes.: S. 184.

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Die Figurenrede unterstellt gegen die Erfahrung des Nicht-Beachtet-Werdens durch die Grippianer weiterhin deren Interesse an den Ankömmlingen, eine Vermutung über die Ubiquität des eigenen Ansehens, die der weitere Verlauf des erzählten Geschehens sukzessive destruiert. Die sehr ausführliche Beschreibung, die der Wiedereintritt der Helden in die prächtige Stadt in der Erzählung erhält, zieht zunächst auf intra- und extradiegetischer Erzählebene Figuren wie Textrezipierende zunehmend in den Bann des Geschauten. Dabei ist die hyperbolisch angelegte descriptio so angelegt, dass ästhetische und technische Standards ihre Anverwandlung und Benutzung durch die beiden Figuren mehr als nahezulegen scheinen: Im Inneren des Palastes treffen die beiden Helden auf ein Bett, dessen Benutzung durch zwei Personen die umgeschlagenen Bettdecken ebenso insinuieren wie zwei daneben abgestellte goldene Becher mit Wein sowie schließlich zwei Badewannen in einem Badehaus.90 Die Ausstellung höchster zivilisatorischer Standards des Gebotenen verbindet die Erzählung auf diese Weise mit der Darstellung ihrer selbstverständlichen Inanspruchnahme durch die Helden – Luxus und Bequemlichkeit scheinen regelrecht für die beiden Gefährten arrangiert. Nur punktuell deutet der Text in der Figurenrede Wetzels schon hier ein potentielles Gefahrenmoment an, das die Raumerfahrung mit sich bringen könnte. Als Ernst die Lust verspürt, ein Bad zu nehmen,91 weist diese den Herzog als jemanden aus, der unwillens sei, einen Rat anzunehmen.92 Doch auch Wetzel geben das für das Baden notwendige Ablegen der Rüstung und die damit verbundene Schutz- und Wehrlosigkeit nur kurz Anlass zur Sorge, bevor er selbst das Bad in vollen Zügen genießt und sich sodann bereiterklärt, auch das bereitstehende Bett noch für eine Ruhepause in Anspruch zu nehmen.93 Dies alles gesehen und erfahren zu haben, ergibt sich schließlich aus Sicht der Figuren als Fazit ihrer Erkundung des faszinierenden Terrains.94 Wetzel hebt bei seiner Bilanzierung der Entdeckungen die erworbene Augenzeugenschaft hervor und statuiert gegenüber seinem Begleiter, bei Grippia handele es sich um „aller bürge ein krône / die man in der werlde hât gesehen“ (v. 2790 f.).

Diese Bilanzierung des Gesehenen durch die Figuren und den sich mit dieser verbindenden Eindruck einer finalen Bewältigung des fremden Raums im Modus des Anschauens und Erfahrens erweist die Erzählung nachfolgend als trügerisch. Denn im Horizont des verabredeten endgültigen Abzugs der Bayern aus Grippia stellt sich der geschaute und erfahrene Raum den Protagonisten mit

90 Vgl. HE, vv. 2600–2602, 2663 f.

91 Vgl. ebd., vv. 2702–2705: ze dem grâven Wetzel er dô sprach / „vil sneller degen hêre, / mich lustet vil sêre / daz wir in daz bat gân“

92 Vgl. ebd., v. 2726.

93 Vgl. ebd., vv. 2747–2757.

94 Ähnlich Stock [Anm. 34], S. 203: „Was machen Wetzel und Ernst in Grippia? Sie nehmen die visuellen Eindrücke auf, und dann baden sie“.

Das Höfische als Distinktionsmerkmal einem Mal anders dar. Der überwältigende Seh-Eindruck wird nun durch ungefüegen schal (v. 2824) überlagert. Ein sinnästhetischer Registerwechsel leitet eine neue Stufe der Auseinandersetzung mit der unbekannten Kultur ein.95 Die aus der Figurenperspektive vermutete Homologie zwischen ihrer eigenen kulturell geprägten höfisch-zivilisierten Identität und dem hochhöfischen modernen Gepräge der unvertrauten Kultur erweist der Text als folgenreiche Projektion der Betrachter. Angesichts des lauten und furchteinflößenden Geschreis werden Ernst und Wetzel nun in die Position der Betrachtenden an einem Fenster gedrängt (dar inne muosen sie dô stên; v. 2841), die sie zuvor freiwillig eingenommen hatten. Aus ihrer Perspektive beschreibt der auktoriale Erzähler, was es zu sehen gibt: Versteckt hinter einem Fenster erblicken Ernst und Wetzel die dem Reich zugehörige seltsne[ ] schar (v. 2850), deren Körperlichkeit das zur Anschauung bringt, was Figuren und Rezipierenden der Geschichte bislang verborgen worden war: ein Auseinanderklaffen zwischen hyperbolischer Schönheit und tierischem Äußeren, das an den Hybridwesen manifest wird, die menschliche Körper und Kranichköpfe haben:

die wâren an ir lîben, sie wren junc oder alt, schne unde wol gestalt an füezen und an henden und in allen enden schne liute und hêrlîch, wan hals und houbet was gelîch als den kranichen getân. (vv. 2852–2859)

Angesichts der fremd anmutenden Erscheinungen und ihrer Entdeckung durch die christlichen Helden mutiert Grippia im weiteren Verlauf des erzählten Geschehens sukzessive vom Anschauungs- und Erfahrungsraum des höfischen Luxus und Wohllebens zu einem Gefahrenraum für die christlichen Helden. Damit einher geht die Veränderung ihres eigenen Status von Beobachtern und Nutznießern der Fremdkultur zu ihren Antipoden. Die nur scheinbar anverwandelte Welt wird nun aus der Perspektive der europäischen Helden allmählich in den Status des Fremden und Bedrohlichen überführt. Bevor dies geschieht, wird die Verengung der Erzählperspektive auf die Figurenperspektive aufgehoben. Eine Passage des auktorialen Erzählers entbirgt nun zunächst den Rezipierenden Herrschaftsordnung und Geschichte des Grippia-Reiches: Noch wil ich iu baz betiuten / von den seltsnen liuten, / als ich von in vernomen hân (vv. 2879–2881). Die nun folgende Entschlüsselung der über das Adjektiv seltsne explizit als Fremdkultur ausgewiesenen Gesellschaft substantiiert den gemischten Eindruck, der von der Körperlichkeit der Bewohner ausgeht:

95 Zum „Kommunikationsproblem[ ]“ (S. 35), das sich aufgrund der Körperlichkeit der Kranichschnäbler im Blick auf die Möglichkeiten höfischer Verständigung ergibt, vgl. bes. Stein [Anm. 33], S. 34 f.

Auf der einen Seite wird die Herrschaftsform in Grippia als mächtige Königsherrschaft ausgewiesen, wie sie sich in der bereits hinlänglich beschriebenen überbordenden Materialkultur manifestiert. Auf der anderen Seite werden die politischen Handlungen des Königs als gewaltbasiert herausgestellt: Der Erzähler berichtet von einer Heerfahrt des Herrschers nach Indien, in deren Verlauf dieser den indischen König, seine Gemahlin und sämtliche Gefolgsleute getötet, die Königstochter hingegen entführt habe, um sie zu heiraten. Das Gastmahl sei zum Empfang der Prinzessin vorbereitet worden.96 Funktion dieses Erzählereinschubs ist es, im Paradigma der Erzählung die furchtlose Reaktion der Helden auf die Grippianer erneut als folgenreiche Fehleinschätzung offenzulegen: Angesichts der hybriden Gestalten versichern sie sich gegenseitig ihrer körperlichen und kämpferischen Überlegenheit: Die Rede des Herzogs ridikülisiert die Mischwesen („ich mac des wol gelachen / daz in die helse sint sô kleine“; v. 2948 f.), die Einlassungen Wetzels offenbaren gar ein Gewalt-Phantasma: Ganz alleine könne er den merkwürdigen Wesen wegen ihrer schmalen Hälse die Köpfe abschlagen.97 Besonders in dieser Aussage ist das zuvor beschriebene gewaltsame Handeln des Grippianischen Königs gegen die Inder als Habitus der Helden gespiegelt, der wiederum an die „Enthauptung des Verräters“ im Reichsteil erinnert.98 Die an den unbekannten Raum gebundene Axiologie wird in der Erzählung mehr und mehr offenbar. Die den christlichen Helden attribuierte unerschütterliche Zuversicht, der unbekannten Kultur in jeder Hinsicht (sei es als Augenzeuge, sei es als Kämpfer) habhaft werden zu können, scheitert zuletzt an der unumwundenen Gewaltbereitschaft der höfisch anmutenden Grippianer, die wiederum die Kehrseite des zivilisierten Gepräges der breit geschilderten kulturellen Errungenschaften hervortreten lässt. Die Erfassung des Raumes wird durch das Erfasst-Werden der christlichen Helden von den in ihm obwaltenden Regularien und Axiologien überformt. Der fremde Kulturraum, so ließe sich sagen, schluckt sukzessive diejenigen, die in ihn einzudringen suchen. Dabei erfolgt eine zunehmende Ent-Fremdung der Protagonisten von dieser Kultur zunächst wieder im Modus des Betrachtens. Im Syntagma lässt die ausgedehnte Beschreibung des höfischen Empfangs, den die indische Prinzessin vom gesamten Volk der Kranichschnäbler erhält, einen durchgehend gespaltenen Eindruck bei den Beobachtern der Szenerie entstehen:99 auf der einen Seite die detaillierte Beschreibung eines habitualisierten Rückgriffs der Grippianer auf die solchermaßen als transkulturell ausgewiesenen höfischen Formen

96 Vgl. HE, vv. 2879–2922.

97 Vgl. ebd., vv. 2980–2985: „wir machen in einer wîle / solhen mort under in, / mich betriege dan mîn sin, / daz wir sie der bogen ergetzen / und des houptes geletzen / noch hiute vil manigen man.“

98 Vgl. dazu auch Stock [Anm. 34], S. 207.

99 Vgl. HE, vv. 2996–3400.

Monika Schausten

Das Höfische als Distinktionsmerkmal repräsentativer Vergemeinschaftung: das festliche Auftreten,100 die prächtige Mahlzeit,101 das vornehme Gebaren am Tisch (waschen [getwagen; v. 3226]), wohlerzogenes Verneigen vor dem Herrscher (vgl. v. 3230), die Fülle der aufgetragenen Speisen (vgl. v. 3236), später die Festfreude (vgl. vv. 3365–3384), das Tanzen und Musizieren (vgl. v. 3369 f.); auf der anderen Seite die Relativierung dieser Praxis des feierlichen Gebarens durch die Einschübe der Figurenperspektiven der Prinzessin und der bayerischen Helden. Ausgeführt durch die Grippianer, stößt die Form höchster Geselligkeit, wie sie, so der Erzähler, noch dicke ze hove geschiht (v. 3395), in der Reaktion der nicht der Gemeinschaft zugehörigen Figuren an massive Grenzen. Dabei stellt die hybride Physis der Kranichmenschen die Demarkationslinie dar, mit der das erzählte Geschehen an diesem Punkt die Transkulturalität höfischer Handlungsmuster versieht. Der über die Körperlichkeit der Gemeinschaft realisierte Vollzug konventionalisierter Verhaltensformen im Rahmen höfischer Festinszenierung zeitigt aus Sicht der Beobachter nicht den gewohnten Effekt. Das Verhalten der Gesellschaft (vgl. vv. 3377–3381), die Lautstärke der Musik, der durchgehende Lärmeindruck (vgl. v. 3371 f.) sowie die schmerzhaften Küsse des Königs, die die Prinzessin als Ausdruck seiner minne (v. 3246) erduldet, lösen bei ihr Schmerz, Tränen und Trauer aus (vgl. vv. 3251–3253), die wiederum das Erbarmen (vgl. v. 3258) der christlichen Helden hervorrufen. Das festliche Körper-Gebaren der Grippianer erzielt damit das Gegenteil des Freude-Effekts, der sich normalerweise mit den höfischen Formen performativ realisierter Unterhaltung verbindet. Es evoziert eine die Kranichgemeinschaft irritierende physische Reaktion bei der indischen Prinzessin.102 Und die bayerischen Helden verändern auf der Grundlage des Gesehenen ihre Einschätzung der unbekannten Umgebung: Was ihnen zuvor als Ausweis höchster höfischer Zivilisiertheit erschien, kippt nun in die Erkenntnis einer unüberwindlichen Fremdheit der sich mehr und mehr entziehenden Kultur in der Figurenrede Ernsts: „sol disiu frouwe wol getân in disem ellende belîben an ir ende, daz wære ein wunderlîch geschiht. sie vernimt ir sprâche niht: sie kan ir sprâche niht verstân.“ (vv. 3278–3283)

100 Vgl. dazu ebd., vv. 3064–3071: Der Herrscher ist beschrieben als ein schne[r] man (v. 3061), der weithin leuchtende Gewänder trägt: der truoc umbe sîniu bein / zwô hosen die wârn vil tiure / und kosten rîche stiure, / dar ane vil edeler steine, / berlîn grôz und kleine, / mit golde verwieret. / sus wârn die hosen gezieret / nider ûf die spitze vorn.

101 Vgl. ebd., vv. 3213–3240.

102 Der Erzähler erwähnt die Verärgerung, die die traurige Reaktion der Prinzessin beim Herrscher von Grippia auslöst, der das Fest schließlich abrupt beendet: si gehabte sich doch lützel baz, / wan ir jâmer was sô grôz / daz es den rîchen künec verdrôz (HE, vv. 3382–3384). Leseprobe,

Zur Inkompatibilität der Körper, die die Erzählung als natürliche Ursache eines Scheiterns transkultureller höfischer Verhaltensstandards statuiert, gesellt sich die Sprachbarriere, die die Kulturen voneinander trennt. Die Erzählung akzentuiert Grippia trotz seines höfischen Gepränges als letztlich resistent gegenüber allen Formen interkultureller Begegnung. Das für die Beobachtenden unvertraute Reich wird vielmehr als eines erkennbar, das sich stets aus sich selbst heraus erneuert: Ebenso, wie die Grippianer die entwendeten Speisen auf der königlichen Tafel umstandslos ersetzen (vgl. vv. 3213–3219), wählen sie sofort einen neuen Herrscher, als bekannt wird, dass der König ums Leben gekommen ist (vgl. v. 3878 f.). Hierzu fügt sich, dass das Land bei allen geschilderten Kontakten mit Vertretern und Vertreterinnen anderer Kulturen – wie im Fall der Heerfahrt nach Indien und im Kampf gegen Ernst und seine Gefolgschaft – als gewalttätig agierendes Machtzentrum akzentuiert ist, dessen Vertreter vor allem auf die gesellschaftszerstörenden Modi von Tötung, Mord und Raub zurückgreifen. Die anfängliche hyperbolische Einschätzung Grippias als Ausprägung einer idealen höfischen Kultur durch die Helden erweist sich im Angesicht der hybriden Physis ihrer Bewohner und Bewohnerinnen und der im Land obwaltenden Herrschaftsform mehr und mehr als eine interkulturelle Projektion. Dass das Grippia-Reich durch die Ankömmlinge letztlich auf keine Art zu bewältigen ist, dokumentiert schließlich die gescheiterte Rettungsaktion der indischen Prinzessin aufs Drastische: Die Helden richten in der Kemenate des Königs ein Blutbad an, doch bewirkt ihr Eindringen in den Raum der Herrschaft nichts anderes als die Tötung der Prinzessin.103 Alle konventionalisierten höfischen Handlungsmuster und Verhaltensformen scheitern letztlich an der unbekannten Kultur. Dabei wird am Schluss der Episode im Schließen von Räumen das Hermetische der Fremdkultur wiederholt zur Anschauung gebracht: Den geöffneten Toren zu Beginn entsprechen an ihrem Ende die mit dem volke (v. 3607) verbarrikadierten Tore, die Ernst und Wetzel am Entkommen vor den Aggressoren ebenso hindern wie hernach eine riesige Nachhut königlicher Gefolgsleute, die die Helden noch auf die See hinaus verfolgen.104 Die zentralen Konstituenten von Faszination, Verlockung sowie Abstoßung und Schrecken, wie sie für die neuzeitlichen orientalistischen Meistererzählungen westlicher Provenienz von Edward W. Said und anderen namhaft gemacht worden sind,105 strukturieren auch das Erzählen vom Anderen im „in

103 Vgl. HE, vv. 3417–3456.

104 Vgl. ebd., vv. 3855–3859.

105 Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York 1987; sowie zu den vormodernen Ausprägungen des Orientalismus bes. Suzanne Conklin Akbari: From Due East to True North: Orientalism and Orientation, in: The Postcolonial Middle Ages, hg. v. Jeffrey Jerome Cohen, New York 2000, S. 19–34.

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Das Höfische als Distinktionsmerkmal der fernsten Ferne verortete[n] Heterotop Grippia“.106 Sie erweisen sich als Konstituenten einer spezifisch vormodernen, fabulösen Imagination eines hybrid angelegten Anderen, „in dem sich Elemente des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ überlappen“.107 Faszination und Abstoßung fungieren hier als Pole einer in Syntagma und Paradigma sich vollziehenden Bewegung der christlichen Protagonisten in einem geheimnisvollen Raum, dessen Enthüllung zunächst den europäischen Helden regelrecht aufgegeben zu sein scheint.108 Faszination, konkretisiert im Bewundern einer ästhetisch-technisch überragenden Kultur, in der höfische Formen von Machtdemonstration und Interaktion als transkulturelle Praktiken verfügbar sind, und Schrecken, ein unumwundenes Gewalthandeln halb-tierischer Wesen als einzige Form der Interaktion gegenüber Eindringlingen, steuern das narrative Syntagma im Modus eines von – nach. Im Paradigma der Episode erfolgt die Explikation immer neuer Fehlwahrnehmungen, scheiternder Handlungsmuster und Rückgriffe auf dubiose Verhaltensweisen (curiositas), die die Begegnung der europäischen Helden mit dem unvertrauten Raum kennzeichnen, die ihn indes letztlich weder als Augenzeugen und Kämpfer noch als christliche Retter aneignen können. In den volatilen Fremdund Selbsteinschätzungen der Figuren sowie in ihrem Rückgriff auf Praktiken des Mordens und Abschlachtens gegenüber den Grippianern („wir haben under in getân / den mort und ouch den schaden / des sie sich nimmer mugen entladen. / wir slahens als daz vihe nider“; vv. 3292–3295) entwirft der Text ein systematisches Sich-Entziehen der fremd bleibenden Kultur gegenüber allen Formen freundschaftlich-verbindlichen Kontakts und zugleich ein sukzessives Hereingezogensein der christlichen Helden in Verhaltensformen, die von den Idealen höfischen Agierens abweichen. Im Paradigma der Erzählung greift die so angelegte topologische Ordnung in gesteigerter Form das Muster der Rahmenhandlung auf, insofern der Eintritt des bayerischen Helden in einen Handlungsraum geschildert ist, der sich mehr und mehr seiner Kontrolle entzieht und somit eine Veränderung des höfisch-höflichen Gebarens erzwingt.109 Wie das Reich Ottos so wird auch Grippia im Verlaufe des erzählten Geschehens zum Ort existentieller Bedrohung. Ernst und Wetzel können ihm letztlich nur mit größter Mühe entkommen. Grippia, so stellt sich am Ende der Erzählung heraus, hinterlässt im wahrsten Sinne des Wortes bei den christlichen Helden

106 Klein [Anm. 27], S. 251. Ähnlich auch Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm.  33], S. 168.

107 Klein [Anm. 27], S. 251.

108 Vgl. ebd., S. 254.

109 Ähnlich argumentieren auch Stein [Anm. 33], S. 35, und Stock [Anm.  34], S. 201: „Die beschriebene fremde Welt wird im Lektüreprozess durchlässig für Äquivalenzbeziehungen zur bekannten Welt: Ernsts und Wetzels Abenteuer in der Stadt können gelesen werden als Nachvollzug der Reichskrise in einer verfremdeten Szenerie.“

nichts als Verlusterfahrungen.110 Die Faktur einer in allen Aspekten selbstgenügsamen Gesellschaft sowie auch die Problematisierung gesellschaftlich opportuner Verhaltensmuster am Beispiel der Protagonisten, wie sie bereits in der Rahmenerzählung verhandelt werden, greift die Grippia-Episode wieder auf. Sie re-aktualisiert zumindest partiell im Bericht über den Raub der indischen Prinzessin und im Blick auf die gewalttätigen Handlungsformen der Helden diejenigen Konstellationen sozialer Ordnung und transkultureller Konflikte nach innen, wie sie an der Auseinandersetzung des Bayern mit dem Reich Ottos bereits durchgespielt wurden.111

V. Sammeln als De-Kontextualisierung: Kulturtransfer im „Herzog Ernst“

Die Exklusion des Herzogs aus der vertrauten Welt wird auch über die Grippia-Episode hinaus als immer weiter fortschreitender Prozess seiner räumlichen und sozialen Marginalisierung kenntlich gemacht. Im Paradigma der Erzählung wird dieser Prozess nicht zuletzt auch an der Animalisierung der bayerischen Helden anschaulich, die von den Gewaltakten des Tötens und Raubens in der

110 Bent Gebert [Anm. 24] hat zuletzt durch die Akzentuierung des „Herzog Ernst“ als Migrationserzählung die in der Forschung verbreitete These, der Orientteil fungiere im Gesamtzusammenhang der Erzählung als Kompensationsraum, relativiert. Der Weg des Helden sei nicht als „Lernweg“ konzipiert (S.  273), vielmehr sei die Erzählstruktur dem exile and return-Schema verpflichtet (vgl. S. 271). Beachte man die durch die Migration vorgegebene Wegstruktur, dann sei diese deutlich von „anderen Formen zielbestimmter Bewegung“ wie auch von anderen „unbestimmteren Bewegungsmodi“ zu unterscheiden: „Weder auf geplante noch auf ungeplante Bewegung lässt sich Migration mithin reduzieren, sondern wird von beidem charakterisiert: Angetrieben von bestimmten Motiven oder Ursachen, aber ebenso oft einschneidenden Zielverlusten, Zieländerungen und Zielverschiebungen unterworfen, sind Migrationsprozesse von Umschlagserfahrungen zwischen Intentionalität und Unplanbarkeit charakterisiert“ (S. 251). So gesehen ist die GrippiaEpisode ein Beispiel für den Umschlag gerichteter Bewegungen in unbestimmte, freilich ohne die „Bewegungszusammenhänge im narrativen Syntagma gänzlich zu sprengen“ (S. 259). Die Erfahrung der Grippia-Episode bleibt „für die Rahmengeschichte seltsam wirkungslos“ (S. 273). Aus einer Analyse eines Erzählstils, der von „retrospektiven Wertungsübertragungen“ geprägt sei, kommt Friedrich Michael Dimpel: Wertungsübertragungen und korrelative Sinnstiftung im Herzog Ernst B und im Partonopier, in: DVjS 89, 2015, S. 41–69, hier: S. 61, zu ähnlichen Ergebnissen: Im „Herzog Ernst“ werde eine „monologische Erzählweise“ vermieden. Die Grippia-Episode biete „vorübergehend eine Öffnung der Perspektivenstruktur“ an: „In Grippia wird in zugespitzter Weise vorgeführt, wie problematisch und überflüssig ein Kampf gegen eine Überzahl sein kann und mit welchen Folgen ein solcher Kampf verbunden ist.“

111 Stein [Anm. 33], S. 36, spricht von einer „Reduplikation der Krisensituation in der Anderwelt des Orients“. Im Anschluss daran und zum Verfahren der „kombinatorische[n] Sinnbildung“ im „Herzog Ernst“ vgl. Stock [Anm. 34], S. 201, der den Orient nicht als „Revisions- oder Reversionsraum“ verstanden wissen will, sondern als „Reflexionsraum“: In der „invertierten ‚Wiederholung‘ im Orient“ werde die „Situation des rîches reflektiert“ (S. 227).

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Das Höfische als Distinktionsmerkmal Rahmenerzählung ihren Ausgang nimmt. In der Folge des Grippia-Abenteuers erreicht die Entwicklung der Begegnung mit bekannten und immer unbekannteren Räumen ihren Höhepunkt, indem die bayerischen Helden nun in den kulturfernen Raum der Natur verschlagen werden. Der Weg wird für Ernst und seine noch lebenden Gefährten, so Julia Weitbrecht, „durch geologische Formationen buchstäblich blockiert: der Mastenwald der im Lebermeer feststeckenden Schiffe, das Vogelnest der Greifen auf dem Felsen, der Fluss, der in der Felswand verschwindet – das alles verhindert eine ‚barrierefreie‘ Weiterreise und bedingt räumliche Ausgesetztheit und Ungewissheit“.112 Doch erweist sich diese Station totaler Entfremdung von allem Vertrauten, die in der Situation der auf einem Schiff festsitzenden Helden anschaulich wird,113 bei näherem Hinsehen zugleich auch als neuralgische Episode, in deren Verlauf ein Umschwung in ihren Verhaltensweisen hervortritt.114 Denn ihre Rettung können sie nur mit der Natur bewerkstelligen: Im Beobachten der Greifen, die die toten Ritter ihren Jungen als Nahrung bringen, zeigt sich ein planvolles Einlassen der Helden auf die Regeln der Natur, wenn sie sich selbst in die Häute von merrinder[n] (v. 4204) einnähen lassen und auf diese Weise von den Vögeln unbeschadet an Land getragen werden.115 Und so wird gerade am Punkt ihrer planvoll hergestellten Vertierung, die als absichtsvolle Assimilation an ihre Umgebung ausgewiesen ist, eine markante Veränderung ihres Handelns anschaulich, die schließlich vom Erzähler eine entsprechende Kommentierung erfährt:

wrn die grîfen von in erslagen, sô wre keiner mê getragen her über von den alden. sus wart ir aller lîp behalden, daz sies ir jungen brâhten. (vv. 4345–4349)

Retrospektiv weist der Kommentar das Erschlagen als habitualisiertes Verhaltensmuster der Protagonisten aus, das hier explizit in ein kritisches Licht gerückt wird. Der Tiefpunkt des heldischen Weges leitet auf dieser Grundlage den allmählich sich vollziehenden Prozess einer Re-Integration der verbleibenden Bayern in das Reich des Kaisers ein. Angesichts der aus der Antike bekannten Wundervölker, in deren Dunstkreis Ernst, Wetzel und die verbleibenden sechs Männer geraten, sind höfische Verhaltensformen, insbesondere die Frage, wie man sie […] enphienge (v. 4525), im Gegensatz zu Grippia wieder als transkulturell wirksames Prinzip freundlich-verbindlicher Kulturkontakte

112 Weitbrecht [Anm. 37], S. 99.

113 Vgl. HE, vv. 4096–4115.

114 Ähnlich auch Stein [Anm. 33], S. 36.

115 Auf Motivparallelen der Greifenepisode zu den Sindbad-Erzählungen aus den „Tausendundein Nächten“ weist Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm.  33], S. 158, Anm. 6, im Anschluss an Szklenar [Anm. 33], S. 165–167, hin.

ausgewiesen.116 Ansehen, die Sichtbarkeit sozialer Vorrangstellung findet über die kulturellen Grenzen hinweg Anerkennung. So bekande (v. 4553) der Herzog der Arimaspi am Verhalten der Ankömmlinge, daz sie edele liute wren (v. 4554) und sein König neic in albesunder (v. 4579), als [er] ir […] wart gewar (v. 4578).117 Doch die Anschaulichkeit, die dieses Ansehen in prächtigen Empfängen, üppigen Mahlzeiten und vornehmen Einkleidungspraktiken der Gäste erfährt,118 überführt zugleich im Rahmen herrschaftlicher Geschenkepolitik die Hierarchien in die Sichtbarkeit, die zwischen den Ankömmlingen ohne Land als den auf Geschenke Angewiesenen und den als mächtige Feudalherren ausgewiesenen Gast-Gebern bestehen. Der Herzog von Arimaspi vergrößert in der Vorführung der Bayern vor seinem König sein eigenes Ansehen: In der an ihn gerichteten Frage des Herrschers, wa er die recken hte genomen (v. 4581), wird den Bayern vorübergehend der Status von Objekten herrschaftlichen Handelns ebenso zugewiesen wie in der Probe des Königs, welcher der Bayern der tiurste wre (v. 4607): Ein kastilischer Hengst wird am Hof vorgeführt, dessen Zaum Ernst als Erster ergreift, um dann ohne Stegreif ritterlîche (v. 4611) auf dem Tier zu reiten. Dieser öffentlich sichtbare Vorgang legitimiert die Idoneität Ernsts in dessen instinktiver Bezogenheit auf das edle Tier als naturgegeben und offenbart zudem seine europäische Herkunft. Doch trotz der vor Augen gestellten sozialen Herausgehobenheit des Helden stellt der König von Arimaspi Ernst zunächst in seinen dienest (v. 4614). Auf dieser Grundlage wiederum wird dann eine schrittweise Integration der Bayern in das Herrschaftsgebiet der Arimaspi eingeleitet, die durch eine zunehmende Nähe zum Regenten schließlich in einem sozialen Aufstieg des Herzogs in der Fremde resultiert. Dieser wiederum wird durch einen Prozess zunehmender interkultureller Verständigungsmöglichkeiten plausibilisiert:119 Das Erlernen der Landessprache durch die Bayern ermöglicht eine vom König erbetene Verständigung über ihr Herkommen, die Geschichte ihrer Vertreibung sowie ihres landes site und gebre (v. 4651), die eine noch bessere Behandlung im Reich der Einäugigen nach sich zieht. Aber erst ihr ritterliches Agieren gegen die Antagonisten des Herrschers (Plattfüßler, Langohren) resultiert in einer Belehnung Ernsts durch den Herrscher:

116 Ähnlich auch Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 165: Mit „Ausnahme der Kranichschnäbler“ würden die „fremden Wesen“ so dargestellt, als seien sie „Teilhaber an der eigenen Kultur“. Das Erzählinteresse gelte hier vorrangig nicht dem „exotischen oder gar phantastischen Äußeren der Fremden […], sondern einer Verringerung der Distanz – nicht der Aufhebung von Distanz! – zwischen den Fremden und dem europäischen feudaladligen Selbst.“

117 Konsequent wird im Verlauf des weiteren erzählten Geschehens die Begrüßung Ernsts durch die Herrscher der unterschiedlichen Völker an den Beginn ihrer Begegnung gestellt, so dass das Nicht-Angesehen-Werden Ernsts durch die Grippianer mehr und mehr als Sonderfall hervortritt. Vgl. dazu: HE, v. 4944, 5460 f.

118 Vgl. z. B. den Empfang durch den Herzog der Arimaspi, ebd., vv. 4543–4549.

119 Vgl. dazu auch bes. Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 165.

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Das Höfische als Distinktionsmerkmal

„du solt immer mêr gewalden mîns landes swaz dus haben wil. des sol ich dir lîhen alsô vil durch liebe die ich zuo dir hân daz du selbe maht wol hân beide êre unde ruom.“ (vv. 4766–4771)

Die Figurenrede gewährt Einblicke in die Regularien einer transkulturell wirksamen herrschaftlichen Machtpolitik: Sie macht auf die Notwendigkeit der königlichen Belehnung aufmerksam, die als Bedingung dafür explizit wird, dass Ernst wieder in die Position eines selbständig handelnden, ritterlichen Kriegers eintreten und so sein Ansehen und seinen Ruhm mehren kann. Und erst auf dieser Grundlage wird ein Agieren im Rahmen höfischen Gabentauschs auf unvertrautem Terrain möglich.

Als Unterstützer unterschiedlicher Herrscher kann der Herzog nun für seine Dienste etwas einfordern. Doch sind es gerade seine im Rahmen höfischer Gabenpolitik durchaus ungewöhnlichen Forderungen, die seine Existenz in der Ferne als Schwellenexistenz ausweisen, die es letztlich zu überwinden gilt: Ernst wird zum akkumulierenden Sammler, indem er für seine ritterlichen Taten nichts einfordert als jeweils zwei Vertreter der von ihm im Kampf besiegten Gemeinschaften: Plathüeve Prechamî und Ôren (v. 5422) sowie ein rise[ ] (v. 5419) werden so ebenso zum Teil seiner Sammlung wie schließlich auch zwêne man […] von Arimaspî (v. 5424 f.), die sich Ernst, der in ze herren wol geviel (v. 5429), freiwillig anschließen. Im Prozess ihres Herauslösens aus den Herkunftskulturen im Modus des Sammelns konkretisiert der Text eine asymmetrische Differenz zwischen Ernst und den fremden Kulturen im Horizont machtpolitischen Agierens quantitativ, als Gegensatz zwischen der einen europäischen und den vielen fremden Kulturen. Der dem Sammeln eigene Antagonismus zwischen Bewahren und sukzessivem Vernichten des Gesammelten wird in der Zuschreibung unterschiedlicher Funktionen des Zusammengetragenen im Syntagma der Erzählung konkret:120 Im Modus des Bewahrens fungieren die Exemplare unterschiedlicher Kulturen zunächst als wunder (v. 5329) zu Unterhaltungszwecken gegen die lange zît (v. 5332), die die Existenz Ernsts in der Fremde kennzeichnet. Ihr Status verändert sich mit der durch christliche Kaufleute aus dem Môrlant (v. 5339) ermöglichten, heimlichen Flucht der Bayern aus dem Bereich der Arimaspi signifikant.121 Die Vertreter der unterschiedlichen Völker sind nun

120 Zu den Spezifika akkumulierenden Sammelns vgl.: Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt/Main 1999, S. 40 f.: „Das akkumulativ Gesammelte geht seiner Vernichtung entgegen. […] Etwas akkumulativ zu sammeln heißt, seine Vernichtung zu verzögern: es ist ein Aufschub des Verschwindens, ein Moment des Bleibens im Prozeß des Vergehens.“

121 Zur Flucht der Bayern aus Arimaspi vgl. bes. Stock [Anm. 34], S. 218: „Die Flucht […] ist also ein letztes Signal für die Tatsache, daß für Ernsts Aufenthalt in Arimaspi das ‚Normale‘ suspendiert ist zugunsten einer Sondererfahrung.“

Garanten für den weltumspannenden Ruhm des Herzogs Ernst in der geographisch vertrauten Welt der Rückreise (Jerusalem, Rom, Bamberg, Bayern).122 In der Grabeskirche und in anderen heiligen Stätten Jerusalems wird die Hälfte der monstra gemeinsam mit materiellen Kostbarkeiten zu Gottesgaben,123 bevor die übrigen als Exponate einer zum Staunen veranlassenden Vorführung Ernsts avisierte Re-Integration in das Reich Ottos ermöglichen. Wieder gemeinsam mit den großen materiellen Reichtümern, die er verholn (v. 5417) außer Landes geschafft hatte,124 gerinnen die einzelnen Vertreter der Völker allesamt auch hier zu Objekten, die geeignet sind, den exzeptionellen Status des Helden auf seiner Rückreise über Jerusalem und schließlich auch vor dem Kaiser zur Anschauung zu bringen. Das heimliche Mitführen von akkumulierten Reichtümern und Vertretern der fremden Länder wird als Teil eines machtpolitisch ertragreichen kulturellen Transferprozesses explizit. In einer einseitigen Bewegung von –nach kann die Sammlung als Resultat eines über seine Dienste gerechtfertigten Nehmens die Superiorität des christlichen Helden und seinen machtpolitischen Erfolg in die öffentliche Sichtbarkeit überführen. Die mitgeführten Exemplare der fernen Kulturen garantieren letztlich auch die Restituierung der Machtposition Ernsts durch den Kaiser.125 Raumordnung und Wegstruktur erweisen sich im „Herzog Ernst B“ als Grundlage eines grenzziehenden, die Relation von Eigen- und Fremdkulturen je spezifisch profilierenden Erzählens. Dabei werden die Markierungen der Differenz im Rekurs auf die Transkulturalität machtpolitisch konventionalisierter (höfischer) Handlungsformen explizit: Der Text unterscheidet zwischen Rauben (Kranichschnäbler) und Nehmen (Bayern), er imaginiert Formen interkulturellen Austauschs im Spannungsbogen von Herrschen (Arimaspi) und Dienen (Bayern), und er attribuiert dem christlichen Helden ein über sein dienstbares, kämpferisches Handeln gerechtfertigtes Nehmen als ihm allein vorbehaltenes Sammeln. Und schließlich erfolgt in Referenz auf den milita­Christi­Diskurs auch die bekannte Differenzierung des Tötens auf der Grundlage topographischer Ordnung: Im Kontext des christlichen Kampfes gegen die Heiden in Jerusalem akzentuiert die Erzählung in expliziter Referenz auf die Problematisierung des Tötens in der Grippia-Episode das Abschlachten der meist

122 Vgl. dazu bes. Stein [Anm. 33], S. 41: „Als er dem König von Moorland von seinen Fährnissen berichtet, ist die Situation eine andere, denn jetzt verkörpern die monstra in ihrer Präsenz die Idoneität des Herzogs als Herzog: Sie sind lebendige Zeichen seiner sukzessiven Restitution.“

123 Vgl. HE, vv. 5676–5685.

124 Vgl. ebd., vv. 5404–5417: eins âbendes spâte / hiez der vil küene man / daz beste daz er mohte hân /  von silber und von golde / und an andern rîchen solde, / phelle und sîden gewant, / swaz er des besten gevant, / berlîn und edel gesteine, / allez daz gemeine / swaz man genützen mohte / und im ze füeren tohte, / swaz im dar über geviel, / daz kam allez in den kiel / mit flîze vil wol verholn.

125 Vgl. dazu z. B. die Aufnahme Ernsts durch den König ze Môrlande, ebd., vv. 5435–5492. Leseprobe,

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Das Höfische als Distinktionsmerkmal unbekleideten Heiden (die heiden wâren meistic blôz; v. 5562) wie Vieh (als daz vihe; v. 5581) als Gottesdienst und damit als gerechtfertigt. In der Abfolge höfischer Praktiken, die die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Herrschern, Ländern und Kulturen ermöglichen, steuert eine geographische, topographische und topologische Raumordnung der komplex angelegten Erzählhandlung eine Verhandlung der Axiologie transkulturell verfügbarer (höfischer) Verhaltensstandards machtpolitischen Agierens. Dabei wird in der Rahmenhandlung die Fragilität einer transkulturellen Ordnung nach innen im Konflikt zwischen Ernst und dem Reich im Horizont einer Intrige thematisch, in deren Verlauf die habitualisierten integrativen Verhaltensformen gegenseitiger Wertschätzung erodieren. Reise- und Rückkehrteil der Erzählung perspektivieren hingegen in einer Abfolge von Betrachten, Erfahren, Dienen, Ermächtigen und Sammeln Limitationen und Möglichkeiten interkultureller Kommunikation und Begegnung überwiegend im Horizont eines politischen Machtdiskurses christlich-europäischer Provenienz. Im fabulösen Orient erfolgt nach der Integration der Helden in die Gesellschaft der Arimaspi im Sammeln des Herzogs auf dem Rückweg eine sukzessive Dekontextualisierung der besuchten Reiche:126 Im Modus dieses Prozesses werden die Spezifika der er-fahrenen Länder und ihrer Gewohnheiten abgeblendet.127 Was bleibt, ist ihre legitimierende Funktion für die Wieder-Ermächtigung des Herzogs im Rahmen einer als gottgegeben ausgewiesenen Herrschaft des Kaisers. Im Horizont der in einem aufwendigen Ritual vollzogenen Versöhnung mit Otto avanciert Ernst selbst zum – hier indes positiv konnotierten – Kuriosum. 128 Die mitgebrachten Exemplare weit entfernter Kulturen indes sind nurmehr Zeugen einer als exzeptionell hervorgehobenen heldischen Erfahrung, an der auch der Herrscher selbst zu partizipieren sucht: Seiner im Modus des Nehmens vorgetragenen Bitte (dô bat im der keiser hêre / ein teil sîner wunder geben; v. 5982 f.) kann Ernst sich nicht entziehen, sodass der Herzog ihm widerstrebend (ungerne; v. 5985) Einsterne (v. 5986), dem diu ôren wârn sô lanc (v. 5987) und einz der kleinen liutelîn (v. 5989) überlässt. Als Medien einer Beglaubigung für eine gesellschaftlich begehrte Erzählung am Kaiserhof werden die mitgebrachten Vertreter der fremden Herrschaftsgebiete schließlich zu Gegenständen höfischer

126 Das Gesammelte wird hier im Modus des Kulturtransfers sukzessive vernichtet, vgl. dazu nochmals Sommer [Anm. 120], S. 40.

127 Eine gegenteilige Einschätzung vertritt Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 167: „Indem er [Ernst, M.S.] die Exemplare der Wundervölker mit nach Bayern bringt, werden nicht nur Ernsts Abenteuer beglaubigt, sondern die a-historischen Völker werden zugleich historisiert, eingebunden in das durch den historischen Kaiser Otto repräsentierte rîche.“

128 Zum aufwendig konzipierten Ritual der Versöhnung am Schluss der Erzählung vgl. Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur, Darmstadt 2002, bes.: S. 110–140.

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Unterhaltung am Hof und damit in den Bereich eines im höfischen Diskurs verfügbaren Fabulösen verschoben.

Doch der Schluss der Erzählung hinterlässt bei ihren Rezipierenden auch Irritationen: Die eine betrifft das Begehren des Kaisers nach einer Partizipation an Ernsts Er-Fahrung: Ist hier eine überschießende curiositas beschrieben? Wird der Kaiser förmlich hineingezogen in die Erzählung von einer faszinierendbedrohlichen Welt, ähnlich wie Ernst von der Schönheit Grippias überwältigt wird? Wenn der auktoriale Erzähler davon berichtet, dass der Kaiser zwölf Tage lang seine Kemenate nicht verlässt und alles um sich herum über der Erzählung vergisst,129 lässt der Text zumindest in der Schwebe, ob sich darin ein kritikwürdiges herrschaftsvergessenes Verhalten des Regenten dokumentiert, oder ob damit die Exzeptionalität der heldischen Er-Fahrung noch einmal eine letzte Steigerung erfährt: Im Auftrag der Verschriftlichung der Erzählung, den Otto erteilt, dokumentiert der Text einmal mehr das partizipative Interesse des Kaisers an einer Geschichte, die im Medium der Schrift auf Dauer gestellt wird.130 Und schließlich wäre da noch Grippia: Als einziges Reich der befahrenen Welt bleibt das sich selbst erneuernde Reich dem christlichen Helden unverfügbar: Kein mitgebrachter Vertreter des Gebiets kann als Zeuge beigebracht werden; vielmehr wird die Geschichte eines desaströsen Misserfolgs, wie sie spätere Fassungen auch partiell zu bereinigen suchen,131 vollständig abgeblendet, indem sie am Kaiserhof keinerlei Erwähnung findet. Der Schrecken, Teil der orientalistischen Imaginationen des Anderen, verschwindet als Auslassung hinter dem Faszinosum einer in der Erfahrung bewältigten, im Erzählen und in der Niederschrift eingehegten Welt.

VI. Fazit

Theoretisch-methodische Entwicklungen, wie sie in den letzten Jahrzehnten vor allem über Diskurstheorie und Poststrukturalismus, über Gendertheorie sowie post- und de-koloniale Perspektiven geisteswissenschaftliche Debatten inspirieren, machen kulturhistorisch zentrale Fragestellungen, deren Analyse auch den Einzeldisziplinen aufgegeben ist, allererst zugänglich.132 Am Beispiel

129 Vgl. HE, vv. 5994–6002.

130 Vgl. ebd., vv. 6004–6007. Zu Motivparallelen zur sechsten Reise der Sindbad-Erzählung, in der der Kalif einen Chronisten beauftragt, die Geschichte von Sindbad aufzuzeichnen, vgl. nochmals Haupt: Ein Herzog in Fernost [Anm. 33], S. 158.

131 Zum Vergleich der Fassungen des „Herzog Ernst“ vgl. Plotke [Anm. 32], S. 124; Horst Brunner: Der König der Kranichschnäbler. Literarische Quellen und Parallelen zu einer Episode des ‚Herzog Ernst‘, in: ders.: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2008 [zuerst 2007], S. 21–37, hier: S. 25; Weitbrecht [Anm. 37], S. 111: Im Herzog Ernst G erretten „Ernst und sein getreuer Freund […] die indische Prinzessin vor den Kranichschnäblern“ und bringen sie zurück nach Indien.

132 Vgl. ähnlich auch Benz, Stiening [Anm. 3], S. 4.

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Das Höfische als Distinktionsmerkmal der vorgelegten Textanalyse lässt sich zeigen, dass nur ein Zusammenschluss von transfer-, inter- und transkulturellen Parametern die Ausbildung einer Perspektive gestattet, auf deren Grundlage historisches Erzählen von Kulturkontakten differenziert erschlossen werden kann. Am „Herzog Ernst B“ als Beispiel höfischen Erzählens zeigt sich, dass die Modi höfischer Kommunikation als transkulturelle Formen vormodernen Herrschaftshandelns im Rahmen unterschiedlich akzentuierter Kulturbegegnungen und -auseinandersetzungen das erzählte Geschehen dominieren. Darüber hinaus erweisen sich die Handlungsmuster und die sich mit ihnen verbindenden höfischen Normierungen, wie sie sich im Spektrum zwischen Ansehen, Geben und Nehmen, Rauben und Sammeln ausdifferenzieren, als verhandelte Grundlage kultureller Identität. Als Formen sozialen Handlungswissens für den Bereich von Kulturbegegnungen und -friktionen sind sie schon für die im Text entworfene Gesellschaftlichkeit des Reiches als Basis politischen Agierens hervorgehoben.133 Sie deuten in diesem Zusammenhang auf die Fragilität einer Transkulturalität nach innen, die das Verhältnis zwischen Kaiser- und Landesherrschaft, allerdings nur vorübergehend, bestimmt. Im Blick auf die poetisierten Formen von Interkulturalität und Kulturtransfer wird ein literarisches Verfahren rekonstruierbar, das die Raumentwürfe der Erzählung mit der Verhandlung einer höfischen Axiologie christlich-europäischer Provenienz systematisch verknüpft. Als Konstituenten des literarischen Diskurses fallen besonders die überwiegende Fokalisierung des Geschehens aus der Perspektive des bayerischen Protagonisten, der systematische Ausweis fremder Figuren über ihre von den Bayern deviante Körperlichkeit, aber auch Hinweise auf ihre Religionszugehörigkeit, auf Sprachbarrieren und befremdliche Formen ihres Gebarens (Grippia) auf. Auf dieser Grundlage werden zugleich strategisch implementierte Abweichungen im Erzählen vom Fremden exponiert: die Relativierung der bayerischen Perspektive auf Grippia durch die zunehmende Offenbarung eines fehlgeleiteten Blicks der Protagonisten auf diese Kultur; das Interesse der Arimaspi an Herkunft und Bräuchen der exilierten Helden, das letztere zum Erlernen der fremden Sprache veranlasst; das Sich-Einlassen der Bayern auf die Regularien der Natur, die in der Greifenepisode ihre Rettung ermöglicht. Besonders aber die Insistenz auf einem nahezu weltumspannenden Ansehen des Protagonisten im Paradigma der Erzählung begründet eine Superiorität der christlich-europäischen Identität. Höfisches Erzählen wird hier als ein interessengeleitetes kenntlich, insofern die im erzählten Geschehen poetisierten transkulturellen und interkulturellen Potentiale herrschaftspolitischen Handelns schließlich zielgerichtet im Rahmen eines Kulturtransfers in das Herrschaftsgebiet Ottos zurückgenommen sind bzw. auf die Funktion eines Superioritätserweises christlicher Herrschaft

133 Zur Bedeutung höfischen „Handlungswissen[s]“, das im „Herzog Ernst B“ an die „Auslandserfahrung“ des Helden gebunden sei, vgl. Luff [Anm. 38], S. 87.

reduziert werden.134 Selbst interkulturell angelegte, freundschaftliche Ko-Existenzen, wie sie am Beispiel der Arimaspi dargelegt sind, werden über die Fokalisierung der Erzählung als vorübergehende Kompromisse der christlichen Figuren akzentuiert, die nicht von Dauer sein können. Gerade der Schluss des populären Erzähltextes lässt deutlich werden, wie sehr Formen eines monodirektionalen, die Herkunftskulturen nahezu auslöschenden Kulturtransfers den poetischen Diskurs vom Ende der Erzählung aus überformen. Die Ausdifferenzierung verschiedener Herrschaftsräume und ihrer Spezifika, wie sie im Reiseteil im Anschluss an die Grippia-Erzählung entworfen sind, werden in einem Schlussszenario zurückgenommen, in dem das ‚Re-Framing‘ der Erfahrungsräume als Sammlung Züge eines diese destruierenden Kulturtransfers annimmt:135 In seiner Folge werden die fernen Herrschaftsgebiete auf jeweils nur wenige Vertreter minimiert, die zu stummen Zeugen eines europäisch-christlichen Heldentums degradiert sind, das im Rahmen höfischer Gesellschaftlichkeit seinen Ruhm und sein Ansehen im Erzählen von ihnen mehren kann. Die Analyse gibt hier den Blick frei auf die Konstruktionsprinzipien vormoderner orientalistischer Meistererzählungen in der höfischen Literatur. Im Rahmen der fiktiven Biographie eines auratisierten bayerischen Landesherrschers erhalten diese Erzählungen nicht zuletzt eine genealogische Begründung.

Prof. Dr. Monika Schausten

Institut für deutsche Sprache und Literatur I Universität zu Köln

Albertus­Magnus­Platz

50923 Köln

Deutschland schausten.monika@uni­koeln.de

134 Vgl. dazu Drews, Scholl [Anm. 6], S. XVII: In diesem Zusammenhang bleibt fraglich, ob überhaupt am Ende der Erzählung die „ursprünglich differente[n] Entitäten in einem Hybrid verflochten“ vorliegen. Es scheint vielmehr so, dass der Text hier durch eine Verflechtungsgeschichte hindurch in seinem Ende eine Entflechtungsgeschichte entwirft.

135 Zum ‚Re-Framing‘ als umdeutenden Umgang mit Dingen vgl. Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung, 2., überarb. Aufl., Berlin 2014 [zuerst 2005], S. 39 f.

Monika Schausten

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