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HEUREKA #52020 Time Machine Die Digitalisierung des europäischen Kulturerbes

ILLUSTRATION: MONIKA ERNST

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2777/2020

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Kulturerbe für alle Was die Time Machine Europe und ihr Ableger Time Machine Vienna erreichen wollen Seite 12

Daten in neuen Dimensionen Was die Time Machine Vienna für Nutzer leisten muss und leisten kann Seite 14

Hofburg in die Time Machine Ein Computermodell der Wiener Hofburg als Beginn unserer virtuellen Zeitreise Seite 18


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Die Wiener Würfeluhr fürs Handgelenk. Im Jahr 1907 wurden in Wien bis zu 78 Uhren auf öffentlichen Plätzen von der Stadtverwaltung aufgestellt. Christof Stein hat diese als Armbanduhr neu aufgelegt. Ronda Quarz mit 36 mm-Edelstahlgehäuse. Fluoreszierendes Ziffernblatt und Natoband oder rotes Silikonband mit Dornschließe aus Edelstahl. Spritzwasserfest.

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IN TRO D U K TIO N   :   H EU R E KA 5/20   FALTER 47/20  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:   E D I TO R I A L

Kulturschock

FOTOS/ILLUSTRATIONEN: JKU, MATTHIAS SCHÖLLHORN, REBECCA WENIG, LENA WENZEL

Die immer größeren Dinge des Lebens  Seite 7 Wachsen unsere alltäglichen Gebrauchsgegenstände eigent­ lich mit uns mit oder gehen wir anders mit Platz um als früher?

Der Heldentod stirbt am Schluss  Seite 8 Kopf im Bild  Seite 4 Sepp Hochreiter, einer der welt­ weit zehn wichtigsten Forscher im KI-Bereich Deep Learning

Auf Kreta liegt ein deutscher Soldatenfriedhof. 2021 wird er endlich mit einer zeitgemäßen Ausstellung ergänzt

Zeitreisen in der Zeitung  Seite 16

Alte Daten in neuen Dimensionen  Seite 14 Was die „Time Machine Vienna“ leisten muss und für ihre Nutzer leisten kann

Das „Wienerische Diarium“ ist ein historisches Sammelsu­ rium. Mit dem „Digitarium“ kann man es erschließen

Glossar und Bücher zum Thema  Seite 20

Literatur zur Bedeutung von Bibliotheken

Europas Kulturerbe für alle öffnen  Seite 12 Die Aufgabe der Time Machine

Seit 1921 gute Aussichten  Seite 22

Das Burgenland, jüngstes Bundesland Österreichs, feiert nächstes Jahr seinen erstaunlichen Aufstieg

Mit der Hofburg in die Time Machine  Seite 18 Ein Computermodell der Burg

Faszinierend an der „Time Machine Europe“ ist die Aussicht auf einen gigantischen, virtuellen Spiegel für die Menschen Europas. Sollte die Zeitmaschine je realisiert werden, können wir unserer Kultur so nahe kommen, dass selbst der hässlichste Pickel und alle vereiterten Poren darin gut zu erkennen sein werden. Unsere Kultur, auf die wir so stolz sind, wird uns dann unverzerrt zei­ gen, wie wir in Europa wirklich aus­ sehen und was unsere Kulturge­ schichte nicht nur für uns bedeutet. Ob uns das gefallen wird? Bis jetzt sind wir ja hauptsächlich da­ mit beschäftigt, die hässlichen Fle­ cken der Kulturen der anderen fest­ zustellen und anzuprangern. Un­ sere hingegen erscheint uns sak­ rosankt, das Gute, das wir dieser Welt getan und immer noch tun. Unangenehm an Zeitmaschinen ist ja, dass sie mit einem Schlag al­ les aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen können, auch das, vom dem wir lieber annehmen möchten, dass es in sehr fernen Zeiten, den gern sogenannten Dark Ages, geschehen ist und nichts mit uns heute zu tun hat. Wir haben das überwunden, trösten wir uns, all das Grauen, zu dem unsere europäische Kultur geführt hat. Das kulturelle Erbe ist ja wie die alten Zeiten immer gut. – Bis es in die Zeitmaschine gerät.

:   G A ST KO M M E N TA R

Kontamination auf Distanz

FOTO: PRIVAT/BELVEDERE WIEN

MIROSLAV HAĽÁK

Was unterscheidet die ­mediale ­Revolution der Gege­nwart von Buchdruck, Presse, Rundfunk, Fern­ sehen und Telefonie? Was an der ­digitalen Verlinkung der Gesellschaft rechtfertigt ihre Sonderstellung in der Mediengeschichte? Die Antwort ausschließlich in ihren negativen Konsequenzen zu suchen wäre zum Scheitern verurteilt. Denn noch jede Verstärkung der medialen Erreich­ barkeit wirkte mobilisierend und als Beschleuniger fataler Konflikte. Hätte man nur das im Blick, wäre der mediale Informationsaustausch von heute nur eine Fortschreibung der technologischen Entwicklung ohne Anspruch auf Beispiellosigkeit. In der Kulturgeschichte sind wir bei den Kommunikationsformen mit Paradigmenwechseln konfrontiert. Doch die gegenwärtige Mediensitua­ tion zeigt wesentliche Unterschiede, da prothetische und prophylaktische

Funktionen einbezogen werden. Dank ihnen genießt die digitale Kommunikation eine globale und fast ausnahmslose Akzeptanz. Smartwatches, Handys, Tablets, Laptops, Computer und VR-Brillen sind zu Erweiterungen, zu unseren Prothesen geworden. Die CoronaKrise macht sichtbar, welche Kom­ petenz wir diesen Geräten zugeste­ hen. Sie ersetzen gemeinsame Tref­ fen und erhalten trotz der Isolation der einzelnen Menschen die Dyna­ mik unseres Gruppenorganismus. Jedem einzelnen vermitteln sie auf Knopfdruck sinnliche Erfahrungen

Miroslav Haľák ist Assistenz­ kurator am ­Belvedere, Wien

und transportieren ihn in beliebige Situationen, ohne seinen Körper zu bewegen. Die Berührung der mul­ timedialen Schnittstelle wird zur Gewohnheit, auch weil sie für die Kommunikation mit der Außenwelt alternativlos ist. Das Handy weg­ zulegen ähnelt dem Handikap, bei Sehstörungen ohne Brille herumzu­ laufen. Nie in der Mediengeschichte war die Trennung vom Medium der Amputation eines lebenswichtigen Körpergliedes so ähnlich. Der Tech­ nologie ist es gelungen, in unsere Intimsphäre einzudringen. Die prophylaktische, also vorbeugen­ de Funktion folgt der prothetischen. Sie hält in der Krisenzeit die Wirt­ schaft und andere soziokulturelle Be­ reiche am Laufen. In der Kulturge­ schichte stoßen wir zwar immer wie­ der auf wundersame Schutzobjekte, die Heil versprechen, das Internet hat aber diesen Kult vergegenwärtigt.

Viele glauben an die Profite einer Ferngesellschaft, doch die Tatsache, dass ich mich allein vor dem Com­ puter nicht mit Corona anstecken kann, bringt auch keine Lösung un­ serer zivilisatorischen Probleme. Im Gegenteil, durch Datenüberproduk­ tion und -manipulation entstehen neue. Auf diese Gefahren reagieren For­ schungsplattformen mit Revisionen der Datenverwaltung und der Infor­ mationsströme aus unübersichtli­ chen Datensilos. Doch es verlangt Ausdauer, um die Gewinner der me­ dialen Revolution zu einer neu­ en Ethik des Datengebrauchs zu be­ wegen. Noch ist unsere Gesellschaft von einer nachhaltigen und tat­ sächlich prophylaktischen Nutzung des Internets weit entfernt, was die Komplikationen bei der Verifizierung von Informationen, auch der lebens­ wichtigen wie über die Pandemie, auf der globalen Ebene belegen.


4 FALTER  47/20  H EUR EKA 5/20  :   P ERSÖNL IC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

Meister der KI „Bei künstlicher Intelligenz (KI) denken alle gleich ans Silicon Valley oder an China“, weiß Sepp Hochreiter. Er hat seine bahnbrechende LSTM-Technologie allerdings in Europa erfunden. Das Kürzel steht für „Long ShortTerm Memory“ („langanhaltendes Kurzzeitgedächtnis“), eine Deep-Learning-Methode, die das eigenständige Lernen künstlicher, neuronaler Netzwerke ermöglicht, also die Grundlage für intelligente Maschinen. Hochreiter hat damit KI-basierter Sprach-, Text- und Bilderkennung zum Durchbruch verholfen. Das System steckt in Amazons Alexa, Apples Siri oder dem Sprachassistenten „OK Google“. Für diese und weitere Meilensteine wie jüngst die „Self-normalizing Networks“ hat ihn das „Analytics India Magazine“ unter die zehn wichtigsten Forscher im Bereich Deep Learning gereiht, einen illustren Kreis aus Turing-Award-Trägern und leitenden Wissenschaftern von Apple, Facebook & Co. „Ich bin einer der wenigen, die noch an einer Universität forschen“, sagt Hochreiter. Er leitet das LIT AI Lab an der Universität Linz.

TEXT: USCHI SORZ FOTO: JKU

:   J U N G FO RS C H E R I N N E N   USCHI SORZ

Lucia Gaßner, 35, Institut für Sportwissenschaft „Climb up, Head up!“ heißt das Dissertationsprojekt der Oberösterreicherin, ein Doppeldoktorat an der Uni Wien und am Royal Melbourne Institute of Technology in Australien. Darin erforscht sie in Kooperation mit der MedUni Wien die Effekte von Sportklettern auf die Lebensqualität von Parkinson-Patienten. „Morbus Parkinson ist eine der häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen“, sagt sie. „Und Sportklettern fördert die bei dieser Erkrankung verminderte Flexibilität und Rumpfstabilität sowie Balance, Haltung und Bewegung.“ Neue Bewegungsmuster verbessern die kognitiven Fähigkeiten und das Selbstvertrauen wächst. „Weil es außerdem Spaß macht, sind die meisten Studienteilnehmer dem Klettern bis heute treu geblieben“, so Gaßner, die selbst schon seit dem Kindergartenalter klettert.

August Valentin Rabe, 34, Institut für Musikwissenschaft „Dass meine wissenschaftliche Arbeit von der Praxis inspiriert wird, ist mir sehr wichtig“, erzählt Rabe, der für seine Dissertation sogenannte Fundamenta für Tasteninstrumente aus dem 15. und 16. Jahrhundert untersucht. „Deshalb habe ich nicht nur Musikwissenschaft, sondern auch Cembalo studiert und auch gesungen.“ Ein Fundamentum ist eine Sammlung kurzer, auf bestimmte Weise strukturierter Musikstücke. Über die Verwendung weiß man wenig. „Ähnliche Sammlungen gab es in der Zeit auch zu Themen wie dem Fechten oder in der Architektur. Da zeigen sich aufschlussreiche Querverbindungen.“ Rabe tauscht sich interdisziplinär aus. Ihn interessiert, weshalb die Menschen gerade diese Musik sammelten und wie sie mit einem Fundamentum lehrten und lernten.

Martina Schorn, 32, Institut für Geographie und Regionalforschung „Die Abwanderung der Jugend stellt ländliche Räume vor große Herausforderungen“, sagt die Salzburgerin. Darum hätten betroffene Regionen begonnen, dem entgegenzusteuern. „Allerdings fehlt es an wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll sind, um die jungen Leute zurückzugewinnen.“ In ihrer Dissertation analysiert Schorn die Strategien von vier Fallregionen in Deutschland und Österreich. „Ich schaue mir an, ob sie den Bedürfnissen junger, mobiler Menschen entsprechen“, erklärt sie. Sie möchte Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. An ihrem Fach, der Raumforschung und Raumordnung, gefällt ihr „die zukunftsorientierte Denkweise und der Ansatz, räumliche Einheiten auf Basis wissenschaftlicher Evidenz nachhaltig zu gestalten“.

FOTOS: PRIVAT, BARBARA MAIR, UNIVERSITÄT WIEN

Diese drei Nachwuchswissenschafterinnen und -wissenschafter forschen mit einem Abschluss-Stipendium der Universität Wien


KO M M E N TA R E   :   H EU R EKA 5/20   FALTER 47/20  5

EMILY WALTON

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Zeitkapsel

Verschollen im Depot

Gute, alte Zeit?

Als erstes würde man wohl nach Verwandten suchen, oder nach Dingen, die am Wohnort oder Geburtsort, an einem liebgewonnenen Reiseziel oder einem langjährigen Urlaubsort passiert sind. Und dann? Dann würde man vielleicht beginnen, tiefer in die Vergangenheit zu gehen und, wenn’s gut geht, womöglich die Welt ein Stück weit neu entdecken. Womit soll das bloß gehen, fragen Sie? Mit einer einzigartigen Zeitmaschine, die aktuell am Entstehen ist: Auf Dokumente der Vergangenheit soll man bald genauso leicht zugreifen können wie auf aktuelle Daten. Die Time Machine Europe soll’s möglich machen.

„Nachts im Museum“ ist ein dreiteiliger Blockbuster, der jede Menge Geld gemacht hat. Die Idee mit der nächtlichen Aktivität diverser Exponate und Präparate ist, wie der Wiener sagt, leiwand, aber in den kitschigen Filmen nur mäßig originell umgesetzt worden. Abgesehen davon, dass ich mir so etwas in Wiener Museen gar nicht wünschen will (man denke nur an das grausliche Holzpferd von Bildhauer H. im „Haus der Geschichte Österreich“ in der überfüllten Hofburg), reizt mich ein anderer Gedanke viel mehr: Was, wenn nicht die Museen, sondern unsere Bibliotheken und Archive nachtaktiv würden? Vor Monaten fragte ich den neuen Chef des Staatsarchivs, Helmut ­Wohnout, ob er sich schon über Nacht in den Hallen seines Hauses hätte einschließen lassen. Der Historiker verneinte, doch blitzten seine Äuglein schalkhaft, und ich werde den Verdacht nicht los, dass er doch einmal zur Mitternacht über dem berühmten „Kaffeeakt“ Maria Theresias gebrütet und den Geist der längst verwichenen Herrscherin beschworen haben mag. Den Kunsthistoriker ­Rainer ­Valenta wiederum getraute ich mich nicht zu fragen, ob die von ihm im Rahmen eines FWF-Projekts betreute Privatbibliothek des Kaisers Franz zur Geisterstunde womöglich vor Schemen wimmelt.

:  B R I E F AU S B RÜ SS E L

: FREIBRIEF

Nicht auszudenken, wenn neben dem Demokratenschreck Franz II./I. auch dessen Schwiegersohn Napoleon Bonaparte und der alte Metternich auskämen! Dann liefen in Wien gleich drei politische Geister herum, die alle in Wien vorhandenen Talente übertrumpfen sowie die aktuellen Potentaten aushebeln und womöglich stürzen könnten – ganz ohne Wahlmanipulationen. Von digitalen Speichern ist hier weniger zu befürchten, denn die sind ja hochgesichert, und wenn doch einmal etwas entwischt, dann bleibt es meistens leblos und flimmert unambitioniert über matte Bildschirme … Doch halt, da war ich jetzt ungerecht! Denn rufen Sie einmal www.anno.onb.ac.at auf! Das digitale Zeitungsarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek spielt alle Stückeln, und das rund um die Uhr! Von 1562 (!) bis (derzeit) 1949 werden via Zeitungen und Zeitschriften fünf Jahrhunderte lebendig. Das schönste an alten Presserzeugnissen ist, dass nicht im Nachhinein irgendein Besserwisser naseweis seinen oder ihren Senf dazugibt, und der mündige Leser jederlei Geschlechts sich selbst sein Urteil bilden kann, ganz im Sinne einer fairen, weil zeitbezogenen „Kontextualisierung“. Fazit: In diesem digitalen Depot verliere ich mich gern!

:   F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

Die Zahlen sind wahrlich beeindruckend: Vom Hauptquartier des Projekts in Wien aus spannt sich ein Netzwerk, das 14.000 Institutionen und rund 100.000 Mitwirkende umfasst – von Historikern und Naturwissenschaftern über Museumsmitarbeiter und Archivare bis hin zu Hobby-Forschern. Das Ziel: Daten und Dokumente aus Archiven, Museen und Sammlungen in ein riesiges digitales System zu packen, das nicht weniger als 2.000 Jahre europäischer Geschichte umfassen und greifbar, nachvollziehbar, erkundbar – und so auf ein gewisse Art wieder lebendig machen soll. Ein faszinierendes Projekt, durch und durch. Ganz persönlich wäre ich ja dafür, zusätzlich auch immer wieder eine „Zeitkapsel“, für das Brüsseler Europa-Viertel zu erstellen und zu vergraben oder für eine gewisse Zeit an einem sicheren Ort unter Verschluss zu halten. In kleinen Gemeinden ist oft rasch klar, was da für die Nachwelt erhalten werden soll: eine Orts­ chronik, ein Bild vom aktuellen Gemeinderat vielleicht, dazu eine aktuelle Ausgabe der Lokalzeitung womöglich. Das, so finde ich jedenfalls, ließe sich doch ganz fein auch auf das Grätzel zwischen Kommission, Rat und Parlament umlegen: Ein Verhandlungsprotokoll vom Tauziehen um einen mehrjährigen Finanzrahmen könnte man hineinlegen; ein „Familienfoto“ eines Gipfels der Staats- und Regierungschefs; auch ein Pommes-Rezept vom legendären Stand „Maison Antoine“ am Place Jourdan, wo sich Beamte, Politiker und Journalisten nicht nur in langen Gipfelnächten gerne Stärkung holen. Schön verpacken, weglegen – und sich ausmalen, was wohl die Nachwelt davon hält, wenn sie’s irgendwann wieder ausgräbt.

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

Früher war alles besser! Das behaupten wir Menschen seit Generationen. Dass früher definitiv nicht alles besser war, ist allerdings offensichtlich. So gut wie jede Kennzahl, die man zu einer objektiven Messung heranziehen kann, zeigt uns, dass es uns noch nie so gut gegangen ist wie in der Gegenwart. Wir leben länger als die Menschen der Vergangenheit, und wir leben besser. Die Armut sinkt, die bewaffneten Konflikte werden weniger und so weiter. Dass der Blick auf die früheren Zeiten uns ein so scheinbar verlockendes „goldenes Zeitalter“ zeigt, hat viel mit selektiver Wahrnehmung zu tun. Wenn wir an früher denken, dann denken wir zuerst einmal an unsere persönliche Vergangenheit und blenden dabei all das aus, was damals nicht so gut war. Was bleibt, ist eine durch Nostalgie verklärte Sicht. Die Herausforderungen der Gegenwart verwirren viele Menschen. Das ist eine Binsenweisheit, die aber ebenso wie die private Nostalgie die Vergangenheit verlockender darstellt, als sie es tatsächlich war. Angeregt durch Fernsehserien träumen wir uns in ein „einfaches“ Leben im „Einklang mit der Natur“, so wie es früher war. Nur dass in Wahrheit das naturnahe Leben der Vergangenheit eher kurz war. Es gab kein sauberes Wasser, es gab keine medizinische Grundversorgung, keine Arbeitslosenversicherung, keinen elektrischen Strom. Wir leben in einer durch beständigen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt geschaffenen Welt. Die Resultate dieses kontinuierlichen Anstiegs der Lebensqualität nehmen wir aber kaum bewusst wahr, sie sind für uns selbstverständlich geworden. Umso absurder, sich aus der bequemen Position unserer Welt nach einer Vergangenheit zu sehnen, die vermutlich alle von uns höchst schrecklich finden würden. Bei all dem Lob des Fortschritts darf man aber auch nicht vergessen, dass es sich dabei um eine menschliche Sicht der Dinge handelt. Uns Menschen geht es besser. Wenn wir die Umwelt betrachten, das Klima oder die Artenvielfalt, war die Vergangenheit tatsächlich besser. Statt uns in eine Zeit zurück zu wünschen, in der es uns schlechter gehen würde, sollten wir dafür sorgen, dass die Zukunft auch für die Welt, in der wir leben, besser wird. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6 FALTER  47/20  H EUR EKA 5/20  :   NAC H R I C H TE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

:   V E R K E H RST EC H N I K

Wohin fährt das autonome Auto? Die Studie AVENUE21 untersucht das autonome Fahren MARTINA NOTHNAGEL

Technisch können selbstfahrende Autos bald Realität im Straßenverkehr sein. Was aber bedeutet der Einsatz dieser Technologie für unsere Städte, Gesellschaft und Umwelt? Kann autonomes Fahren dazu beitragen, die angestrebte Verkehrswende, also eine dringend nötige Reduktion der Treibhausgasemissionen, zu realisieren? Oder führt die Technologie am Ende gar dazu, dass diese Ziele untergraben werden? Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe ist an der TU Wien diesen Fragen nachgegangen. Mathias ­Mitteregger vom future.lab der Fakultät für Architektur und Raumplanung ist Koordinator der Studie AVENUE21. „Die Gefahr ist groß, dass die Verkehrsmengen weiter steigen und zusätzlich neue soziale Ungleichheiten entstehen“, sagt er. Aktive, regulierende Maßnahmen seien daher unumgänglich. Es braucht wohlüberlegte gesetzliche Regelungen, durch die lediglich bestimmte Straßen und Straßenabschnitte für den Einsatz von automatisierten Fahrzeugen freigegeben werden müssten. Kontrolliert eingesetzt bietet autonomes Fahren enorme Chancen. Etwa, indem damit der öffentliche Verkehr ausgeweitet wird. Das hat vor allem in heute autoaffinen Regionen am Stadtrand und im suburbanen Raum großes Potenzial. „Es ist möglich, hier vielen Menschen eine echte Alternative zum herkömmlichen Auto zu bieten und damit einen wertvollen Beitrag zur Verkehrswende zu leisten“, sagt Mitteregger, „aber von selbst passiert das nicht“.

:   B I O LO G I E

:   M AT H E M AT I K

Schlaf ist die beste Medizin, aber die Angst vor COVID-19 raubt ihn vielen

Gleichungen für Mikrostrukturen

Schlaf ist eine wichtige präventive Maßnahme gegen Infektionserkrankungen wie Corona. Also möglichst ausschlafen, um gesund zu bleiben

Julian Fischer erforscht Rolle des Zufalls in Mehrskalenproblemen

ALMINA MAHMUTOVIC

USCHI SORZ

266 Stunden ohne Schlaf ? Diesen zweifelhaften Weltrekord stellte 2007 der Brite Tony Wright auf. In offiziellen Erwähnungen findet man solche Rekorde aber nicht mehr. Kein Wunder, denn langer Schlafentzug kann die Gesundheit hochgradig gefährden. Während des Schlafs laufen Prozesse ab, die unseren Körper und seine Funktionen direkt beeinflussen. Unter anderem werden Gedächtnis, Lernfähigkeit, Konzentrationsvermögen und Immunsystem gestärkt und die Regeneration arbeitet auf Hochtouren. Wer gut geschlafen hat, fühlt sich wohl, ist fit und leistungsfähig und sieht dazu noch gut aus. Heute raubt die Angst vor einer Corona-Ansteckung vielen den Schlaf. Laut der im Fachmagazin Sleep Medicine veröffentlichten Studie hatten kurz nach dem ersten Lockdown im März rund 13,5 Prozent der Teilnehmer von einer „deut-

lich verschlechterten Schlafqualität“ und 7,2 Prozent von generellen Ängsten berichtet. Dabei ist guter Schlaf gerade in Corona-Zeiten wichtig, denn: „Schlafmangel erhöht die Anfälligkeit für Infektionen. Möglicherweise ist er auch ein Risikofaktor

Georg Nilius, Evangeli­sche Kliniken, Essen für schwerere Erkrankungsverläufe“, sagt der Lungen- und Schlafmediziner Georg Nilius, Direktor der Klinik für Pneumologie der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Guter Schlaf stärkt daher nicht nur unser Immunsystem, er ist gleichzeitig auch eine wichtige präventive Maßnahme gegen COVID-19.

:   P SYC H O LO G I E

Für junge Menschen sind Schule und Universität wichtig für das Wohlbefinden Das Homelearning wirkt sich negativ auf die sozialen Kompetenzen und das psychische Wohlbefinden von Schülern und Studierenden aus MONA SAIDI

Distance Learning, also Fernunterricht, hat die Schere der sozialen Ungleichheit noch weiter geöffnet, denn Bildungserfolg hängt direkt mit sozioökonomischen Bedingungen zusammen, zeigt eine Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS).

Barbara Schober, Universität Wien Barbara Schober und ihr Forschungsteam an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien haben während und nach dem Lockdown mittels einer Onlinebefragung erhoben, dass „es eine relativ große Risikogruppe gibt, etwas mehr als ein Drittel der Studierenden, deren Wohlbefinden und gefühlte soziale

Eingebundenheit sich über die Zeit des Homelearnings verschlechtert hat“. Dies lässt sich vermutlich nicht zuletzt auf den Lebensabschnitt der Studierenden (finanzielle Unsicherheit, Identitätsfindung) zurückführen. Viele Schüler, die sich noch in einem stabileren Umfeld befinden, haben hingegen (insbesondere je näher der Schulstart ab Mai kam) ein besseres Wohlbefinden angegeben. . Für die Risikogruppe der Studierenden stellt wohl die emotionale Situation das größte Problem dar. Fehlende soziale Eingebundenheit und dauerhafte emotionale Belastungen können die Kompetenzentwicklung und den Lernerfolg beeinträchtigen und Angststörungen, Panikattacken oder Depressionen auslösen. Fazit: Für Schüler und Studierende sind Schule und Universität ein wichtiger Ort, um gemeinschaftlichen Austausch und ein Miteinander zu sichern.

Viele physikalische Phänomene werden durch partielle Differenzialgleichungen beschrieben, etwa wie sich Strömungen in Flüssigkeiten entwickeln oder wie elastische Festkörper durch Krafteinwirkung verformt werden. Julian Fischer möchte

Julian Fischer, IST Austria herausfinden, ob man die Lösungen bestimmter partieller Differenzialgleichungen auch durch vereinfachte Modelle beschreiben kann. Das könnte Simulationsverfahren effizienter machen. Zum Beispiel für „zufällige heterogene Materialien“. Diese sind auf mikroskopischer Ebene ungleichmäßig aufgebaut und bestehen aus einem komplexen, zufälligen Muster, makroskopisch verhalten sie sich jedoch oft wie ein homogenes Material. „Unter welchen Bedingungen geschieht dies?“, fragt Fischer. Um die Rolle des Zufalls bei mehrskaligen Problemen in Physik und Mechanik näher zu untersuchen, hat der 31-Jährige nun einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) bekommen. „Unter anderem geht es um die Frage, wie die zufällige mikroskopische Struktur und das nichtlineare Verhalten des Materials zusammenwirken, um ein effektives, homogenes Verhalten auf alltäglichen Längenskalen zu erzeugen.“ Nach seiner Promotion an der Universität Erlangen-Nürnberg und Postdoc-Stellen an der Universität Zürich und am Max-Planck-Institut in Leipzig wurde der gebürtige Bayer 2017 im Alter von 27 Jahren der bis dahin jüngste Assistenzprofessor am Institute of Science and Technology (IST) Austria im niederösterreichischen Klosterneuburg. „Er ist ein außergewöhnliches Talent auf dem Gebiet der partiellen Differenzialgleichungen“, streute ihm IST-Professor László Erdos kürzlich in der Laudatio zur Verleihung des Förderungspreises der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft Rosen. „Mir gefällt die Kreativität, die die Lösung mathematischer Probleme erfordert“, sagt Fischer. „Dazu benötigt man üblicherweise einen völlig neuen Blickwinkel auf eine Fragestellung.“

FOTOS: EVANG. KLINIKEN ESSEN-MITTE/KEM, PAUL PÖLLERITZER, MARGIT A. SCHMID FOTOGRAFIE, PRIVAT

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA 5/20   FALTER 47/20  7

:   A L LTAG ST EC H N O LO G I E

Die immer größeren Dinge des Lebens Wachsen unsere alltäglichen Gebrauchsgegenstände eigentlich mit uns mit oder gehen wir heute anders mit Platz um als früher? SABINE EDITH BRAUN

Sucht man im Italienurlaub eine Boutique auf, ist das oft frustrierend: Die eigene Größe passt nicht! Umgekehrt in den USA: Da passen Größen, von denen man zu Hause nur zu träumen wagt. Normen und Sicherheit versus Kreativität „Wir ärgern uns über die ANSI/BIFMANorm aus den USA“, sagt Stefan Diez, Leiter des Instituts Industrial Design 1 an der Universität für angewandte Kunst. Durch diese Norm würden Stühle „plump und schwer“. Dies schränke nicht nur die kreative Arbeit ein, sondern verschwende auch Material. Auch Autos werden immer größer. Würden wir in einen Puch 500 überhaupt noch hineinpassen? „Durchaus“, meint Diez, „aber unser Sicherheitsbedürfnis und unsere Vorstellungen von Komfort machen den einfachen Dingen einen Strich durch die Rechnung. Es wäre toll, wenn man in die Karosserie eines 500 einen modernen Motor

einbauen würde. Es gibt ja solche Versuche, aber sie sind eher Randerscheinungen. Renault hat es versucht.“ Welches Platzangebot fand die in unserer Vorstellung schmächtige Nachkriegsgeneration in der Eisenbahn? Die ÖBB teilen mit, „dass das Platzangebot in den 1950er und 1960er Jahren pro Fahrgast im Vergleich zu heute eher größer war“. Der Großraumwagen nach dem Ikea-Küchenkonzept Heute spielt bei der Konzeption neuer Züge die Sitzplatzmaximierung eine Rolle: Gab es früher im 2.-Klasse-Abteilwagen 66 Plätze, verfügt der Großraum-Railjetwagen (2. Klasse) über 80 Sitze. War ein Standard-Sitzpolster in einem „Schlierenwagen“ (das waren die crémeweiß-orangefarbenen) früher 514 Millimeter breit, hat ein aktueller in der 2. Klasse nur noch 450. Die ÖBB betonen: „Für die Gestaltung von neuen Fahrgastsitzen berücksichtigen wir immer die anthropometrischen Körpermaße, die aus den Messungen

der jeweiligen Population gewonnen werden.“ Wie geht das – Zauberei? Wohl eher durch exakte Bemessung, ein kompakteres Material und das Vermeiden des Verschenkens von Stauraum wie in der Ikea-Küche, wo jeder Kubikmeter Luft gut verplant ist. Wie sieht es in U-Bahn und Straßenbahn aus? „Über die letzten Jahre hinweg ist eine leichte Verbreiterung der Sitze zu sehen. Die Wiener Linien versuchen immer, die Balance zwischen höchstmöglichem Komfort und platztechnischen Möglichkeiten zu finden“, heißt es dort. Demnach betrage die Sitzbreite im E-Wagen, dem ältesten im Betrieb befindlichen Modell, 140 Millimeter. In der nächsten Generation, dem ULF, waren es 420

Rainer Wernhart, Bestatter-Innung

und im neuen Flexity sogar 446. Ein mit 680 Millimeter extrabreiter Sitz im Flexity ist für ein Kind mit Begleitperson gedacht. Bezüglich der Sitzplatzbreite gebe es „keine ausdrückliche Norm, allerdings Empfehlungen, an denen wir uns orientieren“. XXXL-Särge auf den Wiener Friedhöfen Während man über Kleidung, Möbel und Mobilität gern spricht, bleibt eines oft ausgespart: der Tod. „Uns fällt auf, dass die Menschen vor allem größer und damit breiter werden“, sagt Bestatter-Innungssprecher ­Rainer Wernhart. „Eine Körpergröße von 1,85 ist heute nicht mehr so unüblich wie noch vor fünfzig Jahren.“ Zwei Meter lang und 55 bis 65 Zentimeter breit ist ein Sarg. Da die Zeit für Maßanfertigung fehlt, gibt es eine begrenzte Zahl von „Übergrößen“ auf Halde. Diese Sondergrößen sind bis zu 100 Zentimeter breit und immer auch mit Metall verstärkt: Sie sind für ein Gewicht ab 200 Kilogramm gedacht.

: MEDIZIN

Medizinstudium: Klinik und Forschung vereinbar? Zwei Beispiele dafür, was es heißt, während eines Studiums der Medizin sowie weiterer Fächer auch noch Forschung zu betreiben LISA KRAMMER

Klinik oder Forschung? Klinik und Forschung? Noemi Pavo, Fachärztin für Innere Medizin, und Julian Maier, Mediziner und MDPhD-Student, haben sich für „und“ entschieden. 2011 hat Pavo ihre Ausbildung zur Fachärztin begonnen und parallel dazu ihr PhD-Studium (Forschungsdoktorat) an der MedUni Wien absolviert. Das Exzellenzprogramm „MDPhD“ der MedUni Wien hat Maier in den letzten zwei Jahren die Möglichkeit geboten, das Doktoratsstudium bereits während der klinischen Praktika im Medizinstudium zu beginnen. Nach dem Abschluss des Medizinstudiums stehen ihm noch 1,5 Jahre Vollzeit-­ Laborarbeit bevor. Entscheidung für PhD Die beiden Lebenswege verbindet neben dem Humanmedizinstudium vor allem eines: die Absolvierung eines zusätzlichen Studiums. Julian Maier hat parallel die Studien Anglistik und Philosophie an der Universität Wien abgeschlossen. Ihrem damaligen

Chemielehrer und seinem außerordentlichen Engagement verdankt Noemi Pavo den Entschluss, Technische Chemie an der TU Wien zu studieren. Aufgrund ihres naturwissenschaftlichen Hintergrunds entschloss sie sich im Medizinstudium zu einem Doktoratsstudium. Maier hingegen entdeckte seine Leidenschaft für die Forschung während des Arbeitens an seiner pharmakologischen Diplomarbeit. Ganz zentral dabei waren die uneingeschränkte Unterstützung und Förderung seines ehemaligen Diplomarbeits- und jetzigen PhD-Betreuers, Harald Sitte. Nach dem „Warum?“ folgt unausweichlich die Frage nach dem „Wie?“. Wie lässt sich das vereinen bzw. vereinbaren? Noemi Pavo betont vorab: „Es ist sehr schwierig, Klinik und Forschung in einer medizinischen Ausbildung zu integrieren, sodass sich beides gleichermaßen entwickeln kann.“ Im Zuge ihres Doktoratsstudiums konnte sie jedoch größtenteils weiterhin klinisch tätig sein, sich aber

auch phasenweise ausschließlich der Forschungstätigkeit widmen. „Es ist insgesamt eine sehr intensive Zeit, die einem das Konzept des Hinterfragens verinnerlicht und auch später nicht mehr erlaubt, gewissen Sonderbarkeiten im klinischen Alltag nicht nachzugehen“, sagt die Fachärztin für Innere Medizin. Zwischen Klinik und Forschung In den letzten beiden Jahren waren Zeitmanagement und der adäquate Umgang mit den eigenen Ressourcen auch für Julian Maier eine große Herausforderung. „Im Rahmen meines Humanmedizin- und Doktoratsstudiums im Bereich der Grundlagenforschung haben mir sowohl Kliniker als auch Laborkollegen stets Unterstützung und Verständnis entgegengebracht, vor allem, wenn zeitweise der Fokus auf einem der beiden Bereiche gelegen ist.“ Aktuell schätzt er an seiner Vollzeitforschungstätigkeit, „die gesamte Zeit der Forschung widmen zu können“.

Zum Forschungsalltag gehören Lehrveranstaltungen, Konferenzen, das Verfassen von Publikationen sowie das Vernetzen mit nationalen und internationalen Forschenden. „Auslandserfahrung ist heutzutage schon beinahe Usus“, so Maier. Noemi Pavo hat einige Zeit in Montpellier, Frankreich, verbracht. „Dies ist vor allem wichtig, um den eigenen Horizont zu erweitern, die Interessen weiter zu formen, aber nicht zuletzt, um Bekanntschaften im Fachgebiet zu knüpfen, die wiederum zukünftige Kooperationen ermöglichen.“ Sie ist nach der Rückkehr aus ihrer Karenz davon überzeugt, dass sich Familie und Beruf gut vereinbaren lassen. „Viele um mich herum verbringen sehr viel Zeit mit ihrer Arbeit, die ihnen aber auch Spaß macht. Das Empfinden einer ausgeglichenen WorkLife-Balance ist eben sehr individuell.“ Julian Maier war von Anfang an gewillt, dies in Kauf zu nehmen. Es ist und bleibt ein Balanceakt – mit gelegentlicher Schieflage.


8 FALTER  47/20  H EUR EKA 5/20  :   NAC H R I C H TE N

:   Z E I TG E S C H I C H T E

Der Heldentod selbst stirbt am Schluss Auf Kreta liegt ein deutscher Soldatenfriedhof. 2021 wird er endlich mit einer zeitgemäßen Ausstellung ergänzt TEXT: TOBIAS SCHMITZBERGER

Manchmal sind die unausgesprochenen Sätze auch die aussagekräftigsten. So etwa in der Begleitausstellung von Maleme, einem Soldatenfriedhof an der Nordwestküste Kretas. Knapp 4.500 deutsche Soldaten liegen hier begraben, sie alle starben im Zweiten Weltkrieg. Unter den Toten ist auch General Bruno Bräuer, der von 1942 bis 1944 Oberkommandant der deutschen Streitkräfte auf Kreta war. Auf einer Infotafel steht knapp: „Er wurde nach Kriegsende von den Briten ausgeliefert und am 20. Mai 1947 nach einem Prozess in Griechenland hingerichtet.“ Was unausgesprochen bleibt: Bräuer wurde wegen mehrerer Kriegsverbrechen exekutiert, für die er in seiner Funktion verantwortlich war. Zuständig für den Soldatenfriedhof von Maleme ist der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“, ein gemeinnütziger Verein aus Deutschland. Der Friedhof ist ein Tourismusmagnet: mehr als 50.000 Menschen besuchen die Kriegsgräberstätte pro Jahr. Auch deshalb ist Daniela Schily, seit fünf Jahren Generalsekretärin des Volksbundes, mit der Ausstellung unglücklich: „In Maleme wird informiert, aber nicht kontextualisiert“, sagt sie. Das ist insofern ein Problem, da die Deutschen während der Besatzung Kretas von 1941 bis 1945 ein ­sehr

brutales Regiment führten. Berüchtigt ist etwa der „Sühnebefehl“, den der General Kurt Student im Mai 1941 erließ. Damals wurde Kreta im Zuge der Luftlandeoperation „Merkur“ besetzt. Da sich Teile der kretischen Bevölkerung hartnäckig gegen die Invasion gewehrt hatten, ordnete Student „Vergeltungsmaßnahmen“ an. Laut Befehl „in Frage“ kamen „Erschiessungen“, „Kontributionen“, das „Niederbrennen von Ortschaften“ und die „Ausrottung der männlichen Bevölke-

Daniela Schily, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge rung ganzer Gebiete“. Ähnliche Maßnahmen zogen sich bis 1945 durch die gesamte Besatzungszeit, mindestens 3.474 Kreter wurden von deutschen Wehrmachtsoldaten getötet. In der aktuellen Ausstellung von Maleme muss man solche Informationen mit der Lupe suchen. „Das liegt auch an der Geschichte des Volksbundes“, sagt Schily: „Wir sahen uns als zivile Organisation und wollten uns nicht politisch einmischen.“ Doch nun fin-

det im Volksbund ein Generationenwechsel statt, und im Jahr 2016 gab er sich ein neues Leitbild. Darin wird festgehalten, dass der Zweite Weltkrieg ein „Angriffskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands“ war und Millionen Opfer forderte. Auch deshalb arbeitet der Volksbund nun daran, die Begleitausstellungen in neunzehn seiner Kriegsgräberstätten neu zu gestalten. Der Soldatenfriedhof in Maleme ist eine davon. „Wir können Corinna Kuhr-Korolev, LeibnizZentrum für zeithistorische Forschung die Deportation der jüdischen Bevölkerung oder die niedergebrannten Dörfer nicht länger ignorieren. Das alles gehört zusammen“, sagt Schily. Deshalb sollen diese Themen künftig thematisiert werden. Das soll etwa durch die Beschreibung unterschiedlicher Biografien gelingen. Neben kurzen Porträts deutscher oder britischer Soldaten könnte etwa die Geschichte zweier jüdischer Frauen dargestellt werden, die 1944 aus Kreta deportiert wurden.

Eine besondere Rolle kommt auch einer Bronzetafel zu, die im Eingangsbereich der Ausstellung angebracht ist. Sie informiert, dass der Großteil der in Maleme begrabenen Deutschen, exakt 3.352 Männer, während der Schlacht um Kreta starb. „Sie gaben ihr Leben für ihr Vaterland“, steht auf der Tafel. Den Pathos lehnt Schily ab: „Ein Soldat kann nicht ‚für das Vaterland fallen‘, wenn er mit einem Fallschirm auf Kreta landet.“ Deshalb soll die „Vaterlandstafel“ künftig zu einem Ausstellungsstück werden, das den Wandel des Volksbundes zeigt. Sie wird „inhaltlich und gestalterisch kontextualisiert, dadurch historisiert und in das erste Exponat der Ausstellung transformiert“, heißt es im Grobkonzept der neuen Ausstellung, das von der Dresdner Ausstellungsagentur „kursiv“ und der Historikerin Corinna Kuhr-Korolev erstellt wurde. Ihnen erteilte der Volksbund den Auftrag, die Ausstellung bis nächstes Frühjahr neu zu konzipieren. Das Ziel soll sein, dass schwierige Themen nicht mehr unausgesprochen bleiben. Der Autor Tobias Schmitzberger ist Gedenkdiener in der Etz Hayyim Synagogue in Chania. Etz Hayyim wirkt bei der Neukonzeption der Ausstellung in Maleme beratend mit.

:   B I G DATA

Das Big Data der Vergangenheit als Ressource für die

Das „Time Machine Europe“-Konsortium war im Rennen um ein mit einer Milliarde Euro dotiertes FET-Flagship-Projekt im EU-Förderprogramm Horizon 20 TEXT: MONA SAIDI

Die Time Machine Organisation, kurz TMO, ist ein europaweites Netzwerk mit dem Ziel, das Kulturerbe zu digitalisieren und mithilfe von künstlicher Intelligenz für vielfältige Zwecke nutzbar zu machen. Dafür arbeiten überall in Europa unabhängig agierende, lokale Time-Machine-Ableger wie die „Time Machine Vienna“. National sieht das so aus: Institutionen vernetzen sich, werden Mitglieder und führen ihre Archive und Datensammlungen wie archäologische Artefakte oder historische Dokumente zusammen. Der Direktor des Diözesanarchivs St. Pölten, Thomas Aigner, ist Vizepräsident

der TMO und in führender Funktion beteiligt. „Diese hat ihren Sitz in Wien und ging aus dem Time-MachineKonsortium hervor, das 2019 eines der sechs Projekte vorantrieb, die in die letzte Runde im Wettbewerb um ein FET Flagship-Projekt aufgestiegen waren. Plötzlich fand sich neben Projekten zu den Themen Solartechnik, Batterien, Pharmazie, Life Sciences erstmals auch eines aus dem Bereich des kulturellen Erbes. Niemals zuvor war es einem solchen Projekt gelungen, in die höchste Liga der EU-Förderungen aufzusteigen“, sagt Aigner. Die umfassende Transformation historischer Daten zu Big Data war zum Greifen nahe.

Den sechs Projekten der letzten Runde wurde für zwölf Monate eine Förderung in der Höhe von einer Million Euro bereitgestellt, eine sogenannte Thomas Aigner, Vizepräsident der Time MachineOrganisation Coordination & Support Action, kurz CSA, um das finale FET Flagship-Projekt fertig zu konzipieren. Das TimeMachine-Konsortium entwickelte in diesem Rahmen von März 2019 bis

­ ebruar 2020 mithilfe von rund zweiF hundert Expertinnen und Experten in ganz Europa einen Plan, um das „Big Data der Vergangenheit“ entstehen zu lassen und den lokalen Time Machines eine Struktur vorzugeben. Die dabei entstehende Datenmenge sollte nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für wirtschaftliche Zwecke genutzt werden. Die Ergebnisse dieser Arbeiten wurden im März 2020 in Form von „Roadmaps“ finalisiert und veröffentlicht. Damit liegt erstmals eine umfassende Agenda vor, was es braucht, um Europas kulturelles Erbe auf lange Sicht vollständig in die digitale Welt zu transformieren. Zur Verblüffung aller blieb es jedoch


:  W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN

Der Soldatenfriedhof mit Angehörigen der Deutschen Wehrmacht, die auf Kreta im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Kriegsverbrechen begangen haben

FOTOS: MAURICE BONKAT, PRIVAT, TOBIAS SCHMITZBERGER

Die besser­ Schreibende der beiden Canettis?

Zukunft 20 ganz weit vorne mit dabei. Genützt hat das vorerst nichts

bei diesen CSA-Projekten. Die Vergabe des versprochenen FET FlagshipProjekts blieb aufgrund von bis heute nicht ganz nachvollziehbaren Gründen aus. Dennoch war die Mühe nicht umsonst, da die „Roadmaps nun von der EU dazu verwendet werden, um die Forschungsförderungspolitik zu gestalten“, sagt Aigner. Wie geht es nun weiter? Die lokalen Time Machines bewerben sich weiter um Förderungen auf nationaler Ebene. Auf lange Sicht bereitet sich die Time Machine-Organisation, parallel zu eigenen Zielen und Projekten, auch auf die neue Ausschreibung der EUFörderprogramme vor. Das Horizon

Europe soll in den nächsten Jahren mit einem Budget von 100 Milliarden Euro ausgestattet werden. Im Rahmen des CSA-Projekts hat die TMO ein sogenanntes Ambassadors Network aus Expertinnen und Experten in fast allen Mitgliedsstaaten gegründet und verbreitet ihre Agenda auf nationaler Ebene. Finanziert wird die TMO primär aus Beiträgen ihrer mehr als 600 institutionellen Mitgliedern sowie von den Bundesministerien für Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport. „Für ein weiteres Rennen um eine große Förderung der EU stehen wir gut gerüstet in den Startlöchern“, sagt Aigner.

FOTO: LUIZA PUIU

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N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA 5/20   FALTER 47/20  9

Ein ­würdiges ­Monument für den Dichter

Die zentrale Frage der Netzwerk-Biografie lautet eigentlich: War Veza nicht doch die bessere Autorin? ­Venetiana TaubnerCalderon, 1897 in Wien geboren, war hochtalentiert, stand dem Austromarxismus nahe und publizierte unter den Pseudonymen wie ­Veronika Knecht oder Veza Magd. Gereichte es der Verfasserin eines großartigen Romans und höchst originärer Erzählungen, die erst Jahrzehnte nach ihrem Tod erschienen, zum Nachteil, dass sie 1934 den späteren Literaturnobelpreisträger Elias Canetti heiratete? Nannte er sie verkehrter Weise „Königskünderin“?

Vor hundert Jahren im rumänischen Czernowitz geboren, von den Nazis verfolgt, 1947 über Wien dem Kommunismus entflohen, verbrachte der bedeutendste deutschsprachige Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Leben bis zu seinem Freitod vor fünfzig Jahren in Frankreich. In Czernowitz steht heute ein hässliches Denkmal, doch dort wirkt auch der Celan-Forscher und Übersetzer Petro Rychlo, der mit 55 Zeugnissen von Freunden, Geliebten und Zeitgenossen zu Celans Leben und Werk das erste wahre Monument errichtet. Celan und kein Ende!

Vreni Amsler, Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Netzwerk-Biografie Studien Verlag, 2020, 552 S.

Petro Rychlo (Hg.), Mit den Augen von Zeitgenossen – Erinnerungen an Paul Celan Verlag Suhrkamp 2020, 469 S.

Der interessante Teil des intellektuellen Österreichs der letzten sechzig Jahre

Warum stammt der Tiroler vom „Salontiroler“ ab?

Ende der 1950er Jahre studiert Alois Brandstetter, Autor (Zu Lasten der Briefträger, Die Abtei etc.) und Germanist in Wien: Philosophenfreunde, die Bachmann, diverse Priester und viele andere tauchen in einem mäandernden Erzählstrom der Erinnerung auf, der sich eine Zeitlang um das Katholische des Landes, Gott und die Kirche dreht. Dann kommt der Literaturbetrieb samt Bachmann-Preis zum Vorschein, das Leben an der Uni tritt in den Vordergrund. Wer wissen will, was im intellektuellen Österreich der letzten sechzig Jahre an Interessantem geschah, lese dieses Buch!

Eine Philosophin und Ethnologin angesichts oft gestellter und selten beantworteter Fragen: Warum zieht die siebzehnjährige Angelika Kaufmann 1758 partout eine Bregenzer Wälder-Tracht an, um ihr imposantes Selbstporträt zu malen? Was hat es mit dem Lodenfrack des Kaisers auf sich – sein Volk kleidet sich ganz anders? Warum stammt der Tiroler vom „Salontrioler“ ab? Was ist der Unterschied zwischen Dirndl und Tracht? Warum zögern Sozialdemokraten beim Kropfband? Und schließlich die Frage aller Fragen: Was haben Nazis und Dirndl miteinander zu tun?

Alois Brandstetter, Lebensreise Residenz Verlag 2020, 400 S.

Elsbeth Wallnöfer, Tracht Macht Politik Haymon Verlag 2020, 272 S.


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T I T E LT H E M A TIME MACHINE – D I G I TA L I S I E R U N G U N S E R E R K U LT U R Seiten 10 bis 22 Was stellt ihr euch unter der Digitalisierung, Speicherung und virtuellen Zurverfügungstellung des europäischen Kuturgutes vor? Diese Frage haben wir der Klasse für Grafik Design der Universität für angewandte Kunst gestellt. Wie sich die jungen Künstlerinnen und Künstler das vorstellen, ist auf den folgenden Seiten zu sehen.

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A

22.000.000

Zeitungsseiten aus den Jahren 1689 bis 1949 sind in ANNO, dem virtuellen Zeitungslesesaal der ÖNB, bequem von daheim zugänglich, 90 Prozent davon via Volltextsuche. Eine Million Seiten umfasst das jährliche Digitalisierungspensum.

1859–1942: In diesem Zeitraum ist „Adolph Lehmann’s allgemeiner WohnungsAnzeiger“ erschienen. Diesen und weitere 63 Wiener Adressbücher und Branchenverzeichnisse aus der Vor-Lehmann-Zeit sowie 92 Straßenverzeichnisse hat die Wienbibliothek im Rathaus digitalisiert.

4.347

40.000.000

Objekte, davon 4.088 Bilder, umfasst die Topothek, das kollaborative Onlinearchiv der nur 1.230 Einwohner zählenden niederösterreichischen Marktgemeinde Bischofstetten. Die Topothek von Grünbach/ Schneeberg (1.700 Einwohner) umfasst 1.456 Dokumente, davon 1.396 Bilder.

Bücher in mehr als 400 Sprachen: Das ist die Ausbeute nach 15 Jahren des Digitalisierens durch Google LLC (Stand 2019). Google besitzt damit die größte private Sammlung digitalisierter analoger Bücher.

1923 wurde sie gegründet, heute umfasst sie 350.000 Exponate: die Plakatsammlung der Stadt Wien, die zu 95 Prozent digitalisiert ist. Die ältesten Bestände sind Ankündigungsplakate aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

760.939 Exponate umfasst die Sammlung „Mode erforschen“ aus mehr als 30 öffentlichen und privaten Institutionen, die auf „Europaeana“ zu sehen sind: Bilder historischer Kostüme, zeitgenössische Designs, Laufstegfotos, Entwürfe, Katologe, Videos und vieles mehr.

2.529.224 Digitalisate gibt es mit Stichtag 4. 11. 2020 in den digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek, die meisten davon (576.810) stammen aus dem 19. Jahrhundert. Nach Themen gereiht, liegen „Historia et Geographia“ mit 255.830 Digitalisaten ganz vorne. Die drei häufigsten Autoren sind Martin Luther (5.122), Cicero (2.460) und Christoph Martin Wieland (1.291).

Mehr als 50 Millionen digitalisierte Objekte – Bücher, Musik, Kunstwerke und mehr – finden sich auf der europäischen Kulturdigitalisierungsplattform Europaeana, darunter 47.114 geografische Karten oder 35.333 Bilder historischer Stempel.

QUELLEN: ONB.AC.AT, TOPOTHEK.AT, WIKIPEDIAEUROPAEANA.EU, DIGITAL.WIENBIBLIOTHEK.AT, WWW.DIGITALE-SAMMLUNGEN.DE

ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN


ILLUSTRATION: DOMINIK EINFALT

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Dreisamkeit – Dominik Einfalt www.klassekartak.com/student/dominik_einfalt


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Europas Kulturerbe für alle öffnen Die Time Machine will Big-Data-Analysen ermöglichen und Geschichte greifbar machen rchive voller Akten und Schriftrollen, gesammelte Bilder, Statuen und Münzen – dieses analoge Big Data der Vergangenheit ist ein wertvoller Schatz, die Fülle an Informationen vermögen aber nicht einmal Historiker zu analysieren. Das Projekt „Time Machine Europe“ möchte das kulturelle Erbe Bürgern und Wissenschaft durch Digitalisierung zugänglich machen. Initialzündung war die „Time Machine Venedig“, und heute kooperieren rund 650 Museen, Archive, Forschungseinrichtungen und Unternehmen aus 45 Ländern. Sie entwickeln Werkzeuge wie 3DScanner, um Statuen zu digitalisieren, oder die Software Transkribus, die Handschriften in lesbare Form bringt. Mit Anwendungen wie dem „Google Maps und Facebook der Vergangenheit“ soll Geschichte greifbar werden, indem das Smartphone unterwegs auch historische Informationen anzeigt: Wie hat die Gasse vor 300 Jahren ausgesehen, welche Häuser und Geschäfte gab es, und wer hat hier gewohnt oder gearbeitet? Museen und Archive digitalisieren, öffnen und vernetzen „Wir haben die gleiche Vision, aber den Weg dorthin sehen wir anders. Die riesige Time Machine Europe muss auf kleine, machbare Projekte heruntergebrochen werden“, sagt Christoph Sonnlechner vom Wiener Stadt- und Landesarchiv (MA 8). Er betreut seitens des Archivs das „Wien Geschichte Wiki“, das größte StadtgeschichteWiki der Welt. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat man systematisch Aufzeichnungen zur Stadtgeschichte zusammengestellt. Basis ist das sechsbändige historische Lexikon des ehemaligen Archivdirektors Felix ­Czeike, das seit 2014 online ist. „Die Stadt Wien ist Open Data verpflichtet. Damit offene Daten erreichbar und verarbeitbar sind, muss zunächst eine Infrastruktur geschaffen werden“, erklärt Sonnlechner. Für das Wien Geschichte Wiki funktioniert bereits das Zusammenspiel zwischen MA 8, Wienbibliothek im Rathaus (MA 9), dem Wien Museum und der Kulturabteilung (MA 7). Nun gilt es, weitere Institutionen einzubinden, aber viele haben eine andere Logik beim Erfassen von Daten, meint Sonnlechner: „Ein Museum hat ein Einzelstück wie etwa ein Bild im Fokus, und das wird beschrieben. Archive wie beispielsweise das Wiener Archiv Informationssystem WAIS denken dagegen in Beständen, Serien, Akten und Einzelstücken, dargestellt in einer Baumstruktur. Das Einzelobjekt selbst, den Akt, können wir oft nicht einfach beschreiben, weil der aus hunderten Seiten und Einzelstücken bestehen kann.“ Das Wien Geschichte Wiki liefert als zentrales Element die grundlegenden Daten, auch aus dem WAIS. Anfangs hat man hauptsächlich auf für Menschen lesbare Texte geachtet. Nun werden die ­Info-Boxen

TEXT: MICHAELA ORTIS

„Die Krux bei der Digitalisierung liegt in den Metadaten, damit Maschinen Informationen auswerten und verknüpfen können. Wo sind die Fördertöpfe dafür?“ CHRISTIAN HUEMER, BELVEDERE RESEARCH CENTER

Christoph Sonnlechner, Wiener Stadtund Landesarchiv

zu einem Artikel wie etwa der Adresse Jasomirgottstraße 2 mit semantischen Daten befüllt. Über diese Links können maschinell Zusammenhänge erkannt werden. Sonnlechner schätzt den Austausch mit anderen Institutionen: „Wir müssen wissen, welche Daten sie aus unserem Archiv benötigen, die wir zur Verfügung stellen und verlinken können. Später werden Häuser- oder Personendaten weiterhelfen, an einer Time Machine zu bauen, zuerst aber müssen wir den Weg dorthin konstruieren.“ Die Inhalte sollen für Mensch und Maschine lesbar sein Immer mehr kulturelle Institutionen verschreiben sich der Teilung ihrer musealen Inhalte im digitalen Raum. Auch das Belvedere verfolgt seit 2018 eine Open-ContentStrategie: Alle gemeinfreien Werke werden auf der Webseite hochauflösend und kostenlos auch für kommerzielle Zwecke zur Verfügung gestellt. Die Bereitschaft, Daten zu teilen, ist für Christian Huemer, Leiter des Belvedere Research Center, der erste Schritt zur Time Machine: „Der Kernpunkt in unserem Ansatz ist: Jede Institution bleibt für Aufarbeitung und Bereitstellung ihrer Daten selbst verantwortlich. Vor zwanzig Jahren dachte man, alles müsse in eine zentrale Datenbank geschaufelt werden. Aber das Paradigma der Zukunft lautet, Daten so aufzubereiten, dass sie maschinenlesbar und verknüpfbar sind.“ Um die allgegenwärtigen Datensilos aufzubrechen, ist es wichtig, Anknüpfungspunkte wie Personen, Orte oder Ereignisse zu definieren. Bei der Sammlung Online des Belvedere bieten die Provenienzen der Kunstwerke reiche Verknüpfungsmöglichkeiten, erklärt Huemer: „Bevor ein Werk ins Museum kommt, ist es durch Raum und Zeit gereist. Zuerst wurde ein Bild gemalt, vielleicht für einen privaten Auftraggeber – sein Name findet sich im Melderegister der Stadt. Später gab es eine Auktion – Datum, Ort und andere versteigerte Werke findet man im Auktionskatalog einer Bibliothek. Wer kaufte dort das Bild?“ Schon dieses kleine Beispiel zeigt viele Knotenpunkte für Informationen auf, die in verschiedenen Kulturerbeeinrichtungen verwahrt sind. Damit dieses Beziehungsgeflecht über Datenbanken hinweg navigiert oder als Big Data mit Software automatisiert analysiert werden kann, braucht es universale Standards. Die Datenmodellierung für Linked Open Data erfordert, Informationen ähnlich der natürlichen Sprache in Subjekt, Prädikat und Objekt, genannt Semantic Triples, zu strukturieren, deren Entitäten wiederum mit eindeutigen IDs hinterlegt sind. Statt Tabellen wird durch die Zusammensetzung von Triples ein maschinenlesbares Netzwerk generiert. Dazu Huemer: „Wenn wir das Wort „Venus“ googeln, so ist das nur

eine Abfolge von Buchstaben. Damit kann der Planet, die mythologische Gestalt oder eine reale Person wie Venus Williams gemeint sein. Erst das Semantic Web macht das für Computer unterscheidbar. Digitalisierung kann vieles heißen. Es genügt nicht, einen Ausstellungskatalog als PDF online zu stellen, wir müssen uns fragen: Für wen und für welche Zwecke digitalisieren wir?“ Für Menschen, die einen Text lesen möchten, oder für Maschinen, die vernetzte Daten brauchen, um einen Begriff wie Venus in den jeweils richtigen Kontext zu stellen? Dafür hat Tim Berners-Lee, Begründer des World Wide Web, das 5-Sterne-Modell für offene Daten im Internet definiert: Ein Stern für die Bereitstellung unter einer offenen Lizenz, egal in welchem Format, zwei Sterne für strukturierte Daten, etwa in Excel, drei für die Bereitstellung in nicht proprietären Formaten wie csv-Dateien, vier für eindeutige URL, fünf Sterne für Linked Open Data. Digitalisierungsoffensive – wo in Österreich findet sie statt? Solch ein Konzept für eine gemeinsame Infrastruktur zum Austausch und zur Modellierung von Daten soll mit dem Forschungsantrag „Access to Cultural Heritage via Linked Open Data: Time Machine Vienna“ realisiert werden. Beantragt wurde er von Teams aus der ÖAW der Österreichischen Galerie Belvedere, dem Wiener Stadtund Landesarchiv sowie dem Austrian Institute of Technology. Ursprünglich hatte man mit der Time Machine Europe auf EUGeld gehofft. Es kam nicht. „Der FWF Wissenschaftsfonds ist praktisch die einzige Fördereinrichtung für Geisteswissenschaften in Österreich, er fördert jedoch keine Projekte für den Auf- und Ausbau digitaler Forschungsinfrastruktur. In der Politik wird groß von einer Digitalisierungsoffensive gesprochen – wo aber sind denn die entsprechenden Fördertöpfe?“, fragt Huemer. Derzeit dominieren US-Konzerne digitale Kulturprojekte, allen voran Google Arts & Culture mit virtuellen Rundgängen durch Museen, und Google Books, das den Bestand von Bibliotheken digitalisiert. Für Harry Verwayen, Vizepräsident der TimeMachine-Organisation, geht es um Besitz und Auswertung der Daten: „Man kann argumentieren, dass Google am besten digitalisieren kann. Ich denke dennoch, dass es wichtig für Europa ist, das selbst zu machen.“ Wenn ein Google-Algorithmus jene Aspekte der Geschichte aus dem Datenberg herausnimmt, die am relevantesten für Werbung sind, könnte ein verfälschtes Geschichtsbild entstehen. Die Infrastruktur zum Austausch von offenen Daten ist die Grundlage, um Wissen mit Expertenwissen institutionenübergreifend zusammenzuführen. Dann kann die Time Machine das Kulturerbe zugänglich machen.

FOTOS: BELVEDERE, WIEN, MEDIA WIEN/NARO

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ILLUSTRATION: REBECCA WENIG

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Greetings from #Vienna – Rebecca Wenig


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Alte Daten in neuen Dimensionen I

m April 2013 erschien der Roman „Der Ruf des Kuckucks“ des unbekannten Schriftstellers Robert Galbraith. Das Buch verkaufte sich nur mäßig, bis ein paar Monate später bekannt wurde, dass J. K. Rowling den Krimi verfasst hatte. Auf die Spur der Schöpferin der Harry-Potter-Reihe war man mithilfe von Computerprogrammen gekommen, die Texte auf die Häufigkeit bestimmter Wörter prüfen und Hinweise auf die Autorenschaft geben können. Diese Art der Datenanalyse gehört in den Bereich der digitalen Geisteswissenschaften oder Digital Humanities – eine Disziplin, die gar nicht so leicht zu fassen ist. „Eine exakte Definition der digitalen Geisteswissenschaften gibt es nicht“, sagt Georg Vogeler, Forschungsdirektor am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. „Geforscht wird auf diesem Gebiet tatsächlich schon seit 1949. Das Fach ist allerdings weit und jeder hat seine eigene Art, damit umzugehen.“ Computer in den Geisteswissenschaften Recht eindrucksvoll dokumentiert das die Website whatisdigitalhumanities.com: Bei jedem Reload der Seite erscheint eine von über achthundert Antworten von Forschenden auf die Frage, was unter digitalen Geisteswissenschaften zu verstehen ist. Von „Not sure“ über „That‘s a tough one“ bis hin zu seitenlangen Abhandlungen reichen dabei die Ergebnisse. „Making use of the Information Technologies for Humanities research“, also die Anwendung computerbasierter Arbeitsmethoden in geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen, ist die Beschreibung, mit der Vogeler versucht hat, sein Fachgebiet näher zu umreißen. Vogeler, der auch das Institut Zentrum für Informationsmodellierung an der KarlFranzens-Universität Graz leitet, hat selbst eher zufällig begonnen, sich während seines Studiums der Geschichte mit der Thematik auseinanderzusetzen. „Mein Computer war zuerst nur eine bessere Schreibmaschine, bis ich begonnen habe, ihn auch für Forschungszwecke zu nutzen. Daraus hat sich dann mit der Zeit ein ganz anderer Zugang entwickelt.“ Die Anwendung von Computern in den Geisteswissenschaften eröffnet für Vogeler neue Dimensionen: „Es wird möglich, Dinge zusammenzubringen, die sonst nicht in Verbindung stehen.“ So können zum Beispiel Objekte, die in Archiven über ganz Europa verteilt sind, aus der physischen Distanz erforscht, Bilder nach Farbinhalten sortiert oder Textinhalte automatisch erkannt werden. „Auch die Dokumentation und Erforschung von nichtmateriellem Kulturgut wie etwa Kunstformen, die auf einer Interaktion mit der Bevölkerung beruhen, ist vorstellbar.“ Voraussetzung dafür ist, dass die ­entsprechenden

TEXT: CLAUDIA STIEGLECKER

„Die Datenmengen der Time Machine Vienna sind erstaunlich gering“ GEORG VOGELER, UNIVERSITÄT GRAZ

Matthias Schlögl, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Inhalte in digitaler Form zugänglich sind. Wurde anfangs vorwiegend mit Texten und Sprachanalyse gearbeitet, stehen heute wesentlich mehr Objekte digital zur Verfügung. Dazu zählen etwa Landkarten, Gemälde, Kunstwerke oder auch ganze historische Gebäudekomplexe. „Das Digitalisieren an sich ist dabei eigentlich der einfachste Teil“, meint Vogeler. „Die Einwohnerliste einer Stadt kann man simpel abfotografieren oder scannen.“ Schwieriger wird es, wenn es darum geht, daraus sinnvolle Informationen zu extrahieren: Der Text muss im digitalen Dokument automatisch erkannt und der Inhalt ausgelesen werden. „Die Techniken, die angewendet werden, um Texte zu verstehen, werden immer besser“, sagt Vogeler. „Ist es gelungen, in der Einwohnerliste einen ­Martin Huber zu finden, heißt das allerdings noch lange nicht, dass diese Person damit eindeutig identifiziert ist – schließlich kann es mehrere Martin Huber geben.“ Welcher Arthur Schnitzler in welcher Datenbank? Besonders kompliziert wird es dann, wenn Bestände aus unterschiedlichen Datenbanken miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen wie bei der Time Machine Vienna. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, ein digitales Modell des historischen Wien aufzubauen: „Unterschiedliche Dinge, die man in Datensätzen findet, sollen hier zusammengeführt werden“, sagt ­Matthias Schlögl vom ACDH-CH. So ist geplant, historische Stadtpläne aus dem Stadtarchiv zu digitalisieren und mithilfe der Konskriptionsnummer der Gebäude andere Datensätze dazu zu verlinken. Was immer man in diesen Datensätzen findet, wird verknüpft, seien es Bilder des Gebäudes, Personen, die darin gelebt haben, digitale Biografien oder Ereignisse. „Dabei gilt es natürlich sicherzustellen, dass zum Beispiel Arthur Schnitzler aus der einen Datenbank derselbe Arthur Schnitzler ist, von dem in einer anderen Datenbank die Rede ist.“ Doch nicht nur das Zusammenführen der unterschiedlichen Datentypen macht die Idee der Time Machine Vienna für Schlögl besonders spannend: „Wo etwa andere Projekte die Werke, Bilder und Briefe zum Lebenswerk eines Autors zusammenfassen, sind bei der Time Machine alle Daten über die Geografie verbunden.“ Das Vereinende ist hier einerseits der Ort, andererseits die Zeit. „Im Endeffekt sollte man sich dann die Lage des Hotel Sacher auf einem historischen Stadtplan von 1895 zusammen mit einer Ansicht des Hotels zur damaligen Zeit ansehen können, während man ­Arthur Schnitzlers Tagebucheintrag über einen Besuch dort mit seiner Geliebten liest.“ Um das zu erreichen, müssen Daten aus verschiedenen Quellen abgeglichen und in Einklang gebracht werden: „Viele Institutionen haben in der Vergangenheit unabhängig

voneinander damit begonnen, ihre Bestände zu digitalisieren“, erzählt Schlögl. „Teilweise wurden die Anwendungen selbst entwickelt. Daran, Standards zu schaffen, um die Interaktion mit anderen Datenbanken zu erleichtern, hat man damals nicht gedacht.“ Hinzu kommt, dass in einigen Datensätzen Informationen in einfachen Textfeldern verborgen sind: „Da steht dann zum Beispiel im Feld für die Bildunterschrift ‚Hausansicht Hotel Sacher 1850‘“. Dieses Feld enthält Daten zu Ort und Zeit, die für die Maschine aber in dieser Form nicht erkenn- und verwertbar sind, dazu müssten die Informationen strukturiert in separaten Feldern gespeichert werden. Man sieht sich also mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Dateiformaten und Inhalten konfrontiert, die harmonisiert werden müssen, um sie verwenden zu können. „Benötigt wird ein einheitlicher Standard und ein kluges Verfahren für die Datenharmonisierung“, meint auch ­Vogeler. Geforscht wird daran schon lange, in der Praxis setzen sich entsprechende Versuche jedoch nur langsam durch. Die Time Machine Vienna wäre eine Chance für einen Vorstoß in Richtung Vereinheitlichung: „Alle Institutionen, die Datensätze verwalten, sind gefragt, um sich auf gemeinsame Formate und Schnittstellen zu einigen.“ Vorstellbar wäre für Vogeler im Rahmen der Time Machine Vienna auch eine Verbindung von historischen mit tagesaktuellen Daten. Eine Kombination der Daten mit Karten von Google Maps oder OpenStreet Map könnte den Benutzer von Smartphones einen neuen Blick auf die sich verändernde Stadt ermöglichen: „Wege, die es nicht mehr gibt, oder Straßenverläufe, die sich im Lauf der Jahrzehnte gewandelt haben, könnten damit sichtbar gemacht werden.“ Die Datenmengen, die bei einer Umsetzung der Time Machine Vienna erzeugt würden, seien übrigens erstaunlich gering, so Vogeler: „Kein Vergleich etwa mit den Bewegungsdaten, die Google ständig aufzeichnet.“ Auch die längerfristige Aufbewahrung der Daten sei kein Problem, solange Menschen sie benutzen wollen „Prinzipiell ist man in den digitalen Geisteswissenschaften bestrebt, Daten zu archivieren, die nicht ständig genutzt werden – da wird es dann schon schwieriger.“ Der Wille, Einrichtungen zu schaffen, die Forschungsdaten erhalten und lagern, sei hierbei entscheidend. „Noch ist die Time Machine Vienna eine Vision, die aber in ihrem Kern etwas ganz Wichtiges transportieren kann: Eine Gesellschaft mit reflektiertem historischem Bewusstsein. Hier könnte ein Ort entstehen, an dem in der heutigen Datenflut verlässliches historisches Wissen vermittelt wird“, betont Vogeler. „Wenn wir unsere Geschichte in der digitalen Welt präsent haben wollen, muss in die Schaffung dieser Ressource investiert werden.“

FOTOS: PRIVAT, UNIVERSITÄT GRAZ/DAGMAR EKLAUDE

Was die Time Machine Vienna leisten muss und leisten kann


ILLUSTRATION: MATTHIAS SCHÖLLHORN

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3789156107561067014671034 files remaining - Matthias Schöllhorn www.klassekartak.com/student/matthias_schoellhorn und instagram.com/_matzmatz


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Zeitreisen in der Zeitung A

lles Denckwürdige / so von Tag zu Tag so wohl in dieser Käyserlichen Residentz=Stadt Wienn selbsten sich zugetragen / als auch von andern Orthen auß der ganzen Welt allda nachrichtlich eingeloffen“, wolle man berichten und zwar: „ohne einigen Oratorischen und Poëtischen Schminck / auch Vorurtheil / sondern der blossen Wahrheit derer einkommenden Berichten gemäß“. Eine Losung, die auch heute noch vielen Tageszeitungen gut zu Gesicht stehen würde. Sprache und Layout wirken hingegen kaum zeitgemäß. Wenig verwunderlich, stammen die Zeilen doch aus der ersten Ausgabe des Wienerischen Diariums vom 1. August 1703 – heute besser bekannt als Wiener Zeitung. Anfänglich erschien die Zeitung zweimal wöchentlich an den Posttagen Mittwoch und Samstag im Format 16 mal 20 Zentimeter und einem Umfang von anfänglich acht Seiten. Die Auflage betrug nur einige hundert bis rund tausend Exemplare pro Ausgabe, fand aber deutlich mehr Lesende. Wichtige Informationen über den Hof und Stadtzeitung Das Diarium war nicht die erste Zeitung, die in Wien verlegt wurde – diese erschien bereits 1621 –, sie wurde aber europaweit zu einer der wichtigsten, da sie einen entscheidenden Vorteil hatte: Das Obersthofmeisteramt versorgte die Redaktion exklusiv mit Informationen zum aktuellen Geschehen am Kaiserhof. „Das Wienerische Diarium ist keine Hofzeitung im klassischen Sinne, weil sie von keiner Hofbehörde herausgegeben wurde, stand dem Hof aber auf jeden Fall sehr nahe. Unter Leopold I. setzte sich um 1700 die Auffassung durch, dass die kaiserliche Residenzstadt eine deutschsprachige Zeitung benötige, um dem habsburgischen Hof europaweit noch mehr Präsenz zu verleihen“, sagt Anna Mader-Kratky, Kunsthistorikerin an der ÖAW. Heute würde man wohl von Imagepflege sprechen. Das wird auch in der Berichterstattung über die Bauarbeiten in der Wiener Hofburg als zentraler Residenz des Kaisers deutlich, die die Kunsthistorikerin unter anderem mithilfe des Diariums erforscht. Ziel war es, die eigene Stimme in der Öffentlichkeit zu verankern, um selbst Stimme einer neu entstehenden Öffentlichkeit zu werden. Gleichzeitig diente das Wienerische Diarium auch als Stadtzeitung, die Ankünfte von Reisenden, Geburten, Todesfälle, aber auch zusehends mehr Inserate und Werbung beinhaltete. Ein stetig wachsendes Korrespondentennetzwerk sorgte dafür, dass auch internationale Nachrichten in der Zeitung Platz fanden. Bis auf Horoskope und den Sportteil findet sich quasi alles, was auch eine heutige Zeitung ausmacht. Das interessiert die Wissenschaft: „Das Wienerische Diarium ist eine Quelle, die für viele Forschende von besonderer

TEXT: WERNER STURMBERGER

„Das Wienerische Diarium ist keine Hofzeitung im klassischen Sinne“ ANNA MADER-KRATKY, ÖAW

Claudia Resch, ÖAW

DIGITARIUM.ACDH. OEAW.AC.AT

Bedeutung ist: für die Geschichtswissenschaft, die Kunst-, Musik und Theaterwissenschaft, für die historische Presseforschung und natürlich auch für die historische Sprachwissenschaft“ sagt ­Claudia Resch, Germanistin an der ÖAW und Leiterin des Projekts Digitarium. Das Diarium wurde daher als eine der ersten Periodika in die Plattform „AustriaN Newspapers Online“ (kurz: ANNO) der Österreichischen Nationalbibliothek aufgenommen. Das Suchen nach bestimmten Texten sind im digitalen Archiv historischer Zeitungen und Zeitschriften aber nur eingeschränkt möglich, was das Forschen oft mühsam macht. Das Digitarium-Projekt der ÖAW, das die beiden mit ihrem Team aufgebaut und entwickelt haben, hat das nun geändert.

Aufgrund der beschränkten Projektzeit wurden bislang nur 322 der mehr als 10.000 Ausgaben aus dem 18. Jahrhundert digitalisiert. „Dabei haben wir Forschende, die ebenso wie wir intensiv mit dem Diarium arbeiten, eingeladen, einzelne Ausgaben zu nominieren. Das Echo war enorm und hat uns überrascht“, schildert Resch. Mit dem Erreichten zeigt sie sich durchwegs zufrieden: „Wir haben gezeigt, dass auch ein kleines Digitalisierungsprojekt einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung digitaler Technologien leisten kann. Die fertigen Ausgaben stellen wir bereits jetzt frei zugänglich zur Verfügung. Natürlich wäre es großartig, wenn wir in einem Folgeprojekt auch die verbleibenden Ausgaben bearbeiten könnten.“

Die Computer lernen das Lesen alter Zeitungstexte „Die automatisierte Texterkennung ist nach wie vor fehleranfällig. Dazu reichen ein verschmierter oder verblasster Buchstabe, Flecken oder eine durchscheinende Rückseite. Beim Diarium kommt erschwerend hinzu, dass es in der damals üblichen Fraktur gedruckt wurde“, erklärt Resch. Die aus dem 15. Jahrhundert stammende Schriftart ist selbst für uns heute oft schwierig zu enträtseln – vor allem die Unterscheidung von „s“ und „f “ oder von „U“ und „A“ kann Probleme bereiten – Menschen und Computern erst recht. Die Ergebnisse der herkömmlichen automatisierten Texterkennung, wie sie bei ANNO bislang zum Einsatz kommt, sind entsprechend fehlerhaft und für die Forschung nur bedingt geeignet. Eines der Ziele des Digitariums war darum eine buchstabengetreue Digitalisierung des Diariums, die ein verlässliches Volltextsuchen ermöglicht. Grundlage der Texterkennung sind digitalisierte Bilder der Zeitung, die im Fall des Diariums von Originalen und Mikrofilmen aus dem digitalen Archiv der Nationalbibliothek stammen. Damit aus einer Bilddatei ein Textdokument werden kann, wandelt eine Software namens „Transkribus“ die Bilder in maschinenlesbaren Text um. „Wir haben darum erstmals auf Techniken der automatischen Handschriftenerkennung gesetzt und ein künstliches neuronales Netz auf die Erkennung der Fraktur-Schrifttype trainiert“, erklärt Claudia Resch. In der Informatik nennt man diese Anwendung künstlicher Intelligenz „Deep Learning“: „Dabei wird die Software mittels eines korrekt transkribierten Textes trainiert. Wenn ausreichend Trainingsmaterial vorliegt, übernimmt sie die Erkennung. Die Resultate werden dann wieder manuell korrigiert, sodass sich weitere Ausgaben durch diesen Input bereits verbessert erkennen lassen und die Fehlerrate weiter sinkt.“ Ein Trainingsaufwand, der sich bezahlt gemacht hat: Bei sehr guten Bildvorlagen unterlaufen der Software auf tausend Zeichen nur noch drei Fehler.

„seynd“ oder „sind“, das ist hier die Frage Historische, aber auch sprachwissenschaftliche Studien würde jedenfalls von einer Volldigitalisierung des Diariums profitieren. „Beispielsweise lässt sich nachvollziehen, wie sich die Sprachreform des 18. Jahrhunderts im Diarium allmählich durchsetzt und die oberdeutsche Schriftsprache durch eine neue mitteldeutsche ersetzt worden ist.“ Einer der Indikatoren sind etwa die Wörter „seynd“ und „sind“: „Anhand von Frequenz- und Verteilungsanalysen kann man sehen, wie das oberdeutsche „seynd“ in der Praxis zusehends vom mitteldeutschen „sind“ verdrängt und nur noch ganz vereinzelt verwendet wird“, so die Germanistin. Ein Mehr an verlässlich durchsuchbaren digitalen Zeitungsbeständen jener Epoche würde es zudem erlauben, auch kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen zu bearbeiten: Wer schreibt was und von wem ab? Wer hat welche Nachricht zuerst? Und genauso spannend: Worüber wird nicht berichtet? Während sich etwa das Diarium über die genauen Umstände des Ablebens von Marie Antoinette ausschweigt, wird in der Preßburger Zeitung ihr Weg zum Schafott genau geschildert. „Message Control“ gab es also bereits damals, hieß aber noch – auch offiziell – Zensur. Die weitere Digitalisierung des Diariums ruht im Moment, doch für Resch geht die Arbeit weiter. „Mit unserem Diarium-Modell, das wir kürzlich veröffentlicht haben, können auch andere Zeitungen aus dieser Zeitperiode verbessert erkannt werden. Aktuell läuft ein Test bei der Zürcher Zeitung, die 1780 gegründet wurde“, sagt die Germanistin. Sie selbst leitet inzwischen ein neues Projekt, welches das Digitarium mit dem „Wien Geschichte Wiki“ verknüpfen soll: „Wir testen, wie wir die im Diarium genannten Personen, Gebäude oder Ereignisse mit den Einträgen im „Wien Wiki“ verbinden können.“ Werden weitere Fördermittel bewilligt, soll das Digitarium einer der großen Datenlieferanten der „Time ­Machine Vienna“ werden. Wir werden sehen …

FOTOS: LUKAS BECK, SANDRA LEHECKA

Das „Wienerische Diarium“ ist ein historisches Sammelsurium – das „Digitarium“ erschließt es


ILLUSTRATION: LIZA KRUCHININA

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Dataskop – Liza Kruchinina www.instagram.com/_kruch und www.instagram.com/liza_kruch


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Mit der Hofburg in die Time Machine Ein Computermodell der Wiener Hofburg als Beginn unserer virtuellen Zeitreise as europäische Projekt „Time Machine Europe“ zielt darauf ab, das immense Kulturerbe des Kontinents für eine virtuelle Zeitmaschine aufzuarbeiten, abzuspeichern und aller Welt gratis zur Verfügung zu stellen. Begonnen hat es im Jahr 2012, als die „Venice Time Machine“ online ging und tausend Jahre venezianischer Stadtgeschichte in einem multidimensionalen Modell sichtbar machte. Die vorerst gescheiterte Time Machine Europe Seitdem haben mehrere europäische Städte begonnen, ähnliche Projekte zu initiieren. Im Idealfall sollten sie zur „Time Machine Europe“ werden, um gemeinsam in einer virtuellen Welt die Geschichte Europas und das Leben der europäischen Bevölkerung zu rekonstruieren. Die Time Machine hatte bis heuer gute Aussichten auf eine Milliardenförderung durch die EU, ist aber bei ihrer Verwirklichung auf kein Geld gestoßen. Sollte es einmal zur Time Machine kommen, könnten sich die Europäerinnen und Europäer in einem virtuellen Spiegel widerfinden. Ob ihnen das gefallen wird? Die Time Machine soll mithilfe von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und BigData-Technology verwirklicht werden. Als Grundlage hierfür werden historische Aufzeichnungen, Pläne, Gemälde, Fotografien und dergleichen herangezogen, die seit Jahrhunderten in europäischen Museen, Universitäten oder Forschungsinstituten archiviert sind und seit Beginn des 21. Jahrhunderts digitalisiert werden. In Österreich beginnt die Time Machine mit der Hofburg In Österreich sind an der „Time Machine Vienna“ verschiedene Institutionen beteiligt, darunter auch die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit einem Projekt über die Wiener Kaiserresidenz. Das Vorhaben baut dabei auf einem bereits bestehenden Projekt der Kommission für Kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften auf (mittlerweile die Abteilung Kunstgeschichte des Instituts für kunst- und musikhistorische Forschungen). Im Rahmen eines fast zehnjährigen Forschungsprojekts zur Bauund Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg entstand ein digitales 3D-Modell der Residenz. Das Modell zeigt die bauliche Entwicklung des Herrschaftshauses vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Nach der Erstellung des Modells beantragte Richard Kurdiovsky, ein Architekturhistoriker des Forschungsbereichs Kunstgeschichte des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums, ein daran anschließendes Forschungsprojekt. In seinem Rahmen soll das digitale 3D-Modell der habsburgischen Residenz von Kurdiovskys Team und in Kooperation mit der TU Wien bearbeitet

TEXT: SOPHIE HANAK

„Die Anwendungen sind hier schier unendlich und können ständig erweitert werden“ RICHARD KURDIOVSKY

Richard ­Kurdiovsky, ­Österreichische Akademie der Wissenschaften

werden. Ziel ist, das Modell als virtuellen Quellenspeicher für eine digitale Nachnutzung herzurichten. Auf diese Weise können dann historische und topografische Eigenheiten des Gebäudes aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. In der virtuellen Hofburg durch die Jahrhunderte „Im Zuge des Hofburg-Projekts haben wir schon viele digitale Daten zu Bild- und Schriftquellen aller Epochen gesammelt. Diese Daten sollen nun als Grundlage für das Projekt „Time Machine Vienna“ weiterbearbeitet werden. Es existiert eine Fülle an historischem Datenmaterial, das wir prototypisch in das digitale Modell zu integrieren versucht haben“, erklärt Kurdiovsky. Zu den verwendeten Daten zählen Schriftquellen wie etwa Reiseberichte, Briefe, Architekturzeichnungen, Pläne, wissenschaftliche Texte und digitale Daten zu Gemälden, ­Tapisserien oder Möbel. Diese werden dann zeitlich und örtlich im Modell angeordnet und abrufbar gemacht. Die Zukunftsvision ist, allen, die sich dafür interessieren, zu ermöglichen, die historische Hofburg virtuell zu begehen und in einem virtuellen Raum von einem Saal in den anderen zu wandern. Währenddessen sollen, ähnlich wie bei einem Museumsbesuch, weiterführende Informationen zu den jeweiligen Objekten zur Verfügung stehen. Durch Links ist es möglich, historisches Quellenmaterial wie archäologische, kunsthistorische oder botanische Daten, also alle im Modell verlinkten Inhalte, anzuklicken, um sie in Popup-Fenstern lesbar zu machen oder anschauen zu können. Zusätzlich kann man sich auch in jede beliebige Zeit einloggen. Das Modell enthält eine Zeitachse, auf der jedes beliebige Jahr, in dem die Hofburg besucht werden soll, ausgewählt werden kann. „Je nachdem, in welche Zeit der Besucher reist, sieht er dann die verschiedenen baulichen Zustände der Hofburg. Uns ist es sehr wichtig, eine browserbasierte Anwendung zu schaffen, die ohne tiefgehendes digitales Wissen verwendet werden kann“, sagt Kurdiovsky. Die virtuelle Hofburg als Prototyp für die Time Machine Vienna Die virtuelle Hofburg soll aber nur der virtuelle Grundstein oder besser ein Prototyp eines Teils der „Time Machine Vienna“ sein. Im Vollausbau soll die Time Machine Daten aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen verknüpfen und Nutzern zur Verfügung stellen. „Damit wir dieses Projekt zeitnahe umsetzen können, hoffe ich sehr, dass wir in absehbarer Zeit die Finanzierung für die ,Time Machine Vienna‘ bewilligt bekommen. Gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus anderen Forschungsbereichen möchten wir gern eine Time Machine nicht nur für die Hofburg, sondern für

die gesamte Stadt Wien realisieren“, erklärt Kurdiovsky Der Kampf ums Geld für dieses Projekt ist jedoch nicht einfach. „Derzeit ist eine nachhaltige Finanzierung der digitalen Infrastruktur in Österreich noch nicht ausreichend ausgebaut. Die aktuellen Bestrebungen aber scheinen in die richtige Richtung zu laufen. Momentan allerdings bemühen wir uns gemeinsam mit unseren Partnern nach wie vor um eine Drittmittelfinanzierung“, sagt der Architekturhistoriker Kurdiovsky. Eine Zeitmaschine mit unvorhersehbaren Möglichkeiten Mit dem Projekt „Time Machine Vienna“ soll, ausgehend von der prototypisch erprobten Anwendung für die Hofburg, der virtuelle Plan auf mehrere Teile der Stadt Wien ausgedehnt werden. So könnte ein Großteil der historischen Stadt durchwandert werden, basierend auf wissenschaftlichen Dokumenten. „Es wäre interessant, einen Stadtplan oder ein digitales 3D-Modell von Wien zu gestalten, worin wieder eine Zeitachse enthalten ist und ein bestimmtes Datum ausgewählt werden kann. Der Betrachter kann in den Stadtplan hineinzoomen und beispielsweise eine bestimmte Wohnadresse zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gegend der Stadt genauer unter die Lupe nehmen. Dort kann er etwas über damals an diesem Ort verwahrte Objekte und über dort lebende Menschen erfahren, über deren Berufe, deren berufliche oder private Kontakte und so zu weiteren Personen oder Orten gelangen. Das kann natürlich nicht nur für einen einzigen Zeitpunkt gelten, sondern auch Beziehungen in frühere oder spätere Zeiten beinhalten, etwa welche Mieter nacheinander in einem bestimmten Haus wohnten. Die Anwendungen sind hier schier unendlich und können durch das Hinzufügen von immer neuen Daten ständig erweitert und ergänzt werden“, schwärmt Kurdiovsky. Wichtig sei, dass der Zugang zur Time Machine einfach ist und der Gebrauch auch bei allen Erweiterungen einfach bleibt – für wissenschaftlich tätige Personen, die über wenig technisch-digitales Wissen verfügen ebenso wie für das breite Publikum. In der „Time Machine Vienna“ können Daten zusammengetragen werden und zu Erkenntnissen führen, die sich Wissenschafter und Forscher momentan noch gar nicht vorstellen können, da in solch einer Form so etwas noch nie existiert hat. „Die Time Machine hat den wunderschönen Vorteil, dass das Projekt nur funktioniert, wenn viele Forschende unterschiedlicher Disziplinen zusammenarbeiten, wir uns inklusiv verhalten und interdisziplinär Daten, Methoden und Fragestellungen in einem Modell verschmelzen.“ Richard ­Kurdiovsky schreckt sich nicht vor dieser immensen Aufgabe.

FOTO: PRIVAT

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ILLUSTRATION: LENA WENZEL

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Maschinenvisionen – Lena Wenzel www.klassekartak.com/student/lena-wenzel


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:  VO N A B I S Z

Time Machine Vienna: Das Glossar JOCHEN STADLER

Archiv  Räumliche Kammern oder Speicherplatz auf Festplatten für die zeitlich unbegrenzte Aufbewahrung von alten Gütern oder Daten, die zu wertvoll und zu interessant zum Entsorgen sind. Archivieren  Macht digital und physisch Probleme. Bei digitalen Datenspeichern ist die Haltbarkeit kaum abschätzbar, und die einstigen Computerprogramme zum Auslesen der alten Daten funktionieren auf heutigen Rechnern nicht. Physische Schätze werden vom Zahn der Zeit angenagt. Beim Datenträger Papier hat zum Beispiel alles, was im 19. Jahrhundert produziert wurde, schädliche Zusatzstoffe und löst sich durch Säurefraß auf. Augustin, Marx  Auch „der „liebe Augustin“ genannt, lebte von 1643 bis 1685 in Wien und war Bänkelsänger, Dudelsackspieler, Sackpfeifer, Stegreifdichter und Stadtoriginal. Für die Wiener ist er bis heute der Inbegriff dafür, dass man mit Humor und Alkohol alles überstehen kann. Sogar die Pest. Big Data  Der Versuch, aus riesigen Datenmengen bisher unbekannte Gesetzmäßigkeiten herauszulesen. Cyberspace  Parallelwelt, die nur aus Daten besteht. Daten  Werte, die durch Messungen oder Beobachtungen gewonnen wurden und die Welt beschreiben. Sie können zum Beispiel Informationen enthalten, wann der Stephansdom und die Votivkirche gebaut wurden und wo der liebe Marx Augustin seinen Kummer über die Pest versoffen hat. Datensilos  Nur für bestimmte Gruppen zugängliche Datenspeicher. Digitalisierung  Die Beschreibung physischer Größen in digitale Daten, die leicht abrufbar, speicherbar und versendbar sind und somit überall auf der Welt zu jedem Zeitpunkt betrachtet werden können. Digitalisierungsoffensive  Erfüllung des unersättlichen Dranges, die Realität in Computernetzwerken zu archivieren. Düsentrieb, Daniel  Comicfigur aus der Feder des Disney-Zeichners Carl Barks, die Zeitmaschinen baut wie andere Toaster. Gegenwart  Jeweils der Zeitpunkt, in dem man handeln kann und alle Geschehnisse stattfinden. In ihr wird demnach die Geschichte geschrieben. Geschichte  Dinge aus der Vergangenheit, die Menschen nicht vergessen wollen. Entweder, um daraus zu lernen, ihre heutige Identität daraus abzuleiten, oder aus Sentimentalität. Geschichtsbild  Aktuelle Deutung der Vergangenheit durch einen Menschen oder eine Gruppe mit gleicher Identität. Historiker  Wissenschafter, der dokumentiert, aufzeichnet und deutet, was alles in der Vergangenheit passiert ist. Identität  Ein Cocktail aus Anschauungen, Motiven, Werten, Normen und

Vorschriften, denen man gerecht wird, um anderen zu gefallen und in eine Schublade zu passen. Information  Wissen, das man aufzeichnen, aufschreiben, verheimlichen oder wegspeichern kann. Kultur  Summe der Überzeugungen und Gewohnheiten in einem Gebiet zu einer gewissen Zeit, mit denen sich die Menschen zurechtfinden müssen. Gleichzeitig ein Mechanismus, der die Personen darin prägen und vereinheitlichen will, ob sie das wollen oder nicht. Kulturgut  Etwas, das mehrere Menschen (auf )bewahren wollen, weil sie der Meinung sind, dass es ihre Vorfahren und sie selbst geprägt hat. Kulturerbe  Alles menschliche Kulturgut aus der Vergangenheit. Kunstwerk  Etwa ein Gegenstand, Bauwerk oder Bild, das von jemanden geschaffen wurde, den seine Mitmenschen oder spätere Generationen Künstler nennen. Museum  Öffentlich zugängliches Archiv für sehr bis kaum bewundernswerte alte Objekte. Objekt  Ein altes oder neues Ding, dem Menschen einen gewissen materiellen oder ideellen Wert zuschreiben. Open Data  Daten, die von jedem anstandslos verwendet werden dürfen. Werden mit umso mehr Sternen dekoriert, umso besser sie für die Allgemeinheit zugänglich und nutzbar sind. physisch  körperlich Stephansdom  Nationalheiligtum von Österreich genau in der Mitte von Wien, das seit 1137 ausgebaut wurde und immerdar renoviert wird. Überreste  Das, was man von früheren Kulturen findet, um sich dann meist ein teils recht skurriles Bild zu machen, wie man damals gelebt hat. Vergangenheit  kann man nicht ändern, aber man kann aus ihren Begebenheiten lernen. Wenn man will. Votivkirche  Römisch-katholische Kirche in der Wiener Innenstadt, die „zum Dank für die Errettung Seiner Majestät“ nach einem missglückten Attentat auf Kaiser Franz Josef I. mit Spendengeldern von 300.000 Wienern in 23 Jahren gebaut und 1879 eingeweiht wurde. Wien  eine der lebenswertesten Großstädte der Welt, die trotz jüngster Kalamitäten ein produktiver, sympathischer Schmelztiegel der Kulturen und unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen ist. Zeit  Eine physikalische Größe, die der Abfolge von Ereignissen eine unumkehrbare Richtung gibt. Zeitmaschine  Erdachtes Gerät für physische Zeitreisen. Wären laut physikalischer Theorien möglich, mit der heutigen Technik aber praktisch nicht machbar. Zeitreisen  Sind im Kopf, Computer und Comicheft trivial, physisch aber undurchführbar.

:   F R E I H A N D B I B L I OT H E K BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA VON EMILY WALTON

Schlüssel­institutionen der Wissenschaft

Kampf um Aufmerksamkeit für Museen

Durch die Geschichte hindurch, von den Griechen und Römern bis ins digitale Zeitalter des 21. Jahrhunderts, sind Bibliotheken für Wissen und Wissenschaft von zentraler Bedeutung: Das vorliegende Buch ist eine fundierte Untersuchung und geschichtliche Aufarbeitung der Schlüsselinstitutionen der Kultur. Die Beiträge wurden von Wissenschaftern, Bibliothekaren, Schriftstellern und Kritikern beigesteuert. Der Band ist nicht nur Bibliothekaren zu empfehlen, sondern allen Bibliophilen, die sich am Diskurs um die Zukunft von Bibliotheken beteiligen möchten.

Was haben das London Science Museum, das California Shakespeare Theatre und die Band ShaNaNa gemeinsam? – Sie alle kämpfen um Relevanz und Aufmerksamkeit der Menschen. Wie man als Museum wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rücken kann, beleuchtet Nina Simon, die als „Museumsvisionärin“ bezeichnet wird, in diesem Buch. Fallstudien, forschungsbasierte Exempel und auch praktische Ratschläge ergeben ein kompaktes Bild, wie Institutionen wie Museen, Büchereien, aber auch Parks und Theater ihre Relevanz in der Gesellschaft erhöhen können.

Alice Crawford (Hg.), The Meaning of the Library: A Cultural History. Princeton University Press, 336 S.

Nina Simon, The Art of Relevance. Museum 2.0. Verlag, 196 S.

Kernaufgaben der Kunstmuseen

Museen als Ort der Neugierde

Museen sind Orte der Unterhaltung und sozialtherapeutische Einrichtungen zugleich. Museen werden aber oft auch in ein negatives Licht gerückt und etwa des Elitismus, der Plünderung oder des illegalen Exports beschuldigt. In „­Whose Muse“ kommen fünf Direktoren britischer und US-amerikanischer Museen zusammen, um zukunftsweisende Ansätze im Museumswesen darzustellen. Dabei liegt ein Fokus auf der Betonung der Kernaufgaben: das Aufbauen von Sammlungen, die das künstlerische Erbe einer Nation widerspiegeln, sowie der Zugang dazu.

Die Bandbreite reicht von Museen für Spionage, Staubsauger und Senf bis zu international renommierten Kunstmuseen. Museen kuratieren so gut wie alles und haben im Lauf der Jahrzehnte eine neue Bedeutung im öffentlichen Leben angenommen. In „The Return of Curiosity“ bietet Nicholas Thomas, Direktor des Museum of Archaeology and Anthropology in Cambridge, eine neue Perspektive auf Museen und unterstreicht ihre Funktionen als Verwalter der Geschichte von Natur und Mensch wie auch als Raum für Partizipation und Austausch in der Gesellschaft.

James Cuno (Hg.), Whose Muse? Art Museums and the Public Trust. Princeton University Press, 208 S.

Nicholas Thomas, Return of Curiosity: What Museums Are Good for in the 21st Century. Reaktion Books, 173 S.


ILLUSTRATION: NOAH VON STIETENCRON

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Auflösung – Noah von Stietencron www.klassekartak.com/student/noah_vonstietencron


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Seit 1921 gute Aussichten Das Burgenland, das jüngste Bundesland Österreichs, feiert 2021 seinen erstaunlichen Aufstieg as Burgenland teilt seine Außengrenze mit drei EU-Staaten, was zu einem bestimmten Verständnis der Welt und des eigenen Landes führt. Hier hilft jeder jedem, freilich mit ein wenig Abstand. Im Jahr 1921 wurde das heutige Burgenland, unter den Habsburgern als „transleithanisches Westungarn“ bezeichnet, nach kämpferischen Scharmützeln mit ehemaligen „Habsburgerverbündeten“ und nach zahlreichen internationalen Konferenzen dem Staat Österreich zugesprochen. Das führte bei vielen zur Frage: Warum eigentlich? Was wurde damit geschaffen? Die „neuen“ Burgenländerinnen und Burgenländer gaben darauf selbst eine Antwort: mit Fleiß, Humor und Geduld schufen sie das jüngste der österreichischen Bundesländer und sind nun zurecht stolz darauf. Dabei unterschied sie besonders eines von den Alpenländern Österreichs: Sie mussten aus unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zum Gemeinsamen zusammenfinden. Das ist mittlerweile so gut gelungen und das Land so attraktiv geworden, dass immer mehr Menschen aus den umliegenden Großstädten Wien und Bratislava in das ehemalige „Ziel 1a“-Gebiet, wie die EU es nennt, übersiedeln. Was ist ein Ziel-1a-Gebiet und was ist daraus geworden? Die EU benennt Gebiete, die einer besonderen Förderung würdig sind, als „Ziel 1a“. Dafür wurden zwischen 1995 und 2006 aus EU-Fonds knapp eine Milliarde Euro für das Burgenland bereitgestellt. Da eine „klassische“ Industrie im Burgenland weitgehend fehlt, ging das Geld in die Schaffung von Gewerbeparks vor den Dörfern, in Dienstleistungen und den Tourismus: Das Burgenland wird nun als Bundesland mit den meisten Sonnentagen beworben. In der Folge entstanden der Nationalpark Neusiedler See-Seewinkel, Thermenanlagen, Radwege, Wanderrouten oder Wassersportanlagen. Heurige und Wirtshäuser locken nun Gäste an, die sich vor allem von der Freundlichkeit der Menschen im Burgenland begeistern lassen. Eines ist allerdings geblieben: Klassische wirtschaftliche Vorzeigebetriebe, vor allem industrielle, sind nach wie vor eine Minderheit. Dafür wurden Ausbildungsstätten für Lehrlinge eingerichtet und in den vergangenen zwanzig Jahren auch Fachhochschulen in Eisenstadt und Pinkafeld. Die Vielschichtigkeit der Burgenländer, historisch Im Burgenland gilt Zusammenhalten als Leitparole. Auch im übertragenen Sinn beim Bereden von Dingen, oder besser im Schweigen. „Unterm Strich kennt man sich und verträgt sich“, sagt Pater Thomas Lackner. Er erfüllt sein priesterliches Amt seit knapp einem Jahrzehnt in der Basilika Frauenkirchen und wird dabei nicht

TEXT: ALEXANDER LASS

„Abwarten bringt viel, aber stetig daran arbeiten ist der Schlüssel“ PEPO HAUBENWALLNER, DORFMUSEUM MÖNCHHOF

Pater Thomas Lackner, Basilika Frauenkirchen

müde davon zu sprechen, was nicht alles schon renoviert gehört hätte in der Basilika. Aber das Leben ist halt kein Wunschprogramm, und das Burgenland, wo man gern gut lebt, auch nicht. Trotzdem lässt Lackner sich nicht unterkriegen, darin zeigt sich eine Haltung, die Menschen in diesem Land ganz allgemein auszeichnet, ist es doch, historisch gesehen, immer wieder von sogenannten „geschichtlichen Ereignissen“ mit durchaus feindlichen Absichten überrannt worden. Auch die stetig wechselnden Machtverhältnisse erzwangen ein persönliches Verhalten, das man am besten mit „vielschichtig“ umschreibt. Lackner gehört zweifellos zu diesen vielschichtigen Persönlichkeiten des Burgenlands. Ebenso wie der Erfinder und Gründer des Freilichtmuseums „Dorfmuseum Mönchhof “, Pepo Haubenwallner. „Abwarten bringt viel, aber stetig daran arbeiten ist der Schlüssel“, sagt er und klimpert mit den mehr als fünfzig Schlüsseln, die er zum täglichen Aufsperren des Museums bei sich trägt. Damit öffnet er viele Türen, hinter denen sich ein Aspekt der abwechslungsreichen Geschichte und vielfältigen Gegenwart des Landes zeigt – das Dorfmuseum als Gebäude eines kollektiven Gedächtnisses. „Von nix kummt nix“, gibt er meistens seinen Besuchern nach einer Tour mit auf den Weg. Das Freilichtmuseum selbst ist der beste Beweis dafür, hat er es doch im Jahr 1990, wenige Wochen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in Eigenregie gegründet. Die wirtschaftliche Entwicklung im Land der Dörfer 1998 wurde der Grundstein für eine Einrichtung gelegt, die viele gern nachahmen würden, einfach, weil sie wirtschaftlich so erfolgreich ist und über die Region hinaus für Kauflust sorgt. Das ­McArthurGlen ­Designer Outlet in Parndorf wird zwar gern kritisiert, noch lieber fährt man aber dorthin, um einzukaufen. In Parndorf gibt es auch, was sonst im Burgenland eher selten ist, Industriebetriebe wie Mareto, den Weltmarktführer bei der Erzeugung von Kunststoffen für die kosmetische und pharmazeutische Industrie, oder das PK Windpark Management der PUSPÖK Group, die 91 Windenergieanlagen betreibt. Oder auch die Interpane Isolierglasgesellschaft. Von solchen Unternehmen profitieren die Gemeinden rund um Parndorf. Was dem Land momentan jedoch vor allem fehlt, ist ein Cluster von Start-ups der neuen Technologien. Unternehmergeist zeigt sich vor allem auch im kleinen Rahmen wie dem des Fahrradgeschäfts der Brüder Günther und Johannes Hafner mit dem Namen „Geheimrad von Hafner“. Was auf den ersten Blick anderen Fahrradhandlungen ähnelt, zeigt sein Geheimnis jenen, die sich dort umschauen. Radfahren ist ja geradezu erfunden für das Burgenland. In seinen flachen Teilen, und das sind die meisten, kommt

man sogar ohne E-Bike gut voran. Den Hafners ist bei ihren Gefährten vor allem eines wichtig: Langlebigkeit und Tradition. So bieten sie auch Räder aus britischen Traditionsschmieden an. Das Herz des Burgenlands und sein Besitzer Der Neusiedler See mit den Nationalparks Neusiedlersee-Seewinkel und Fertő-Hanság ist so etwas wie das Herz des Burgenlands. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgt man dem Pumpern dieses Steppensees, dem Auf und Ab des Wasserspiegels, denn der größte abflusslose See in Mitteleuropa kommt eben nicht leicht zu seinem Wasser. Also bloß kein 1864 mehr, als er austrocknete. Sein österreichischer Bereich ist zum größeren Teil Eigentum der Familie Esterházy. Die schillernde Geschichte des magyarischen Magnatengeschlechts beschäftigt fallweise heute noch die Medien. Im Übrigen führen die Esterházy-Betriebe ihre Geschäfte als einer der größten Güterverwalter und Immobiliengestalter des Bundeslandes, mehr und mehr auch als Touristiker und Kulturveranstalter. Seit einigen Jahren entspinnt sich ein leiser Dialog zwischen Vertretern des Landes und der Führung der Esterházy-Betriebe, es funktionieren Synergien ohne viele offizielle Worte. Wein und was das Leben am Land ausmacht Der Weinregion Burgenland hat der Glykolskandal von 1985, als publik wurde, was den burgenländischen Wein so süß machte, nämlich ein Frostschutzmittel, nach vielschichtigem Schweigen zu einem mittlerweile international gerühmten Standard verholfen. Heute gibt es nicht nur die Spitzenweine innovativ arbeitender Winzer, sondern auch die schrägsten Variationen an Weinrebsorten, vom Csaterberg im Süden bis zur „Hölle“ bei Illmitz. Und wer einen Uhudler … Kurz, das Burgenland ist Österreichs Weinregion mit den besten aller Jahrgänge, trotz Wachau und Südsteiermark. Im Wein steckt wohl auch, was das Burgenland ausmacht: Landleben mit genormten Daseinspflichten, der innere Drang, ständig etwas erfinden zu wollen, hohe Produktivität und zugleich der Rückzug aus der Welt. Wie es einem halt am besten schmeckt. Über sich selbst erfährt das Burgenland aus einer marginalen – oder soll man sagen randlagigen? – Medienlandschaft. Schau-TV und ORF Burgenland bringen täglich Kurzfernsehbeiträge, Tageszeitungen werden in Wien von burgenländischen Lokalredaktionen gefüllt. Der Bohmann-Verlag agiert als vielschichtiger Berichterstatter. Buchverlage sind an einer Hand abzuzählen, der umtriebigste ist die „edition lex liszt 12“ von Horst Horvath, der Autorinnen und Autoren sowie Geschichten aus dem Burgenland verlegt und zahlreiche interkulturelle Interventionen anstößt.

FOTO: PRIVAT

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Z U G U TE R L E T Z T  :   H EU R E K A 5/20   FALTER 47/20  23

: GEDICHT

ERICH KLEIN

S I G N O R M O N G I B E L LO

Ronald Pohl Der Wiener Autor und Journalist Ronald Pohl (Jg. 1965) bezeichnet seine zweihundertneun Terzinen umfassende Dichtung auf den sizilianischen Ätna, auch Mongibello genannt, als „Lava-, Hass- und Brandrede“. In gargantuesker Rede von enzyklopädischer Dimension mutiert das Naturschauspiel Vulkan zum eruptiven Produktivitätsmoloch.

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Ätna du Wöchner speiest Dampf In schwarzen Nylons steck dein Gras Du selbst bist baumlos bass erstaunt

Heißa so sparst den Besuch du Des Fuhrwerks mit Eierbriketts Auch kommt kein Rauchfangkehrer zu dir

Die Stubenhocker Magma und Gas Bewohnen glühend vor Eifer Dein rauchendes Gemach

An Silvester um dir Glück zu wünschen Dein Kalender ist der OLeander Prosit Ätna du dampfst (2)

AUS: RONALD POHL: SIGNOR MONGIBELLO. RITTER VERLAG 2020

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT) :  B I G P I C T U R E AU S B U DA P E ST

:   I M P R E SS U M Herausgeber: Armin Thurnher; Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Redaktion: Christian Zillner, Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Martina Paul; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.

HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

101 Jahre alt In die südfranzösische Abtei Conques kamen zuerst Pilger, dann Romantiker und zuletzt die Touristen. Erstere auf der beschwerlichen Suche nach Gott, zweitere kunstbegeistert dem Unendlichen nachspazierend, Touristen wissen nie genau, was sie suchen. Eine Kirche aus dem elften Jahrhundert vielleicht, zu Ehren der Heiligen Fides errichtet, einer christlichen Märtyrerin aus dem vierten Jahrhundert? Einziger moderner Anziehungspunkt in der von Landflucht gekennzeichneten Gegend sind die in den 1990er Jahren gestalteten Glasfenster des französischen Malers Pierre Soulages. Die 184 weißen und opaken Gläser sind mit ihrer unterbrochenen Bildfläche von über 400 Quadratmetern eines der größten zeitgenössischen Kunstwerke. Für den im nahen Rodez 1919 geborenen Soulages war die Arbeit an seinem chef d`oeuvre nicht nur eine Rückkehr zu den Anfängen europäischer Kunst, es handelte sich auch um eine zum eigenen Ursprung. Beim Anblick der Architektur von Conques entschied sich der Junge während eines Schulausflugs, Maler zu werden. Die profane Erleuchtung ließe den in barbarischen Zeiten aufwachsenden Soulages ein Leben lang an einem Credo festhalten: „Der einzige Sinn meiner Malerei besteht darin, Licht zu malen!“ Bei der Eröffnung seiner Glasfenster in Conques witzelte der Künstler über sein Markenzeichen, die schwarze Farbe: „Die Leute sagten, jetzt macht er sicher schwarze Glasfenster, mich aber hat weiß interessiert, das Licht im Zusammenspiel mit dem Stein, ocker, rosa, blau. Nicht mehr.“ Was sich dem Betrachter hinter der Weltgerichtsszene im Portal von Conques öffnet? Die von schwarzen Metallstegen unterbrochenen und von schraffurartigen Bleibändern durchzogenen Gläser versetzen den Raum in einen Taumel der Ruhe. Die Welt an ihrem Anfang und Ende? Von Soulages erfährt man keine Aussagen, er hält sich allein an das Sichtbare. Was man sieht, das sieht man. Die Empathie des Künstlers gilt den Glasschleifern und Chemikern, denen es gelang, zentimeterdickes Glas herzustellen, das den Eindruck der Selbstemanation erzeugt: „Das Licht musste aus dem Inneren des Glases kommen, dafür sind ganz bestimmte Granulate in ganz bestimmter Größe notwendig.“ Alchemie der Kunst? Lumière heißt Licht und Aufklärung. Pierre Soulages wird im Dezember 101 Jahre alt.


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