FALTER Bücherherbst 2014

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FALTER

Bücher-Herbst 2014 81 Bücher auf 56 Seiten

Nr. 41a/14

ILLUSTR ATION: PETER DIAMOND

Finnland: Sigrid Löffler über Sofi Oksanen +++ Junge Erzählerinnen: Grjasnowa, Güntner, Lappert +++ Acht Seiten Literatur aus Österreich: Karin Peschka, Xaver Bayer, Friederike Mayröcker +++ Politische Theorie: Judith N. Shklar erklärt die Laster +++ Ökologie: Hummeln, Wölfe, Weltuntergang +++ Geschichte: Als der Wiener Kongress tanzte Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2470/2014


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i n h a l t    Illustrationen

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Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!

Besprochene Autoren Literatur Babel, Isaak   28 Bayer, Xaver   12 Bulawayo, NoViolet   29 Cartarescu, Mircea   27 Davis, Lydia   26 Enzensberger, Hans Magnus   17 Filippetti, Aurélie   28

Liter atur

Franzobel   14 Göttfert, Constantin   10 Grjasnowa, Olga   22 Güntner, Verena   20 Haratischwili, Nino   31 Harbou, Thea von   10 Hermann, Judith   24 Jansson, Tove   5 Kegele, Nadine   8 Kettu, Katja   6 Krausser, Helmut   18 Kränzler, Lisa   20 Lappert, Simone   21

Mayröcker, Friederike   15 Mengestu, Dinaw   25 Müller, Herta   18 Oksanen, Sofi   4 Präauer, Teresa   8 Peschka, Karin   9 Rosei, Peter   14 Roth, Gerhard   13 Stach, Reiner   19 Seiler, Lutz   24 Toussaint, JeanPhilippe   23 Wodin, Natascha   26

Als die Tauben verschwanden Sofi Oksanen über Estland Mumins und mehr Zum 100. Geburtstag von Tove Jansson Wildauge Katja Kettus Roman über Finnland im 2. Weltkrieg Johnny und Jean Teresa Präauer erzählt von zwei Künstlern Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause Nadine Kegele legt nach einem Erzählband ihren Debütroman vor Watschenmann Karin Peschka über Elend und Wiederaufbau Steiners Geschichte Constantin Göttfert führt an die March Metropolis Thea von Harbous Buch zu Fritz Langs Film Milena Verlag Vanessa Wieser brachte frischen Wind ins Haus Geheimnisvolles Knistern ... Der Erzähler Xaver Bayer Grundrisse eines Rätsels Verblüffendes von Gerhard Roth Die Globalisten Peter Roseis Roman über Emporkömmlinge Wiener Wunder Franzobel macht jetzt auch in Krimis cahier Friederike Mayröcker gegen die Vergänglichkeit Tumult Hans Magnus Enzensberger über bewegte Zeiten Mein Vaterland war ein Apfelkern Herta Müller spricht Verstand und Kürzungen Helmut Krausser und die Lyrik Die frühen Jahre Reiner Stach über seine große Kafka-Bio Lichtfang Ein gar nicht trivialer Roman von Lisa Kränzler Es bringen Bei Verena Güntners Roman besteht Suchtgefahr Wurfschatten Tolles Debüt von Simone Lappert Die juristische Unschärfe ... Neues von Olga Grjasnowa Nackt Jean-Philippe Toussaint schreibt Teil vier eine Trilogie Kruso Bei Lutz Seiler sind DDR-Flüchtlinge reif für die Insel Aller Liebe Anfang Judith Hermann über seltsame Liebe Unsere Namen Roman des US-Äthiopiers Dinaw Mengestu Kanns nicht und wills nicht Stories von Lydia Davis Alter, fremdes Land Späte Lust bei Natascha Wodin Die Flügel Mircea Cărtărescu schließt die Orbitor-Trilogie ab Mein Taubenschlag Sämtliche Erzählungen von Isaak Babel Das Ende der Arbeiterklasse Roman von Aurélie Filippetti Wir brauchen neue Namen NoViolet Bulawayos Debüt Das achte Leben Der Ziegel von Nino Haratischwili

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Deon Meyer AU F L ES ER EI S E

K IR STIN BR EITENFELLNER S eb a sti a n f a sth u ber

Sachbuch

Bauer, Christa   50–51 Blom, Philipp   51 Byer, Doris   42 Duve, Karen   43 Ehrlich, Anna   50–51 Etzlstorfer, H.   50–51 Fleckner, Uwe   35 Freely, John   47 Fuhr, Eckhard   44 Goulson, Dave   40 Hawkins, Paul   48 Just, Thomas   50–51

King, David   50–51 Lethem, Jonathan   52 Liessmann, K. P.   38 Lütke, Christoph   33 Maderthaner, W.   50–51 Maimann, H.   50–51 Maxeiner, Dirk   45 Miersch, Michael   45 Parzinger, Hermann   48 Pollan, Michael   52 Raulff, Ulrich   42 Reinhardt, Volker   39 Rosenstrauch, H.   50–51

Schlögel, Karl   46 Sezgin, Hilal   41 Shklar, Judith N.   31–33 Shubin, Neil   46 Sonne, Wolfgang   36–37 Straub, Eberhard   50–51 Villgratter, S.  36–37 Warnke, Martin   35 Weber, Andreas   45 Wienfort, Monika   48 Wilson, Bee   53 Ziegler, Hendrik   35 ŽiŽek, Slavoj   38

Sachbuch

Politische Theorie Judith N. Shklar analysiert die Laster  32 Politische Theorie Sind Ethik und Wettbewerb vereinbar?  34 Politische Theorie Das Handbuch der politischen  35 Ikonographie kann man auch von vorne bis hinten lesen Architektur Zwei Führer über Wien und die Stadt an sich  36 Philosophie Slavoj ŽiŽek über das Ereignis und sich selbst  38 Bildung Konrad Paul Liessmann über die Bildungsdebatte  38 Geschichte Der Marquis de Sade und der französischen Adel  39 Biologie David Goulson erklärt die unscheinbare Hummel  40 Ökologie Hilal Sezgin setzt sich ein weiteres Mal für Tiere ein  41 Reisen Doris Byers und Abdoulaye Sima reisen nach Mali  42 Autobiografie Ulrich Raulff über die Macht der Bücher  42 Ökologie Karen Duve prophezeit den nahen Weltuntergang  43 Biologie Eckhard Fuhr analysiert die Rückkehr der Wölfe  44 Ökologie Andreas Weber findet das Leben erotisch  45 Ökologie Eine Bilanz des grünen Denkens malt allzu rosig  45 Evolutionstheorie Neil Shubin hat es wieder getan!  46 Geschichte Karl Schlögel schreibt über Russland und die Juden  46 Wissenschaftsgeschichte John Freely belegt, dass die moderne Wissenschaft viel älter ist, als wir dachten  47 Archäologie Hermann Parzinger beleuchtet die Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift  48 Kulturgeschichte Monika Wienfort erzählt die Geschichte  49 der Ehe seit der Romantik Anthropologie Paul Hawkins erklärt den Homo sapiens  49 Geschichte Vor 200 Jahren tanzte der Wiener Kongress  50 Geschichte Philipp Blom legt ein Buch über die Zwischenkriegszeit (1918–1938) vor  51 Kochen Michael Pollan über den Prozess der Transformation  52 Essen Bee Wilson schreibt eine Geschichte der Esswerkzeuge  53 Musik Jonathan Lethem huldigt dem Album „Fear of Music“

der Talking Heads

© Bronwen Brauns

Peter Diamond Seine Illustrationen sind digital kolorierte Tuschezeichnungen. Er stammt aus Kanada und wohnt seit fünf Jahren mit seiner Frau Lisa in Wien

Gewinnspiel unter: www.deon-meyer.de

Finnland ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse – und mit Finnlands Literaturstar Sofi Oksanen eröffnet auch der Belletristikteil der Beilage. Auffällig ist überhaupt, dass in diesem Herbst viele großartige Bücher von Autorinnen stammen: von Karin ­Peschka und Friederike Mayröcker über Verena Güntner und Olga Grjasnowa bis Lydia Davis und Nino Haratischwili. Der Sachbuchteil bietet Gehirnfutter an politischer Theorie (Judith N. Shklar), Weltrettungs- und -verbesserungsliteratur (Karen Duve, Hilal Sezgin), aber auch Erhellendes von Wald-und-Wiesen-Enthusiasten, Anregendes über Kochvorgänge und Esswerkzeuge und eine Rundschau zur bislang größten heimischen Party: dem Wiener Kongress vor 200 Jahren.

»Cobra« Lesereise mit ginn: 19:00 Be | 4 01 18.10.2 Frick Buchhandlung1010 Wien Graben 27, A-

Thriller 448 Seiten ISBN 978-3-352-00686-9 1 20,60 Auch als E-Book erhältlich

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Kochbücher Armin Thurnher sichtet Rezepte des Herbstes  54

Impressum Falter 41a/14 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Sebastian Fasthuber Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl; Korrektur: Hildegard Atzinger, Helmut Gutbrunner, Andrea Schmidt­berger Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar Bücher-Herbst ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das

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Brutal geschunden und fast zerrieben Finnlands Starautorin Sofi Oksanen erzählt in ihrem neuen Roman ihr großes estnisches Heimat-Epos weiter

Darin thematisiert Oksanen die traumatische

Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert, des baltischen Kleinstaats am Finnischen Golf, der im Zweiten Weltkrieg dreimal feindlich überrannt und erst von den Russen, dann von den Deutschen, dann wieder von den Russen okkupiert wurde und ab 1944 eine sowjetische Kolonie war. Zwischen den aggressiven Nachbarstaaten wurde die Bevölkerung brutal geschunden und fast zerrieben. Jeder Este hatte im Zweiten Weltkrieg die Wahl zwischen vier Übeln – Guerillakampf, Kollaboration, Verrat oder Flucht – und die Aussicht, entweder von den HitlerDeutschen oder von den Stalin-Sowjets verfolgt, umgesiedelt, zur Zwangsarbeit deportiert oder umgebracht zu werden.

Ganze fünf Tage lang konnte sich Estland im September 1944 als unabhängiger Staat fühlen, ehe die Rote Armee abermals einmarschierte und der Freiheit der Esten für weitere fünf Jahrzehnte ein Ende machte. Ein weites Feld an dramatischen, auch melodramatischen Konflikt- und Erzählstoffen tut sich da auf, über das eine zeithistorisch Zur Person interessierte Autorin wie Sofi Oksanen frei verfügen kann. Sofi Oksanen, Ihre mütterliche Familie stammt aus Kulla-

maa, einem kleinen Dorf im Westen Estlands, das der Autorin in allen drei Romanen und kaum fiktiv verhüllt als Schauplatz dient. Hier, am Rande des Dorffriedhofs, lässt sie auch ihren neuen Roman beginnen, der davon erzählt, wie eine bäuerliche Sippe im Weltkrieg unter dem Druck wechselnder Besatzer des Landes politisch zerrissen und menschlich zerstört wird und letztlich an den Folgen von Verrat, Feindschaft und sogar Mord zugrunde geht. Dem ländlichen Estland in seiner naturhaften Urwüchsigkeit, die alle politischen Umstürze zu überdauern scheint, gehört die ganze rückwärtsgewandte Liebe der Autorin. Unüberhörbar die nostalgischen Gefühle, die ihr Mutterland in ihr erweckt, „wo es Kopfsteinpflaster, Sonne und Gelächter gibt trotz des Fluchens und der Schlangen. Reifende Kirschen und Fliederwälder. Verfallende Gutshöfe und Windmühlen, Schilfdächer mit Moos drauf, verbeulte Aluminiumtöpfe auf Pfannenuntersetzern, die nach Wacholder duften, und vom Wetter grau gegerbte Milchbühnen am Ende von Eschenalleen. Mutter, Mutter, lass uns zurückgehen.“ Doch das Zurückgehen ins mütterliche Sehnsuchtsland von einst reißt immer nur Wunden auf und ruft die Erinnerung an alte Verbrechen, alten Hass und alte Feindschaften wach, die ungesühnt weiterschwären und in die Gegenwart hineinwirken. Viel Bitterkeit über verdorbenes Leben liegt über diesen Familiengeschichten, die Oksanens retrospektives Erzählverfahren nach und nach enthüllt, unter Einarbeitung von Ta-

Jahrgang 1977, ist die Tochter einer Estin und eines Finnen. Mit ihrem dritten Roman, „Fegefeuer“, wurde sie international bekannt. Oksanen ist verheiratet und lebt in Helsinki

gebüchern und sogar Dokumenten des sow­ jetischen Geheimdienstes KGB. Immer stellt die Autorin eine bäuerliche Familie ins Zentrum, die im dörflichen Mikrokosmos die makropolitischen Jahrhundertkonflikte der estnischen Bevölkerung exemplarisch austrägt, im Spannungsfeld zwischen nationalistischen Esten, die sich im Kampf gegen Nazis und Bolschewiken zu den Partisanen in den Wäldern schlagen, und anderen Landsleuten, die ihr Heil in der Kollaboration suchen. In „Als die Tauben verschwanden“ sind diese kontrastierenden Positionen mit zwei Cousins besetzt: dem Bauernsohn Roland, der aufseiten der Waldbrüder die estnische Nation verteidigt, und seinem Vetter Edgar, einem opportunistischen Feigling und skrupellosen Verräter, der sich auf die Seite der jeweiligen Machthaber im Lande schlägt und zu jedem Verbrechen bereit ist. Es ist die Figur des Kollaborateurs, die Sofi Oksanen erkennbar am meisten interessiert. Massenexekutionen und Verschleppungen

Sofi Oksanen: Als die Tauben verschwanden. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Kiepenheuer & Witsch, 432 S., € 20,60

nach Sibirien gehören bei Oksanen immer zur tragischen Familiengeschichte, und immer sind weibliche Körper der Hauptkampfplatz. So gerät diesmal Juudit, die weibliche Hauptfigur, zwischen alle Fronten. Ihr Körper wird zum Austragungsort für die Konflikte der Männer. Sie schließt sich den Waldbrüdern an, doch sie heiratet den Verräter Edgar. Sie lässt sich während der deutschen Okkupation in Tallinn mit einem SS-Hauptsturmführer ein, in den sie sich verliebt hat. Edgar rächt sich, indem er sie in die Medikamenten- und Alkoholsucht treibt und in die geschlossene Psychiatrie einweisen lässt. Sofi Oksanen lässt im Roman ihre Sympathie für die estnischen Nationalisten deutlich erkennen. Dazu bekennt sie sich auch: „Der Nationalismus eines kleinen Landes ist nicht expansiv. Die Esten wollen nur überleben. Für dieses kleine EinMillionen-Volk war es eine Leistung, die eigene Sprache und kulturelle Identität überhaupt zu erhalten.“ S I G R I D L Ö F F L E R

Illustr ation: peter diamond; Foto: Toni Härkönen

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s ist schon paradox: Auf der Frankfurter Buchmesse 2014 schmückt sich das diesjährige Gastland Finnland mit Sofi Oksanen als seiner Starautorin. Die stets schrill herausgeputzte und krass geschminkte Bestsellerautorin ist als Vorzeige-Finnin eine höchst aparte Wahl. Vor allem wegen ihres Werks. Sofi Oksanen, Jahrgang 1977, hat einen finnischen Vater und eine estnische Mutter, schreibt zwar auf Finnisch und lebt in Helsinki, doch die drei Romane, die ihren Ruhm begründet haben und demnächst um einen vierten Roman zur Tetralogie ergänzt werden sollen, erzählen höchstens am Rande von Finnland. Sie sind vielmehr als historisches Estland-Quartett konzipiert. In Finnland, so erzählt Oksanen beim Interview in Berlin, seien historische Romane ein sehr beliebtes Genre, aber es gebe fast keine Romane über die Geschichte Estlands. „Ich bin eine Art Pionierin auf diesem Feld“, sagt sie denn auch. Und dass sie wegen ihrer gemischten Biografie über die Doppelperspektive von außen und von innen verfügt, komme ihrem Erzählmaterial nur zugute. Der internationale Erfolg ihrer drei Romane bisher – „Stalins Kühe“, „Fegefeuer“ und, soeben auf Deutsch erschienen, „Als die Tauben verschwanden“ – scheint ihr recht zu geben.


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Von Kopf bis Fuß eine Heldin aus dem Mumintal Tove Jansson, die Erfinderin der „Mumins“, wäre heuer 100 geworden. Jetzt ist sie auch als Erwachsenen-Autorin zu entdecken

tatsächlich auch geworden, mal mit größerem, mal mit geringerem Erfolg. Doch im Kriegsjahr 1941 begann sie zu schreiben: Geschichten um eine kleine, nilpferdartige Gestalt, „Mumin“ genannt, die sich mit ihrer Mutter zusammen auf den Weg macht, um den verschollenen Vater zu suchen. „Mumins lange Reise“ war der erste von Tove Janssons sieben Romanen für Kinder, die von den Abenteuern der Familie und ihrer kuriosen Gesellschaft erzählen: eine Art lockerer Wohngemeinschaft im friedlichen Mumintal, die immer wieder auf die Probe gestellt wird, teils von Naturkatastrophen, teils vom Wirken der eigenwilligen Bewohner selbst. Unversehens war sie zur Schriftstellerin

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geworden. Eine fantasierte bessere, nicht selten ziemlich komische Welt, in der Toleranz, Rücksicht und Verständnis noch für die eigentümlichsten Verhaltensweisen herrschten, setz-

7017 ,90 ISBN 978 3 304 Seiten € 19

Illustr ation: peter diamond

alerin hatte die am 9. August M 1914 in Helsinki geborene Tove Jansson werden wollen. Und war es

te sie gegen die reale Erfahrung von Krieg, Furcht und Not. Als die englische Zeitung The Evening News ihr 1954 das Angebot machte, MuminComics für Erwachsene zu zeichnen, begann Janssons Weg zum Weltruhm – und drohte ihr bald die Luft abzuschnüren. Unter dem Zwang, sechs Comics pro Woche liefern zu müssen, wurde die Künstlerin zur Sklavin der eigenen Begabung. Sie hat aus diesem Dilemma einen kreativen Ausweg gefunden. Ihr Bruder Lars brachte sich das Zeichnen bei und übernahm den Comic-Strip: Mumin wurde zum „family business“, die Zahl der Publikationen in England, den USA, den skandinavischen Ländern und in Japan wuchs an wie der süße Brei im Märchen. Heute ist die Firma Oy Mumin Characters ein millionenschweres Unternehmen, das den niedlichen Troll mitsamt Familie und Freunden auf Taschen, Geschirr, Schreibgeräte und Küchenschürzen druckt: Mumin als Konsumobjekt, dessen Copyright von der Familie Jansson streng bewacht wird.

Eine Extra-Signatur der Malerin war die rundliche weiße Gestalt des Trolls schon früh gewesen. In ernsthafte Gemälde hatte sie ihn oft irgendwo am Rand eingeschmuggelt – anfangs noch schwarz und mager und als kindliche Identifikationsfigur eher ungeeignet, leuchtete er später weiß und freundlich aus gemalten Szenen des Helsinkier Künstlerkreises, der ein bevorzugtes Sujet und der gesellschaftliche Bezugspunkt Tove Janssons war. Kaum war sie die Comic-Fron los, begann

sie wieder zu malen – und schrieb weiter, auch für Erwachsene. 1968 erschien der autobiografische Roman „Die Tochter des Bildhauers“, in dem sie mit ihrer Künstlerfamilie, insbesondere mit der Beziehung zu ihrem Vater ins Reine zu kommen versuchte. Er war ein egozentrischer, mäßig erfolgreicher Bildhauer, die Mutter Illustratorin, die das Familieneinkommen sicherte. Das 1972 veröffentlichte „Sommerbuch“ setzte ihr ein Denkmal und bezog zugleich Janssons Nichte Sophia (die heute den Mumin-Trust

Auswandertag – einmal Flucht mit alles: Der neue Streich aus der Feder eines der Autoren von „Wir sind Kaiser“

leitet) ein. Eine über Achtzigjährige und ein kleines Mädchen führen darin ernsthafte, kontroverse Gespräche über Angst, Glück, Natur, Kunst, Leben und Tod. Es ist Janssons bestes Buch, unsentimental, voll überraschender Situationskomik und traumwandlerischer Einfühlung in zwei Menschen am Anfang und Ende des Lebens. 1989 folgten mit „Fair Play“ Erzählungen, die das Zusammenleben der Malerin mit ihrer Lebensgefährtin ­Tuulikki Pietilä in oft kuriosen Szenen schildern. Abenteuerlust, Neugier und Reisewut stehen darin dem abgeschiedenen Leben der beiden auf der weit draußen im Meer liegenden Insel ­Klovharu gegenüber. Endgültig zeigt sich die Autorin hier als Künstlerin von unbeugsamem Eigensinn. Tove Jansson war Irrlicht und Multitalent, ein unglamouröser Weltstar. In der Werkschau zum 100. Geburtstag in Helsinki war ein Kurzfilm zu sehen, in dem sie eine halsbrecherisch steile Düne heruntertanzt – von Kopf bis Fuß eine Heldin aus dem Mumintal. FR AUK E ME YER- GOSAU

Hama st at t m Daha m residenzverlag.at


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Operation Kuhstall Ein seltsames Paar: Katja Kettu erzählt in „Wildauge“ von einer finnischen Hebamme, die für einen Nazioffizier entflammt

der Sowjetunion angegriffen, weil es sich geweigert hatte, Gebiete im Norden freiwillig abzutreten. Im Friedensvertrag von Moskau erreichten die Sowjets ihre Ziele großteils und bekamen u.a. Wyborg, Finnlands zweitgrößte Stadt. Als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion angriff, trat Finnland zusammen mit Deutschland wieder in den Krieg ein. Die finnische Armee eroberte die verlorenen Gebiete zurück und drang zeitweise sogar weiter vor. 1944 drohte jedoch eine erneute sowjetische Besatzung. Man gab die 1940 verlorenen Gebiete ein zweites Mal ab. Gleichzeitig verpflichtete man sich, die deutschen Truppen zu vertreiben, was zum finnischdeutschen Lapplandkrieg führte. Große Teile Lapplands wurden dabei zerstört. Die Literatur hat sich bis vor kurzem nicht mit

diesem Kapitel der finnischen Geschichte beschäftigt. Erst die Enkelgeneration greift das Thema auf. Die ersten Romane, die vor diesem Hintergrund angesiedelt sind, erschienen 2011/12, dann waren es jedoch gleich vier innerhalb kurzer Zeit. Einer davon ist Katja Kettus jetzt auch auf Deutsch erschienenes Buch „Wildauge“. Es spielt in Lappland in den Wirren zwischen deutsch-finnischer Kollaboration und sowjetischem Sieg im Sommer und Herbst 1944. Die Idee zu dem Roman geht zurück auf Briefe von Kettus Großmutter, die aus

der Zeit stammen. Sie gaben allerdings nur den Anstoß, manches in dem Roman geht zwar auf historische Fakten zurück, aber die Geschichte ist eine erfundene. Heldin und über weite Strecken auch Erzählerin ist die Frau, die dem Buch den Titel gegeben hat. „Wildauge“, so nennen die Dorfbewohner ihre Hebamme, weil ihr Blick so wild ist wie der eines Tieres. Man begegnet ihr im Dorf mit Respekt, denn sie ist eine großartige Hebamme, die stets instinktiv zu wissen scheint, was zu tun ist, aber auch mit Distanz, weil sie den Menschen seltsam und einzelgängerisch erscheint. Eines unterscheidet sie auf jeden Fall von ihrer Klientel: Sie ist mit Mitte 30 noch Jungfrau. Erst als sie den Nazioffizier und begeisterten Fotografen Johannes erblickt, wird Wildauge zum sexuellen Wesen. Diesen Mann will sie haben. Und sie bekommt ihn – wenn auch nicht für lang: Nach ein paar rauschhaften Wochen ruft ihn die Pflicht wieder. Zurück im Gefangenenlager, in dem er ein hohes Tier ist, entfernt er sich von ihr – bis sie die Kriegswirren ganz trennen. Was in der Nacherzählung ein wenig nach Kriegsschnulze klingt, ist in Wahrheit harter Stoff. Kettu bedient sich einer Sprache, die weder vor poetischen Höhenflügen (oft kurz vor der Bruchlandung) noch vor der Gosse und dem Dreck des Krieges zurückschreckt: Schwänze, Mösen, Blut, bestialischer Gestank – alles in Hülle und Fülle vorhanden.

„Schwänze, Mösen, Blut, bestialischer Gestank – alles in Hülle und Fülle vorhanden“

Besonders drastisch fallen die Schilderungen der „Operation Kuhstall“ aus. Weibliche Gefangene werden da von Wärtern des Lagers nach Lust und Laune vergewaltigt und missbraucht. Die Abtreibungen nimmt „Wildauge“ vor, die Föten sammelt der Leiter der Operation ein. Dieser ist ein alter Freund von Johannes, wobei zwischen den beiden seit ihrer gemeinsamen Zeit in der Ukraine, an die Johannes sich partout nicht mehr erinnern können will, eine merkwürdige Spannung herrscht. Der schwer traumatisierte Johannes ist die inte-

Katja Kettu: Wildauge. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Galiani Berlin, 416 S., € 20,60

ressanteste Figur im Buch. Ein paar Kapitel lässt Kettu auch ihn erzählen, was gut ist, weil es ihn als Figur verständlicher macht und seine Schwächen zeigt, die Wildauge in ihrer Liebe nicht sieht. In ihren Schilderungen hingegen entsteht fast der Eindruck, der Zweite Weltkrieg muss eine einzige große Orgie gewesen sein – unterbrochen von ein bisschen Töten und dem anschließenden Vergraben der Leichen. Die Übersetzerin Angela Plöger beschreibt in ihrem „Lapplandkrieg und Wörterschlacht“ betitelten Nachwort, wie kompliziert sich die Arbeit an dem Buch gestaltete. Katja Kettu streut in ihren Roman Wörter ein, die vor 200 Jahren einmal gebräuchlich waren, und prägt auch Neologismen. „Wildauge“ ist der beachtliche Kraftakt einer Autorin, die gern ihre sprachlichen Muskeln zeigt. Es steht ihr allerdings auch gut, wenn sie sich manchmal zurücknimmt. SEBASTIAN FASTHUBER

Illustr ation: peter diamond

innland im Zweiten Weltkrieg – darüF ber weiß man wenig bis nichts. Also: Im Winter 1939/40 wurde das Land von


Falter BIOGRAFIEN s

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MISTER AUSTRIA Das Leben des Klubsekretärs Norbert Lopper Fußballer • KZ-Häftling • Weltbürger Norbert Lopper, der am 4 Juli 2014 seinen 95. Geburtstag feierte, führte ein bewegtes Leben. In Wien-Brigittenau als jüdischer Bub in kleinen Verhältnissen aufgewachsen, war Fußball sein einziges Vergnügen, mit dem er während seiner Flucht über Belgien und Frankreich auch seinen Lebensunterhalt bestritt. Doch die NS-Vernichtungsmaschinerie holte ihn ein und deportierte ihn nach Auschwitz. „Ich habe Auschwitz überlebt. Ich wog nach der Befreiung ungefähr 40 Kilogramm und war Invalide, wollte aber unbedingt wieder Fußball spielen.“ Norbert Lopper musste jedoch seine aktive Fußballer-Karriere beenden und wurde für fast drei Jahrzehnte der legendäre „Sekretär“ der Wiener Austria. 224 Seiten, € 24,90

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Cranach, hilf! „Johnny und Jean“: Die heimische Erzählerin und Künstlerin Teresa Präauer hat einen Kunststudenten-Roman geschrieben ie Pippi Langstrumpf ins Taka-Tuka-Land fuhr die junge Autorin TeW resa Präauer mit ihrem Erstling in die ös-

terreichische Literatur. Das mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnete Buch „Für den Herrscher aus Übersee“ (2012) war ein frecher Genre-Mix, in dem die Kinder mit ihren Fantasiewelten über die Erwachsenen triumphierten. Die Erzählerin kurvte in dem Text wie eine Fliegerin über ein weitgehend undefiniertes Land. Dem ungewöhnlichen Fluggerät, auf dem sie ihre erzählerischen Kunststücke aufführte, vertraute sich die Leserschaft trotzdem gerne an. Im neuen Buch der Autorin, im Untertitel schlicht als Roman bezeichnet, geht es zwar immer noch recht flott, aber im Vergleich zum Erstling doch bedeutend gemächlicher und auch erzählerisch etwas weniger mutig zu. Die beiden Hauptfiguren, Johnny und Jean, sind keine Kinder mehr, sondern halbe Erwachsene. Sie leben als Kunststudenten in einer großen

Stadt, man könnte meinen in Wien, und führen ein Leben, wie man es von Kunststudenten kennt, die aus der Provinz nach Wien gekommen sind. Vielleicht kennt man diese Lebensform auch zu gut. Jedenfalls will einem „Johnny und Jean“ über weite Strecken wie purer Realismus erscheinen. Aufkommende und existenziell erlebte Debatten über Kunst und Künstler finden sich in dem Buch ebenso abgebildet wie zahlreiche Arten, wie man aus diesen Diskussio-

nen und der aufkeimenden eigenen künstlerischen Arbeit den nötigen Distinktionsgewinn schlägt. Johnny und Jean sind denkbar unterschiedliche Charaktere. Sie kennen sich aus dem Schwimmbad ihrer Heimatstadt. (Über diese Betonbecken, die in den 70er-Jahren in wasserfernen Gebieten Österreichs überall in den Boden gewachsen sind, sollte irgendwer irgendwann vielleicht einmal ein eigenes Buch schreiben.) Johnny war der Draufgänger, der stets vom höchsten Turm gesprungen ist, Jean der Feigling, der schon beim Drei-Meter-Brett überlegen musste. Auf der Kunstakademie treffen die beiden wieder aufeinander. Johnny ist der Jungstar der Szene, seine ungewöhnlichen ­Ideen (und sein junger Körper) sorgen für erste Aufmerksamkeit bei Galerien (und Galeristinnen). Jedes von Johnnys Kunstwerken ist anders, und manchmal steht anstelle des Werkes auch nur die pure Aktion. Einmal verbarrikadiert sich der junge Mann in seiner Wohnung, und die eingeladenen Gäste bahnen sich zu ihm ihren Weg durch einen Haufen von Gerümpel. Jean dagegen ist zurückhaltend und schüchtern. Einmal wirft ihm seine Lehrerin beim Aktzeichnen „Genitalpanik“ vor, ansonsten kennt seine Kunst nur ein einziges Motiv: Fische. Vielfach ist, was Teresa Präauer über Johnny und Jean erzählt, mit den wirklichen Wirklichkeiten der österreichischen Kunstszene verbunden. Die „Genitalpa-

„Was war das jetzt? Erinnerungsprosa? Künstlerroman? Fingerübung?“

nik“ kommt bekanntlich von Valie Export, und das Zustellen des Raumes findet sich zum Beispiel bei der Gruppe gelitin. Mehr noch, als dass Kunst gemacht wird, wird in „Johnny und Jean“ über Kunst geredet. Als Referenzwerk für alles, was auch nur im Entferntesten mit Materialverwendung zu tun hat, dient dem ungestümen Nachwuchs der sogenannte „Doerner“ – ein Buch, das ursprünglich aus dem Jahr 1921 stammt und auf der Akademie anscheinend bis heute beliebt ist. Oft geht es in den Kunstdebatten auch nur da-

Teresa Präauer: Johnny und Jean. Wallstein, 208 S., € 20,50

rum, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Namen zu nennen. „Der Name ZepplSperl hat mir schon immer gefallen“, heißt es an einer Stelle. Anderswo ist mehr oder weniger beiläufig von Cy Twombly, Alex Katz, Hockney, Koons, Lassnig und Beuys die Rede. In einer Installation von Pipilotti Rist, die in einem Museum einen abgeschiedenen Raum bildet, kommt Jean nach langem, zögerlichem Anlauf doch noch zu seiner ersten Frau. Im Zweifelsfall ist es besser, auf Bewährtes zu vertrauen. „Wenn nichts mehr hilft, hilft Cranach“ – dieser Satz zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Wenn man den Text zu Ende gelesen hat, fragt man sich: Was war das jetzt? Erinnerungsprosa? Künstlerroman? Fingerübung? Für Präauer vielleicht auch nur eine Phase des Übergangs zu einer ganz anderen Art des Schreibens. K L A U S K A S T B E R G E R

Frausein ist immer noch nicht lustig Nadine Kegele versöhnt in ihrem ersten Roman „Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“ Poesie und Politik inen gesunden Hund einschläfern lassen, nur weil er blad ist? Nadine KegeE le wagt sich in ihrem Romandebüt gleich

zu Beginn auf gefährliches Terrain: Bei der Liebe zum Haustier versteht der Österreicher an sich wenig Spaß. Nora (wir dürfen ein bisschen an Ibsen denken) hat ihren Arbeitsplatz in der Mahnabteilung eines Energiekonzerns verloren und sieht sich mit Anfang 30 bei jedem neuen Arbeitgeber unter „Generalverdacht“ in Sachen Schwangerschaft. Sie müht sich mit der Abendschule herum und findet sich nur unter innerem Protest mit der schönen Ex und der Tochter ihres Freundes Anton ab. Noras einst überforderte, alleinerziehende Mutter liegt im Koma – es ist deren Hund, den sie hat töten lassen, aus Mitleid, denn einen dicken Spaniel wolle doch niemand adoptieren, das sei ja wie bei den dicken Kindern. Überhaupt ist die Rolle der Tiere bedeutsam.

Katzen, Hunde, Blutegel, Hamster, Ameisen: Nora beneidet sie um das Fehlen innerer Erschütterung. „Diese Tiere leben nicht zum Spaß, und dennoch sehen sie nicht unglücklich aus.“ Sie mag die titelgebenden Eidechsen ihrer Sollbruchstelle wegen, an der sie ihren Schwanz abwerfen können; am liebsten wäre es ihr, gleich gar kein zentrales Nervensystem zu haben. Und: „Haustiere sind gut gegen einsam“, sie dienen als Methadon beim Sozialentzug. Als es Nora den Einsiedlerkrebsen gleichtut und

ihre Wohnung nicht mehr verlässt, reicht ihr der illegal einbehaltene Gastkater Juri als Gesellschaft. Protagonisten, die sich vor der krisenhaften Gegenwart und deren Ansprüchen eremitisch zurückziehen, sind als Thema nichts ganz Neues. Wie Kegele das in lakonischer, bildstarker Sprache einlöst, ist aber lesenswert. Ihr Text umfasst auf zwei Zeitebenen die Biografien von Mutter und Tochter. Dazu kommen, sparsam und eindrücklich erzählt, Lebensgeschichten wie etwa jene der alten Nachbarin Sarah Tänzer, die ihre Tochter im Holocaust verloren hat. Aber, so wird sich Nora eingestehen, das eigene Unglück ist immer das größte. Und Selbstmitleid ist hart erarbeitet. Abgesehen von Anton, der Noras mangelnde Nähe beklagt, sind männliche Sympathieträger rar. Es war früher nicht besonders lustig, eine Frau zu sein, recht viel schöner ist’s aber heute auch nicht. „Du wirst schon sehen, die Natur holt die Frauen bei den Kindern ein“, heißt es, denn „so ein Körper tut mit der Frau ja, was er will“. Es ist ein großes Hinnehmen von Kindern, Männern, Arbeitgebern. Nora hat einen früheren Partner mit Kinderpornos erwischt und beginnt eine Therapie bei der „Kaiserin“, die sie fortan als innere Stimme der Vernunft begleitet. Wie schon ihre Mutter hat Nora keine besondere Begabung für Beziehungen; immerhin gelingt es ihr schon viel eher, nicht in eine Opferrolle zu geraten.

„Da sie seit ihrem 16. Lebensjahr arbeitet, weiß Kegele Bescheid, wenn sie von Lohnarbeit erzählt.“

Nadine Kegele: Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause. Czernin, 320 S., € 23,–

Arbeitswelten, Patchwork, in der Retorte gezeugte „Halbwesen“ (böse Frau Lewitscharoff!) oder ein „Nekrophilenkonglomerat“: Kegele ist thematisch nahe an der Gegenwart. Ihre Figuren sind glaubwürdig, deren Handlungen plausibel. Sie beherrscht den Einsatz von Leerstellen. Und immer wieder ragen Sätze oder bewusste Tippfehler („Furchtsaft“) aus dem Erzählfluss. Autorin wurde Kegele auf dem zweiten Bil-

dungsweg. So viel zur Debatte, ob Literatur nur noch von Ärztekindern geschrieben werde. Da sie seit ihrem 16. Lebensjahr arbeitet, weiß Kegele Bescheid, wenn sie von Lohnarbeit erzählt. Hier schreibt eine, die der eigenen Stimme selbst Raum schaffen musste. Sie löst damit die Erwartungen ein, die sie im Vorjahr mit dem Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb geweckt hat. Apropos Erwartungen: „Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“ ist der Beginn einer Trilogie. Kegeles Texte sind dem Engagement ebenso verpflichtet wie der Poesie. Blaustrümpfig wird ihr literarischer Feminismus nie. In den Tagebucheinträgen, in denen Nora ihren Rückzug dokumentiert, ist der Text fast schon komisch. Ihr schönster Gedanke kommt Nora, als sie auf dem Spielplatz zornig streitende Kinder beobachtet und sich wünscht, dass Erwachsene es wagen würden, am Arbeitsamt oder bei Bewerbungsgesprächen auch so in Rage zu geraten. DOMINIK A MEINDL


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„Normalität, das ist eine Hur’“ Mit dem Nachkriegsroman „Watschenmann“ ist Karin Peschka ein beeindruckendes Debüt geglückt

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ie Kapitelüberschriften sind schon einmal sehr gut: „Der Kummerl. Ein Schauspiel. Heinrich zweifelt“; oder: „Lydia putzt. Waschküchenbad. Die Wahrheit“; oder: „Die Königsfrage. Ohrfeigen. So einfach geht das.“ Karin Peschka ist keine, die einfach drauflos erzählt, sie weiß um die Bedeutung von Struktur. Ihr soeben erschienener Debütroman gliedert sich nicht nur in besagte Kapitel, sondern auch in zehn Monate, denen als Teaser jeweils ein kleines Motto vorangestellt ist. Im August zum Beispiel: „Helene spuckt in die Tasse, wischt sie aus mit dem Ginger. ,Die gibst dem Cousin‘, sagt sie zur Tant’.“ Und weil der Leser den Cousin schon kennt, lächelt er innerlich schmutzig und denkt sich: „vergönnt!“ „Watschenmann“ spielt im besetzten bzw. be-

freiten Wien der 1950er-Jahre, Wiederaufbau ist angesagt: Das Fundament für den Ringturm ist ausgehoben, am Sonntag gehen die „Büro-Väter“ und die „HausfrauenMütter“ Baugrube schauen. Stalin ist tot, Franz Jonas Bürgermeister von Wien und als solcher die Sonne des Wohlstands, die über dem Horizont lächelt, wenn auch nicht auf alle. Lydia zählt nicht dazu, bleibt aber bei ihrem gebetsmühlenartig wiederholten Credo: „Der Jonas ist ein feiner Herr.“ Von denen, die nicht im Lichte stehen, erzählt der Roman: von der Gelegenheitsprostituierten Lydia, die auf ihren Schuster wartet, und von Dragan, der in Serbien mal geboxt hat. Beide sind irgendwie ein Liebespaar (wobei die Liebe nicht immer sehr schön aussieht) und kümmern sich um Heinrich, der irgendwie ihr Ziehsohn ist: eigentlich ein erwachsener junger Mann, benimmt er sich die meiste Zeit wie ein verwirrtes Kind. Heinrich ist der Titelheld, über dessen wahnhafte Vorstellungen man in die desolate Welt des Romans eingeführt wird, die ein bisschen so anmutet wie George Grosz plus Otto Dix mit einem Kreidestrich Käthe Kollwitz. Eines muss man der Autorin

dabei gleich einmal hoch anrechnen: So unzimperlich sie das teils brutale, teils burleske, hauptsächlich aber beschissen arme Leben ihrer Protagonisten auch beschreibt, so verzichtet sie doch darauf, grelle Effekte um ihrer selbst willen zu setzen, und auch vom Elendskitsch hält sie sich fern. Und wenn es mitunter etwas zu sehr kollwitzert, liegt das meist daran, dass ein paar Sätze zu viel dastehen, obwohl es der Leser ohne sie auch kapiert hätte. Dem Klappentext kann man entnehmen, dass Peschka 1967 als Wirtstochter im oberösterreichischen Eferding aufgewachsen ist und als Sozialarbeiterin tätig war; also, so schließt man, Besseres zu tun hat, als sich dem Ennui von Wohlstandsbiografien zu widmen, der in der zeitgenössischen Literatur ja auch gerne mal genommen wird. Man spürt, dass sie ihren Figuren wohl will, und sie gestattet diesen auch den ein oder anderen kleinen Triumph. Da sie aber nicht erfasst werden von den Wohlfahrtsprogrammen der Sozialdemokratie, die die Mütter am Muttertag mit dem Bus auf den Kahlenberg fahren lässt, gilt für sie die zweite Strophe der „Internationale“, die nicht zitiert wird, aber gewissermaßen den Subtext bildet: „Es rettet uns kein höh’res Wesen,/ kein Gott, kein Kaiser noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!“

„Das elende Leben ihrer Protagonisten beschreibt Peschka unzimperlich, aber auch unzynisch“

Das Defilee der Erniedrigten und Beleidigten,

das die Autorin da aufführt, ist immer auch eines der Erniedrigenden und Beleidigenden (es wird wirklich gotterbärmlich grauslich geschimpft und geflucht), ohne dass der Roman dabei je in Buñuel’sche Desillusioniertheit verfiele. Typen wie die „drei Grazien“, also der blinde Paul, der buchstäblich aus dem letzten Loch pfeifende Peter und deren Schwester, die harsche Helene; wie der vor sich hinsabbernde „Kummerl“ oder der gruselig geile Gespenster-Nazi „Lichterl-Sigi“ sind schon recht groteske Gestalten. Aber der stets hilfsbereite GI Elmer

Karin Peschka: Watschenmann. Otto Müller, 300 S., € 19,–

und die greise, aber äußerst patente „Tant’“ – beide, so steht’s im „Dank“ der Autorin, realen Personen nachempfunden – sorgen dafür, dass nicht zu kurz kommt, was im politischen Kontext „Solidarität“ genannt wird und in einem anderen „Barmherzigkeit“. Oder um es in Lydias Worten zu sagen: „Helfen muss man, ob man was hat oder nicht. Verrecken soll keiner müssen.“ Erzählt ist der Roman in einer eigenartigen und

riskanten Mischung aus Innenperspektive und auktorialen Kommentaren. Die Autorin will sich dem Wahn ihres Titelhelden, der sich – quasi als ein Katalysator der Katharsis – zur Verfügung stellt, damit sich andere an ihm den Krieg aus dem Leib und der Seele prügeln mögen, nicht gänzlich anvertrauen. Das spröde, sich der Umgangssprache anschmiegende, aber auch poetisch (über-)ambitionierte Idiom überzeugt durch den eindringlichen, ruppigen Rhythmus von teilamputierten, zu anaphorischen Reihungen neigenden Hauptsätzen. Das geht nicht immer gut, denn Abstrakta wie „Konstante“, „Immensität“ oder „Komponenten“ fügen sich schlecht in den Sprachfluss. Kompensiert werden solche Ausrutscher aber immer wieder durch Satzfolgen, die einen umhauen in ihrer grandiosen Schlichtheit: „Ihn erwartet die Remise, dort lehnt sein Fahrrad, das trägt ihn heim.“ „Normalität, das ist eine Hur’“, heißt es einmal. Karin Peschka ist klug und anständig genug, daraus nicht die falschen Schlüsse zu ziehen, und den „Wiederaufbau“ schlechterdings als verlogene Kosmetik zu denunzieren. Sie weiß, dass man der Lydia, dem Dragan und dem Heinrich Normalität nur wünschen kann, dass man diese herbeizwingen und -zaubern muss. Das ist das Ethos dieses beeindruckenden Romans, und es nistet just im sprachlichen Trümmerbruch; dort, wo GI Elmer sein Denglisch auspackt: „If something is kaputt, macht nix! I’ll fix it, bestimmt.“ K L AUS NÜCHTERN

Franz

Schuh »Der Kurzschluss von Witz, Wissen und Melancholie « Stefan Grissemann, profil

224 Seiten. Gebunden € 20,50 [A]. Auch als -Book Foto: © www.helmutwimmer.net www.zsolnay.at


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Über der March endet die Welt Wenn die Frage nach der Vergangenheit der Gegenwart die Luft abschnürt: „Steiners Geschichte“ von Constantin Göttfert ber die Provinz schreiben die ÖsÜ terreicher bekanntlich gerne. Zumeist nähert man sich ihr verächtlich, klischeehaft verschärft oder künstlich verklärt, was eventuell später als Ironie dargestellt werden kann. Constantin Göttfert wählt keinen dieser Wege, wenn er über das Marchfeld schreibt. Er bespielt die kahle Eintönigkeit des Dorflebens, die Stille, die seit der Kindheit des Ich-Erzählers über der March hängt, angenehm anders. Zwischen dem Schwarz und Weiß von An-

tiheimat und Heimat verschafft sich sein zweiter Roman viel Platz. Dennoch vergisst er nicht auf die (dörfliche) Xenophobie, die in Österreich so allgegenwärtig ist, dass sie gar nicht mehr als solche erkannt wird. Immer wieder wird die Osterweiterung mit Metaphern einer Naturkatastrophe diskutiert, als Überschwemmung mit kriminellen Flüchtlingen beispielsweise. Nicht nur ein 10.000 Kilometer langer touristischer Radweg erinnert mit seinem Titel „Weg des Eisernen Vorhangs“ noch an die ideologische, nicht zu überwindende Grenze während des Kalten Krieges. Die Minderheit der Karpatendeutschen bildet den Mittelpunkt des Romans. Ina wurde in so eine Familie geboren. Die Nachforschungen über die Geschichte ihrer Familie, vor ­allem

über den titelgebenden Großvater, bestimmen über ihr Leben und in weiterer Folge auch über das ihres Partners Martin. Nicht nur die Geschichten, die Inas Großmutter darüber erzählte, was man in den Geschichtsbüchern als Vertreibung bezeichnet, waren unvollständig. Auch in der Schule hatten die Lehrer auf Inas Fragen mit Unverständnis reagiert: Die Karpatendeutschen passten für sie weder zur Slowakei noch nach Deutschland und noch viel weniger zu Österreich. Die damals neunjährige Ina war im Frühling 1990, dem Frühling nach dem Zusammenbruch der Tschechoslowakei, das erste Mal in der March schwimmen gewesen. Der Fluss spielt eine zentrale Rolle im Buch. Er markiert nicht nur eine Ländergrenze, sondern auch die Grenze zwischen Tod und Geburt. Er ist der Platz der ernsten Gespräche und Ort für Erinnerungen, nach denen man gräbt, um sie rüber in die Gegenwart zu schiffen. Wenn Großväter damals mit ihren Enkelinnen an der March standen und sagten: „Schau, dort drüben, das ist der Kommunismus“ – dann hieß das nichts anderes als: „Dort drüben ist das Ende der Welt.“ Hinter dem Fluss lauerte eine diffuse Bedrohung. Die Figuren in „Steiners Geschichte“ sind isolierte Geschöpfe. Jeder ist auf eine andere Art verloren. Men-

schen wie Martins rotlichtsüchtiger Freund hatten Osteuropa nach 1989 nur als Bordell oder Einkaufszentrum wahrgenommen; andere, wie Inas Vater, als Opfer für krumme Kreditgeschäfte und der Großteil der Bevölkerung als Kriminalitätselement. Großvater Steiner war sein Lebtag ein zäher Mann. Er lebte als Großgrundbesitzer im slowakischen Dorf Limbach und harrte dort bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Bis zuletzt ist er auf Druck Nazideutschlands gegenüber der slowakischen Mehrheitsbevölkerung bevorzugt worden, was deren Zorn schürte. Die für ihn größte Demütigung erlebte er in Österreich, als er für andere Bauern Unkraut ausreißen musste und selbst kontrolliert wurde. Die alte Heimat mitsamt seinem „zu-

sammengegeizten und zusammengegaunerten“ Besitz und seine Macht über die Knechte, Zwangsarbeiter und Kinder verschwanden unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. Gebrochen brütet er mit seinem Schweigen über Inas Leben und dem gesamten Buch. Die fast fünfhundert Seiten sind mit Andeutungen und Unheimlichkeiten unterfüttert. Der Leser wird auf eine Geocaching-Tour durch die familiäre Vergangenheit der Steiners geschickt. Die Geschichte der Familie

lässt sich gegen Ende besser fassen, restlos verständlich wird sie aber nie. Göttfert beweist den langen Atem eines Romanciers und drückt den Spannungsbogen bis zum Schluss. Der Grundton ist trist und manchmal voll von Bernhard’schem Hass. Mit einem Schauplatzwechsel nach Limbach nimmt die Surrealität der Darstellung zu, und man fühlt sich an Kafka erinnert. Es ist, als würden den Leser die Tabletten des Protagonisten ein bisschen mitkitzeln. Das dortige Hotel wirft Fragen auf, mit Fantasie kann man es sich grotesk wie Wes Andersons Grand Budapest Hotel ausmalen. Steiners Geschichte ist ein Roman der Grenzen, wie die March eine zwischen Österreich und der Slowakei darstellt. Wie die Grenze zwischen Verrücktheit und Zuneigung. Wie die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit. J U L I A N E F I S C H E R

Constantin Göttfert: Steiners Geschichte. C.H. Beck, 479 S., € 20,60

Schwelgereien im Sündenbabel Fritz Langs „Metropolis“ ist eine Ikone der Filmgeschichte. Kaum jemand kennt das Buch von Langs Frau Thea von Harbou ür Luis Buñuel war es eine „triF viale, schwülstige Geschichte, schwerfällig und von abgestandener

Romantik“. H.G. Wells, Autor der „Zeitmaschine“, fand es „einfallslos, zusammenhanglos und sentimental“. Die Zeitungen schrieben von „Kitsch“. Fritz Langs monumentaler Proto-Science-Fiction-Film „Metropolis“ wurde 1927 nicht nur von der zeitgenössischen Kritik geschmäht, sondern fiel auch beim Publikum durch. Und die UFA-Filmstudios trieb die bis dahin teuerste Produktion der deutschen Filmgeschichte an den Rand des Ruins. Heute gilt das Epos des Maschinenzeitalters als Meisterwerk des Expressionismus und ist dank seiner ikonischen Architektur und der Darstellung der androiden Mensch-Maschine längst ins kollektive Bildrepertoire von Kraftwerk bis „Blade Runner“ eingegangen. Kaum bekannt ist, dass das Drehbuch

und der dazugehörige Roman von Langs Ehefrau Thea von Harbou stammen. Harbou war bereits eine erfolgreiche Schriftstellerin, als sie den Regisseur 1922 heiratete. Auch nach „Metropolis“ war sie als Autorin und Regisseurin vielbeschäftigt. Während Lang 1933 in die USA emigrierte, blieb sie in Deutschland und machte

Karriere im Dritten Reich. Privat hatte sich das Paar zu diesem Zeitpunkt schon längst getrennt. Jetzt ist das Buch zum Film zum Buch in schön verpackter Fassung wiederaufgelegt worden. Vorangestellt sind ihm zwei einander widerstrebende Zitate des ungleichen Paars. Ihr Werk sei ein unpolitisches Buch, so Harbou, es gehe nur um das Herz als Mittler zwischen Hand und Hirn. „Man kann keinen gesellschaftlich bewussten Film machen, indem man sagt, der Mittler zwischen Hand und Hirn sei das Herz“, kontert Lang. „Das ist ein Märchen.“ Bringt das bislang nur selten gelesene Buch Licht in die Sache? Ja und nein. Das, worin der Film überzeugt – die großangelegte, dystopische Stadtund Gesellschaftsvision –, malt auch das Buch in nachdrücklichen Strichen überzeugend aus. Wo der Stummfilm heute eher amüsant wirkt, vor allem in seiner gestikulierenden Theatralik, wird noch eine dicke Schöpfkelle Pathos draufgelegt. Es wird bedeutungsvoll geatmet, geröchelt, geschwitzt, gestöhnt, erbebt, aufgestampft und in Tränen ausgebrochen. Das mag im Film noch slapstickhaft kurios sein, das Buch entlarvt es als Kitsch. Auch die HolzhammerSymbolik wird darin genau aufgeblättert: die Stadt als „Hure Babylon“. Der

gottgleiche Herrscher Joh Fredersen. Sein heroisch-naiver Sohn Freder, der als Mittler zwischen Herrscherkaste und Arbeitervolk zum Erlöser wird. Der mephistophelische Quasi-Frankenstein Rotwang. Des Herrschers greises und weises, in der Bibel blätterndes Mütterlein. An christlichem Erlösungsschwulst ist

kein Mangel. Mittendrin die Doppelfigur der unschuldigen, reinen Maria, die Freder raunen lässt: „Das herbe Antlitz der Jungfrau, das süße Antlitz der Mutter – die Qual und Lust, die er rief und rief nach dem einen, einzigen Sehen, und für die sein gefoltertes Herz nicht einmal einen Namen hatte außer dem einen, ewigen: Du.“ Mag Thea von Harbou auch eine selbstbewusste Autorin der freien 1920er-Jahre gewesen sein, im Buch findet sich nichts davon. Frauen sind entweder göttlich rein, brave Muttertiere oder verführerische Sündenbabel-Babes, bis die Dirnen am Schluss ihren Mutterinstinkt wiederfinden. Der geheimnisvolle Inhaber des Bordells „Yoshiwara“ wird mit wohligem Schaudern als nicht auseinanderdividierbare Mischung globaler Rassen dargestellt, während sich der züchtige Held Freder oben im Turm durchs „reine blonde“ Haar fahren darf. Liest man „Metropolis“ als anti-

modernes Pamphlet, dürfte das nicht explizit ausgesprochene Gegenmodell der bösen Großstadt ein harmonisches Kleinstadtleben mit braven Knechten und Mägden sein, fromm geschart auf der Scholle und um die Kirche, bar jedes rebellischen Impetus. Warum ist der Film dennoch ein Meisterwerk? Abgesehen von der Blockbusterbombastik (das gesamte letzte Drittel ist ein einziger atemlos-hysterischer Showdown), schaffen es Film und Buch gleichermaßen, die rastlose Gehetztheit des Stadtlebens in den verunsicherten Weimar-Jahren in Bilder zu fassen. Als zeitgeschichtliches Dokument der 1920er-Jahre sind beide eine wahre Fundgrube. Und wenn man die Heiligenbildchenästhetik ausblendet, dann kann man die Geschichte von Freder und Maria auch als „Romeo und Julia“ der globalisierten Metropolen lesen. MAIK NOVOTN Y

Thea von Harbou: Metropolis. Milena, 272 S., € 24,90


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Milena sucht das Superbuch Vanessa Wieser hat den Milena Verlag zwischen Horror, Humor und Zeitgeschichte radikal neu positioniert

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ie stellt man sich einen Verleger vor? Die Frage gibt schon mehr oder weniger die Antwort vor: in der Regel als Mann; wahrscheinlich irgendwo jenseits der 50, unbedingt als Machertyp und darüber hinaus natürlich erfahren in allen Meeren der Weltliteratur. So will es zumindest das Klischee – und Klischees entstehen meist nicht ganz von ungefähr. Bis heute werden nur wenige Verlage von Frauen geleitet und nur sehr langsam tut sich etwas. 1980 gab es noch weit weniger Verlegerinnen, ihre Zahl ging gegen null. Damals schlossen sich in Wien eine Reihe von Autorinnen, die in der bestehenden Verlagslandschaft keine Chance bekamen, zum feministisch geprägten Wiener Frauenverlag zusammen. Nach einem Wechsel in der Leitung wurde dieser 1997 in Milena Verlag (nach Milena Jesenská) umbenannt. „Ursprünglich war es ein hochpolitischer Nischenverlag, der geballt Frauenliteratur veröffentlicht hat“, erzählt Vanessa Wieser, die heutige Verlegerin, über vergangene Tage. „Die Gründerinnen haben sich jedoch schnell zerstritten und Gruppen gebildet. Später ist das Programm lesbischer geworden. Das war ein Zeitgeistthema und man hat ganz gut verdienen können. Allerdings war das schon mehr Zielgruppenabdeckung als Literatur.“

foto: Milena verlag

Auch diese Ära war nicht von langer Dauer. 2007

stand der Verlag vor dem Aus. Der Steuerberater sah nur zwei Auswege: zusperren oder ganz neu aufstellen. In der Situation kam Vanessa Wieser, die zuvor schon als Pressefrau für den Verlag gearbeitet hatte, zum Zug und übernahm den Laden. Ihr erster Gedanke: „So eine Chance kriegst du kein zweites Mal. Es war ja alles eingerichtet, gab ein Büro und einen Vertrieb. Ich musste nicht komplett neu und ohne Verlagsförderung anfangen.“ Der erste Zweifel: „Schaffe ich das? Ich muss ein Jahr lang Schulden abzahlen und hatte 365 schlaflose Nächte.“

Es glückte. Danach waren nicht nur die gröbsten finanziellen Probleme zunächst einmal gelöst, sondern der Verlag hatte plötzlich auch ein überraschendes neues Gesicht bekommen. Der Milena Verlag heißt heute zwar noch so, ist aber schon lange kein reiner Frauenverlag mehr, in dem nur Frauen publizieren und dessen Bücher Zur Person zum Großteil von Frauen gelesen werden. Männlein und Weiblein tummeln sich nun Vanessa Wieser, Seite an Seite. geboren 1970 in Linz,

den Vornamen hat sie Noch mehr hat sich inhaltlich getan: Eine Hor- von Vanessa Redgrave. ror-Reihe wurde gegründet, eine weitere mit Sie studierte in Wien zeitgeschichtlichen Büchern aufgebaut, und und arbeitete als zuletzt wurden auffällig viele Texte von Au- Journalistin, ehe sie als torinnen und Autoren aus der Slam-Szene Pressefrau bei Milena veröffentlicht, in der aktuellen Saison etwa anheuerte. Seit 2007 „Metropolis“ von Thea von Harbou (siehe führt sie den Verlag, Rezension nebenan) oder der Begräbnis- unterstützt von Evelyn musik-Band „Das letzte Lied“. Man sieht: Steinthaler

Das ist gewitzt und speziell. Eine der ersten Taten Wiesers war es, sich zu ihrem Einstand als Verlegerin auf der Frankfurter Buchmesse einen knackigen Milena-Slogan auszudenken. Herausgekommen ist „Heftige Bücher für heftige Menschen“. Das trifft recht gut, woran sie und ihre für Pressearbeit und Veranstaltungen zuständige Kollegin Evelyn Steinthaler sich versuchen: an flotten, (nicht nur) jungen Büchern, die vielleicht keine literarischen Meisterwerke sind, aber auf pfiffige Weise unterhalten. Wichtig ist Wieser auch, dass die Bücher von der Realität erzählen und „Ungerechtigkeiten abbilden. Das Letzte, was ich will, sind Bücher, in denen bürgerliche Nabelschau betrieben wird.“ Die Arbeit in einem Kleinverlag wie Milena ist eine fröhliche, gleichzeitig aber auch ein hartes Brot. „Oft hat man das Gefühl, dass früher für kleine Verlage vieles leichter war“, sagt Wieser. „Heute ist alles abgegessen und eigentlich fast nichts mehr interessant.“ Eine Entdeckung, die Vanessa Wieser in den letzten Jahren gemacht hat: Die Leute sind immer schwerer dazu zu bewegen, sich ein Buch zu kaufen.

Eine andere: Immer mehr Leute wüssten gern ihre eigenen Bücher verlegt. „Die schreiben wie die gesengten Säue“, drückt es die Verlegerin bodenständig aus. „Wir bekommen unglaublich viele Krimis und viel Fantasy geschickt. Häufig sind auch Krankheitsgeschichten und Scheidungsgeschichten und natürlich Verschwörungsgeschichten und Sachen zum Thema Weltherrschaft. Manche Autoren erwarten sich eine Erstauf­ lage von 50.000 und einen Vorschuss.“ Da kann es nicht Schaden, Humor zu haben. Abgesehen davon gilt für die Verlegerin und den Verleger von heute wie für so viele anderen Berufe, dass man idealerweise alles können sollte, weil man aus Kostengründen am besten möglichst viel selbst macht. Vom Layoutieren bis zum Lektorat oder Übersetzen ist das auch bei Milena so. Positiv formuliert: „Der Job ist sehr vielschichtig.“ Anders gesagt: „Heute hackelt man mit Mindestpersonal und reißt sich einen Haxen aus.“ Das regelmäßige Schreiben von Ansuchen um Verlagsförderung nicht zu vergessen: „Man muss sich auf die Füße stellen. Sonst vergessen sie dich.“ Vor Jahren hat Wieser sich das Wort „Erfolg“ tätowieren lassen. Heute muss sie sehr lachen, wenn sie das Tattoo herzeigt. „Man wird dankbar und demütig über jedes

verkaufte Buch“, sagt sie. „Der Markt ist unberechenbar. Man muss die Leut erwischen, denen das, was man macht, taugt.“ Der große Verkaufserfolg ist Milena bis heute denn auch noch nicht geglückt. Mit Otto Basils „Wenn das der Führer wüsste“ verfügt der Verlag immerhin über einen Longseller, der sich seit Jahren recht gut verkauft und schon mehrere Neuauflagen erfahren hat. Und noch etwas hat Vanessa Wieser über die Jahre gelernt: „Der eigene Geschmack ist nicht immer der der anderen. Bei ,Deutschland sucht den Superstar‘ kann ich meistens sehr schnell erraten, wer gewinnen wird. Bei den eigenen Büchern gelingt es mir leider nicht immer so gut, das einzuschätzen.“ SEBASTIAN FASTHUBER

»Vielleicht werde ich verrückt. Wenn man allein ist, merkt man das nicht sofort, oder erst, wenn es zu spät ist. Die Katze ist kein guter Gradmesser. Ich meine: Wir reden miteinander.« Publikumsp reis beim Ingebo rgBachmannWettbewerb 2013

Nadine Kegele Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause

Roman | 320 Seiten | Hardcover SU | € 23,00 | www.czernin-verlag.com


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Der Innenstadtdichter an den Rändern Schreiben am Unort, zur Unzeit: Xaver Bayer und sein Buch „Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich“

Ein eigenes Auto, Flugreisen, Computerspie-

le – das sind für Bayers Helden Selbstverständlichkeiten (wie für jeden mittlerweile), es sind Realien und Utensilien einer Zeit, aber Bayers Literatur zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie all das, was aktuell ist und von Journalisten verehrt und beredet wird, begutachten und von seiner Aktualität befreien. Auf der Suche nach dem Leuchten, das oft genug das Zufällige und Flüchtige, ja, das Verächtliche birgt. In Gesprächen über Literatur, fremde wie eigene, zielt Bayer oftmals auf das, was „Bestand hat“, und schenkt dem, was keinen hat, ein müdes Lächeln. Das ist auch der Grund, warum er Auftragsarbeiten ablehnt. Sie würden ihn in Denk- und Schreibrichtungen zwingen, die nicht aus ihm selbst kämen. Es gibt heute nicht mehr viele Autoren, die mit solcher Reinheit dem Sinn ihrer Existenz nachkommen – ihrer Berufung, um es altmodisch auszudrücken. Einem Sinn, der seine eigene Fraglichkeit in sich trägt, dem der Schreibende in vielen Momenten aber auch vertrauen kann. Im neuen Buch „Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich“ rührt Bayer an beide Seiten, eine Pendelbewegung beschreibend, ein sanftes, zuweilen unmerkliches Hin und Her zwischen Vanitas und der Hoffnung, man könne dem Leben, auch diesem hier, zustimmen. Das Wort „Vanitas“ habe ich ins Gespräch geworfen, weil in „Geheimnisvolles Knistern“ mehrmals von Vergeblichkeit die Rede ist. Vergebliches Tun: Definition von Sisyphusarbeit, aber im Sinn des fröhlichen Sisyphus, wie ihn Albert Camus propagierte – nicht mit der hochgespannten Dramatik des Barocks, zu dem Bayer dennoch eine gewisse Affinität hat. Auf Doppelbödigkeit und Manierismus verweist auch das italienische Motto des Buchs, das aus dem Park der Ungeheuer von Bomarzo stammt, einem Freilichtmuseum des Grotesken, im 16. Jahrhundert für den Adeligen Vicino Orsini errichtet. Der Besucher des Parks (und des Buchs) soll sich fragen, ob all die unheimlichen oder komischen Wunderwerke durch Täuschung

oder durch Kunst hervorgebracht sind; und weiters, ob jene Kunst, die mit Sinnestäuschungen, mit Verzerrungen arbeitet, nicht an Wahrheiten rührt, die auf geradem Weg nicht ohne weiteres zugänglich sind. Auf Bayers „Zauberreich“ angewandt ließe sich fragen, ob die manchmal tatsächlich monströsen Sprachbilder Ausgeburten einer verschrobenen Fantasie sind oder doch eher Beschreibungen von Wirklichkeit, die der Normalbürger (Bayer: „Spießer“) in seinem Alltag lieber nicht sehen will. Bayer zieht einen Vergleich zum Free Jazz, um die Machart des Buchs zu erläutern. Nicht im Sinn eines Programms, das er erfüllt habe, sondern als Parallele, die ihm irgendwann aufgegangen ist. Einen Ton finden, einen Funken zünden, den man eine Weile wachhält und zum Brennen bringt, bevor er verlöscht. So etwa gestalten sich diese Prosastücke, bald mit größerer, dann wieder mit verhaltener Intensität. Träume, ja, Verformungen und Verzerrungen, Höhenflüge und kleine Kunststücke, der freie Lauf der Fantasie – aber auch Sorge um die Darstellbarkeit einer Wirklichkeit, die unwirklich, virtuell, hybrid, surrealistisch geworden ist. Altmodisch innovativ wirkt dieses Verfahren und Gebaren, getragen auch von der Vermutung, dass in irgendeiner, vielleicht nicht allzu fernen Zukunft die technischen Regulierungen, die unser Leben bestimmen, hinterfragt und ausgesetzt werden, weil sie ausgesetzt werden müssen, genauso wie die Rücksichtslosigkeit gegen die Umwelt – darauf weist Bayer hin – revidiert werden musste, nicht zuletzt auch, damit die Ökonomie, von der die Rücksichtslosigkeit ausging, überleben kann. Was will ein reiner Dichter überhaupt mit seiner luxuriös bescheidenen Existenz? In einer Hinsicht ist es kein Wollen, sondern Bestimmung, die Bayer schon in der Volksschule empfand, als er die Wortwiederholungen in einem Text von Erich Kästner verteidigte. Abweichungen vom „guten“, vom ordentlichen Stil – da kam kein Kompromiss infrage, kein Zurückweichen, das musste so sein. Die Abweichung wurde per se zum Merkmal der Dichterexistenz, das Danebenstehen, die Zeitlosigkeit. Abweichung als ästhetisches und innovatives Potenzial. Freilich ohne große Erfolgshoffnung, jedenfalls, was die Zeitgenossenschaft betrifft. Der Innenstadtdichter tut sich an den Rändern um. Was aber will er damit? Vielleicht nur „die Spießer“ ärgern? Bayer sammelt Treibgut zwischen Vor- und Postmoderne, er bewegt sich frei, wägt ab, nimmt oder verwirft, von Bomarzo nach Favoriten, vom Barock in die dunkle Romantik, von der Tradition in die unbekannte Zukunft. LEOPOLD FEDER MAIR

Xaver Bayer: Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich. Jung und Jung, 204 S., € 19,90

Illustr ation: peter diamond

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reffpunkt: eine Art Unort. Ein Café, eingerichtet eher wie ein Wirtshaus, an einem samstags ungeheuer belebten Markt an der städtischen Peripherie von Wien. Im halbdunklen Raum des Cafés während der zwei Stunden kaum Gäste: eine andere Welt, in der sich gut reden – und schreiben lässt, denn Xaver Bayers Bücher entstehen handschriftlich an Orten wie diesem. Wohnen tut er im Zentrum, in einer von der Großmutter übernommenen Wohnung mit einem Mietzins, der so niedrig ist, dass ihn die Besitzer hassen, weil er immer noch nicht ausgezogen ist. Schon als ich ihn das erste Mal traf, wirkte er wie eine Gestalt aus einer anderen Zeit. Einer, der ein wenig danebensteht, räumlich wie zeitlich daneben, dies aber mit vollem Selbstbewusstsein. Einer, der durch die Zeiten geht. Paul Jandl hat ihn vor mehr als einem Jahrzehnt, als Bayer ein junger Newcomer war, der Generation Golf zugeordnet und damit auch die Autos gemeint, die in Bayers frühen Büchern, wo der Held meistens auf Achse ist wie in einem Roadmovie, fast emblematisch wirken.


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Krawumm! „Grundriss eines Rätsels“: Gerhard Roth verblüfft mit einem komplexen postmodernen Programmroman

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ie Postmoderne ist nicht tot, allen Nekrologen zum Trotz. Gerhard Roth zum Beispiel: Mit „Grundriss eines Rätsels“ hat der 72-Jährige – ob es ihm darauf ankam oder nicht – 30 Jahre nach „Der Name der Rose“ noch einmal so etwas wie einen postmodernen Programmroman vorgelegt. Alles, was die Literaturwissenschaft unter dem Label postmodern verbucht, findet sich hier noch einmal in detailgesättigter Plastizität ausgebreitet – die Fragmentarisierung linearer Plotstrukturen, eine lustvoll zelebrierte Metafiktionalität, die romanhafte Auflösung des autonomen Subjekts, und, last but not least, der vielzitierte Tod des Autors. Bei Roth sogar in wörtlichem Sinn: Schon am Ende des ersten Kapitels sprengt Roth seinen zentralen Pro­tagonisten, den Schriftsteller Philipp Artner, ohne jede Vorwarnung in die Luft. Artner kommt bei einer Gasexplosion ums Leben, er wird, wie es im Buch heißt, „zu Asche pulverisiert“. Krawumm! Drei Jahre nach Abschluss des „Orkus“-Zyklus

geht Gerhard Roth noch einmal aufs Ganze. Fast hat man das Gefühl, er möchte all die Motive, die er in den „Archiven des Schweigens“ und im „Orkus“-Zyklus in panoramahafter Opulenz ausgearbeitet hat, noch einmal in einem einzigen, erfrischend knappen Text von 500 Seiten verdichten. Es geht um komplexe Fragen in diesem Buch: um das Verhältnis von Fiktionalität und Wirklichkeit, von Urbild und Abbild, von Zivilisation und anarchischer Gewalt, die mühsam pazifizierte Gesellschaften immer wieder erschüttert und unterminiert. Im ersten Teil des Romans lernen wir den bereits erwähnten Philipp Artner kennen. Der Schriftsteller haust in einer mit Büchern und Kunstbänden vollgestopften Wohnung am Wiener Heumarkt. Im Gegensatz zu seinem Erfinder – der ebenfalls am Heumarkt lebt – scheint Artner den Bezug zur Realität weitgehend verloren zu haben; er hat, wie es in einem seiner Nota-

Wollzeile 11

te heißt, den Eindruck, er sei ein „krankes, fieberndes Kaleidoskop, dessen Glassplitter durcheinandergeraten sind“. Auf den ersten 70 Seiten des Romans lässt Gerhard Roth seinen Protagonisten durch Wien vagabundieren. Artner streicht die Wollzeile und den Donaukanal entlang, er besucht das Globenmuseum der Nationalbibliothek und fährt mit dem Taxi auf den Zentralfriedhof. Dort spricht ihn eine junge Rumänin an. Sie bittet den Schriftsteller, sie vor den Gräbern Beethovens, Schuberts und Brahms’ zu fotografieren. Artner kommt ihrem Wunsch nach, dann fährt er mit der jungen Frau zur Wotruba-Kirche nach Wien-Mauer, wo es zu einer hastigen sexuellen Interaktion kommt. Wenige Seiten später fliegt der Mann dann auch schon in die Luft. Roths Roman ist ein komplexes Konstrukt aus sechs ineinander verschachtelten Romanfragmenten, deren erstes eben Artners letzte Tage thematisiert. In den weiteren Teilen des Romans wird das Leben des Verunglückten rekonstruiert, von seiner Frau, seiner Geliebten, seinem Sohn und einem Germanisten namens Vertlieb Swinden. Just dieser Literaturwissenschaftler, Mitarbeiter am Heimito-von-DodererInstitut in Wien, reist in die Südsteiermark, wo er in Artners Sommerhaus nach dessen letztem Romanmanuskript fahndet, einem Text, der, wie der verewigte Autor in einem Mail an das Doderer-Institut behauptet hatte, „die sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit – wie die Klein’sche Flasche – zugleich außen und innen abbilde“.

sächlich schließt. Im Fortlauf der Handlung bekommt Swinden mehr und mehr das Gefühl, nichts anderes zu sein als eine Figur in Artners Roman. In der Südsteiermark lernt er Artners Geliebte kennen, eine Apothekerin, deren Reizen er, wie weiland Artner, mehr oder minder widerstandslos erliegt. „Roths Roman ist ein komplexes Konstrukt aus sechs ineinander verschachtelten Romanfragmenten“

Die Klein’sche Flasche: Mathematisch Min-

dergebildete müssen da nachschlagen. Es handelt sich dabei laut Wikipedia um ein geometrisches Objekt, dessen Haupteigenschaft – ähnlich wie bei der Möbiusschleife – darin besteht, „dass innen und außen nicht unterschieden werden können“. Damit gibt Roth seinen Lesern eine Art Schlüssel in die Hand, allerdings ist man sich nie sicher, ob der Schlüssel auch tat-

Gerhard Roth: Grundriss eines Rätsels. S. Fischer, 512 S., € 25,70

Dramaturgisches Gravitationszentrum des Ro-

mans ist indes der Mord an drei tschetschenischen Asylwerbern, die in der Nähe von Artners Zweitwohnsitz tot aufgefunden werden, geköpft oder mit durchgeschnittenen Kehlen. Anfangs scheint der Germanist Swinden selbst in Verdacht zu geraten, im Lauf der Zeit stellt sich freilich heraus, dass eine Gruppe rechtsradikaler Dorfhonoratioren hinter den Morden steckt. Die krimihaften Elemente des Romans treiben den Plot voran und führen schließlich – Stichwort: Klein’sche Flasche – zu seiner zentralen Pointe: Im Nachlass Artners stößt der Literaturwissenschaftler Swinden tatsächlich auf ein Schriftstück, in dem er namentlich vorkommt. Ja, mehr noch: Das Nachlass-Manuskript entspricht haargenau dem Text, den man als Gerhard-Roth-Leser gerade in Händen hält: „,Wie konnte Artner das geschrieben haben?‘, fragte sich Swinden, ,wo er doch tot war? Und wie hatte er es auf die Silbe, auf den Buchstaben genau so prophezeien können?‘“ Der Roman folgt einem Konstruktionsprinzip, das Roth-Lesern aus früheren Büchern des Autors vertraut ist: „Grundriss eines Rätsels“ ist ein mehrfach codierter Thriller mit existenzialistischen Motiven, alles scheint mit allem verknüpft. Allerdings stellen sich während der Lektüre Zweifel ein, ob man sich da nicht durch ein gewaltiges Prosalabyrinth ohne Ausgang tastet, durch ein Spiegelkabinett voll blinder Seitengänge. Aber das Verirren gehört untrennbar zum postmodernen Leseerlebnis dazu. Das Labyrinth ist eine Falle: Es gibt kein Entrinnen. GÜNTER K AINDLSTORFER

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Garstiges zur Lage der Nation Peter Rosei schlägt sich in seinem neuen Roman „Die Globalisten“ mit Emporkömmlingen und verlotterten Dichtern herum in Titel wie „Die Globalisten“ lässt eine ordentliche Schwarte vermuten. VielE leicht einen tausendseitigen, hochkomple-

xen Roman, der ein Szenario zwischen entfesseltem Finanzkapitalismus, transnationalem Schurkentum und nach Möglichkeit Cyberkriminalität entwickelt. Tatsächlich aber findet in dem schmalen Büchlein eine arglistige Old-SchoolBurleske auf 160 Seiten ihren Platz, die als Parabel über die Verfasstheit der österreichischen Gesellschaft berichten möchte – selbst wenn die flotten Szenenwechsel neben dem Grundlsee und natürlich Wien auch an Orte wie Sankt Petersburg, Zürich, Paris oder Bukarest geleiten. Windige Geschäftemacher, ausgeschlafene

Parvenüs und gelackte Opportunisten: Das Personal des neuen Romans hat der Wiener Peter Rosei, Doktor der Rechtswissenschaften und Verfasser von rund 50 Büchern, mit Bedacht gewählt. Zufällig fügt es sich, dass der hochstaplerische TV-Produzent Alfred Wallauschek und der verlotterte Dichter Josef Maria Wassertheurer am Grundlsee in Klausur gehen, um mit dem Geld des biederen Bonzen Adolphe Weill an „einem gewaltigen Kunstwerk“ zu arbeiten. Nichts weniger als „die Komödie der Menschheit“ schwebt Wassertheurer vor, der als Drehbuchschreiber, wenn überhaupt, nur unter Einfluss von Alkohol etwas zu Papier bringt. Die Geschichte bringt Rosei mit Schlagseite zu einem antiquierten, aber

doch exquisiten Schreibstil auf den Boden. Austriazismen sowie allerlei derbes Wortgut – harmonisch eingearbeitet – dürfen da nicht fehlen. „Die Globalisten“ wird als Roman ausgewiesen. Allerdings ist es einer mit großem Mut zur Lücke, dominiert von Dialogen. In sechs Abschnitte gegliedert, lässt der Plot vieles im Ungefähren: Denn wie dieses wahnwitzige TV-Projekt nun im Konkreten aussieht, hätte aussehen können – nie würde man auf den Gedanken kommen, das Unterfangen könnte klappen –, führt Rosei nicht aus. Auch manch andere Hintergründe lässt er unbeleuchtet: Was genau hat eigentlich der mafiöse Russe, genannt Herr Tschernomyrdin – er bricht Backenknochen und Finger –, mit der Sache zu schaffen? Und warum macht dieser Weill letztlich als Politiker Karriere? Allerdings ist es kein Schaden, wenn sich die Geschehnisse nicht bis ins letzte Detail erschließen. Man kann sich das meiste schon vorstellen. Die Keime für die Fäulnis der Gesellschaft findet man in diesem galligen „Satyrspiel“ (so der Verlag) ohnehin nicht etwa in einer Entflechtung von Politik, Wirtschaft und Kriminalität; sondern in der Geltungsund Großmannssucht, der fehlenden Moral der Figuren; in der öligen Selbstverständlichkeit, mit der die Emporkömmlinge ihren Charakter bloßstellen („Ich habe beste Beziehungen rund um die Kugel. Nach Russland und Asien speziell, aber auch nach

„In diesem System sind Frauen bloß als präfeministisches Klischee zugegen“

Peter Rosei: Die Globalisten. Residenz, 160 S., € 19,90

Afrika. In meinen Augen sind Neger auch Menschen“); und in den mit großer Geste angetragenen philosophischen Plattitüden („Drei Dinge treiben den Menschen in den Wahnsinn: die Liebe, die Eifersucht und die Börsenkurse, pflege ich zu sagen“), die die Geschäftsleute einander beibringen, bevor ein schwindliger Handel besiegelt wird. Nur scheinen Typen wie Wallauschek oder Weill

weniger Opfer eines nicht zu durchblickenden, abstrakten Gesellschaftssystems zu sein – sie sind das System. Es offenbart sich in ihrer Geschwätzigkeit, die Rosei kunstvoll inszeniert. In diesem System sind Frauen bloß als präfeministisches Klischee zugegen – lasziv und anmutig, die Verführungskunst ist ihre Macht. Nach seinen letzten Romanen „Geld!“ und „Madame Stern“ führt Rosei mit „Die Globalisten“ sein erzählerisches Großprojekt fort, ein österreichisches Sittenbild der letzten Jahrzehnte zu entwerfen und damit vor allem Aufsteiger ins rechte Licht zu rücken. In einem Interview mit dem Falter bezeichnete der Autor seine letzten Bücher als eine Sammlung von Untersuchungen und suchte damit den Vergleich zu Honoré de Balzac („La Comédie humaine“). Da diese Untersuchungen augenscheinlich recht Garstiges zutage fördern, ist es letztlich beinahe eine Perfidie, dass Roseis Schreibe runtergeht wie ein Gläschen Portwein. TIZ SCHAFFER

Falt Groschen? Halt die Gosch’n! Jetzt hat Vielschreiber Franzobel auch noch einen Krimi geschrieben. Überraschung: „Wiener Wunder“ ist gar nicht so übel uerst ist da dieser Hinweis: „Sehr geZ ehrte Kriminalpolizei, in den nächsten Tagen wird ein hierzulande bekannter Sportler einen vermeintlichen Selbstmord begehen. Dabei wird es sich um eine geschickte Inszenierung handeln, die ein Verbrechen verschleiern soll. Mord! … Hochachtungsvoll, ein Fan.“ Dann ruft man die Polizei tatsächlich zu einem Toten. Das Opfer scheint aus dem vierten Stock eines Zinshauses gefallen zu sein und hat am Trottoir sein Leben ausgehaucht. Es handelt sich um den Kurzstreckenläufer Wenninger, Spitzname „Strudel“, der kürzlich seine höchst erfolgreiche Karriere beenden musste. Blutdoping war noch das Harmloseste, das ihm nachgewiesen werden konnte. Kommissar Groschen vom Wiener Mord-

dezernat weiß nicht, was er davon halten soll. Seine innere Stimme sowie die anonyme Nachricht überzeugen ihn aber davon, den Fenstersturz nicht sofort als Suizid abzutun. Neben dem eindeutigen Motiv des leidenschaftlichen Läufers für diesen drastischen Schritt hatten auch noch eine Menge anderer Menschen hervorragende Beweggründe, dessen Biografie abzukürzen: die Ehefrau und ihr Liebhaber, der slicke Sportreporter des Boulevardblattes, den „Strudel“ offenbar erpressen wollte, sein sogenannter Betreuer, also der für die Blutwäschen zuständige Dealer, sowie ein ominöser Dopingkontrolleur, der sich

über das Epitheton „Hühnerschädel“ (vom Ermittler, aber auch von zahlreichen weiteren Personen insgeheim verliehen) nicht sehr freuen dürfte. Dem Vielschreiber Franzobel (bürgerlich: Franz Stefan Griebl) fehlt jetzt eigentlich nur mehr ein Kochbuch in seiner Bibliografie. Dann sollte er mit allem durch sein, was man gemeinhin so schreiben kann: Erzählungen, Lyrik, Kinderbücher, Theaterstücke, Romane, Mini- und Mikrodramen, Glossen – und nun eben auch einen Kriminalroman. Dass er dieses Genre (spät) für sich entdeckt hat, vergleicht Franzobel mit dem Weingenuss für einen Antialkoholiker – berauschend. An seltsamen Wortspielen, mitunter irrwitzigen und hin und wieder sogar geistreichen Vergleichen ist sein gesamtes Œuvre bekanntlich nicht gerade arm. Seine Dramen etwa bauen weniger auf stringenter Handlung als auf einer sich stets steigernden Abfolge von Kalauern. Auch im „Wiener Wunder“ (so textet später der tatverdächtige Medienungustl Walter Maria Schmierer über den präsumtiven Nachfolger Wenningers) purzeln die schlichten Wortwitze nur so durcheinander. Man beachte bemüht-witzige sprechende Namen wie eben „Schmierer“ oder „Hanns Hallux. Hanns mit zwei ,N‘“ und nicht zuletzt Kommissar „Falt Groschen“. Das reimt sich auch noch schön auf: „Halt die Gosch’n!“ Auch mit Kommentaren, die nicht gerade eine Vorliebe für die Emanzi-

„Vielschreiber Franzobel fehlt jetzt eigentlich nur mehr ein Kochbuch in seiner Bibliografie“

pation der Frau erahnen lassen, spart Franzobel nicht, kann sie aber bequem seinem Protagonisten in den Mund legen. Der nennt zum Beispiel die Urlaubsvertretung des Bürodieners, eine Frau aus Aschaffenburg (dies nur um der Anspielung „A-Rschaffenburg“ willen), der Einfachheit halber genau wie den Abwesenden: Sedlacek. Abgesehen von diesem Witzeln an der Geschmacksuntergrenze meint der Autor es diesmal aber offenbar ernst. Der Kriminalfall ist charmant ausgedacht, ent-

Franzobel: Wiener Wunder. Kriminalroman. Zsolnay, 223 S., € 18,40

hält höchstens eine Drehung zu viel. Daneben bietet er Raum für eine immerhin recht plausible Kritik an Österreichs Spitzensport, inklusive Funktionären, Sponsoren und (Sitten-)Wächtern. Der Ermittler ist nicht unsympathisch, mit gewissen Einschränkungen. Dass Franzobel, trotz zum Beispiel äußerst realistischer Wegbeschreibungen durch Wien, auf dem falschen Berufstitel „Kommissar“ für einen österreichischen Kieberer von Rang besteht, kann man ihm als dichterische Freiheit durchgehen lassen oder als leisen Widerstand gegen eine Unlogik deuten. Spätestens seit 1869 gab es in Wien „Polizeicommissariate“, aber Kommissäre hatten per se nichts mit der Kriminalbehörde zu tun. „Wiener Wunder“ ist nicht die beste Wiener Mordermittlung. Als ernstgemeinten Anfang darf man es Franzobel aber durchaus auslegen. MARTIN LHOT ZK Y


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„weiszt du, weil ich schreiben musz“ Altersradikalität: Friederike Mayröcker legt mit „cahier“ den zweiten Band einer geplanten Trilogie vor

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n „ich sitze nur GRAUSAM da“ (2012) ist bei Friederike Mayröcker die Rede vom „waghalsigen Unternehmen, ein neues Buch zu schreiben“. Im Dezember wird die Grande Dame der deutschsprachigen Poesie 90 Jahre alt. Es ist ein höchst glücklicher Umstand, dass weder ihre Produktivität noch ihre dahingehende Risikobereitschaft in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Ganz im Gegenteil: Mit „études“ hat sie im Vorjahr den Grundstein zu einer geplanten Trilogie gelegt. Rhythmische Prosapassagen wurden da geboten, angelehnt an Arbeiten des französischen Ausnahmeautors Francis Ponge wurden musikalische Elemente und textliche Entsprechungen zu einer rauschhaften Komposition verflochten. „études“ war ein vitales, gegen die Unsinnigkeit der Vergänglichkeit gerichtetes Statement, das einmal mehr Friederike May­röckers Qualitäten und ihre Position in der Gegenwartsliteratur deutlich machte. Auch der Begriff des Cahiers – im Sinne einer li-

terarischen Sonderform, die alles kann, aber nicht muss – ist darin schon angelegt und an einer konkreten Stelle auch klar benannt: „Übung cahiers Übung in den Heften“. Der Wunsch „1 Buch ohne Entwicklung“ zu schreiben hat sich im allerbesten Sinne auch auf den nun vorliegenden Folgeband übertragen. Abseits des Erzählens strömt Mayröckers ­„cahier = das Heftchen“ in flottem Stil dahin und bietet eine temporeiche literarische Konzentrationsbewegung. Obwohl wieder durchgehend datiert, darf „cahier“ nicht mit einem klassischen Tagebuch verwechselt werden, die Abgrenzung zu diesem Texttypus wird sogar ausgesprochen: „Nein dies ist kein Diarium“. Im Vordergrund steht dahingehend vielmehr der Ausdruck eines unausgesetzten Schreibens, eines im allerbesten Sinne unaufhörlichen und auch lebensfüllenden Schreiballtags: „habe fast keine Zeit für die gewöhnlichen Dinge, weiszt du, weil ich schreiben musz“.

Buchtipp von:

Diese Betriebsamkeit ist alles, was zählt. Das Ausstellen der damit verbundenen Gesten und Szenen fügt sich perfekt in die kondensierte Verhandlung. Es wird hier vor allem angesichts des Lebens, des Alterns und der Natur geschrieben, immer bemüht um Absetzbewegungen vom lauernden „le kitsch“ als auch vom „Jugend Jargon“. Letzterer fließt stellenweise als Zitat ein, dessen semantische Ebene eine Neudefinition erfährt: Da wird aus „SKYPEND“ und ­„re-cap“ ein himmlischer Hinweis oder eben das Neuaufsetzen von Kappen.

„,cahier‘ ist Ausdruck einer lebensdurchdringenden Leidenschaft für die Literatur“

Diese sprachlichen Differenzierungen May­

röckers sind aber nicht, wie bei manchen konservativen Vertretern der bundesdeutschen Literatur, elitäre Exklusionsgesten, sondern vielmehr Teil der eigenen poetischen Positionierungsarbeit. Diese manifestiert sich, auch hier als Fortschreibung und Steigerung eines in „études“ angelegten Programms, deutlich in der eigentlichen Textgestaltung. Neben dem bewussten Arbeiten mit Interpunktion, typografischen Elementen oder Hervorhebungen sind zwei bemerkenswerte Neuerungen zu bemerken. Einerseits rückt die Zeichnung, und mit ihr die direkte Verbindung von Wort und grafischer Skizze, an dominante Stellen. Teilweise seitenfüllend, dann wieder in den gesetzten Text eingebunden, sind diese Spuren einer Handschrift über das ganze Buch hinweg vorhanden. Andererseits stehen alle sequenzhaften Abschnitte unter Anführungszeichen. Einmal mehr wird auch mit diesem Hinweis die Direktheit des Gebotenen unterstrichen, denn „das Reden ist freilich Ablenkung vom Eigentlichen = vom Schreiben“. Mayröckers Schreiben ist dabei nicht selten auch an das vorsätzliche Einbringen von Referenzen gebunden. In „cahier“ treten neben aus ihrem Register bereits vertrauter Größen wie Jacques Derrida, Roland Barthes, Samuel Beckett, Thomas Kling oder Friedrich Hölder-

Friederike Mayröcker: cahier. Suhrkamp, 192 S., € 20,60

lin auch neue Namen wie E.E. Cummings, John Keats, Gertrude Stein oder Ann Cotten. Die namentliche Nennung geht nicht selten mit direkten Zitaten einher, also einer weiteren Schreibbewegung. Diese Tätigkeit ist deutlich auf das Einbinden des jeweils angespielten Texts in den eigenen Sprach- und Arbeitskosmos ausgerichtet, das übertragende Abschreiben wird zum nachvollziehenden Nach-Denken. Der damit geöffnete Echoraum der Literatur, der stimmig und nicht minder vielfältig um Musik und bildende Kunst ergänzt wird, meint im vorliegenden Text Mayröckers auch ihr eigenes umfangreiches Schaffen mit. Die klug integrierten Selbstreferenzen reichen von der wortwörtlichen, dann wieder leicht variierten Wiederholung ganzer Passagen des vorliegenden Buchs bis zu Hinweisen auf „brütt oder Die seufzenden Gärten“ (1998), ihrem wohl zugänglichsten Werk, oder jüngere Arbeiten wie der literarischen Geisterbeschwörung „vom Umhalsen der Sperlingswand“ (2011). Das Herz wird in all diesen „Zeilen : die wildesten im Notizbuch“ als eines der zentralen Motive, schriftlich wie zeichnerisch, erfahrbar. Liebevoll meint für Mayröckers vorliegenden Text ganz wortwörtlich voller Liebe zu sein und einen entsprechenden Blick wahren zu wollen. Sehnsüchte nach Orten und Menschen – etwa Peter Handke oder das „geliebte Geistlein“ Elisabeth von Samsonow – werden adressiert, wie selbstverständlich wird aus dem „cruellest month“ ­April aus T.S. Eliots berühmter Eröffnungszeile zu „The Waste Land“ der „zärtlichste Monat“. Friederike Mayröckers „cahier“ ist Ausdruck einer lebensdurchdringenden Leidenschaft für die Literatur, die sich nicht zuletzt in einem handschriftlichen Faksimile zeigt. Da steht schlicht: „ich brenne“. Und weiterhin gilt: „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz muss poetisch sein“. THOMAS BALLHAUSEN

Bettina Balàka: Unter Menschen »… ein neuerlicher Beweis, wie großartig Bettina Balàka erzählen kann: frech nämlich und witzig und direkt.« Kurier, Peter Pisa

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Illustr ation: peter diamond

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| Thalia Wagner’sche, Museumstr. 4, 6020 Innsbruck | Tyrolia, Maria-Theresien-Str. 15, 6020 Innsbruck | Tyrolia Max Media, Maximilianstr. 9, 6020 Innsbruck | Riepenhausen, Langer Graben 1, 6060 Hall in Tirol | Riepenhausen, Andreas-Hofer-Str. 10, 6130 Schwaz | Zangerl, Salzburger Str. 12, 6300 Wörgl | Lippott, Unterer Stadtpl. 25, 6330 Kufstein | Tyrolia, Rathausst. 1, 6460 Immst | Jöchler, Malserstr. 16, 6500 Landeck | Vorarlberg: Eulenspiegel, Marktstr. 42, 6845 Hohenems | Ananas, Marktpl. 10, 6850 Dornbirn | Brunner, Rathausstr. 2, 6900 Bregenz | Ländlebuch, Strabonstr. 2a, 6900 Bregenz | Brunner, Dr.-Schneider-Str. 22, 6973 Höchst | Burgenland: s’Lesekistl, Obere Hauptstr. 2, 7122 Gols | Buchwelten, Hauptstr. 8, 7350 Oberpullendorf | Pokorny, Schulg. 9, 7400 Oberwart | Wagner, Grazer Str. 22, 7551 Stegersbach | Steiermark: Bücherstube, Prokopig. 16, 8010 Graz | Dradiwaberl UniShop, Zinzendorfg. 25, 8010 Graz | Leykam, Stempferg. 3, 8010 Graz | Moser Ulrich, Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz | büchersegler, Lendkai 31, 8020 Graz | Leykam, Lazarettgürtel 55, 8025 Graz | Plautz, Sparkassenpl. 2, 8200 Gleisdorf | Buchner, Hauptstr. 13, 8280 Fürstenfeld | Leykam, Hauptpl. 2, 8330 Feldbach | Leykam, Mitterg. 18, 8600 Bruck/Muhr | Mayr, Kurort 50, 8623 Aflenz | Kerbiser, Wiener Str. 17, 8680 Mürzzuschlag | Morawa, Burgg. 100, 8750 Judenburg | Hinterschweiger, Anna Neumannstr. 43, 8850 Murau | Buch + Boot, Altausse 11, 8992 Altaussee | Kärnten: Heyn Johannes, Kramerg. 2, 9020 Klagenfurt | Besold, Hauptpl. 14, 9300 St. Veit/Glan | Tyrolia, Roseng. 3-5, 9900 Lienz


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Sprung vom Zug zur großen Erzählung Zu seinem 85. Geburtstag legt Hans Magnus Enzensberger das autobiografische Werk „Tumult“ vor

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ans Magnus Enzensberger ist in die Jahre gekommen. Das muss aus dem Mund eines Autors, der mit ihm in die Jahre gekommen ist, nichts Böses bedeuten. Im Gegenteil, so viel Leichtigkeit auch noch mit 85 exemplarisch vorzuführen, dazu bedarf es eiserner Disziplin und resoluter Eleganz. Der junge Enzensberger berührte einen als Lyriker, den man dem Deutschprofessor entgegenhalten konnte. Mit seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ konnte man sogar nach dem „Kapital“-Arbeitskreis punkten, die von ihm herausgegebene Zeitschrift Kursbuch stand als Impulsgeber – wie ihr Herausgeber selbst – zugleich am Rand und im Mittelpunkt der 1968er-Revolte. Und die Bände der Anderen Bibliothek trafen mit ihrem Bestehen auf Druckkunstgewerbe den Nerv einer sich selbst ­digitalisierenden Branche. Auch ordnete Enzensberger wirtschaftlichen Erfolg stets entschlossen dem inhaltlichen unter. Außerdem schreibt er nicht nur Lyrik und Essays, sondern Hörspiele, Drehbücher, Theaterstücke und Prosa, literarische wie wissenschaftliche. Sein bestverkauftes Buch handelt von Mathematik: „Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“.

Enzensbergers große Essays über die Sprache des Spiegel oder über das Fernsehen als Nullmedium bleiben wichtig. Seine Reportagen zählen zum Besten, was man über Europa und auch die Dritte Welt lesen konnte. Mit Recht hat das Marburger Literaturarchiv zu seinem 80. Geburtstag das Symposium „Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik“ abgehalten. Der Germanist Kraushaar ging dort unter dem Titel „Tumult“ dem Thema Enzensberger und 1968 nach. Den Titel „Tumult“ hat Enzensberger mehrfach verwendet. Jetzt setzt er ihn über sein neues Buch, eine Art Autobiografie in Fragmenten. Mit Peter Lau hat er längst

einen kompetenten Biografen. Umso spannender ist es zu sehen, wie er selbst sich seiner Vergangenheit stellt und sich ihr zu entwinden sucht. Das gelingt dem Diderot-Verehrer in einem Dialog, den der junge und der alte Enzensberger über die Tumultjahre führen. Es ist spannend zu lesen, wie Enzensberger immer wieder vom Zug zur großen Erzählung abspringt. Für den Lauf der Zeit hat er einmal das schöne Bild des Blätterteigs verwendet, in dem durch immer neues Drehen und Schichten ein Verlauf entsteht, der jeder Linearität spottet. Enzensbergers „Zickzack“ (auch das der Titel eines seiner Bücher) durch die eigene Biografie ist die einzige Konstante des Buchs. Den Trick, er habe im Keller zufällig zwei Kisten mit alten Dokumenten, Briefen, Fotos gefunden, kann man dem Autor abnehmen oder nicht. Er erklärt vielleicht die Zufälligkeiten im Leben eines Anarchisten.

„,Als Buchhalter unserer Vergangenheit bin ich eine Fehlbesetzung‘, sagt Enzensberger“

Enzensberger lässt sich durch die Welt und

Es beginnt mit einer feinen Reportage vom Be-

such einer Schriftstellerdelegation in der poststalinistischen Sowjetunion. Der junge deutsche Lyriker findet im russischen Starlyriker Jewgeni Jewtuschenko eine Art Doppelgänger: „Ich habe das Pech, in manchen Zeitungen mit ihm verglichen zu werden – und es scheint, als gelte das auch umgekehrt. Es ist das Klischee vom angry young man.“ Dann werden Teile der Delegation zu Chruschtschow auf dessen Sommersitz nach Sotschi eingeladen, Enzensberger ist dabei, Jewtuschenko nicht. Die Charakterisierung Chruschtschows ist ebenso lapidar und treffend wie arrogant: „In den Grenzen seiner Gemeinplätze ist er unsicher, also belehrbar. Von seiner größten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht.“ Eine zweite Reise durch die Sowjetunion bringt die Begegnung mit Enzensbergers zweiter Frau Mascha, seinem „russischen Roman“. Die leise Selbstironie dieser Klassifizierung darf nicht täuschen: Enzensberger gibt zu erkennen, wie sehr diese Frau

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sein Leben bewegt hat. Sie ging seinetwegen in den Westen, um ganz neu zu beginnen. Als sie erkannte, dass er nicht neu beginnen wollte, sondern mitten im Berliner Tumult der Revolte steckte, machte sie ihm Vorwürfe. Er versuchte den Neubeginn an einer Uni in den USA, der Wesleyan University, was er rasch aufgab, als ihn eine Einladung nach Kuba erreichte, dem Land, dem er so lang verfallen blieb und das er mit nachwirkendem Unverständnis über diese seine Zuneigung beschreibt.

Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Suhrkamp, 287 S., € 22,60

durch die Politik reißen, seine Ehe lässt sich auch so nicht retten. Schließlich, nach der Scheidung, begeht Mascha Selbstmord. Das alles ist mit zarter Einfühlung geschildert und nimmt dem Autor jeglichen LuftikusVerdacht. Man spürt trotz allen Name-Droppings, das er sich selber vorwirft, er könnte noch viel mehr Namen fallen lassen. Eine epochale Erscheinung, minus falschem Schein. Der Autor ist wieder in Berlin, Mai 1970. Ein paar Leute wollen bei ihm Unterkunft: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof – die RAF, nach der Befreiung Baaders aus dem Gefängnis. Nach Hinweis auf den Geheimpolizisten vor dem Fenster verschwinden sie wieder. Enzensberger trocken: „Ich schließe aus dieser Episode, dass die RAF aus Versehen entstanden ist. Das einzige Ziel ihrer ersten bewaffneten Aktion bestand darin, einem Komplizen zwei Jahre Gefängnis zu ersparen.“ Das Leben ist Tumult. „Als Buchhalter unserer Vergangenheit bin ich eine Fehlbesetzung“, sagt Enzensberger. Und in einer Unterhaltung mit dem Mathematiker Alexander Danilowitsch Alexander in Sibirien: Wissen und moralische Fantasie seien „im besten Fall komplementär“. So kann man dieses Buch auch als eine Übung lesen, seine moralische Fantasie zu schärfen, jenes Organ, das wir im Leben am meisten brauchen und doch am seltensten benützen. AR MIN THURNHER

„Riess lehrt vor allem, jenseits aller Satire, wie man eine Landschaft, deren Eckpunkte samt Weingütern und Restaurants er beim Namen nennt, politisch lesen kann, lesen sollte. Das mag den Politikern und erst recht den Tourismusmanagern nicht behagen. Aber dafür haben wir ja die Schriftsteller.“ Thomas Rothschild, Die Presse

320 Seiten, geb., € 21,– ISBN 978-3-7013-1221-4

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liter atur

Was Mut braucht, kann Trost gewähren Ihr Gesprächsbuch mit Angelika Klammer ist eine gute Einführung in Leben und Werk der Nobelpreisträgerin Herta Müller erta Müller erscheint vielen als eine schwer zugängliche Autorin. Das liegt H nicht nur an ihren Themen, sondern auch

an der hohen Kunst ihrer Sprache, die ihre Romane nicht eben zu einer süffigen Lektüre macht – aber zu einer beglückenden. Denn Müller beweist mit jedem Satz, dass Schreiben eine existenzielle Tätigkeit sein kann, die vielleicht Mut erfordert, sich alles noch einmal anzuschauen und damit noch einmal auszuhalten, aber dafür auch Trost gewähren kann. In dem Gesprächsband „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ erzählt die Nobelpreisträgerin vom Magnetismus des Schreibens, der aus Rücksichtslosigkeit und Schonung bestehe – wobei Erstere in ihren Themen begründet liege, die „fremde Willkür und ein gestohlenes Leben“ ihr vorgegeben hätten, und Letztere in der Tatsache, dass das Schreiben verhindert habe, dass sie dem Erlebten noch schonungsloser ausgeliefert war. Herta Müller ist keine schwierige Autorin. Sie

schreibt von konkreten Dingen und benutzt dabei sinnliche, einfache Metaphern. Schon als Kind im rumänischen Banat besaß sie diese stupende Fähigkeit, Erleben in Bilder umzuwandeln. In der Dunkelheit kam ihr die Luft vor wie schwarze Tinte oder ein riesiges Tierfell – davon konnte man sich bereits in dem Hörbuch „Die Nacht ist aus Tinte gemacht“ (2009) überzeugen, in dem sie die Welt des schwäbischen Dorfs im ru-

mänischen Banat so plastisch wiederauferstehen ließ. Die Gespräche mit Angelika Klammer, bei denen sich die Interviewerin angenehm zurückhält, stellen gleichzeitig eine Einführung in ihr Leben und in ihr Werk sowie ihre Poetik dar. Kennern wird nicht sehr viel Neues begegnen, aber Herta Müller hört man immer gerne zu, um sich an ihrer Sprache zu berauschen. „Die Sprache hebt die Zeit auf, sie zieht das Erlebte in eine besessene Suche nach Wort, Takt, Klang“, heißt es an einer Stelle. Gleichzeitig eröffnen sich immer wieder neue Erkenntnisse. Müller ist keine Ästhetin, die die Sprache dazu benutzt, vor der unerträglichen Wirklichkeit zu fliehen, sondern eine Aufklärerin. Dass Reden die Welt in Ordnung bringen kann, hat sie freilich nie geglaubt, auch nicht, dass Literatur heilt, was sie daraus schließt, dass sie in die Dinge stets von Neuem und anders hineinschauen müsse. Das ist für uns Leser ein Glück. Auch ihre Erinnerungen rekapituliert sie immer wie zum ersten Mal, etwa wenn sie von ihrer Mutter erzählt, die erst drei Jahre vor ihrer Geburt aus der russischen Deportation zurückgekommen war, von der Einsamkeit beim Kühehüten in der glühenden Ebene, in der sie Blumen miteinander verheiratete, um sich die Zeit zu vertreiben, oder von ihren Lachkrämpfen bei Begräbnissen. „Gibt es ein auf den Kopf gefallenes, ein umgekehrtes Lachen, das abstürzend ist und tiefer traurig als das Weinen?“ Mül-

ler vermutet, dass sich in diesem ungehörigen Lachen, nach dem sie Prügel bekam, die ihr verdient erschienen, die immer vorhandene Dorftrauer entladen habe. „Alles Wichtige über eine der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart“

Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. Hanser, 240 S., € 20,50

Der Umzug in die Stadt, die Arbeit in der Fabrik, die versuchte Anwerbung als Spitzel durch die Securitate und die darauffolgenden Verhöre, der Verrat ihrer Freundin Jenny, die verordnete Angst und Hässlichkeit des Sozialismus, die Ausreise in den Westen – davon hat Müller schon früher erzählt, aber vielleicht nicht so kompakt. In diesem schmalen Band erfährt man alles Wichtige über eine der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart – und fühlt sich dazu animiert, endlich oder endlich wieder mal etwas von ihr zu lesen. Etwa ihren letzten Roman „Die Atemschaukel“ (2009), der auf den Erinnerungen des Dichters Oskar Pastior (1927–2006) an seine fünfjährige Zwangsarbeit in der Ukraine basiert. Der akribischen gemeinsamen Vorarbeit an diesem Buch ist das vorletzte Kapitel gewidmet, das von der untrennbaren Verquickung von Kunst und Leben kündet und die Dringlichkeit der Literatur von Herta Müller zu erklären vermag. Das letzte handelt von dem nachvollziehbaren Glück, das sie dabei empfindet, für ihre Collagen-Gedichtbände Wörter offen auf dem Tisch bei sich zu Hause herumliegen zu haben – und nicht verstecken zu müssen. K IR STIN BREITENFELLNER

Jeder Tag kann dir zur Feier sein Barock ist wieder angesagt: Helmut Kraussers verfugt die literarische Traditionsgeschichte mit viel Selbstbewusstsein neu in letzter Zigarettenzug, ein Blick auf E das morgendliche Erwachen der ewigen Stadt Rom, ein in nächtlichem Rausch ver-

fasstes Liebesgedicht: In alldem wohnt die genussvolle Kürze des Augenblicks und zugleich das Bewusstsein, keine Sekunde festhalten zu können. Auf jenem schmalen Grat, wo alles gewonnen oder verloren werden kann, wandelt Helmut Kraussers Gedichtband „Verstand und Kürzungen“ und führt an die existenzielle Grenze dessen, was Sprache einzufangen weiß. Es sind große Themen des Daseins: Liebe, Wandel, Tod und das stete Wissen um Vergänglichkeit. Denn was wir Glück nennen, erweist sich auch als Teil eines ganzen Welttheaters: Wir suchen unentwegt „in dem elend tristen reigen / toter tage nach dem kleinen / glück der zeit, um das wir weinen“. Ein Sonett, getränkt in Weltschmerz, und doch nicht das Ende aller Tage. Wenn uns Krausser etwa an den Totenschädeln in der römischen Kapuzinergruft vorbeiführt, sehen wir zwar der Endlichkeit bitter ins Auge. Verloren ist damit aber nichts. Im Gegenteil: „Gelobt sei die Klinge, die über uns schwebt. Sie schärft die Existenzen, macht glänzen, was lebt.“ Formvollendet, zugleich nie verkrampft oder ungelenk aktualisiert Krausser das barocke Stil- und Gedankeninventar, um damit unsere Gegenwart zu erklären. Allseits ringt der Mensch heute mit der Zeit, sieht rascher denn je die Stunden ver-

gehen. Doch wie auch Gryphius oder Hofmannswaldau wussten, birgt Vanitas auch den Keim des „carpe diem“ in sich: Jeder Tag kann dir zur Feier sein. Und die Lyrik? Schafft den Rahmen dafür, kann uns ein Album sein, worin wir Erinnerungen an schöne Stunden mit der Geliebten oder stille Momente in der Natur verwahren. Sie ruhen in der Sprache, geborgen, behütet.

„Zumeist glättet oder vereinfacht Krausser Passagen, entstaubt Verse“

Doch sie darf kein Käfig sein. Allein wenn sie

frei ist, sind wir es auch. So kreist Kraussers Lyrik stets um das Vermögen, Worte zu beherrschen wie gleichsam aus ihnen auszubrechen, eben „die ritterrüstung sprache wieder / loszuwerden“ und ein „neue(s) säuglingslück“, einen unverfänglichen Blick auf das Hier und Jetzt zu ermöglichen. Nur auf diese Weise erhält sich das Geheimnis in den Dingen. Ein Text zu Bewohnern der Tiefsee gibt klar zu verstehen: Holen wir sie an die Oberfläche, verflüchtigt sich deren Faszinosum. Wahr ist’s: „schönheit (…) ist, erkannt, schon halb vergangen.“ Der 1964 in Esslingen am Neckar geborene Autor nutzt allerhand kanonische Autoren mit ihrem klassischen Textfundus hier zu eigenen „Conversionen“. Ob Trakls „Verfall“, Buschs „Die Selbstkritik“ oder Brechts berühmte Liebeswürdigung „Erinnerung an die Mari A.“ – sie alle sind ein lyrischer Steinbruch für Kraussers experimentelle Neuverfugungen. Selten kommt es zu einer kompletten Umdeutung. Zumeist glättet oder vereinfacht Krausser Passagen,

Helmut Krausser: Verstand und Kürzungen. DuMont, 224 S., € 23,70

entstaubt Verse und macht sie für ein breites Lesepublikum zugängig. Rilkes „Der Panther“, den er amüsant auf die Seelenlosigkeit aktueller Fernsehformate und ganz konkret auf „Germany’s Next Top Model“ überträgt, erscheint beispielsweise in amüsant-ironischer Maskerade neu. Auch mit 33 leichtfüßigen Neuübersetzungen von Shakespeares Sonetten arbeitet sich Krausser mit Geschick und Elan in den Olymp dichterischer Klassiker vor, indem er deren Glanz, Weltschmerz und Sehnsüchte in das 21. Jahrhundert überträgt. Was diesem zauberhaften Band am Ende jedoch ein wenig seinen Geist raubt, sind die polemischen Watschen, die all jene Poeten kassieren, bei denen Krausser sich zuvor bedient hat. Während er seine „Conversionen“ in einem völlig überflüssigen Glossar selbst erklärt, liest man vom „missglückte(n)“ Gedicht Hofmannsthals oder von der „unausgegorene(n) Pennälerlyrik“ Trakls. Mörike verleihe Krausser dagegen ein „pathetisches Surplus“. Oder er schreibt gleich eine Persiflage, etwa auf Benns „Ein Wort“, ein ohnehin „überschätzte(r) Lyriker“, wie wir erfahren. Solcherlei Narzissmus und Arroganz hätte es nicht gebraucht. Am besten liest man in dem ansonsten virtuosen Band über diese Selbstverirrungen hinweg. Wenigstens der Leser sollte generös bleiben: Ein jedes Genie verrennt sich eben einmal. BJÖRN HAYER


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„Zwangsneurotiker gibt es viele“ Reiner Stach schließt seine dreibändige Kafka-Biografie mit dem Fundament ab: „Die frühen Jahre“

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eder Langstreckenlauf geht irgendwann zu Ende. Bleibt man bei dem Bild, so darf man Reiner Stach eine hervorragende Kondition attestieren. Nach einem Dutzend und noch einem halben Dutzend Jahren, in denen er immer drangeblieben ist, hat er seine große Biografie von Franz Kafka (1883–1924) nun über die Ziellinie gebracht. Falter: Was empfinden Sie nach Beendigung

des Mammutwerks? Reiner Stach: Im ersten Moment glaubt man nicht, dass man es hinter sich hat. Am Tag nach Vollendung des Manuskripts saß ich pünktlich am Schreibtisch, ohne genau sagen zu können, warum. Aber jetzt überwiegt die Erleichterung.

Foto: jürgen bauer

Wie gelingt es, über so lange Zeit nicht das Interesse am Gegenstand zu verlieren? Stach: Es ist ja nicht ein Gegenstand, sondern eine ganze Lebenswelt, auf die ich mich eingelassen habe. Ich habe mich zum Beispiel ein Jahr lang ausführlich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Mit Theatergeschichte. Oder mit der Psychoanalyse. Sie reichen nach „Die Jahre der Entscheidungen“ und „Die Jahre der Erkenntnis“ den Band über die frühen Jahre Kafkas nach. Warum in der Reihenfolge? Stach: Der Grund war meine Hoffnung, den bislang durch Gerichtsstreitigkeiten verschlossenen Nachlass von Max Brod noch einsehen zu können und dort Material über die jungen Jahre Kafkas zu finden. Das hatte leider keinen Erfolg. Manche haben mir zu Beginn meiner Arbeit vor 18 Jahren prophezeit, dass dieses Vorgehen nicht funktionieren kann – so, wie wenn man ein Haus baut und die Fundamente als Letztes legt. Aber es ging doch auf. Ich musste einfach sehr langfristig planen. Sie erwähnten Max Brod, den Freund und Nachlassverwalter Kafkas. Wie lernten die beiden sich kennen?

Stach: Es gab unter den Studenten eine Art

Kulturverein, die „Lese- und Redehalle der deutschen Studenten“. Kafka war schon ein Jahr lang Mitglied, als plötzlich der sehr agile und wortgewandte Max Brod auftauchte. Eines Abends gab es eine Auseinandersetzung, weil Brod sich sehr scharf gegen Nietzsche äußerte. Kafka war zu dieser Zeit ein großer Bewunderer Nietzsches, und er war so erregt, dass er seine Scheu überwunden und diesen fremden Jüngling offenbar zurechtgewiesen hat. Dadurch sind die beiden ins Gespräch gekommen. Welche Rolle spielte Brod für Kafka? Stach: Brod war für Kafka eine Art Vermittler zum realen Leben. Er hat immer wieder versucht, Kafka in Kontakt zu bringen mit Literaten, mit Verlegern, mit der Prager Szene der Künstler und Musiker. Er hat ihn in Kaffeehäuser mitgeschleppt oder in Weinstuben. Brod hat dafür gesorgt, dass Kafka aus seiner Höhle rauskommt. Außerdem war bedeutsam, dass Brod ein sehr geduldiger Mensch war. Er beklagte sich immer wieder, dass Kafka so negativ sei. Er versuchte, Kafka seine Depressionen auszureden. Brod war viel pragmatischer und optimistischer. Das war für Kafka eine wohltätige Korrektur. Von der atmosphärisch dichten Beschreibung von Szenerien und Milieus zoomen Sie in Ihrem Buch langsam auf die Figur Kafka. Sie zeichnen das kulturelle, politische, soziale Umfeld von Prag um die Jahrhundertwende detailgenau nach. Zugleich dringen Sie sehr tief, fast wie ein Analytiker, ins familiäre Beziehungsgeflecht ein. Stach: Ja, und mein Problem als Biograf war es zu zeigen, wie er diese Konstellation bewältigt hat und wie er damit umging. Es genügt ja nicht zu sagen, Kafka war Neurotiker, Kafka hat unter dem Ödipuskomplex gelitten, oder Kafka war das typische einsame Kind. Man muss vielmehr zeigen, wie aus dem geknechteten oder einsamen Kind

diese Superbegabung Franz Kafka wurde. Zwangsneurotiker gibt es viele. Und wie wurde aus dem Kind die Superbegabung? Stach: Kafka hat schon sehr früh eine Art Defensivsystem entwickelt. Wenn man einen bedrohlichen und unberechenbaren Vater hat, kann man sich teilweise schützen, indem man lernt, diesen Vater genau zu beobachten – seine Gesten, seine Worte, seine Blickrichtung. Dieses Beobachten ist nichts anderes als die Keimzelle von Empathie. Diese außerordentliche Empathie, die Kafka später auch ganz fremden Menschen gegenüber gezeigt hat und die sich in den Texten und Tagebüchern niederschlägt, hat er sich als Kind angeeignet. Kafka hat ein außerordentlich differenziertes Verteidigungssystem entwickelt.

Zur Person Reiner Stach, Jahrgang 1951, dissertierte über Frauenfiguren bei Kafka. Er arbeitete als Wissenschaftslektor. 18 Jahre lang widmete er sich ausschließlich Kafka

Können Sie ein Beispiel dafür nennen? Stach: Wenn er als Erwachsener gekränkt oder scharf kritisiert wurde – und er war gegen Kritik außerordentlich empfindlich –, dann setzte er sich dadurch zur Wehr, dass er sagte: Ihr habt völlig recht mit eurer Kritik, aber eure Kritik ist noch viel zu lau im Vergleich zu dem, wie ich mich selbst aburteile. Das ist eine raffinierte Strategie, wie man den Angriffen von außen die Spitze abbrechen kann. Allerdings kostet das auch einen Preis: Er agierte oft wie hinter einer Glasscheibe. Was sich insbesondere in seinen Beziehungen zu Frauen zeigt. Stach: Ja, die litten natürlich besonders darunter, weil sie zunächst einmal den Eindruck hatten von einem Mann, der ganz ungemein empathisch reagiert hat. Kafka hatte eine starke Wirkung auf Frauen, sehr wahrscheinlich nicht wegen seines Aussehens, sondern wegen seiner Zugewandtheit. Der konnte zuhören. Wenn allerdings Gegenfragen gestellt wurden, kam von ihm nicht sehr viel zurück.

Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. S. Fischer, 608 S., € 35,–

INTERVIE W: ULRICH RÜDENAUER

Lydia Davis Kanns nicht und wills nicht »Lydia Davis zeigt sich in Kanns nicht und wills nicht als großartige Beobachterin der alltäglichen Absurditäten. Man hat es bei der Autorin mit einer schreibenden Detektivin zu tun, die in ihren Geschichten die Komik und Tragik des Alltags einfängt wie es nur wenige vermögen. Wer erfahren will, was Sprache ermöglicht, muss Lydia Davis lesen.« (Thomas Hummitzsch, intellectures)

Kanns nicht und wills nicht. Stories Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer 304 Seiten, gebunden, € 23.-, ebook € 18,99

LITERATURVERLAG DROSCHL www.droschl.com

© Theo Cote

Buy local! Eine Aktion der ARGE Österreichische Privatverlage und unabhängiger Wiener Buchhandlungen


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Spätpubertätsklassiker in der Provinz Trivialer Plot, artifizielle Ausführung: Lisa Kränzlers Roman „Lichtfang“ erzählt vom Scheitern der ersten großen Liebe as letzte Jahr vor der Matura, die D erste große Liebe, und man sollte meinen, die beiden seien fürein-

ander geschaffen. Aber es soll nicht sein: weil ein Dritter (oder eine Dritte) destruktiv ins Spiel kommt oder weil es die beiden, warum auch immer, nicht übers Herz bringen, einander reinen Wein einzuschenken. Drama, Verzweiflung. Hat man sie nicht überhaupt selbst durchlitten, dann hat man diese Geschichte schon oft gehört – nun führt Lisa Kränzler, in Klagenfurt 2012 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet und ein Jahr später in Leipzig nominiert, diesen Spätpubertätsklassiker noch einmal in der oberschwäbischen Provinz auf. Er heißt Rufus und hat rote Haare, Typ

cooler Checker, ziemlich gut im Basketball, außerdem schätzt er an den Naturwissenschaften, dass sie das Leben ein Stück weit berechenbar machen. Sie heißt Lilith, und mit diesem Namen verbinden sich bekanntlich von der sumerischen Mythologie bis heute eher komplizierte Frauenschicksale. Kränzlers Lilith macht ihrem Namen alle Ehre, denn im Gegensatz zum pragmatischen Rufus will sie gerade kein berechenbares Leben, nicht einmal eine Biografie oder eine Zukunft: Sie will einfach malen, ganz

für sich, sonst nichts – abgesehen von Rufus. Wenige Monate vor den Abschlussprüfungen schmeißt sie konsequenterweise die Schule. Dass Rufus und Lilith einander begehren, überrascht nur auf den ersten Blick. Etwas nagt in ihnen, beide spüren, dass das Leben irgendwie mehr zu bieten hat als die oberschwäbische Provinz. Das entfremdet sie von ihren Familien und ihren Schulkameraden. Rufus kann mit dieser Fremdheit ganz gut umgehen, er ist als Basketballspieler anerkannt und weiß schon früh, dass er eines Tages sowieso alles hinter sich lassen wird. Auch Lilith will hinaus, und zwar so schnell wie möglich, aber das ist bei ihr ein unscharfes Gefühl, weil sie im Grunde nicht weiß, was sie draußen soll. Wenn sich Rufus und Lilith ein bisschen näherkommen, dann hofft man inständig, dass sie einmal den Mund aufmachen, dass sie einen Plan entwickeln für das, was nach der Schule passieren soll. Aber sie machen den Mund nicht auf, vielleicht weil sie ein bisschen verklemmt sind und auf eine typisch pubertäre Weise stolz. Und so wird eine gnadenlose Abfolge von Missverständnissen, Kränkungen, kurzen Augenblicken des Glücks und Enttäuschungen in Gang gesetzt, auf dem Schulhof, am See, bei Partys mit fiesem Alkohol und unglück-

lichem Sex. Dabei macht auch Rufus nicht immer eine gute Figur, aber um Lilith hat man von Anfang an Angst. Sie zeigt Symptome von Magersucht, lebt in ihrem Körper, der um sie herumzuschlottern scheint, als habe sie sich schon aufgegeben: „Mein Körper ist ein Fass voll Furcht.“ Nur beim Malen entwickelt sie ungeheure

Energien, sie pinselt mit dicken Farben auf riesigen Papierrollen – wie das übrigens Lisa Kränzler in ihrer zweiten Rolle als Malerin ebenfalls praktiziert. Doch diese Energien treiben sie immer tiefer in die Einsamkeit, Rufus gerät ihr aus dem Blick, völlig derangiert streicht sie durchs Städtchen, zugedröhnt mit Crack zerstört sie ihr Atelier, zündet ihre Bilder und ihre Papiervorräte an, fängst selbst Feuer und erliegt am Ende ihren Verletzungen. Jahre später besucht Rufus, der in den USA Karriere gemacht hat, ihr Grab. Es ist eine Story scheinbar ohne Zwischentöne, vom Leben in den Extremzonen der Gefühle. Das wäre alles nur laut und grell, hätte Kränzler nicht in diese großen Gesten fein ausziselierte Sprach- und Erzählmuster eingearbeitet. Die Kapitel nehmen paarweise aufeinander Bezug, das eine erzählt aus Liliths, das andere aus Rufus’ Perspektive, ihre Überschriften antworten sich wie Echos.

Mutige Bilderfindungen („Er ist die Schutzmembran, die ihre brüchigen Zellwände vor dem Einsturz bewahrt“) stehen neben Protokollen banaler elterlicher Belehrungen, und in der schönen Courier-Schrift längst vergangener Schreibmaschinenzeiten sind auch noch verstreute Aufzeichnungen Liliths eingefügt, die für sich wiederum einige literarische Ambition vermuten lassen. Vielleicht macht dies die Spannung von Kränzlers Erzählen aus: der Gegensatz zwischen dem ganz Groben und dem ganz Feinen, zwischen dem trivialen Plot und seiner artifiziellen Ausgestaltung, zwischen dem expressiven Erzählen und der strengen Konstruktion. Es braucht eine Weile, bis man diese Muster erkennt. Aber dann kann man nur staunen, mit welcher Konsequenz Lisa Kränzler schon jetzt ihre ganz eigene Kunst des Erzählens gefunden hat. TOBIAS HE YL

Lisa Kränzler: Lichtfang. Suhrkamp, 175 S., € 17,50

Vögeln und aus der Regenrinne saufen Verena Güntners Debütroman „Es bringen“ bringt es nicht nur. Dieses Buch zerreißt einem das Herz ie Hauptfigur des Romans heißt D Luis. Luis ist 16, und er ist einer, der nichts anbrennen lässt. Gleich

▶ gröbchen ▶ miessgang ▶ obkircher ▶ stöger



FÜNF JAHRZEHNTE MUSIKGESCHICHTE ERZÄHLT VON 130 PROTAGONISTEN Wienpop erzählt die Geschichte der Wiener Popmusik, von den ersten Vorläufern des Rock ’n’ Roll in den Fünfzigerjahren bis hin zum Ausklingen des Hypes um die lokale Elektronikszene kurz nach der Jahrtausendwende.

400 Seiten, ca. 600 Abbildungen, € 39,90

zu Beginn hat er eine Affäre mit Jenny. Jenny „hat die größten Titten der Schule. Schöne, runde. Solche, die nach oben schauen, zum Himmel oder was weiß ich. So kann Gott von dort aus gut sehen, was er gemacht hat.“ Aber Luis vergnügt sich nicht nur mit Jenny, er vögelt auch sonst fleißig herum. Mit den Jungs aus der Nachbarschaft schließt er „Fickwetten“ ab: Wenn er es schafft, mit einem vorher bestimmten Mädchen schnellen Sex zu haben, gewinnt er die Wette und bekommt den Einsatz der anderen. Luis geht es seit einiger Zeit finanziell ziemlich gut. Milan ist Luis’ bester Freund, schon 20 und der Chef der Jungsgruppe des Plattenbauviertels, in dem die beiden wohnen. Gemeinsam wird herumgehangen und viel Alkohol vernichtet, immer streng in der Reihenfolge Bier, Wodka-Red-Bull, Kurze. Luis ist ziemlich cool, aber Milan ist „auf jeden Fall der Coolste von allen“. Er redet nicht viel, aber wenn er es tut, ist sein Wort Gesetz. Luis mag Milan so sehr, dass

er für ihn sterben würde. „Milan“, sagt er, „schade, dass du keine Titten hast.“ Grinst und bekommt für den Satz natürlich eine gescheuert. Und dann gibt es noch Luis’ Mutter. Sie

ist erst Anfang 30, und Luis kommt mit ihr – Überraschung – komplett gut aus. Sie nennt ihren Sohn „Meise“, er seine Mutter „Täubchen“. Sie lässt ihn sein Ding machen und lebt ihr Leben, das um nichts unfreier ist als das ihres Sohnes. Dafür putzt er ihr mittags schon mal im Bett die Zähne. Essen? Im Kühlschrank ist noch eingeschweißte Wurst. Luis: „Ich schicke eine Scheibe Mortadella über die Brüstung auf die Reise und johle ihr hinterher. Dann stecke ich mir die restlichen Scheiben alle auf einmal in den Mund. Ich kaue, ich lutsche, quetsche schöne Würmchen durch meine Lücke.“ So schaut das kulinarische Glück mit 16 aus. Das gibt es viel zu selten, aber doch immer wieder: ein Buch, an dem alles stimmt. Man liest ein paar Seiten und ist – peng! – hin und weg. Fortsetzung nächste Seite


l i t e r a t u r    Fortsetzung von Seite 20

Weil es kraftvoll, so direkt, so klar ist. Aber auch: so poetisch. Schmerzvoll. Schlimm. Da stimmt halt einfach alles. Da zerreißt es einem das Herz. Weil nämlich auch das Herz der furchtlosen Hauptfigur zerrissen wird, und zwar exakt von den beiden Menschen, die diese am meisten liebt. Und weil natürlich im Laufe des Geschichtsgangs peu à peu herauskommt, dass es im Leben von Luis und seiner Mutter schon einige ziemlich schreckliche Sachen gegeben hat. Die beiden haben sich trotzdem nicht unterkriegen lassen. Und überhaupt gibt es wohl in der jüngeren und auch der älteren deutschsprachigen Literatur kaum eine wohltuendere, weil couragiertere Hauptfigur als diesen Luis. Nicht, dass ihm seine Furchtlosigkeit in die Wiege gelegt worden wäre. Er musste sie sich hart erkämpfen. Antrainieren. „Denn egal auf welches Niveau du dich schon hochgearbeitet hast, es geht immer noch weiter rauf.“ Luis will der Beste sein, und er coacht sich dabei selbst: „Ich bin der Trainer, und ich bin die Mannschaft.“ So hat er sich etwa mühevoll seine Höhenangst abtrainiert. Oder sich seinen „schönen Fickaufbau“ antrainiert. Luis ist zäh, bleibt dran an den Sachen, bis er sie draufhat. Denn: „Was zählt, ist, und ich weiß nicht, wie oft ich das hier noch sagen muss: Der Plan, den du dir machst.“ Luis will à la longue aus der Regenrinne des Lebens saufen, und nicht aus der Pfütze am Boden, sagt er. Das schaffst du, Luis. S T E F A N E N D E R

Verena Güntner: Es bringen. Kiepenheuer & Witsch, 250 S., € 19,60

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Liebe macht Angstraum kaputt Warum nicht mal menschliche Nähe probieren? Simone Lapperts „Wurfschatten“

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ch gehöre zu jenen, die den Kauf einer Hochglanz-Mode- oder -Architekturzeitschrift für rausgeschmissenes Geld halten und sich doch auf fast jedem Flughafen, in dieser seltsam enthemmten Zone zwischen Check-in und Gate, dazu hinreißen lassen. Vor die Wahl gestellt, mir mit Mode oder Interior Design die Zeit zu vertreiben, greife ich meist zum Wohnen, in der Hoffnung, einmal was wirklich Anregendes zu finden. Bald jedoch tritt gelangweilte Enttäuschung ein, denn auch wenn das Sofa gelb und der Tisch achteckig ist, bleibt die weltumspannende menschliche Fantasielosigkeit bei der Aufteilung einer noch so großen Wohnung bestehen: Wohnzimmer, Esszimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer. Bereits sehr ausgeflippt: Screeningroom, SMKammer oder Wintergarten.

Simone Lappert zeigt, dass es auch anders gehen könnte. Sie hat ihrer Romanheldin einen geheimen Angstraum eingerichtet, den sie mit Aufnahmen von Unfallopfern, misshandelten Kindern, verstümmelten Embryos, der Nahaufnahme von einem zerfetzten Bein oder Artikeln über Atomkatastrophen tapeziert. Mobiliar gibt es nicht, doch sorgen fünf Aquarien für die Notwendigkeit, den Raum zu betreten. Schließlich brauchen Fische Futter und liebevolle Ansprache. Warum die 25-jährige Tochter aus behütetem Haus wie eine Katze in dieser Wohnung irgendwo am Rhein herumstreicht, wird nur angedeutet, aber das macht nichts. Ada kann nicht schlafen, hat Angst, die sie in nächtlichen Taxifahrten oder Telefongesprächen zu bannen sucht. Nebenbei kaut sie an ihren Nägeln und der umliegenden Haut. Eigentlich ist sie Schauspielerin, fürchtet sich aber vor dem Vorsprechen und verdingt sich bei einem

Dinnerspektakel, in welchem sie die Leiche spielt. Therapieversuche hat dieser Roman hinter sich. Er stellt durchaus erfolgreich Probleme mittels Veräußerlichung und Inszenierung dar, wobei Reflexion und Analyse nicht zu kurz kommen. Man spielt Leben, so gut man kann, und versucht, die Angst in den Angstraum zu verbannen. Wie schön wäre es, wenn sie dort bleiben würde. (Wie schön stelle ich mir Wohnungen vor, die auch über einen Lasterraum und einen Raum der unerfüllten Wünsche verfügen.) Bereits am Ende des ersten Kapitels fin-

det das für die Geschichte entscheidende Telefonat mit Adas Vermieter statt. Es geht um Fische und um Mietrückstände, auf die der Mann verzichtet. Dafür setzt er seinen Neffen Juri als Mitbewohner. Juri zieht in den Angst­ raum. Die Angsttapete fliegt raus, er wirft sie auf Adas Bett, Ada wirft sie aus dem Fenster. Die Wohnung wird zum Kriegsschauplatz. Allmählich aber nimmt Ada die guten Seiten menschlicher Nähe wahr: „Seine Anwesenheit nachts, sein Atem am Ende des Flurs, den sie hören konnte, wenn sie hinschlich und ihr Ohr fest gegen das Türholz presste, allein die Möglichkeit, nach jemandem rufen zu können, hatte sich in den letzten Tagen wie Packfolie um die scharfkantigen Bilder in ihrem Kopf gelegt, und der Bettrand kam ihr nur selten noch vor wie der Rand der Welt.“ Ada ist umgeben von Freunden, die, jeder auf seine Weise, Leben spielen und sich in ihren erfundenen Lebensgeschichten einzurichten versuchen. Das funktioniert, solange gelangweilte Oberflächlichkeit der verbindende Code ist. Kommt jedoch einer wie Juri daher, der andere Codes und Sorgen

hat, platzt das Arrangement und eine Beziehung beginnt. Trotz Angst und Sorge sind Ada und

Juri unerhört ordentlich und hygienisch. Pyjamas werden ständig gewechselt, und bei der Liebe riecht’s nach frischer Seife. Ganz sanft und unaufgeregt vermittelt Simone Lappert in schönen Sätzen das Lebensgefühl einer jungen Frau, die im magischen Denken verfangen ist: „Sie vergrub die Nase im Ärmel ihres frischgewaschenen Pyjamas, der rosa war, einzahlungsscheinfarben, dachte sie. Aber morgen wäre wieder eine andere Farbe dran. Jeden Tag den Pyjama zu wechseln war wichtig, außer wenn sie eine jener seltenen traumlosen Nächte hinter sich hatte, in denen sie nach wenigen Minuten eingeschlafen und bis zum Morgen nicht aufgewacht war. Dann legte sie den Pyjama unters Kopfkissen und hoffte, dass etwas von der angstfreien Energie im Stoff hängen blieb und sich auf die nächste Nacht übertrug.“ Man kann sich denken, dass daraus eine behutsame Liebesgeschichte wird. Warum soll nicht auch einmal die Liebe eine Chance haben. Mit der gebotenen Vorsicht – Telefonnummer der Ärztin, Pyjamavorrat, Fischfutter müssen mit – suchen sich die beiden eine Wohnung für den „Akt der Menschwerdung“, wie John Williams die Liebe nennt. R U T H B E C K E R M A N N

Simone Lappert: Wurfschatten. Metrolit, 207 S., € 20,60

Ü Über die versöhnende Kraft schlechten Humors s Das groteske Lesedrama über Rassismus und Identitätskannibalismus führt mit Musical-Einlagen und D schlechtem s Humor eine Welt vor, wo alle, gute wie schlechte, kritische wie angepasste Menschen, einander verwerten, v bis zur letzten Faser der Identität und manchmal auch bis zur letzten Faser des Lendenstücks. Ein E Schiff der Grenzschutzbehörde Frontex rammt ein Flüchtlingsboot. Die einzigen Überlebenden, ein e larmoyanter Frontex-Offizier, eine Aufdeckungsjournalistin, eine Berliner Performance-Künstlerin und ein e stummer Flüchtling landen auf einer unbewohnten Insel. Es gibt kein Fleisch – und irgendwann muss einer e der Überlebenden ein Hölzchen ziehen …

Richard Schuberth Frontex – Keiner kommt hier lebend rein R

Eine mediterrane Groteske in zwei Akten E

Paperback · 110 Seiten · € 16,80 · ISBN 978-3-85435-744-5 P Drava Verlag · Založba Drava GmbH · 9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5 · www.drava.at D

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29.09.2014 9:32:35 Uhr


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liter atur

Bizarre Love Triangle Olga Grjasnowa erzählt eine wilde und höchst zeitgemäße Dreiecksgeschichte zwischen Berlin und Baku

Leyla nimmt als erste Frau an so einem Ren­

nen teil und wird prompt von der Polizei erwischt. Sie sitzt in Isolationshaft, in blut­ verkrusteter Kleidung, und wird alle paar Stunden aus der Zelle geholt, um verhört und brutal misshandelt zu werden. Aber Leyla ist durch eine harte Schule gegangen und nicht so leicht zu brechen. Grjasnowas Figuren sind zumeist mo­ derne Nomaden mit Biografien, die einen schwindelig machen, derart viele Stationen haben sie in jungen Jahren bereits hinter sich. Also: Geboren wurde Leyla in Baku. Die Mutter stammt aus einer wohlhaben­ den Familie, der Vater aus einer Künstlerdy­ nastie. Leylas Mama legte Wert darauf, dass die Tochter keine verzogene Göre wird, ach­

tete sehr auf Disziplin und wollte ein Bal­ lett-Wunderkind aus ihr machen. Tatsächlich wird sie als Schülerin am be­ rühmten Bolschoi-Theater in Moskau auf­ genommen. Alles deutet auf eine Karriere hin – nur nicht die Tatsache, dass andere noch einen Tick disziplinierter trainieren und leben als Leyla. Außerdem fliegt eines Tages ihre lesbische Teenagerliebe zu einer Kollegin auf. Nach einigem Aufruhr heiratet Leyla den jungen Arzt Altay. Es sieht nach einer Vernunftehe aus, um die Welt zu täu­ schen und das Umfeld zu beruhigen, denn auch Altay ist homosexuell.

„Grjasnowas Figuren sind moderne Nomaden mit Biografien, die einen schwindelig machen“

Die beiden ziehen nach Berlin, wo sich „Ho­

mosexualität und Menschsein“ nicht aus­ schließen und jeder sein kann, wie er ist. Altay arbeitet als Arzt auf einer psychiatri­ schen Station, Leyla bekommt schließlich, nachdem sie einige Zeit pausiert hat, ein neues Ballettengagement. Die Wochenen­ den verbringen die beiden meist auf Par­ tys (etwa im Technotempel Berghain), mit wechselnden Affären und Drogen. Abge­ schaltet und entspannt wird aber auch beim Putzen und Kochen; Altay ist natürlich ein perfekter Hausmann. Ein nicht nur schönes, sondern auch funktionierendes Arrangement, das dann durcheinandergerät, als Leyla in einer Bar Jonoun sieht und sie sofort haben will. Auch Jonoun ist eine Nomadin: Als Toch­ ter zweier israelischer Hippies in Indien ge­ boren, lebte sie die letzten Jahre in New York. Nach Berlin ist sie erst vor ein paar Wochen gekommen, „mit einem Master in New Media Art, den sie an einem mittel­ mäßigen Liberal Art College erworben hat­ te, aber ohne Geld“. Was in der Folge mit Leyla, Jonoun und Altay passiert, dafür hatte die englische Band New Order schon in den 80ern den passenden Songtitel parat: „Bizarre Love Triangle“. Es bleibt nämlich nicht bei flüch­ tigem Sex zwischen Leyla und Jonoun, die vorher noch nie etwas mit einer Frau hat­ te; es kommen bald auch die guten alten Gefühle ins Spiel. Und weil Jonoun noch

keine Bleibe hat, zieht sie kurzerhand bei Leyla und Altay ein. Was Letzteren durch­ aus eifersüchtig macht. Um Ordnung in ihren Gefühlshaushalt zu bringen, haut Leyla eines Tages nach Baku ab, wo sie dann eben im Gefängnis landet. Von da an müssen Altay und Jo­ noun an einem Strang ziehen und fliegen gemeinsam in Leylas – und Grjasnowas – Geburtsstadt. Hier kann die Autorin ihr Wissen über Geschichte, Politik und Ge­ genwart ihrer Heimat sehr schön ausspie­ len, auch wenn weniger Information mit­ unter etwas mehr gewesen wäre. In Baku wird es noch komplizierter. Während er auf die Freilassung seiner Frau wartet, beginnt Altay eine Affäre mit Farid, dem unehelichen Sohn des Oppositionsfüh­ rers (wobei Opposition relativ ist, die Par­ tei wurde längst von der Regierung gekauft). Leyla wiederum fährt kurz nach ihrer Ent­ lassung mit Jonoun davon – durch Aser­ baidschan, Georgien und Armenien, über­ all dorthin, wo sie Familie hat. Dass das Geschehen ganz am Schluss dann

Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe. Hanser, 267 S., € 20,50

doch wieder auf eine konventionelle Zwei­ erbeziehung hinausläuft, mag verwundern und angesichts des zuvor Gelesenen sogar wie ein Rückschritt wirken. Es lässt sich aber nicht sagen, ob die finale Wendung ein Happy End sein soll – oder aber eine böse Schlusspointe. An dieser Stelle sei nur so viel ­verraten: Jonoun ist raus, Leyla und Altay fliegen ohne sie zurück nach Berlin. Und: Man würde sich eine Fortsetzung wünschen, denn der Roman bricht an ­einem Punkt ab, an dem es besonders interessant wird. Olga Grjasnowa nimmt die hohe Hürde des zweiten Romans nach einem glänzen­ den Erstling mit „Die juristische Unschär­ fe einer Ehe“ souverän. Sie hat etwas zu er­ zählen, eine gute Beobachtungsgabe, die sie mal liebevoll, dann wieder bitterböse einzu­ setzen weiß, stilistisch was auf dem Kasten und kann sogar Sexszenen. Echt jetzt: Was will man mehr? SEBASTIAN FASTHUBER

Illustr ation: peter diamond

D

er neuesten deutschen Literatur, im Besonderen der in den ­letzten Jah­ ren sehr präsenten „Instituts­prosa“ von Absolventen des Leipziger Literaturins­ tituts und ähnlicher Einrichtungen, wird von der Kritik oft mangelnde ­Welthaltigkeit vorgeworfen. Nach dem Motto: Warum sch­ reiben junge Menschen Romane, die noch nichts erlebt haben? Die eigentlich gar nicht wissen, worüber sie schreiben sollen? Auf die Leipzig-Absolventin Olga Grjas­ nowa treffen diese Vorwürfe jedenfalls nicht zu. Im zweiten Roman der deutsch-aserbai­ dschanischen Schriftstellerin, die vor zwei Jahren mit „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ so brillant wie erfolgreich debütierte, spielt sich derart viel ab, dass die 30-Jähri­ ge gleich noch zwei, drei Bücher von Kol­ leginnen und Kollegen locker mit Einfällen mitversorgen könnte. Schon der Prolog haut ordentlich rein. Von illegalen Autorennen in Baku ist da die Rede: Gelangweilte Sprösslinge reicher Fa­ milien kurven mit Höchstgeschwindigkeit in aufgemotzten alten Sowjetautos durch die Stadt, um sich irgendwie zu spüren. Mehr noch als sich selbst gefährden sie Passanten, was ihnen jedoch egal zu sein scheint – schlimmer sogar: „Nicht selten ka­ men dabei Fußgänger ums Leben, was den Charme des Ganzen natürlich erhöhte.“


gemeinsam die zunächst zweisprachige EditionZwei ins Leben gerufen. Ziel dieser literarischen Reihe war und ist es, das umfangreiche literarische Schaffen in der Region Ost- und Zentraleuropa sowie Südosteuropa einem deutschsprachigen l i t e r a t u r    F A L T E R   4 1 / 1 4   23 Lesepublikum zugänglich zu machen.

Voyeurismus auf Museumsdächern © Gerhard Maurer/dermaurer/Wieser Verlag 2014

Der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint fügt seiner großen „Marie“-Trilogie einen vierten Band hinzu

D

as mit Marie sei jetzt auch mal gut, dem Ärmel schüttelt, sondern bei einem zum Winter und Frühjahr in Japan und zum dachte man. Aber nein. Da ist sie derart handlungsarmen Buch an GrausamSommer auf Elba. Der Autor weiß eben, wieder: anspruchsvoll, impulsiv und keit grenzen, hier weitere Details auch nur was sich im letzten Band einer Romanreihe gehört. Marie, so gut wie immer abwe„ozeanisch“, wie der Erzähler, ihr ehemali- anzudeuten. send, ist dabei die Matrix, vor der sich all ger Lebensgefährte und penibler Dauerbe„Details“ ist das Stichwort. An einer obachter, sie gerne nennt. Stelle, im Zusammenhang mit Maries grendas abspielt, der transparente Himmel, der In seinem mittlerweile vierten Buch, zenlosem Perfektionismus, der sie Kleiewige Bezugsrahmen des Protagonisten, der „Nackt“, das die unmögliche Liebe des na- der wieder und wieder umnähen lässt, ernur als Betrachter seiner eigenwilligen Onmenlosen Protagonisten zu der Modedesig- wähnt der Protagonist die „Details der Deoff-Geliebten voll und ganz zum Leben zu erwachen scheint. nerin Marie Madeleine Marguerite de Mon- tails“: Nanodetails gewissermaßen, so win- „Natürlich weiß man Logischerweise geht es in „Nackt“ destalte – oder besser: die unmögliche Tren- zig, dass sie sich dem Blick fast vollständig als Leser jederzeit, nung – auffächert, setzt Jean-Philippe Tous- entziehen und doch wesentlich die Eleganz, dass er nicht von ihr halb viel um Wahrnehmung, um konserBuchschuber 2222 Seiten, wtb 005–013, jeder Band im Schuber ist auch einzeln loskommen wird“ lieferbar saint dort an, wo er mit „Die Wahrheit über die Tadellosigkeit der Gesamtkomposition vierte Bilder und Szenen als emotional aufMarie“ aufgehört hat. Damals hielt man das mitbestimmen.EUR 75,00 · ISBN 978-3-99029-116-0 geladene Erinnerungsfragmente, um überRomanprojekt noch für dreibändig und daNach diesem Prinzip verfährt auch Jeanpräzise Beobachtungen, die direkt in die Pamit abgeschlossen. Nun also Band vier der Philippe Toussaint. Er versteht sich meisranoia führen. Der eigene Körper wird zur „Marie“-Trilogie. Zielscheibe und der fremde Blick zur Wafterhaft auf die Details der Details. Sein Stil ist wohl der subtilste und exquisiteste, den fe. In diesen Momenten, wenn er vor WachDie kurze Liebesrenaissance auf Elba ist vor- man in der zeitgenössischen Literatur nur leuten flieht oder in einer Mischung aus Vobei, aber so was von vorbei: Es ist Herbst finden kann. Und das wäre nicht einmal yeurismus und Panik auf teilverglasten Muund der Erzähler zurück im kalten, nas- halb so viel wert, wenn er nicht auch zu seumsdächern kauert, erinnert der Protagosen, grauen Paris, genauso wie Marie, auf den komischsten Autoren gehörte. Über die nist sehr an die schlaffen Helden früherer, deren Anruf er zwei Monate lang vergeb- Jahre hat er seine Ironie solchermaßen verexperimentellerer Toussaint-Romane. lich wartet. Diese Zeit scheint er haupt- feinert, dass mittlerweile eine kleine Dosis, sächlich am Fenster stehend zu verbringen, ein Tröpfchen hie und da genügt, um klarAuch unter diesem Aspekt ist „Nackt“ ein Zirkelschluss. Während man als was einen bei einem Toussaint-Protagonis- zustellen, wer der coolste Hund in der Stadt ten nun wirklich nicht verwundern sollte. ist. Man darf sich da wirklich nicht vom „Badezimmer“-Aficionado noch mit langen Die Hauptfigur seines Debüts „Das Bade- Autorenfoto in die Irre führen lassen. Zähnen am Elegischen der ersten „Marie“zimmer“ verlegt ihren Lebensmittelpunkt Bände kaute, hat man mittlerweile seinen Frieden mit diesem tragironischen Liebesschließlich exklusiv in eine Badewanne. Ebenso entscheidend wie die nackte HandEs passiert nicht besonders viel in lung ist – wie in eigentlich allen Bänden paar gemacht, und es ist noch nicht ganz „Nackt“. Irgendwann gegen Ende Oktober des „Marie“-Zyklus – das innere Gescheentschieden, ob es, wie man sich gerne einruft Marie dann doch noch an, und der Pro- hen des Protagonisten, seine auf- und abredet, an der zunehmenden Wiederannähetagonist kehrt mit ihr nach Elba zurück. wogende Liebe zu Marie, auch dies allerrung Toussaints an selige „Badezimmer“Die Insel hat allerdings keinerlei Ähnlich- dings aufs Elementarste reduziert, beinaZeiten liegt oder man selbst doch einkeit mehr mit der duftenden, sommerlichen he schon formalisiert. Natürlich weiß man fach nur alt und sentimental geworden ist. Wahrscheinlich beides. Version ihrer selbst. Während Elba im vo- als Leser jederzeit, dass er nicht von ihr rigen Buch noch von Waldbränden heim- loskommen wird, allen halbherzigen Lip„Nackt“ ist jedenfalls ein ganz und gar großartiges Buch und ein würdigesucht wurde, ist nun eine Schokoladen- penbekenntnissen zum Trotz. Und er selbst fabrik abgebrannt, und der Gestank beglei- weiß es auch. ger Abschluss der ganz und gar großartitet das Ex-Liebespaar gemeinsam mit düsEr lässt, vermutlich zwei Monate lang gen „Marie“-Serie, die nicht zuletzt auch ter schwellenden Regenwolken auf Schritt stocksteif am Fenster seines Pariser Appar- Jean-Philippe eine für eine epische Trennungsgeschichte KulturKontakt Austria, der Wieser Pointe Verlag und die Bank Austria und Tritt. tements stehend, die Vergangenheit Revue Toussaint: Nackt.Im Jahr 2001 haben reichlich verblüffende bietet. Obwohl gemeinsam die zunächst zweisprachige EditionZwei ins Leben gerufen. Darüber hinaus gibt es noch eine Be- passieren, und das bedeutet in diesem Fall: Deutsch von Jean-Philippe über Pointen natürZiel dieser literarischen Reihe war und ist Toussaint es, das umfangreiche literarische Schaffen und Zentraleuropa sowie Südosteuropa einem auch deutschsprachigen erdigung, eine Verhaftung und eine über- Er kehrt in der Erinnerung zu allen Episo- Joachim Unseld. in der Region Ost-lich längst hinaus ist und aus dieser Lesepublikum zugänglich zu machen. mutwillig gleich alle Luft lässt. Und jetzt, raschende Neuigkeit. Aber es würde nicht den und Schauplätzen zurück, die ihn mit Frankfurter jetzt ist es wirklich mal gut mit Marie. nur der großen Lakonie zuwiderlaufen, Marie verbinden und die Toussaint in sei- Verlagsanstalt, mit der Toussaint diese Begebenheiten aus nen drei vorigen Büchern beschrieben hat, 160 S., € 20,50 TABEA SOERGEL

Das Eintauchen in diese Welt ist wie eine Reise an entlegene Orte, in Zeiten, die unvorstellbar sind. Ihre gewaltige sprachliche Kraft verzaubert, ja verstört uns. Wir kommen durch sie an historische Plätze, die wir vielleicht schon kennen – wie Prag zum Beispiel, und wir folgen von da aus Heilern bis nach Sibirien, mit dem Gedanken an Gulag und Verbannung im Kopf. Bekannte Orte, die doch in der Schilderung neu zu definieren und neu zu finden sind. György Dalos

Das Eintauchen in diese Welt ist wie eine Reise an entlegene Orte, in Zeiten, die unvorstellbar sind. Ihre gewaltige sprachliche Kraft verzaubert, ja verstört uns. Wir kommen durch sie an historische Plätze, die wir vielleicht schon kennen – wie Prag zum Beispiel, und wir folgen von da aus Heilern bis nach Sibirien, mit dem Gedanken an Gulag und Verbannung im Kopf. Bekannte Orte, die doch in der Schilderung neu zu definiere und neu zu finden sind György Dalos

© Gerhard Maurer/dermaurer/Wieser Verlag 2014

Ein europäisches Karussell

© Gerhard Maurer/dermaurer/Wieser Verlag 2014

Ein europäisches Karussell

Buchschuber 2222 Seiten, wtb 005–013, jeder Band im Schuber ist auch einzeln lieferbar EUR 75,00 · ISBN 978-3-99029-116-0

Buchschuber 2222 Seiten, wtb 005–013, jeder Band im Schuber ist auch einzeln lieferbar EUR 75,00 · ISBN 978-3-99029-116-0


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liter atur

Kruso und Ed auf dem sinkenden Kahn Ein Nichtort: Der deutsche Autor Lutz Seiler erzählt in dem Roman „Kruso“ von DDR-Flüchtlingen auf der Insel Hiddensee iddensee war zu DDR-Zeiten ein fast unerreichbarer Ort: ein bisschen im H Schatten der Wahrnehmung, eine Rettungsboje auf offener See, in Sichtweite zu einer anderen Welt. Aussteiger machten sich dorthin auf, von den Grenzposten zwar strengstens beäugt, aber doch geduldet an einem seltsamen Nichtort. Die Insel schien schon nicht mehr innerhalb des Territoriums des Landes zu liegen. Nur wenige Kilometer sind es von Hiddensee nach Dänemark; für einen guten Schwimmer machbar, zumindest keine Unmöglichkeit. „Wer hier war“, heißt es in Lutz Seilers Roman „Kruso“, „hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.“ Das trifft ganz gut, was die Hauptfigur im ersten Roman des Lyrikers und Erzählers Lutz Seiler vorhat. Edgar, genannt Ed, flüchtet vor seinen Erinnerungen und der Trauer über den Tod seiner Freundin. Er bricht radikal mit der Vergangenheit, um sie gegen eine ungewisse Zukunft einzutauschen – und ihr gleichwohl in transformierter, verzerrter Form wiederzubegegnen. Er gelangt zum „Vorhof des Verschwindens“ und heuert auf einem Schiff an, von dem er noch nicht ahnt, dass es schon in Schieflage geraten ist in diesem Sommer des Jahres 1989. Diese Barkasse ist in Wahrheit eine Gaststätte: der „Klausner“. Die Besatzungsmitglieder sind Flüchtende und flüchtige Wesen, Dichter und Intellektuelle wie Ed selbst.

Kruso, der Namensgeber und das Kraftzentrum dieses Romans, heißt eigentlich Alexander Krusowitsch. Kruso aber passt viel besser zu diesem Robinson. Ed wird in den folgenden Wochen zu seinem Freitag, die beiden zu einer Schicksalsgemeinschaft auf dem sinkenden Kahn, in dessen Eingeweiden sie wie Galeerensklaven schuften.

„Wirklichkeit, Fiebertraum und magische Motive vermischen sich auf fulminante Weise“

Kruso ist nicht nur Lehrmeister, er ist der große

Zampano, ein geistiger Führer, Sektenguru. Er gibt die Richtlinien vor für die SKs (Saisonkräfte) und organisiert das Verschwinden der stetig auftauchenden „Schiffbrüchigen“ aus dem Inneren des Landes. Kruso predigt eine synkretistische Freiheitsphilosophie, ist ein Utopist, der Thomas Morus ebenso zitiert wie er mit esoterischen Beschwörungen seine „Kruso-Energie“ auf die angeschwemmten Genossen überträgt. Edgar durchläuft eine Verwandlung: Die Abwaschbecken im Klausner sind große Taufbecken, jeder Arbeitsgang wird zum Ritus. Gedichte werden rezitiert wie Zauberformeln. Lutz Seiler beschreibt die Arbeit unter Deck mit einer körperlichen, zuweilen Ekelgefühle erzeugenden Sprache, die an die wortmächtige Prosa Wolfgang Hilbigs erinnert. Er erschafft eine merkwürdig verschleierte Unterwelt, deren Verbindungslinien zur Wirklichkeit des Jahres 1989 zunächst weniger offen liegen als die Stränge ins Verstohlene, Magische, Unfassbare. Lutz Seiler: Kruso. Diese Atmosphäre bildet den Keim für eine Suhrkamp, 483 S., Verwandlung von Seilers Alter Ego Ed, für € 23,60

eine Wiedergeburt an einem biografischen und historischen Scheidepunkt. Derweil sendet das Radiogerät fast unbemerkt das politische Hintergrundrauschen, erzählt von den durchlässig gewordenen Grenzen in Ungarn, von einer beispiellosen Fluchtbewegung, die kein Grenzzaun mehr eindämmen kann. Auch die Insel verändert und leert sich, die Besatzung des Klausners verlässt das untergehende Schiff, bis nur noch Kruso und Ed übrig sind. Geisterhaft, fiebrig, irre gestalten sich diese Wochen auf der Insel, die letzten Tage der DDR, vielleicht die Initiation Eds zum Dichter. Die Sprache trägt diese Erfahrungen. So wie Hiddensee nicht innerhalb oder außerhalb, sondern mehr auf der Grenze eines Territoriums zu liegen scheint, so rückt auch Lutz Seiler mit seiner Literatur direkt auf diese Linie zu. Wirklichkeit, Fiebertraum und magische Motive vermischen sich auf fulminante Weise. Die ganz konkrete geschichtliche Folie, auf der „Kruso“ spielt, zeichnet Seiler in einem bewegenden Epilog: In dieser Reportage schildert er seine Suche nach jenen „Republikflüchtlingen“, die von Hiddensee aus über die Ostsee ihren Weg in die Freiheit gesucht haben – und als Leichen an die Küste Dänemarks geschwemmt wurden. Viele sind bis heute nicht identifiziert worden. Seit der Wende gab es erstaunlicherweise keine ernsthaften Versuche, Klarheit über das Schicksal der Toten zu gewinnen. ULRICH RÜDENAUER

Die Sache mit Mister Pfister In „Aller Liebe Anfang“ berichtet die große deutsche Erzählerin Judith Hermann von seltsamen Spielformen der Liebe päter wird Stella nicht sagen können, S was sie davon abgehalten hat, die Tür aufzumachen und dem Mann das Garten-

tor zu öffnen. Sie wird nicht genau wissen, warum sie auf seine durch die Sprechanlage gestellte Frage, ob sie Zeit habe, sich mit ihm zu unterhalten, gleich beim allerersten Mal laut und deutlich Nein gesagt hat. Ein bisschen ist es vielleicht so, „als würde ihr Herz etwas begreifen, das Stella noch nicht begriffen hat“. Er kommt wieder, klingelt wieder, wartet, legt Nachrichten, Briefe und kleine Dinge in Stellas Briefkasten ab. Ab und zu bleibt der Mann, er heißt Mister Pfister, einen Tag aus. Es ist ein Wechselbad, das die Spannung langsam steigert. Als Stella Mister Pfisters ersten Brief findet, ist da noch „ein leises Erstaunen, die Erinnerung daran, wie es einmal gewesen ist, verlockt zu werden“, aber kaum zwei Tage später ist dieses Gefühl zur Gänze verschwunden. Diesem Anfang wohnt schnell kein Zauber

mehr inne. Was Stella zustößt und auch andere aus eigenem Erleben kennen, wird in dem Buch erst sehr viel später benannt. Da sagt Stellas kleine Tochter Ava, die es doch eigentlich gar nicht wissen sollte und doch mitbekommen hat: „Wir haben einen Stalker.“ Judith Hermanns Roman „Aller Liebe Anfang“ beginnt aber mit einer anderen Eröffnungsszene, nämlich der, in der Stella ihren Mann Jason kennenlernt. „Das Schick-

sal, wer auch immer, setzt Stella neben Jason, Reihe 18, Sitz A und C, Stella wird die Bordkarte jahrelang aufheben“: Mit glühenden Wangen und einer „erschreckenden Distanzlosigkeit“ ist es in dieser Situation Stella, die die Initiative ergreift. Judith Hermann lässt sie forsch den ersten Schritt auf noch unbekanntes Liebesterrain tun. Es ist ein früher Hinweis darauf, worum es in dem ersten Roman geht, den Judith Hermann geschrieben hat: um Varianten von Spieleröffnungen in Liebesdingen. Die einen scheitern, die anderen gelingen, die dritten bleiben in der Schwebe. Was aber immer bleibt, ist eine diffuse Sehnsucht. Auch davon erzählt dieses Buch. Judith Hermann hat ihren Roman den Spielarten der Liebe gewidmet. Auch Mister Pfisters Nachstellungen nimmt ihre Heldin lange, sicher zu lange, vor allem als ins Abgründige gewendete Variation der Liebe wahr. Stella wehrt sich zu spät, weil sie versteht, dass die Stella, die Mister Pfister in seinem Zwang meint, nichts mit ihr zu tun hat, und deshalb glaubt, die Sache würde an ihr, der echten Stella, ohne Spuren vorübergehen. „Aller Liebe Anfang“ ist Hermanns erster Roman nach drei Erzählbänden. Der Erfolg für ihren Erstling „Sommerhaus, später“ kam im Jahr 1998 so überfallsartig, dass die Berlinerin sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, eine Hochstaplerin zu sein. So sagte sie es einmal in einem Interview. Hermann galt praktisch über Nacht

„Was aber immer bleibt, ist eine diffuse Sehnsucht“

als die eindrucksvollste neue Stimme der deutschsprachigen Literatur. Das hatte gewiss auch mit dem Foto der damals 28-Jährigen auf dem Buchcover zu tun: eine altmodische Erscheinung mit hoher Stirn, mandelförmigen Augen mit schweren Lidern, einer langen, gebogenen Nase und einem markant geschwungenen Mund. Alle fanden sie toll – ihr Aussehen, die leise Melancholie ihrer Geschichten, den schlafwandlerisch sicheren Ton ihres doppelbödigen Erzählens. Judith Hermann, inzwischen 44, beschreibt All-

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. S. Fischer, 219 S., € 20,60

täglichkeiten, die aufs Existenzielle abzielen. Daran hat sich nichts geändert. Auch ihr erster Roman liest sich wie eine lange Erzählung oder Novelle. Nur vermeintlich steht das dramatische Geschehen des Verfolgtwerdens im Vordergrund. Tatsächlich gibt Hermann Stellas Gedanken und der Art, wie sie ihren Alltag abwickelt, viel mehr Gewicht: ihrer Arbeit als Krankenpflegerin, ihrem Umgang mit ihrer Tochter Ava, ihren Gesprächen mit ihrem Mann Jason, der seiner Arbeit wegen oft nicht da ist. Stella sehnt sich aus der Mitte eines eigentlich zufriedenen Lebens nach Veränderung und hat deswegen ein schlechtes Gewissen. Erst als der Stalker-Albtraum Veränderungen erzwingt, versteht sie, was zugleich auch die Moral von Judith Hermanns schönem Buch ist: „Veränderung ist kein Verrat. Und wenn doch, dann wird er nicht bestraft.“ JULIA KOSPACH


l i t e r a t u r

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Ein Niemand will sich neu erfinden In „Unsere Namen“, dem Roman des US-Äthiopiers Dinaw Mengestu, ringt ein Mann um seine Identität

A

ls er in seinem äthiopischen Dorf aufbricht, um sein Glück anderswo zu suchen, da hat er 13 Namen – mehr als jeder andere Dorfbewohner: „Jeder Name stammte von einer anderen Generation meiner Familie. Und alle waren der Meinung, dass meine Familie sich glücklich schätzen durfte, eine so lange Geschichte vorweisen zu können.“ Doch als er die Grenze nach Uganda überschreitet, legt er alle seine Namen ab: „Als ich in Kampala ankam, war ich ein Niemand. Und genau das wollte ich auch sein.“ Es ist ein Akt der Befreiung. Mit den Namen schüttelt der junge Mann auch die Bürde von zwölf Generationen Familiengeschichte ab: Als ein Niemand kann er sich in Uganda neu erfinden und, so hofft er, Teil des panafrikanischen Traums werden, der nach dem Ende des Kolonialismus auch an der Universität von Kampala geträumt wurde, als dieses sozialistische Reformprojekt den ganzen Kontinent begeisterte und junge Leute von überallher anzog.

Der schüchterne Bücherwurm aus Äthiopien, dem eine Schriftstellerkarriere vorschwebt, kommt leider zu spät. In Uganda hat sich inzwischen Idi Amin an die Macht geputscht. Jetzt geht es nicht mehr um utopische Befreiungsideen, jetzt geht es um Bürgerkrieg, ethnischen Massenmord und blutiges Gemetzel. Auf dem Campus der Universität werden dem namenlosen Niemand eine Reihe von Spitznamen verpasst – bis ihm sein einziger ugandischer Freund in der Stunde der größten Gefahr seinen eigenen Namen – Isaac – schenkt und ihm damit das Leben rettet. Mit dem Pass und dem amerikanischen Studentenvisum des Freundes kann sich der Äthiopier aus den ugandischen Wirren in die USA retten, in die kleine College-Stadt Laurel im tiefen Mittelwesten. Unter dem falschen Namen richtet er sich in einem prekären Exil ein, während sich der echte Isaac in Uganda tief in die Rebellion gegen den Diktator Idi Amin verstrickt.

„Unsere Namen“ ist der dritte Roman von Dinaw Mengestu, einem US-Autor äthiopischer Herkunft, und sein erster, der mindestens teilweise in Afrika spielt, in den 1970er-Jahren, dem schmalen Zeitfenster der afrikanischen Reformträume, ehe die neu errungene Unabhängigkeit an den Gräueltaten diverser Putsch-Diktatoren zuschanden ging. In den Vorgängerromanen „Zum Wiedersehen der Sterne“ (2009) und „Die Melodie der Luft“ (2010) hatte Mengestu, der 1980 als Zweijähriger mit seinen Eltern aus Addis Abeba in die USA emigrierte, die afrikanische Diaspora in Amerika zu seinem großen Thema gemacht. Es waren abgründige Migrationsgeschichten. Mengestu erzählte von den Absurditäten und Melancholien der mobilen Moderne im Transit zwischen Afrika und dem Westen, voll Schwermut und Hellsicht und mit einem akuten Sinn für alles Widersinnige. Seine Helden waren afrikanische Einwanderer in den USA, die zwischen Herkunfts- und Ankunftsland in der Luft hingen und mit ihren fließenden Identitäten nicht zurechtkamen. Wie sollten sie lieben, wie sollte man sie lieben können, wenn sie selbst nicht recht wussten, wer sie sind? Auch der falsche Isaac ringt um seine Identität, die hinter wechselnden Namen und Zuschreibungen zu verfließen droht. Ist am Ende das, was die anderen jeweils in ihm sehen, seine Identität? In Uganda war er erst ein dahergelaufener Nobody, ohne den Schutz eines Clans und ohne Stammeszugehörigkeit, und dann, im Bürgerkrieg zwischen dem Regime und den Rebellenmilizen, ein verdächtiges Subjekt von auswärts. In der amerikanischen Provinz wird er gleichfalls misstrauisch beäugt, als ein Ausländer von dunkler Herkunft, und nicht einmal Afroamerikaner. Für Helen, eine junge Sozialarbeiterin, die ihn unter ihre Fittiche nimmt und sich in ihn verliebt, ist er ein unzugänglicher Fremdling, der um seine Herkunft und Geschichte ein Geheimnis macht, von seiner Vergangenheit nichts preisgibt und

sich jeder liebenden Annäherung entzieht. Der Namenlose mit den vielen ihm zugeschriebenen Fremdbildern ringt um eine neue kulturelle Identität und muss sich zugleich der Dämonen seiner Vergangenheit und der Erinnerung an die ugandischen Massaker erwehren. Das zu begreifen, lernt Helen erst allmählich. „Ist am Ende das, was die anderen jeweils in ihm sehen, seine Identität?“

Dinaw Mengestu: Unsere Namen. Aus dem Amerikanischen von Verena Kilchling. Kein & Aber, 335 S., € 23,50

Ein kluges, schönes, vielfältiges, buntes österreichisches Buch mit Originalbeiträgen von:

„Unsere Namen“ hat zwei Erzählstränge, die

sich kapitelweise abwechseln, zwei Erzähler und zwei Schauplätze. In den Amerika-Kapiteln erzählt Helen ihre schwierige heimliche Liebesgeschichte mit dem falschen Isaac, die zusätzlich dadurch erschwert wird, dass der Rassismus in der amerikanischen Provinz die offen gelebte Beziehung zwischen einer Weißen und einem Dunkelhäutigen in den 1970er-Jahren noch nicht duldete. In den Uganda-Kapiteln erzählt der Namenlose aus Äthiopien die Geschichte seiner schwierigen Freundschaft mit dem echten Isaac. Mit dieser Romangestalt ist Dinaw Mengestu ein faszinierendes Porträt gelungen. Dieser Isaac ist ein revolutionär entzündeter Streuner aus einem der Elendsviertel von Kampala, ein Lügner und Hochstapler, der sich auf den Uni-Campus schwindelt, ohne Student zu sein, sich dort aber binnen kürzester Zeit das Charisma eines flammenden Aufrührers erwirbt, hauptsächlich durch aktionistische Performances, die ihn als originellen rebellischen Kopf ausweisen. Aus dem spielerischen Witz seiner frechen Campus-Aktionen wird blutiger Ernst, als Isaac in den Bannkreis der Milizen driftet, die sich gegen Amins Schreckensherrschaft formieren. Bald zeigt sich, dass die Rebellenmilizen dem Regime an Gewalttätigkeit nicht nachstehen. Für Isaac ist es da für eine Flucht zu spät. Er ist bereits zu tief in Gräueltaten verwickelt. Dass er dem Namenlosen seine Identität schenkt, statt selbst auszureisen, ist sein größtes Freundschaftsopfer. Der falsche Isaac wird sich lange damit quälen, es angenommen zu haben. SIGRID LÖFFLER

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Friedrich Achleitner—Austrofred— C. W. Bauer—Xaver Bayer—Günter Brus—Ann Cotten—Péter Esterházy—Olga Flor—Barbara Frischmuth—Karl-Markus Gauß—Andrea Grill—Sabine Gruber—Peter Handke—Peter Henisch—Elfriede Jelinek—Alfred Komarek— Michael Krüger—Friederike Mayröcker— Hanno Millesi—Lydia Mischkulnig—Kurt Palm—Teresa Präauer—Thomas Raab— Angelika Reitzer—Verena Roßbacher— Gerhard Rühm—David Schalko—Evelyn Schlag—Robert Seethaler—Clemens J. Setz— Michael Stavaricˇ—Dirk Stermann—Anna Weidenholzer und vielen mehr

160 Seiten, 74 Farbfotos von Anton Kiefer, € 36,–

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„Sehr geehrter Tiefkühlerbsen-Produzent“ In ihren „Stories“ erweist sich Lydia Davis einmal mehr als Meisterin nachhaltiger und saukomischer Verstörung s gibt eigentlich keine Anlässe, die zu banal wären, als dass Lydia Davis darE aus nicht Literatur machen würde: Kreuz-

worträtsel lösende Sitznachbarinnen im Flugzeug sind ihr ebenso recht wie Hundehaare in den Kleidern oder die Kondenswassertröpfchen auf einem Teller, der über dem Topf mit der Polenta liegt. Tiere sind ein bevorzugtes Thema, Fischverzehr ist eine interessante Subvariante. Das keine vier Zeilen umfassende „Alte Frau, alter Fisch“ handelt davon, wie die eine den anderen verdaut; „Alleine Fisch essen“ bringt es immerhin auf fast sieben Seiten und geht die Sache sehr systematisch von ihrer – wie soll man sagen? – sozialpsychoökologischen Seite an.

Nachhaltige und ethische Ernährung zählt bekanntlich zu den Obsessionen der gebildeten Mittelschicht. Die Ich-Erzählerin besagter Geschichte isst auswärts „für gewöhnlich Fisch“, hat aber immer auch einen kleinen Folder der Audubon Society einstecken, der ihr verrät, welchen man überhaupt essen soll. Bei Lachs ist es einfach – kein Zuchtlachs, Wildlachs nur aus Alaska –, bei anderen Arten wird’s komplizierter: „Der Heilbutt aus dem Pazifik ist gut, der aus dem Atlantik nicht. Obwohl ich an der Atlantikküste lebe, beziehungsweise in Küstennähe, fragte ich (…), woher der Heilbutt komme, so als hätte ich vergessen, wie groß die Entfernung zum Pazifik war, oder als wür-

de der Heilbutt bloß aus gesundheitlichen Gründen oder wegen guter Fangpraktiken den ganzen Weg von der pazifischen Küste zum Atlantik transportiert.“ Während das Servierpersonal sichtlich Dringlicheres zu tun hat, als sich um Geburtsurkunden für Heilbuttfilets zu kümmern, entscheidet sich die Erzählerin für Jakobsmuscheln, die laut Audubon Society freilich „mit Vorsicht“ zu genießen seien, wobei sich natürlich die Frage stellt, „was Vorsicht im Kontext eines Restaurants bedeuten sollte (…). Sicherlich würden weder die Kellnerin noch der Küchenchef, wenn Jakobsmuscheln auf der Speisekarte standen, erklären, diese seien vom Aussterben bedroht oder nicht in Ordnung, und mir abraten, welche zu essen.“ In ihren „Stories“ legt die 67-jährige Lydia Davis, die lange Zeit als „writer’s writer“ galt, bis sie im Vorjahr den Man Booker International Prize gewann, eine sanfte, aber unbeugsame Systematik an den Tag. Das kann verstörend und berührend sein wie die mit Abstand längste Geschichte „Die Seehunde“, in der die Ich-Erzählerin zu ergründen sucht, wie sie eigentlich zu ihrer früh verstorbenen Schwester stand; das kann aber auch sehr komisch sein wie im Falle eines Briefes, der mit der vielversprechenden Anrede „Sehr geehrter Tiefkühlerbsen-Produzent“ beginnt. Anlass dieser schriftlichen Intervention ist freilich nicht die Kritik am Inhalt, sondern überraschenderweise der Umstand,

„Tiere sind ein bevorzugtes Thema, Fischverzehr ist eine interessante Subvariante“

Lydia Davis: Kanns nicht und wills nicht. Stories. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Droschl, 304 S., € 23,–

„dass die auf Ihrer Packung Tiefkühlerbsen abgebildeten Erbsen farblich höchst unattraktiv sind. (…) Mit ihrem stumpfen GelbGrün haben die Erbsen eher die Farbe von Erbsensuppe als die von frischen Erbsen und entsprechen farblich so gar nicht den Erbsen ihrer Packung, deren Färbung von einem frischen Dunkelgrün ist.“ Im November 2011 hatte Lydia Davis eine Le-

sung in Wien, und vermutlich war es „in jenem Herbst“, dass ihr „ein sehr freundlicher Mann“ eine Schachtel mit Pralinen geschenkt hat; und zwar nicht irgendeine, sondern ein zweilagiges Liliputkonfektkistchen von Altmann & Kühne, denn „der Deckel war beinahe so schön wie die Pralinen. Er war grün und dicht an dicht mit mittelalterlichen Figuren und Gebäuden in Orange, Gelb, Schwarz, Weiß und Gold geschmückt. Auf kleinen weißen Fähnchen standen offensichtlich in schwarzen Buchstaben und deutscher Frakturschrift Sprichwörter – kurze gereimte Spruchweisheiten.“ Man sieht: Lydia Davis ist genau bis zur Pedanterie, die ihr zart zwangsneurotisches Potenzial dort so richtig entfaltet, wo es um die rechte Weise des Verzehrs der 32 Confiseriekunstkleinode geht. Hätte der sehr freundliche Mann damals geahnt, welchen Stress er Lydia Davis verursacht, er hätte am Graben kehrtgemacht, um ihr 240 Meter weiter im Manner Shop am Stephansplatz einen Sack Schnittenbruch zu besorgen. K L AUS NÜCHTERN

Späte Sucht nach fremden Körpern Natascha Wodin erzählt in „Alter, fremdes Land“ von einer Frau, die sich weigert, mit ihrem Körper mitzualtern ie Zeit hat „in ihr einen Sprung geD macht“, stellt die 63-jährige Lea eines Tages fest. Ihr Körper und ihre Seele haben

angefangen, „getrennte Wege zu gehen“, die äußere und die innere Wirklichkeit wollen nicht mehr zusammenpassen. Lea, die sich stets mit der lateinischen Bedeutung ihres Namens „die Löwin“ identifiziert hat, fühlt sich nun der hebräischen um vieles näher: Le’ah, „die Ermüdete“. Lea zieht ebenso erstaunte wie banale Bilanz: Auch sie ist wie alle Lebewesen schon „als Sterbewesen geboren“. Und wie das so geht: „Fast alles, was bisher beiläufig und fast wie von selbst gegangen war, forderte jetzt zwar keine große, aber doch fühlbare Kraftanstrengung (…).“ Die Tasche mit den Einkäufen wiegt jetzt schwerer, der Weg zum Einkaufen ist weiter, die Treppe zur Wohnung höher, und der Tankwart nennt sie plötzlich „Muttchen“.

Lachhaft eigentlich, denn es ist nichts Dramatisches passiert. Doch eines Tages, viel zu früh, war die Veränderung unübersehbar: „Sie war noch gar nicht dazu gekommen, sich zu orientieren, zu begreifen, wo sie überhaupt war, sie fühlte sich noch am Anfang, und schon hatte das Ende ihr einen ersten Gongschlag gesandt.“ Lea ist die Heldin in Natascha Wodins neuem Roman „Alter, fremdes Land“. Das Buch will so gar nicht zu Wodins anderen passen, obwohl es um die zentralen Themen der großen deutschen Schriftstellerin

mit ukrainisch-russischen Wurzeln kreist: um Entfremdung und Ausgeschlossensein, um gebrochene Identität und unerfüllbare Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Die äußeren Orte haben bei Wodin oft keine Namen. Wie Orpheus in der Unterwelt wird bei ihr in – bisweilen fast fantastisch anmutenden – Zwischenwelten herumgeirrt. In „Alter, fremdes Land“ ist das anders. Wodins Hauptfigur Lea lebt in Berlin, in einer ausgewiesenen Hipster-Gegend, sie ist Schriftstellerin wie ihre Schöpferin, und sie beginnt, sich gegen das Altern zu sträuben.

„Nie hätte man erwartet, bei Wodin einmal Wörter wie ,fit‘ oder ,Walkingstöcke‘ zu lesen“

Nie hätte man erwartet, bei Wodin einmal

Wörter wie „fit“ oder „Walkingstöcke“ zu lesen. Schon macht sich leise Enttäuschung breit, während man sich einrichtet, als Zeugin dabei zu sein, wenn eine Frau all die sattsam beschriebenen Rituale des SichEinfindens in das und des Sich-Abfindens mit dem Älterwerden durchläuft: das Lamentieren und die Angst, die Verwunderung und das Erschrecken beim Blick in den Spiegel, das Hadern mit der modernen Medizin und die Bewertung des Bisherigen. Alles da. Alles wie gehabt? Nein, denn dieses Buch macht eine erstaunliche Volte. Lea will sich nämlich partout nicht ausmustern lassen. Vor allem will sie nicht auf ihre Existenz als sexuelles Wesen verzichten, auch wenn sie bemerkt, dass sie in Männern „keinerlei Neugier oder Spannung mehr“ hervorruft. Ab-

hilfe kommt von völlig unerwarteter Seite. In Leas analoges Dasein hält durch Zufall die Welt der virtuellen Kontaktaufnahme Einzug. Es haut einen ziemlich um, was Natascha Wodin nun aus ihrem Buch macht, weil es so mutig und wild ist. Völlig unsentimental setzt sich Lea einer wüsten, virtuellen Initiationsgeschichte aus. Ihr neuer Aufenthaltsort werden die Kontakt- und Sex-Chat­ rooms des Internets. Dort kann sie alles sein, was sie will. Dort lügt und verführt sie mit Worten, dort wird sie begehrt und tief verletzt. Und über diese Quelle speist sie bald auch ihr Begehren in der Wirklichkeit. Lea, deren letzte Beziehung mit einem Mann gut zehn Jahre zurückliegt, verfällt in eine Art reflektierten Taumel – Höhenflüge, neue Ängste und Demütigungen inklusive. Ebenso aber neue Lusterfahrungen. Sehenden Auges entfesselt Lea eine kleine,

Natascha Wodin: Alter, fremdes Land. Jung und Jung, 211 S., € 19,90

gierige Sucht nach fremden Körpern und neuen Ritualen und probiert Dinge aus, die die Welt vor ihrem Fenster für sie ganz klar nicht mehr vorgesehen hat. Wodin beschreibt das kühl und bebend. „Alter, fremdes Land“ ist kein Buch aus einem Guss und vielleicht nicht Wodins bestes, aber nirgendwo hätte man je zuvor so genau gelesen, was in Kopf, Herz und Körper passiert, wenn eine alternde Frau aus Lust und Eigensinn völliges erotisches Neuland betritt. JULIA KOSPACH


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Kompaktes Monumentalpanorama Mit dem Roman „Die Flügel“ beendet der Rumäne Mircea Cărtărescu seine überbordende Orbitor-Trilogie

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m etwaiger Kritik an Ungereimtheiten von vornherein zu begegnen, heißt es bei James Joyce einmal: „Do I contradict myself ? Very well then, I contradict myself!“ So zweifelhaft das Bonmot bezüglich literarischer Details sein mag, auf den zentralen Befund von Mircea Cărtărescus Roman „Die Flügel“ trifft es zu: „Mit apokalyptischem Krachen stürzte der Kommunismus in jener Nacht in Rumänien ein, verschwand schlicht und einfach spurlos, als hätte es ihn nie gegeben.“ Der fulminante Abschlussband der Orbitor-Trilogie ist alles andere als spurlos. Wer das Krachen der Apokalypse noch nicht in den Vorläuferbänden „Die Wissenden“ (2007) und „Der Körper“ (2011) vernommen hat, mag dies jetzt tun – im furiosen Finale eines insgesamt 1800 Seiten umfassenden literarischen Exzesses, der sich bei aller Überschreitung von Genregrenzen, überbordend in Figuren- und Handlungsgestaltung wie Stil, zu einem kompakten Monumentalpanorama Rumäniens im 20. Jahrhundert fügt. Der erste Band hob mit mythischen Bildern von

Aus dem Englischen von Bernhard Robben Deutsche Erstausgabe Hardcover mit Schutzumschlag 496 Seiten € 22,60 Auch als

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riesigen, im Eis der Donau eingefrorenen Schmetterlingen an. Der „Flügel“ (das rumänische Original macht ihn als „rechten Flügel“ eines Triptychons kenntlich) setzt zum Abschluss mit einer prägnanten Zeitangabe ein: „Es war im Jahre des Herrn 1989. Die Menschen hörten von Kriegen und von Aufständen, doch sie ängstigten sich nicht, denn das alles musste sich ereignen.“ Der Erzähler verweilt nicht lange bei trockenem Erdenschicksal; Noah und Nimrod folgen, sogleich der Untergang ganzer Geschlechter und die Entstehung neuer Sonnensysteme, um schließlich in die spätsozialistischen Plattenbauten Bukarests zurückzukehren. Die Stadt ist in Aufruhr – und was geschieht in der Welt? „Der Nasdaq-Index hat in jenen Tagen keinerlei ungewöhnliche Baisse verzeichnet.“ Äußerer Handlungsrahmen der 670 Seiten von „Die Flügel“ sind – sofern bei Mir-

Falter_Rachman_2014_10_08.indd 1

cea Cărtărescu von Handlung zu reden ist – die letzten Tage des Ceaușescu-Regimes rund um Weihnachten 1989. „Da ist was los in Timișoara“, murmelt die Mutter des Erzählers über den Beginn des Aufstandes im Banat, während sie versucht, aus dem „feuchten Häufchen leichenblasser Hähnchenfüße mit verkrümmten Krallen“ etwas Essbares herzustellen. Und über die endlos langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften: „Für diese reptilienartigen Schuppen schlagen sich die Leute tot!“

„Die letzten Tage des Ceaușescu-Regimes rund um Weihnachten 1989“

Mircea Cărtărescu geht es in solchen Szenen

weniger um die Kargheit des Sozialismus in Agonie als vielmehr um die Darstellung der Auswirkungen der Gewalt des Systems bis in dessen kleinste Bestandteile. Der ganze Plattenbau in der schon aus den früheren Büchern bekannten Ștefan-cel-MareChaussee samt Bewohnern wird in rasanten Erinnerungstaumel versetzt. Da sind die selbstgefertigten Lockenwickler der Mutter aus Zeitungspapier, die das kleine Kind Mircea faszinierten; dessen Angst, durch die Kloake des Badezimmers davongespült zu werden; noch ist die mütterliche Ermahnung an den Jugendlichen „Schreib was Schönes!“ nicht verklungen, ergeht sich der in einer Reminiszenz an Silvia, die Tochter von Marian, Verkäuferin in der nahen Konditorei. Eine Assoziationskette führt von ekligen, mit rosa und mattgrüner Creme überzogenen Kuchen zu einem ersten Höhepunkt kindlicher Lust: „Mit meiner Zungenspitze berührte ich ihren Ohrring mit roten Sternchen wie die Körner einer Himbeere (…) Ich lasse meine flache Hand in ihre gerippte Unterhose gleiten und spürte mit dem Finger die Feuchte.“ Während die Securitate in Timișoara Pogromstimmung schürt („Schmeißt die Zigeuner raus!“), haben Demonstrationen und Chaos auch die Hauptstadt Bukarest erfasst. Allein der Vater des Erzählers Costel konstatiert gelassen: „Nur keine Bange, Ceaușescu herrscht nicht mehr lange!“ Der

Vater gehört zu jenen sogenannten kleinen Leuten, die ursprünglich, gleich nach dem Krieg, den Kommunismus begrüßt hatten, geblieben ist allein der Befund: „Was die aus diesem Land gemacht haben, fressen nicht einmal die Schweine.“ An ihm, wie am Securitate-Obristen Ion Stanila, exemplifiziert Cărtărescu die Geschichte des rumänischen Sozialismus mit Nationalismus, Sadismus und CeaușescuKult, Ceaușescu-Witzen sowie CeaușescuApologien aus dem Mund von Wissenschaftlern und Künstlern. Costel bleibt auch zuversichtlich, als Bukarest vor Panik schon explodiert, wartet er doch auf den Moment, „da er krepiert“. Zuletzt scheint die Revolution tatsächlich zu siegen. Als postmoderner Spezialist für Mythologi-

Mircea Cărtărescu: Die Flügel. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Zsolnay, 670 S., € 26,80

en aller Art, von Genetik über gnostische Evangelien und Fraktale bis zum Buddhismus, webt Mircea Cărtărescu all diese Diskurse in seine Erzählung und wird dabei überraschenderweise nie peinlich. Die Ableitung der eigenen Biografie von der Tochter eines galizischen Chassids nimmt man ihm ebenso ab wie den historischen Exkurs über den polnischen Grafen Czartorisky und dessen Leidenschaft für Seidenraupen. Am Ende erhebt sich ein schillerndes Symbol triumphierend: „Der Schmetterling hat die menschliche Seele erfunden. Er ist uns gegeben worden als lebendiges und vollkommenes Symbol ihres Soseins auf dieser Erde, wo Milch, Honig, Blut und Harn fließen.“ Ihm gegenüber ist auch die Schneeflocke von dreißig Kilometern Durchmesser, die sich über Bukarest herabsenkt, bedeutungslos. Der Erzähler hat sich und sein Buch aus der Diktatur heraus- und gegen den universalen Kältetod freigeschrieben: „Ich bin Mann und Weib, Kind und Greis, Verbrecher und Büßer, Bestie und Engel.“ Sein allerletztes Wort, dreifach wiederholt, lautet: „blendend“. Nicht weniger ist über Mircea Cărtărescus große Orbitor-Trilogie zu sagen! ERICH K LEIN

Eine hinreißende Heldin und die Achterbahnfahrt ihres Lebens Tooly ist Buchhändlerin aus Leidenschaft. In ihrem Laden hütet sie tausende Bücher – und eine Fülle von Geheimnissen, die ihr früheres Leben betreffen. Die E-Mail eines Ex-Freundes lockt sie aus dem gemütlichen walisischen Städtchen hinaus in die Welt, und mitten hinein in das Chaos ihrer Vergangenheit.

Nach ›Die Unperfekten‹ der neue Roman des internationalen Bestsellerautors Tom Rachman

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Pandämonium von Mord und Totschlag Die Erzählungen des jüdisch-russischen Intellektuellen und Erfolgsautors Isaak Babel sind neu zu entdecken ie Titelgeschichte der bislang umfangreichsten Ausgabe von Erzählungen D des russischen Schriftstellers Isaak Babel

(1894–1940) in deutscher Übersetzung beginnt mit einer idyllischen Erinnerung: „In meiner Kindheit wollte ich unbedingt einen Taubenschlag.“ Knappe zehn Seiten später verwandelt sich der autobiografische Hymnus an Odessa, die „Perle am Schwarzen Meer“, einst drittgrößte Stadt des Zarenreiches, mit ihren Rabbinern, Fischhändlern und Steuerinspektoren, in ein Pandämonium von Mord und Totschlag. Die jüdische Familie des Erzählers flieht während des berüchtigten Pogroms von 1905 aus der Stadt. Als „Die Geschichte meines Taubenschlages“

1925 erschien, war Isaak Babel fast am Höhepunkt seines Ruhmes angelangt. Der Sohn eines jüdischen Händlers aus der Moldowanka hatte wider alle Quotenregelung des Zarenreiches, die Juden nur beschränkten Zugang zu Schule und Universität gewährte, sein Studium in Kiew beendet und mehrere Fremdsprachen erlernt. Als er 1916 in die Hauptstadt Petrograd übersiedelte, erkannte Maxim Gorki, Literaturpapst des heraufziehenden Sozialismus, sogleich sein Talent. Babels Reportagen über das Revolutionsjahr 1917/18 waren rigorosem Naturalismus verpflichtet und machten zugleich den apokalyptischen Schrecken, den der bolschewistische Umsturz mit sich brach-

te, deutlich: „Der Newskij Prospekt floss als Milchstraße in die Ferne. Pferdekadaver markierten ihn wie Werstpfähle. Mit erhobenen Beinen stützten die Pferde den gefallenen Himmel.“ Der Kritiker Wiktor ­Schklowskij sagte über den Stil von Isaak Babel, den er für „den Besten“ unter den jungen Sowjetautoren hielt: „Er schreibt mit ein und derselben Stimme über die Sterne und den Tripper.“ Es war die Kombination von Überschwang und Körperlichkeit, von symbolischer Andeutung und Sinnlichkeit der „Erzählungen aus Odessa“, die Babels legendenartigen Geschichten über Gauner, Taschendiebe, Schwarzmarkthändler und Huren zu dauernder Beliebtheit bei seinen russischen Lesern verhalf. Der Mythos Odessa geht wesentlich auf Isaak Babels Konto, der auch über das dafür nötige sprachliche Kolorit verfügte: „Die Aristokraten der Moldowanka waren in himbeerrote Westen gezwängt, fuchsbraune Jacketts umspannten ihre Schulter und an den fleischigen Beinen krachte Leder von der Farbe des Himmelsazurs.“ Dass Babel von diesem Gangster-Dandytum nahtlos zur Hymne an die Tscheka übergeht – den KGB-Vorläufer, der in seinen Kellern Regimegegner folterte, mordete und dem auch Babel selbst eine Zeitlang angehörte –, steht auf einem anderen Blatt. Die international größte Popularität erlangte er 1926 mit dem meisterhaften Erzählband „Die Reiterarmee“. Als Korrespondent

„Der Mythos Odessa geht wesentlich auf Isaak Babels Konto“

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Aus dem Russischen von Bettina Kaibach und Peter Urban. Hanser, 864 S., € 41,10

der Russischen Telegraphenagentur erlebte der jüdische Intellektuelle im russisch-polnischen Krieg des Jahres 1920 aus nächster Nähe Gemetzel und Marodieren der Roten Reiterarmee auf ihrem Plünderungszug durch Wolhynien und Ostgalizien. Geschichten über fromme Rabbiner wechseln

sich mit solchen über MG-Schützen ab, Vergewaltigungsszenen stehen neben alttestamentarischer Bescheidenheit und üblichem Männlichkeitskult in Zeiten des Krieges. Eher mit süffisanter Lässigkeit denn mit Entsetzen beschreibt Babel die Ermordung einer ertappten Schmugglerin: „Nimm sie mit der Flinte. (…) Und ich holte die Flinte von der Wand und wusch diese Schande vom Angesicht der werktätigen Erde und Republik.“ „Mein Taubenschlag“ enthält über die bekannten Babel-Klassiker hinaus auch jene Versuche an gescheiterter „Produktionsprosa“ im Dienste des Sozialismus, die in der Zeit des Stalinismus entstanden. Während des Großen Terrors bewahrte Babel auch solch konformistisches Engagement nicht mehr vor Verhaftung wegen „Trotzkismus“ und „antisowjetischer Tätigkeit“. Isaak Babel, der eigentlich zum sowjetischen Literaturestablishment mit eigenem Wohnhaus in der Schriftstellersiedlung Peredelkino gehörte, bat im Gefängnis, weiterschreiben zu dürfen. Im Jänner 1940 wurde er 46-jährig in der Moskauer Lubjanka erschossen. ERICH K LEIN

Geschichten von Stahl und Rauch Die Autorin und französische Ex-Ministerin Aurélie Filippetti setzt ihren Vorfahren ein literarisches Denkmal rankreich hat den Intellektuellen erfunF den. Philosophie, Literatur und Politik sind dort seit jeher kommunizierende Gefä-

ße, was sich auch am literarischen Schaffen französischer Politiker und dem politischen Engagement französischer Literaten zeigt, von Chateaubriand bis de Villepin. Auch Aurélie Filippetti war nicht nur Abgeordnete, sondern bereits erfolgreiche Schriftstellerin, als sie 2012 unter François Hollande zur Kulturministerin berufen wurde. Ihr Debütroman „Das Ende der Arbeiterklasse“ erschien in Frankreich bereits 2003. Filippetti war damals 30, engagierte sich bei den Grünen und arbeitete unter Premier Lionel Jospin im Umweltministerium. In ihrem Roman erzählt sie die eng verbundenen Geschichten ihrer Familie und ihrer Heimatregion, des nördlichen Lothringens. Der Großvater ist einer der zahllosen italienischen Immigranten, die von der Aussicht auf einen gutbezahlten Job in der boomenden französischen Metallindustrie über die Alpen gelockt wurden. 1944 wird er als Mitglied der lokalen Résistance in seinem Stollen von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Bergen Belsen deportiert, wo er kurz nach der Befreiung an Typhus stirbt. Sein Sohn Angelo – der Vater der Erzählerin – tritt in seine Fußstapfen, beginnt mit 14 unter Tage zu arbeiten, wird Kommunist, Arbeiterführer und später Bürgermeister. Er geht wie viele seiner Genossen am Lungenkrebs zugrunde, als dessen Ursache die Amtsärzte stets

das Rauchen, aber nie den Staub der Minen erkennen wollen. Parallel zu Angelos Leben erfährt Lothringens Metallindustrie ihren Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang. 1992, in Angelos Todesjahr, wird Frankreichs letzte Erzmine geschlossen.

„,Das Ende der Arbeiterklasse‘ ist der erste Roman einer Musterschülerin“

„Das Ende der Arbeiterklasse“ ist der erste Ro-

man einer Musterschülerin, und das merkt man auch. Die Erzählerin hat einen etwas anstrengenden Hang zum Pathos und zur allzu kühnen Metapher. Die lothringischen Metaller sind „Schmetterlinge im Spinnennetz des Eiffelturms“, über Lothringen wölbt sich ein „tintenblauer Himmel, an dem die Wolken wie Geschoße explodierten“, Frankreich ist ein „Land, an dem man sich bei jeder Zuckung der Geschichte verging wie an einer Frau“. Vom hohen Ton sollte man sich dennoch nicht abschrecken lassen: Zum einen ist das Buch eine literarische Verbeugung vor den Leistungen vorangegangener Generationen, der man eine gewisse Feierlichkeit schon zugestehen kann. Zum anderen fügen sich die Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen und Erinnerungsblitze dieses Buches nach und nach zu einer faszinierenden Geschichte. Sie handelt von einem jahrzehntelangen Kampf in einem vergessenen, staubigen Winkel Frankreichs. Die italienischen Immigranten und ihre Kinder müssen sich ihren Platz in einer feindseligen Gesellschaft, die Bergleute menschenwür-

Aurélie Filippetti: Das Ende der Arbeiterklasse. Ein Familienroman. Aus dem Französischen von Angela Sanmann. S. Fischer. 192 S., € 19,60

dige Arbeitsbedingungen mühsam erstreiten. Mit der globalisierten Stahlindustrie erwächst ihnen ein übermächtiger Gegner, dem die französischen Erzvorkommen im Vergleich zu Südamerika schlicht zu wenig profitabel sind. Wo genau der Feind sitzt, ist nicht immer klar, ob es sich überhaupt zu kämpfen lohnt, noch weniger. So will Angelo einerseits dem Arbeiterelend entkommen und seinen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen, andererseits keinesfalls „einer von denen“ werden: „Wenn wir es schaffen, bedeutet das, dass sie gewonnen haben.“ Nicht nur als Autorin, sondern auch als Politikerin legt Aurélie Filippetti Wert auf formale und inhaltliche Stimmigkeit. In einem gestochen formulierten offenen Brief gab sie ihren Rücktritt als Ministerin bekannt, als der schillernde, den Regierungskurs öffentlich kritisierende Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg vor wenigen Wochen aus der Regierung geworfen wurde. Sie könne die von Premier Manuel Valls vorgegebene Linie nicht mittragen, schrieb Filippetti, und ziehe daraus die Konsequenz. Nun wird über eine Liaison der beiden Zurückgetretenen spekuliert. Wie auch immer: Der französischen Öffentlichkeit wird die brillante Arbeitertochter wohl auch nach ihrer kurzen Karriere als Ministerin noch eine Weile erhalten bleiben. Und einen zweiten Roman von ihr – diesmal erotischer Natur – gibt es auch schon. GEORG RENÖCK L


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Darling in einem Slum namens Paradise Simbabwe, ruiniertes Land: NoViolet Bulawayos Debütroman „Wir brauchen neue Namen“

Ihre Erzählerstimme ist der Kindermund. Das

anfangs zehnjährige Mädchen Darling ist unser Gewährskind. Darling erzählt vom Kinderleben in einem afrikanischen Slum namens Paradise: scharfsichtig, nüchtern, altklug. Und immer in einem buntscheckigen und eigenwillig gemixten Slang aus Englisch und Lokalsprache, den Miriam Mandelkow treffend und lebhaft ins Deutsche übersetzt hat. Darling gehört zu einer Gang von gewitzten Straßenkindern, die Bastard, Chipo oder Godknows heißen und die Barackensiedlung Paradise als ihren Abenteuerspielplatz betrachten, der sich bis ins benachbarte Budapest ausdehnt. Budapest heißt die angrenzende Villensiedlung, in der Weiße und wohlhabende Afrikaner in gepflegten Häusern wohnen, mit allen Annehmlichkeiten westlichen Komforts. Darling und ihre Freunde fallen gerne in die Gärten von Budapest ein, um sich mit geklauten Guaven die Bäuche vollzuschlagen, denn in Paradise gibt es nie genug zu essen. Es gibt auch keine Schule, denn die Lehrer haben längst das Land verlassen. Die

medizinische Versorgung funktioniert nicht, weil die Ärzte dauernd streiken. Und die großen Hoffnungen der Armen auf Wandel durch demokratische Wahlen und eine Wendung zum Besseren haben sich zerschlagen, weil sich der bereits abgewählte Präsident 2008 durch eine gefälschte Stichwahl doch wieder an die Macht gestohlen hat. Aus allem, was sie erleben und mitkriegen, machen die Kinder ein Spiel. Sie spielen sogar Abtreibung mit der elfjährigen schwangeren Chipo, die von ihrem Großvater vergewaltigt wurde. Wenn sie nicht gerade mit ihren selbsterfundenen Lieblingsspielen wie „Bin-Laden-Suche“ oder „Landspiel“ beschäftigt sind, dann beobachten und kommentieren die Kinder das Treiben der Erwachsenen. Die meisten sind Frauen, abgerackerte und überforderte Mütter und Großmütter; die Männer sind sonst wo – sie jobben im Ausland, schuften zumeist in südafrikanischen Bergwerken. Als Darlings Vater nach Jahren zurückkommt, ist er ein ausgemergeltes Wrack. Er ist heimgekrochen, um an Aids zu sterben, aber darüber zu sprechen ist tabu. In diesem Roman verschweigt NoViolet Bulawayo ihren eigenen Namen ebenso wie den ihres Landes. Eigentlich heißt sie Elizabeth Zandile Tshele. Sie wurde 1981 geboren, wuchs auf in Bulawayo, der zweitgrößten Stadt Simbabwes, und emigrierte 18-jährig zu ihrer Tante in die USA. Dort studierte sie Literatur und graduierte an der Cornell University. Zurzeit ist sie Stipendiatin im kalifornischen Stanford. Ihr Pseudonym soll an ihre Mutter Violet erinnern, die starb, als die Tochter acht Monate alt war; in ihrer Bantusprache bedeutet „no“ so viel wie „mit“. Ihr Autorenname ließe sich übersetzen als „Mit meiner Mutter in meiner Heimat Bulawayo“. Diese Heimat wird – mit einer Ausnahme – nirgends namentlich genannt. Bulawayo nennt ihr Herkunftsland nur das „elende Land“. Erst in den Danksagungen am Schluss fällt erstmals der Name: „Zim,

geliebte Heimat, Land meiner Leute.“ Bulawayo hängt an dem Land, mit dem sie so wortmächtig hadert. Der Struktur des Romans ist die Herkunft aus

„Bulawayo hängt an dem Land, mit dem sie so wortmächtig hadert“

NoViolet Bulawayo: Wir brauchen neue Namen. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Suhrkamp, 264 S., € 22,60

Das Eheprotokoll von F. Scott und Zelda Fitzgerald – ein ehrliches und packendes Originaldokument Gelesen von Birgit Minichmayr und Tobias Moretti

losen Einzelerzählungen noch deutlich anzumerken. Er ist ein lockeres Gefüge von Episoden, zusammengehalten allein durch Darlings Erzählerstimme. Überdies zerfällt das Buch in zwei Teile. Etwa in der Hälfte gibt es einen drastischen Schauplatzwechsel – von Paradise nach „Destroyedmichygen“ (Detroit, Michigan). Die 13-jährige Darling wird von ihrer Tante in die USA geholt, um eine Ausbildung zu erhalten, doch das lernhungrige Mädchen wird rasch enttäuscht: „In Amerika ist die Schule so einfach, sogar ein Esel würde die schaffen.“ Mit dem Schauplatz ändert sich auch der Erzählton. Die kindliche Frische des SlumFrechlings, die bisher den ganzen Charme dieser Rollenprosa ausmachte, verliert sich. Darling nimmt den skeptischen Tonfall eines Teenagers an, unter dessen ernüchtertem Blick sich Amerika immer mehr entzaubert. Je älter Darling wird, desto desillusionierter die Stimmung. Das Mädchen fühlt sich zerrissen zwischen Afrika und Amerika. Sie ist nirgends mehr zugehörig. Ihrem Herkunftsland ist sie entfremdet, und ihre USA-Hoffnungen sind zerstoben: „Nach Amerika nahmen wir unsere Träume mit, aber wir würden sie nicht verfolgen. Wir würden nie werden, was wir werden wollten: Ärzte, Anwälte, Lehrer, Ingenieure. Keine Ausbildung für uns, obwohl unsere Visa Ausbildungsvisa waren. Statt zur Uni gingen wir zur Arbeit. Wir senkten den Kopf, weil wir keine Menschen mehr waren; jetzt waren wir Illegale. Wir verbargen unsere richtigen Namen und nannten auf Nachfrage falsche.“ So endet, was als muntere Kinder-Suada begann, letztlich doch als apokalyptische Wehklage – über das harte Amerika und über das geschundene Simbabwe. Weder hier noch dort kann sich Darling beheimatet fühlen. SIGRID LÖFFLER

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ie Autorin, die sich NoViolet Bulawayo nennt, hätte jeden Grund zur Wehklage. Schließlich ist das afrikanische Land, aus dem sie stammt und über das sie ihren ersten Roman geschrieben hat, ein Ort des Jammers. Simbabwe, die ehemalige britische Kolonie Rhodesien, ist ein ruiniertes Land. Es hat 35 Jahre Misswirtschaft, Ausbeutung, Megakorruption, Wahlbetrug, Hungersnöte und Verelendung unter dem ewigen Diktator Robert Mugabe hinter sich. Für die Autorin wäre es also durchaus nahegelegen, ihre Jugendgeschichte über das Aufwachsen im zerstörten Simbabwe als Anklage-Litanei zu erzählen. Doch Bulawayo tut genau das nicht. Vielmehr wählt sie eine Erzählperspektive, die ihr gestattet, die Misere ihres Landes mit Witz, Impertinenz, Aufsässigkeit, Zorn und wildem Humor zu beschreiben.

Zelda Fitzgerald C Rue des Archives/RDA/SZ Photo; Scott Fitzgerald C Opale/Studio X; Birgit Minichmayr C Florian Liedel/photoselection; Tobias Moretti C Niels Starnick/BILD am Sonntag Anz_Falter_Fitzgerald_Eheprotokolle_216x95.indd 1

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Das Leben als getanzte Rhapsodie So fett wie dicht: „Das achte Leben“, der ein Jahrhundert umspannende Roman von Nino Haratischwili

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ino Haratischwili, 1983 in Tiflis ge­ boren, kam mit zwölf Jahren nach Deutschland und begann früh fürs Theater zu arbeiten und schreiben. Schon ihre beiden ersten Romane fanden Beach­ tung, ihr Erstling schaffte es auf die Long­ list des Deutschen Buchpreises. Zum Är­ ger ihres Verlegers Joachim Unseld gelang ihr das mit ihrem gewichtigen neuen Buch nicht. Mit der Qualität kann das tatsächlich nichts zu tun haben, eher dürfte es Fol­ ge einer Überforderung der Juroren sein – 1300 Seiten dichter Prosa, die ein Jahrhun­ dert umspannt, kann man so schnell nicht adäquat rezipieren. Autorin und Verlag mö­ gen sich trösten: Ein derartig nachdrückli­ ches Buch tanzt mehr als einen literarischen Sommer lang. Es sollte ursprünglich ein Roman über die Perestroika werden. Doch als die Au­ torin mit einem Stipendium der RobertBosch-Stiftung in Georgien ihre Recherchen begann, wurde ihr schnell klar, dass sie wei­ ter ausholen müsste, um etwas zu fassen im Strom der Geschichte dieses „kleinen Lan­ des am Fuße eines Riesen“. Ein Epos ist es geworden, das die Geschichte der Men­ schen im Kaukasus vom Zaren- über das Sowjetreich bis in die Wirren der Gegen­ wart erzählt.

„Bei den Großmüttern und Tanten leben noch recht real wirkende Gespenster und Hexen“

Im siebten und eigentlich letzten Buch tritt

Mit fast orientalischer Erzähllust, in die sich

Töne der großen russischen Romantradi­ tion weben, hebt das Werk an. Als Toch­ ter eines bis Paris und Wien gekommenen Chocolatiers wird 1900 die Urgroßmutter der Erzählerin im damaligen Vielvölkerge­ misch von Tiflis geboren. In dieser frauen­ lastigen Familie ist sie die erste von vie­ len starken Persönlichkeiten, die mit ihren Namen die einzelnen „Bücher“ dieses Bu­ ches benennen. Schon sie verfällt der magischen Erfin­ dung ihres Vaters, einem Zaubertrank aus Schokolade, dessen Ingredienzien in fins­ teren Zeiten Glück und Rausch, ja selbst einen Hauch von Selbstbestimmung ver­

heißen, gleichzeitig aber seltsam unheil­ schwanger in das Familienschicksal zu ver­ stricken scheinen. Eine weitere Leidenschaft kehrt in den weiblichen Gestalten des Romans immer wieder. Wie später noch ihre Ururenkelin und Namensvetterin Anastasia („Auferste­ hung“ klingt da im Namen durch) tanzt Stasia für ihr Leben gern. Jener jüngsten der Figuren, die ihren Namen in das geor­ gische Brilka gewandelt hat, wird denn auch die Familiensaga tradiert: quasi als Dreh­ buch für ihr großes Projekt, das Leben ih­ rer Großtante – einer in der Emigration be­ rühmt gewordenen Soulsängerin – als ge­ tanzte Rhapsodie darzustellen.

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Frankfurter Verlagsanstalt, 1279 S., € 34,95

die Erzählerin auf. Sie ist biografisch nahe an der Autorin (auch sie in jungen Jah­ ren nach Deutschland abgewandert), man möge sie aber nicht mit ihr verwechseln. Sie will ihrer Nichte dabei helfen, sich ih­ rer Herkunft zu vergewissern, ohne von der übergroßen Last der Familiengeschichte er­ drückt zu werden, und dennoch das an Be­ gabung und Genüssen so reiche Erbe ihres Landes weiterzutragen. Dass das achte Buch aus einer leeren Seite besteht, versteht sich demnach als pa­ radoxes Versprechen einer gedeckten Tabula rasa. Das gibt dem Roman seine Struktur. Es erhellt sich, dass in den vorhergehen­ den Kapiteln die Erzählerin dabei war, aus den unterschiedlichsten Quellen zu kompi­ lieren, der Metapher des Teppichs folgend, ein Netz aus verschiedenen Strängen zu we­ ben. Neben Teppichmotiv und den dunklen, roten Fäden der Schokolade tritt aber noch ein drittes Formprinzip. Die Erzählerin (in ihrem Namen Niza, das georgische Wort für Kosmos) versucht vergeblich, Ordnung in die Konstanten und sich verschiebenden Konstellationen von Familie und Land zu bringen. Im Namen ihrer Schwester versteckt sich das Wort für Chaos, das stetigen Umsturz und Fortgang verspricht. Der Antagonismus dieser Kräf­

te erklärt manches, was zunächst befremd­ lich erscheint, wie manch exaltierte Tonlage oder mythisch abgehoben wirkende Szenen, etwa im belagerten Leningrad (da lässt üb­ rigens Jonathan Littell grüßen). Die Vielstimmigkeit innerhalb der stets auf­

geregten Sippe inmitten der großen Krie­ ge und Revolutionen des langen 20. Jahr­ hunderts erschreibt sie sich ebenso wie den ideologieindoktrinierten Diskurs ihres Großvaters, eines Repräsentanten der offi­ ziellen Sowjetmacht. Bei den Großmüttern und Tanten leben noch recht real wirkende Gespenster und Hexen, und ein guter Schuss von familiä­ rem Namedropping ist auch dabei (wenn man schon vergewaltigt wird, muss das im­ merhin von Berija sein – sein Name aller­ dings wird, wie der Stalins, in abergläubi­ schem Schrecken nicht genannt). Auch ein Hauch des fernen Europa weht immer wieder herein, sei es in der ParisSehnsucht der 20er-Jahre, im Erzählstrang der in den Londoner Clubs der 70er-Jahre singenden Tante oder aus dem Berlin von heute. Ganz groß wird dieser gewagte Ent­ wurf in seiner Offenheit: alles mitfühlen zu können, dabei aber nicht alles verstehen zu wollen, fast dokumentarisch zu erscheinen, und dann wieder, insbesondere angesichts des Wahnsinns, fiktiv zu werden. Was für große Werke zumeist gilt, hier trifft es in besonderem Maße zu: Man möge zweimal lesen – auch wenn es dann für den Buchpreis zu spät ist. Gerade weil die Spra­ che des Buches nicht die Muttersprache der Autorin ist (sie selbst spricht von einem ge­ borgten Kleid, das zum eigenen geworden ist), begegnet man immer wieder originellen Wendungen, die überraschen, ohne gesucht zu wirken. Auch dies trägt dazu bei, das Werk als außerordentlich zu empfinden. Dieser Roman hätte sich aber auch ein ordentlicheres Lektorat verdient. So trifft manch interessante Eigenwilligkeit zu oft auf schlicht sinnentstellende Druckfehler. THOMAS LEITNER

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Das größte aller Übel ist die Grausamkeit Politische Theorie: Die Ethik von Judith N. Shklar geht nicht von der Tugend, sondern vom Laster aus

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eine Laster sind Privatsache und gehen niemanden etwas an! Dieser Aussage würde Judith N. ­Shklar wohl nicht zustimmen – aber aus anderen Gründen, als man in Zeiten verstärkter Verbotsrufe und überschießender Political Correctness denken würde. Denn die 1928 in Riga geborene Politologin redet damit keineswegs mehr Überwachung, Bevormundung oder einem neuen Moralismus das Wort. Als Vertreterin eines Liberalismus, der nicht von den Starken ausgeht, plädiert sie im Gegenteil dafür, dass auch schwächeren Mitgliedern einer Gesellschaft möglichst viel Entscheidungsfreiheit und Handlungsspielraum zugestanden werden sollte.

Das Private und das Öffentliche Laster stehen für Shklar an der Schnittstelle zwischen der Sphäre des Privaten und des Öffentlichen. Wie schmerzhaft das Öffentliche in das Private hineinreichen kann, bekam sie früh am eigenen Leib zu spüren. Shklar wurde als jüngste von drei Töchtern in eine wohlhabende und liberale deutsch-jüdische Familie in Riga geboren und besuchte dort das deutsche Gymnasium. Vom Vater, einem zaristischen Offizier im Ersten Weltkrieg und Selfmade-Geschäftsmann, kam das Geld, von der Mutter die Bildung. Nach dem tragischen Tod der ältesten Tochter Miriam gelang der Familie 1939 mithilfe eines Cousins die abenteuerliche, mehr als ein Jahr dauernde Flucht über Schweden, Russland und Japan nach Kanada. 1945, kurz vor ihrem 17. Geburtstag, schrieb sich Shklar für das Studium der Wirtschaft und Philosophie an der McGill University in Montreal ein und fand sehr bald ihre geistige Heimat in der politischen Theorie. Mit 19 heiratete sie den späteren Professor für Zahnmedizin Gerald Shklar, mit dem sie drei Kinder hatte. 1951 ging sie auf Vermittlung ihres Professors nach Harvard beziehungsweise (da hier erst 1975 Frauen zugelassen wurden) an das angeschlossene Radcliffe College. Shklar gehörte zu jenen „Erbintellektuellen“ europäischer Provenienz, die entscheidend dazu beitrugen, den kulturellen Provinzialismus dieser Eliteuniversität zu entlüften und ihr zu ihrem heutigen Weltruhm zu verhelfen. Mit 43 Jahren wurde Shklar als erste Frau in ihrem Department zum „Professor of Government“ berufen. Die dünkelhafte, antiintellektuelle Atmosphäre an dieser Eliteuniversität stellt übrigens die Grundlage ihrer Beschreibung des Snobismus in dem gerade erstmals ins Deutsche übersetzten Buch „Ganz normale Laster“ dar, das im amerikanischen Original 1984 erschien. Ergänzt wird der Band von einer glänzenden werkbiografischen Skizze von Hannes Bajohr.

Gewalt ist das summum malum Während Judith N. Shklar, die u.a. mit Stanley Cavell und John Rawls befreundet war, in den USA als eine der wichtigsten politischen Denkerinnen gilt, setzte ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum außerhalb von Fachkreisen erst im letzten Jahr ein. Den Startschuss gab die mit einordnenden Essays flankierte Übersetzung ihrer

einflussreichsten Schrift, des nur 40 Seiten umfassenden Essays „Der Liberalismus der Furcht“ von 1989 in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ bei Matthes & Seitz. Die dreißigjährige Verspätung erweist sich dabei als Glücksfall, denn auf diese Weise lassen sich Shklars Argumente mit heutigen Problemen „frisch“ gegenlesen, etwa zu Macht und Kontrolle oder Freiheit und Sicherheit. Historisch gesehen wurde der Liberalismus aus den Grausamkeiten der religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts geboren. Heute dient der Begriff vornehmlich der Beschimpfung des politischen Gegners: In den USA nennen die Rechten die Linken „Liberals“ und meinen damit sozialistische Dekadenz, diese geben den Vorwurf mit der Vorsilbe „Neo“ zurück und meinen damit sozialen Darwinismus. Dabei scheint die Freiheit heute – durch Nachrichtendienste, Internetfirmen, soziale Netzwerke und religiöse Fundamentalisten – bedroht wie schon lange nicht mehr. Ein guter Anlass, ihre gesellschaftlichen Grundlagen erneut in Augenschein zu nehmen. Shklars minimalistisches Konzept des Liberalismus geht dabei nicht von einem höchsten Gut, sondern von dem schlimmsten Übel aus: Grausamkeit und Gewalt, die jene Furcht und jenen Schmerz hervorrufen, die es zu verhindern gilt. Denn Freiheit von Furcht stellt die Voraussetzung einer öffentlichen Meinungsbildung und der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte ohne Willkür, Ausbeutung und Unterdrückung durch die Herrschenden dar. Statt auf moralischen oder ideologischen Zielen zu fußen, geht der „Liberalismus der Furcht“ von den körperlichen Leiden ganz normaler Menschen aus – und von den „ganz normalen Lastern“ jener Zeitgenossen, die für dieses Übel verantwortlich sind. Insofern lässt sich „Ganz normale Laster“ als Vorarbeit dazu lesen.

Zur Person Judith N. Shklar (1928–1992) war eine der einflussreichsten amerikanischen Politologinnen. Sie wurde in Riga in eine assimilierte deutsch-jüdische Familie geboren, die 1939 nach Kanada emigrierte. Nach dem Studium der Politischen Theorie in Montreal ging Shklar 1951 nach Harvard, wo sie bis zu ihrem Ruhestand lehrte. In ihrem Department war sie die erste Frau, die eine Festanstellung erhielt

Unsere unaufrichtige Demokratie

Laster sind keine Sünden Das Originelle dieses Ansatzes besteht darin, die Laster – die Shklar entlang der Lektüre von Michel de Montaigne (1533–1592) und Montesquieu (1689–1755), aber auch der großen Romane und Theaterstücke der Weltliteratur beschreibt – in eine Rangordnung zu bringen: Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie. Laster sind keine Sünden, sondern ein Urteil, das Menschen über andere Menschen fällen. Deswegen stehen hier keine Vergehen gegen Gott wie Stolz und Maßlosigkeit oder Vergehen gegen sich selbst (Stichwort Rauchen) zur Debatte, sondern gegen andere Wesen. Grausamkeit an die erste Stelle zu setzen bedeutet für Shklar, die Position der Opfer einzunehmen, und zwar ohne sie zu idealisieren oder ihnen umgekehrt (Mit-) Schuld zuzuweisen. Denn Opfer sind moralisch nicht unbedingt besser als ihre Peiniger, und nur Ideologen wissen in jeder Situation, wer Täter und wer Opfer ist. Dieser Maßstab gibt allerdings, betont Shklar, keine Sicherheiten, denn er gilt nur für bestimmte Situationen, bleibt also immer Zweifeln und Unsicherheiten ausgesetzt. Grausamkeit an die erste Stelle zu setzen bedeutet aber auch, dass das Zufügen

von (körperlichen) Schmerzen mit keiner Religion und keiner Revolution, also keiner Form von Ideologie gerechtfertigt werden kann. Diesem größten Übel klar nachgestellt sind die Formen von Unaufrichtigkeit: Heuchelei, Snobismus und Verrat. Als letztes Laster reiht Shklar ein wenig überraschend die aus der Mode gekommene Misanthropie, den Menschenhass. Aber es stimmt schon: Sich mit ihren Lastern zu beschäftigen ist nicht eben dazu angetan, die Liebe zu den Menschen zu vergrößern. Jeder dieser Untugenden widmet Shklar ein eigenes Kapitel. Dabei richtet sie ihr Hauptaugenmerk nicht darauf, wie diese unsere privaten Beziehungen, sondern das Funktionieren des Staatswesens beeinflussen. So entsteht eine Ethik, die keine Morallehre sein will in dem Sinne, die Menschen zu bessern, sondern eine politische Theorie, der es – im Anbetracht der Unvollkommenheit des menschlichen Charakters – darum zu tun ist, die Übel, die von ihm ausgehen, zu minimieren. Menschliches Verhalten, zitiert Shklar den Skeptiker Montaigne, sei nicht durch die Veränderung von Überzeugungen zu verbessern. Und unter Berufung auf Montesquieu spekuliert sie darüber, ob man Politik und Moral nicht überhaupt trennen könne. Schließlich könne man ja Sozialreformen vornehmen, ohne die Menschen zu verändern. Da auf den Menschen in puncto Tugenden kein Verlass ist, muss das politische System, lautet ihre Schlussfolgerung, so beschaffen sein, dass die Mächtigen möglichst wenig Schaden anrichten können. Die Prinzipien des modernen Staates, die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, tragen dem Rechnung.

„Indem sie die Hände von unserem Charakter lassen, bereiten Regierungen den Rahmen und die Bedingungen, unter denen wir unseren armseligen, aber epischen Kampf gegen das Laster aufnehmen zu hoffen dürfen. Ein solches Regierungssystem zu schaffen verlangt aber keinerlei spezifische Tugenden. Es ist ein Regierungssystem für die Menschen, wie sie sind, nicht, wie sie sein sollen.“ Judith N. Shklar, Ganz normale Laster

Allzu große Ansprüche an die eigene Tugendhaftigkeit führen zu dem zweitgereihten Laster, der Heuchelei. Den Kronzeugen dafür stellt die Figur des Uriah Heep aus Charles Dickens’ „David Copperfield“ (1849) dar, der die Unterwürfigkeit, wohltätige Unterdrückung und nach innen gewendete Grausamkeit eines bigotten Christentums verkörpert. Die Prinzipien seiner Kritiker – genannt werden Nietzsche und Machiavelli, die Rücksichtslosigkeit und rohe Gewalt verherrlichten – kann Shklar aber ebenso wenig teilen. In Bezug auf das Staatswesen gewinnt sie der Heuchelei sogar positive Aspekte ab. Denn ihre psychologische Kriegsführung gehört ganz eindeutig zum Geschäft des Friedens. Deswegen verstummen die für Demokratien typischen gegenseitigen Beschuldigungen, Betrugsvorwürfe, Misstrauensanträge und Skandale auch sofort, wenn ein (äußerer oder innerer) Feind ausgemacht wird. Dass in ihnen auch die fähigsten Staatsleute mit Heucheleivorwürfen verfolgt werden, sieht Shklar als Nebenwirkung der seit dem 19. Jahrhundert rasant gestiegenen sozialen Mobilität an. In Demokratien gehört es zum guten Ton, auch sozial schlechter Gestellte gleich zu behandeln. Die Freundlichkeit und Fortsetzung nächste Seite


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Dienstfertigkeit ohne Ansehen der Person, betont Shklar, die der egalitäre Besucher in Amerika zu Recht bewundere, habe nichts mit Aufrichtigkeit zu tun, sondern sei auf die Verstellung gegründet, „dass wir mitein­ ander vor allem so reden müssen, als sei die gesellschaftliche Stellung für das Bild, das wir voneinander haben, nicht von Bedeu­ tung“. Diese Umgangsformen seien zwar „genauso artifiziell wie jene, die zu Mo­ lières Zeiten in Versailles“ herrschten, aber aus entgegengesetzten Gründen. Weniger gnädig zeigt sie sich gegenüber dem Snobismus als jener Form der Heu­ chelei, die andere demütige und verbittern lasse, weil sie Ungleichheit schmerzhaft zu spüren gebe. Der sekundäre Snobismus von Cliquen (den sie im Harvard der 1950erJahre zur Genüge studieren konnte), vermu­ tet sie allerdings, sei wohl der unvermeid­ liche Preis, den unsere Gesellschaft für die gewonnene soziale Mobilität, Freiheit und Vielfalt zahlen müsse. Auch Verrat hat für sie politische Impli­ kationen, denn er „liegt in der Struktur der Politik einer repräsentativen Demokratie selbst begründet, die zutiefst auf Vertrau­ en beruht“ bzw. auf dem prekären Gleichge­ wicht von Vertrauen und Misstrauen.

Misanthropie und Optimismus Judith N. Shklar gehört zu jenen Denkerin­ nen, die nicht vorgeben, mit ihrer Theorie die ganze Welt in den Griff zu bekommen – und die die Argumente anderer nicht als ihre eigenen verkaufen. Mit diesem Hang zum Understatement begrenzt sie die Auf­

Sachbuch

gaben der politischen Theorie darauf, „unse­ re Diskussionen und Überzeugungen über unsere Gesellschaft etwas vollständiger und etwas stimmiger zu machen und die Urteile, die wir normalerweise fällen (…), einer kri­ tischen Betrachtung zu unterziehen“. Sie habe den großen Erzählern erlaubt, ihr „ein wenig Arbeit abzunehmen“, in­ dem sie ihre „aufschlussreichsten Charak­ tere und Szenen als Beispiele“ herangezo­ gen habe, auf der Suche nach einer „kon­ kreteren Art, über Politik nachzudenken“, über die Widersprüche, Komplexität, Viel­ falt und Risiken der Freiheit, schreibt sie im letzten Kapitel „Schlechte Charaktere für gute Liberale“. Obwohl ihre Beispiele, von Shakespeare über Molière bis Jane Austen, Dostojewski oder Thackeray, zum größten Teil aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stam­ men, sehen diese „interpretativen Wieder­ belebungsversuche“ nicht alt aus – ein Be­ leg dafür, dass sich Probleme des menschli­ chen Zusammenlebens weniger ändern, als man gemeinhin zu denken gewohnt ist. In diesem letzten Kapitel erfährt man auch, wozu der Menschenhass gut sein kann: zu nichts weniger als der Errichtung eines der humansten aller bisherigen politi­ schen Systeme. Denn eine Moraltheorie wie jene Montesquieus, die fordert, eine Regie­ rungsform zu errichten, die die schlimms­ ten Laster vermeidet, nämlich Grausamkeit und Ungerechtigkeit, und zwar von und für Menschen, die „zu wenig mehr fähig waren, als sich geringeren Lastern hinzugeben, um die schwereren zu vermeiden“, klassifiziert sie als „Sternstunde der Misanthropie“. Gewaltenteilung mindert Gewalt. Und die Demokratie braucht im Grunde weder

Weitere Werke von Judith N. Shklar auf Deutsch: Über Ungerechtigkeit (1992/1997, Fischer, vergriffen) Der Liberalismus der Furcht (2013, Matthes & Seitz)

Judith N. Shklar: Ganz normale Laster. Matthes & Seitz, 346 S., € 30,80

Talente noch Tugenden, denn sie beruht nicht auf Moral, sondern auf einem Proze­ dere. Shklar nennt diese Misanthropie im Gegensatz zu der verachtenden, Grausam­ keit befürwortenden eines Machiavelli oder Nietzsche eine lachende.

Absage an den Tugendwahn Moralische Festigkeit ist der Demokratie selbstverständlich nicht abträglich, trotz­ dem hängt – und das ist die beruhigen­ de Nachricht – ihr Gelingen nicht von den ethischen Bemühungen ihrer Bürger ab. Mit einer Ausnahme: Für Amtsträger sind nicht alle Laster gleich unwichtig, deswe­ gen sollten Ämter und Reglements so kon­ struiert werden, dass sie die „schlimmsten Laster und schlechtesten Charaktere mil­ dern können“. „Indem sie die Hände von unserem Cha­ rakter lassen, bereiten Regierungen den Rahmen und die Bedingungen, unter de­ nen wir unseren armseligen, aber epischen Kampf gegen das Laster aufnehmen zu hof­ fen dürfen. Ein solches Regierungssystem zu schaffen verlangt aber keinerlei spezifi­ sche Tugenden. Es ist ein Regierungssys­ tem für die Menschen, wie sie sind, nicht, wie sie sein sollen.“ „Ganz normale Laster“ ist kein Plädoyer dafür, das Allzumenschliche in uns zu lie­ ben, aber vielleicht, es weniger abzulehnen. Das in diesem Buch vorbereitete Konzept des Liberalismus bedeutet die Absage an Eindeutigkeiten, Heroismus und Tugend­ wahn sowie ein Bekenntnis zum Banalen, zu Streitigkeiten, Kompromissen, Vielfalt und Frieden. K i r st i n B r e i ten f ellne r

Sind Moral und Konkurrenz wirklich vereinbar? Politische Theorie: Christoph Lütge verteidigt den Wettbewerb und blendet dabei viele seiner Nachteile aus ir haben nicht zu viel, sondern zu wenig Wettbewerb in unserer Ge­ W sellschaft, sagt Christoph Lütge. Er lehrt

Wirtschaftsethik an der technischen Uni­ versität München. Sein Buch „Ethik des Wettbewerbs. Über Konkurrenz und Mo­ ral“ hat eine klare These: Wettbewerb, so­ lange er fair ist, widerspricht keineswegs ethischen Forderungen. Man wird Lütge in dieser Allgemeinheit nicht widersprechen, wenngleich sich die Absicht des Autors nicht verkennen lässt: die schlaffe, geschützte Werkstätte namens „deutsche Gesellschaft“ aufzuwecken. Ein­ wände des Entschleunigungsphilosophen und Konkurrenzgesellschaftskritikers Hart­ mut Rosa entkräftet er mit dem Hinweise auf den neoklassischen Ökonomen Fried­ rich A. Hayek. Klar, man wird Hayek wohl noch zitieren dür­

fen, ohne gleich als heilloser Neoliberaler dazustehen. Viele Anhänger Hayeks haben dessen Werke nie gelesen. Produziert Wett­ bewerb unnötigen Überschuss? Rosa bejaht das, Hayek verneint es. Überschuss ermögliche es, Wettbewerb als „Entdeckungsverfahren“ zu betrachten, sagt Hayek. Wüsste man im Vorhinein über alle Bedürfnisse Bescheid, gäbe es keinen Wettbewerb. Dass Bedürfnisse mitunter erst hergestellt werden, auch als Folge von Konkurrenz, erwähnt Lütge nicht. Gegen Rosas Kritik an den zerstöreri­ schen Seiten des Wettbewerbs wendet er nur ein, „denjenigen, die zunächst verlie­ ren, sollte (temporär) geholfen werden, da­

mit sie wieder ,am Spiel‘ teilnehmen kön­ nen“. Unglücklicherweise fallen einem für jedes Beispiel, das Lütge anführt, um die segensreichen Folgen von Wettbewerb zu loben, zwei andere dagegen ein. Gewiss hat die Lockerung des Laden­ schlusses viel Positives bewirkt, die Arbeit­ nehmerfreizügigkeit in Europa ebenfalls, Autobahnen in Frankreich funktionieren privat besser, aber bei den Bahnhofstoilet­ ten wird es schwierig. Wer ist nicht schon einmal vor einem privatisierten Klo gestan­ den und hatte kein Wechselgeld dabei?

ten den relativ größten Vorteil erbringt. Tat­ sächlich ist unsere Wettbewerbsgesellschaft ökonomisch erfolgreich, sie ist die reichste der Geschichte. Dass der allgemeine, zweifellos durch Wettbewerb entstandene wirtschaftliche Vorteil relativ am stärksten zu Gunsten der Benachteiligten verteilt wird, darf dennoch bezweifelt werden. „Die ethischen Qualitäten des Wettbewerbs

Die von Lütge nicht erwähnten Beispiele, das

privatisierte Wasser in London, die eng­ lischen Eisenbahnen, deutsche Stromnet­ ze, von denen mindestens 170 in den letz­ ten Jahren rekommunalisiert wurden, das Desaster privatisierter Flüchtlingsbetreu­ ung, die nur funktioniert, wenn sie Profite macht – jede Gegenrechnung muss für Lüt­ ges These desaströs ausfallen. Aber ja, selbst hier, wie auch im Bil­ dungssystem und in der Pflege, kommt es auf Wettbewerb an. Alles hängt davon ab, wer die Regeln dieses Wettbewerbs macht und wie diese beschaffen sind. Ist es Frank Stronachs herzhafte „Goldene Regel“ („Wer das Gold hat, macht die Regel“)? Betrachtet man die marktliberalisieren­ de Gesetzgebung in den USA und in der EU, muss man zu diesem Schluss kom­ men. John Rawls, auf den sich Lütge eben­ falls beruft, hat festgehalten, dass Ungleich­ heit, das Ergebnis jeden Wettbewerbs, nur dann zulässig ist, wenn sie den Schwächs­

Christoph Lütge: Ethik des Wettbewerbs. Über Konkurrenz und Moral. C.H. Beck, 154 S., € 13,40

liegen in seinen systemischen Ergebnissen“, behauptet Lütge forsch und setzt hinzu, das sei für Individualethiker schwer zu akzep­ tieren. Wieso? Muss man einen Ethiker an die erste Formel von Kants kategorischem Imperativ erinnern? „Handle nur nach der­ jenigen Maxime, durch die du zugleich wol­ len kannst, dass sie ein allgemeines Ge­ setz werde“, lautet sie, und sie bezeichnet die Verbindung von individuellem Handeln und systemischer Folge, also beispielswei­ se einem Gesetz. „Ethik darf sich nicht nur als Bremse verstehen“, liest man dann auf der nächs­ ten Seite. Das ist schade, denn eine klare Ethik des Wettbewerbs, die den Fokus auf dessen faire Spielregeln und Möglichkeiten von deren Einhaltung legt, wäre unserer Ge­ sellschaft durchaus angemessen. Dieses Buch bleibt unter den Möglich­ keiten seines Themas. Auf Wettbewerb gründen unsere Zivilisation und unser Den­ ken; eine Ethik des Wettbewerbs ohne eine Ethik der Kooperation aber bleibt, wie die­ ses Büchlein, eine halbe Sache. A r m i n T h u r nhe r


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Kann man ein Handbuch von A bis Z lesen? Politische Theorie: Das zweibändige Handbuch der politischen Ikonographie liegt nun als Taschenbuch vor

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ls ich vor mehr als 30 Jahren meinen Vater dabei ertappte, wie er den in Einzellieferungen einlangenden neuen Großen Brockhaus fein säuberlich von A bis Z zu lesen begann, ergoss sich Spott über diese „Bildungsbürgertümelei“, und ein unausgesprochener Demenzverdacht lag in der Luft. Nun habe ich Ähnliches von mir zu vermelden. Dasselbe ist es dennoch nicht, und das liegt weniger am über alle Selbstzweifel erhabenen kritischen Intellekt des Rezensenten als vielmehr in der Natur dieses Handbuchs über politische Ikonographie, das nun in einer günstigen Taschenbuchausgabe vorliegt. Zunächst sagt der Titel ja schon aus, dass hier keine lexikalische Vollständigkeit angestrebt wird, sondern Schlaglichter auf ausgewählte Themen dieses so weiten wie faszinierenden Feldes fallen sollen. Hier muss gesagt werden: Zumeist sind dies Glanzlichter. Die Erneuerung und Belebung der Kunstge-

schichte, die mit den ikonographischen Betrachtungen Aby Warburgs Anfang des 20. Jahrhunderts begann, zeigt sich hier auf die Beine gestellt, fortgesetzt und erweitert. Hatte es sich bei Aby Warburg, Erwin Panofsky und ihrer Schule zunächst hauptsächlich um die Rezeption antik-mythologischer und christlich-hagiographischer Thematik und deren Weiterentwicklung über die Jahrhunderte gedreht, wird jetzt eine Mannigfaltigkeit von Bildinhalten aus sämtlichen Aspekten historischer, sozialer und politischer Bereiche anvisiert. Dabei geht es um die Intentionen der Kunstschaffenden und ihrer Auftraggeber sowie ihre Wirkung bei zeitgenössischen und nachfolgenden Rezipienten. Kunstgeschichte wird so zu einer faszinierend multidisziplinären Angelegenheit, einer Form von Kulturwissenschaft, zu der Archäologen und Historiker, Politikwissenschaftler und Philologen, Kunstphilosophen und Theoretiker der Ästhetik aus ihrem eigenen Blickwinkel beitragen.

Die so entstehende „Bildwissenschaft“ gerät zu einer Lehre davon, „wie die Politik sich der Macht der Bilder bedient, um ihre Ansprüche, Hoffnungen, Erfolge und Positionen zu verkünden“. Schon die Stichworteinteilung der beiden Bände – von „Abdankung“ bis „Huldigung“ und von „Interpretation“ bis „Zwerg“ – scheint mit Bedacht gewählt und beflügelt die Phantasie. Tatsächlich wird der Leser von Artikel zu Artikel (wobei man sich freilich besser an die klug angebrachten Querverweise hält, als auf altväterliche Weise von A bis Z zu lesen) in ganz unterschiedliche Wissenschaftsatmosphären eingeführt.

„Schon die Stichworteinteilung der beiden Bände – von ,Abdankung‘ bis ,Huldigung‘ und von ,Interpretation‘ bis ,Zwerg‘ – scheint mit Bedacht gewählt und beflügelt die Phantasie“

Die Illustrationen der beiden Bände sind

Hier finden sich sehr wohl auch herkömmliche

kunstgeschichtliche Beiträge, die aber durch fein geschliffene Akribie bestechen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist etwa unter „David“ zu finden. Aus der Schilderung der florentinischen Wanderwege der DavidStatuen von Donatello und Michelangelo ergibt sich ein Abriss der politischen Stadtgeschichte und urbaner Geografie (Matthias Krüger). Peter Krieger hingegen, der zunächst durch Arbeiten zu den Bildern von 9/11 und der Aktion „Desert Storm“ aufgefallen war, geht von einer Ansicht der Stadtbefestigung von Avignon aus, einer heute noch eindringlichen Demonstration päpstlicher Macht. Er spannt davon ausgehend einen kunstphilosophischen Bogen, der über futuristische Metaphern der Kraft und den Lichtdom aus Flakscheinwerfern, den Albert Speer zum Nürnberger Parteitag entwarf, zu konzeptkünstlerischen Konstrukten führt. Kriegers Überlegungen enden in der Feststellung eines finalen „Formverbrauchungseffekts“ (Luhmann): die Bedrohung aller künstlerischen Hervorbringungen durch die Konkurrenz der populären Bildproduktion in Massenmedien und Cyberworld. Und ist man dann wirklich beim „Zwerg“ angelangt, findet man als krönenden Abschluss einen geradezu vergnüglichen Beitrag von Lothar Sickel. Zeugt die Darstel-

lung von kleinwüchsigen „Narren“, wie wir sie aus dem spanischen Goldenen Zeitalter v.a. von Velázquez und Murillo kennen, noch von einem heute makaber wirkenden Voyeurismus dieser „Laune der Natur“ gegenüber, setzt im England des 17. Jahrhunderts eine gewisse Emanzipation ein. Eindrucksvoll, wie selbstbewusst Richard Gibson aus der letzten Abbildung des Buches auf uns blickt: Er hatte seine Karriere noch als Hofnarr begonnen, es aber bis zum königlichen Hofmaler gebracht – und malte übrigens hauptsächlich Miniaturen.

Uwe Fleckner, Martin Warnke, Hendrik Ziegler (Hg.): Politische Ikonographie. Ein Handbuch. C.H. Beck, 2 Bde., 1135 S. (mit 1332 Abb.), € 41,10

schwarz-weiß und, was eher stört, recht kleinformatig. Allerdings: Vor die Wahl gestellt, einen unhandlichen Wälzer zu produzieren, beim Umfang des Textes zu sparen oder zur Reduktion des Formates zu greifen, scheint die Entscheidung plausibel. Und: Heutzutage lässt sich (fast) jedes Bild ohne langwierige Recherche aus dem Internet fischen – das übrigens auch dazu dienen kann, sich Informationen zu den Autoren zu verschaffen, die das Handbuch leider vorenthält. Zumindest aus welchem Wissenschaftszweig sie kommen, hätte man schon wissen wollen. Symptome der Demenz stellen sich jedenfalls auch nach ausgiebigem Gebrauch des Kompendiums nicht ein, und zur Bildungshuberei ist die Lektüre ebenfalls schwer zu missbrauchen. Vielmehr schärft sie die Wahrnehmung allen Phänomenen der Kunst gegenüber und, was noch wichtiger ist: Sie führt zu einem kritischeren Blick auf den „Krieg der Bilder“, die Zurichtung der Wirklichkeit(en) durch die Medien unserer Zeit. Martin Warnke, dem langjährigen Leiter des Warburg-Hauses in Hamburg, glückt so eine großartige Erweiterung seines Bildatlasprojekts. Gemeinsam mit seinem Nachfolger Uwe Fleckner und Hendrik Ziegler sowie dem Autorenteam hat er antike Götter auf den Boden der heutigen Realität geholt.

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Dicht bebaut ist die Stadt erst lebenswert Architektur: Zwei opulente Bände über den Städtebau und über Wien zeigen, was die Stadt alles „kann“

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b New York, Neubau oder Aspern: Die verdichtete Stadt gilt heute mehr denn je als Erfolgsrezept für urbane Lebensqualität. Ein opulentes Buch zur Stadtbaugeschichte, das bereits vor einigen Monaten erschien, und ein brandneuer Architekturführer für Wien legen dafür handfeste Beweise vor.

„Bei urbanitas spricht man von einer Redeweise, die in ihren Worten, ihrem Klang und Gebrauch so etwas wie den eigentümlichen Geschmack der Hauptstadt zur Schau trägt, und sie ist Die Vorteile der Metropole gleichzeitig das Gegen„Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass teil von bäuerischem die Mehrzahl der Menschen lieber in ei- Benehmen“

ner Großstadt wohnt als auf dem Land. Erwerb, gesellschaftliche Stellung, Komfort, Luxus, Zeitvertreib im guten wie im schlechten Sinne und schließlich die Kunst sind Motive dieser Erscheinung.“ Der Mann, der sich hier für großstädtische Urbanität in die Bresche wirft, heißt Otto Wagner und hat als Architekt und Stadtbaudirektor in Wien wie kein anderer alles dafür getan, die genannten Vorteile des Metropolenlebens zu vermehren. Von der Genialität, mit der Wagner den Ingenieursgeist enormer Infrastrukturprojekte wie Stadtbahn und Wienflussregulierung mit der repräsentativen StadtbürgerEleganz seiner Architektur verband, profitiert Wien noch heute. Jetzt, da Wien neuesten Prognosen zufolge immer schneller auf die 2-MillionenEinwohner-Marke zusteuert, ist die Frage der Urbanität wieder in den Mittelpunkt der Debatten gerückt. In den großen Stadter-

Quintilius, römi­scher Redner des 1. Jh.

weiterungen wie der Seestadt Aspern, dem Nordbahnhof und dem Sonnwendviertel am neuen Wiener Hauptbahnhof wird auf Stadtblocks mit hoher Dichte gesetzt. Nicht nur weil man die tausenden Zuzügler pro Jahr ja irgendwo unterbringen muss, sondern weil es ein bewährtes Modell ist. Eine dicht bebaute Stadt ist eine lebenswerte Stadt, heißt es bei den Stadtplanern. Dichte Städte haben kürzere Wege, die man ohne Auto zurücklegen kann, verschwenden weniger Platz, haben die bessere Kultur und die besseren Shops, weil auf engem Raum mehr Leute wohnen, die sich für diese Dinge interessieren. Manche bekommen in den engen Wohnhöfen der neuen Stadtviertel Platzangst und flüchten in periphere Häuslbauerwelten, doch für die Mehrzahl bleibt die Attraktivität des Zusammenlebens auf engem Raum ungebrochen.

Die Geburtsstunde der Peripherie

Wolfgang Sonne: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts. DOM, 360 S. (ca. 350 Abbild.), € 100,80

Das war nicht immer so. Kaum waren die Städte zu Zeiten der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts explosionsartig gewachsen, begannen die Debatten zwischen jenen, die vom Urbanen fasziniert, und jenen, die davon abgestoßen waren. In England entstanden neue Gartenstädte, die behaupteten, das Beste von Stadt und Land in sich zu vereinigen: die Geburtsstunde der Peripherie. Für andere vereinigte der Mischmasch am Stadtrand da-

gegen das Schlechteste beider Welten: kein Opernhaus ums Eck, aber auch keine malerische Schafweide. Stattdessen missgünstige Mitmenschen hinterm Gartenzaun. Oder, um nochmals Otto Wagner zu zitieren: „Die Anzahl der Großstadtbewohner, welche vorziehen, in der Menge als ,Nummer‘ zu verschwinden, ist bedeutend größer als die Zahl jener, welche täglich ein ,Guten Morgen‘ oder ,Wie haben Sie geschlafen‘ von ihren sie bekrittelnden Nachbarn im Einzelwohnhaus hören wollen.“ Nach diesen Gründerzeitdebatten folgte ab den 1920er-Jahren der moderne Städtebau, der Arbeitsstadt und Wohnstadt säuberlich und hygienisch voneinander trennte und den Zwischenraum mit Parks und Schnellstraßen füllte. Ikonisches Bild dieser Ära: der „Plan Voisin“ von Le Corbusier (1925), der das Pariser Straßengewirr durch ein Raster von Wolkenkratzern ersetzen wollte. Zwar blieb Paris davon verschont, doch der moderne Städtebau mit seinen Schlafstädten am Stadtrand, seinen Stadtautobahnen und dem Abriss von Altbauten trat vor allem nach 1945 weltweit seinen Siegeszug an. Die vom Weltkrieg teilzerstörten Innenstädte boten den Planern die langersehnte Tabula rasa. Die Wende zurück zur Urbanität ist mit ebenso ikonischen Meilensteinen markiert: der streitbaren Jane Jacobs, die 1961 mit ihrem Warnruf-Buch „Death and Life of ­Great


S a c h b u c h    American Cities“ in der Hand in Manhattan gegen die Zerstörung von Stadtvierteln wie Greenwich Village kämpfte, der ersten Sprengung von modernen Wohnblocks in Chicago 1972, der Ölkrise 1973 und dem Ende des Autos als Hauptakteur der Stadtplanung. Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde Stadtrekonstruktion betrieben – mit dem Erfolg, dass die dicht bebauten Innenstädte heute paradoxerweise so attraktiv sind, dass sie zum Wohnen zu teuer werden.

Was bedeutet Urbanismus? Zusammengefasst: Gründerzeit gut, Moderne böse, Postmoderne gut. So jedenfalls der Kanon der Stadtbaugeschichte. Einen anderen Blickwinkel erlaubt sich das massive Werk „Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts“ von Wolfgang Sonne, das diesem von sauberen Schnitten geteilten 3-Phasen-Modell ein Kontinuum als Gegengeschichte entgegensetzt. Die These: Die dicht bebaute, komplexe Stadt hatte zu jeder Zeit ebenso ihre Befürworter wie die aufgelockerte moderne, und die Faszination für Straße, Gasse, Platz und Hinterhof ist seit jeher ungebrochen. Der Streit darüber, was „Urbanismus“ genau bedeutet und ob und wann er etwas Gutes ist, ist inzwischen gut 120 Jahre alt, und die Kritik an den Heilsversprechen der Moderne ist so alt wie diese selbst. Während Le Corbusier, selbst in der braven schweizerischen Kleinstadt La ­Chaux-de-Fonds aufgewachsen, sein Misstrauen gegenüber dem verwirrenden Großstadtmoloch in aufgeräumte Bereinigungspläne münden ließ, wurde in Großbritannien, der Heimat der Gartenstadtbewegung, ein Formenkanon des distinguiert Städtischen erstellt – mit einem sehr britischen Maßstab: „Häuser müssen sich zu benehmen wissen.“ Technokratisches war hier ebenso ungern gesehen wie rustikale Landromantik. Das London County Council (LCC) errichtete in der Zwischenkriegszeit zahlreiche städtische Wohnblocks, die in ihrer Dichte und Gestalt ebenso eindeutig urban waren wie die Gemeindebauten des Roten Wien, die im Bildband ausführlich zu Wort und Bild kommen. Auch in Mailand, Paris, Amsterdam und Skandinavien baute man ungerührt mit den bewährten Bausteinen Straße, Platz und Block an der Stadt weiter.

Sogar ein sorgfältig platziertes Hochhaus durfte dabei sein. Ein ganzes Kapitel ist diesem gewidmet: der mit maximalem WowEffekt in die Straßen Manhattans hineingesetzten dünnen Scheibe des Rockefeller Center oder den „urbanisierten Wolkenkratzern“ in Stockholm, Düsseldorf und Moskau. Vergleicht man diese klug an die richtige Stelle gesetzten Hochhäuser der 1920erJahre mit den wie per Zufallsgenerator über Wien verstreuten Wolkenkratzern jüngsten Datums, sind wehmütige Stoßseufzer angebracht. Auch als nach dem Zweiten Weltkrieg der Massenwohnungsbau richtig durchstartete, gab es Gegenstimmen wie Gegenmodelle: In Berlin beklagte der konservative Publizist Wolf Jobst Siedler die „gemordete Stadt“, in Frankfurt der Soziologie Alexander Mitscherlich die „Unwirtlichkeit unserer Städte“. Nicht ohne Erfolg. Wenige Jahre später begannen die ernsthaften Stadtreparaturen. Heute assoziiert man mit dem Wort „urban“ keine chaotischen Dystopien mehr, es ist als Wohlfühlwort sowohl in Stadtentwicklungsplänen als auch in Marketingbroschüren der Immobilienbranche zu Hause. Otto Wagner hat, fürs Erste, gesiegt. Als fundiertes und prachtvoll illustriertes Kompendium von über einem Jahrhundert Stadtfaszination ist „Urbanität und Dichte“ für Stadtplaner ebenso lesenswert wie für Laien.

„Das Einzelwohnhaus in der Gartenstadt kann nie die allgemeine Befriedigung hervorrufen, weil (…) ein ständiger Wechsel des Erwünschten der Millionenbevölkerung eintritt. Die Wünsche, die aus diesen Tatsachen entspringen, können nur durch das Mietshaus und nie durch das Einzelwohnhaus erfüllt werden“ Otto Wagner, Die Großstadt, 1911

Wien ist mehr als Otto Wagner Für die Freunde einer ganz bestimmten Großstadt ist zudem ein neuer Architekturführer erschienen: Der Wien-Führer von DOM Publishers bietet ebenfalls sowohl dem Altmeister Otto Wagner als auch der Renaissance des Urbanen breiten Raum. Ein lückenloses Nachschlagewerk will der Führer dabei gar nicht sein, diese gibt es schließlich bereits. Stattdessen werden in acht thematischen Rundgängen Einzelaspekte beleuchtet. Das Kapitel „Wiener Kontroversen“ ist dabei am spannendsten – hier werden Bauten vorgestellt, die in der Vergangenheit zu heftigen Debatten geführt haben, vom Haashaus (zu opulent!) und Looshaus (zu wenig opulent!) über Wien Mitte und das Museumsquartier bis zum Hundertwasserhaus. Das kurze Kapitel, das den Bauten im

Stefanie Villgratter (Hg.): Architekturführer Wien. DOM, 540 S. (ca. 1100 Abbild.), € 49,40

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Tierpark Schönbrunn gewidmet ist, wäre im Vergleich dazu nicht unbedingt nötig gewesen, schließlich ist die Zooarchitektur dort bestenfalls solide und dürfte Architekturfreaks, die kein animalisches Interesse haben, kaum nach Schönbrunn locken. Geradezu opulent und reich bebildert kommt dagegen das Kapitel zu Otto Wagner daher. Keine Frage: Dem Stadtbaumeister kann man nie genug Platz in Architekturführern einräumen. Die zwei Seiten Lob über die „Schmankerln“, die im Restaurant in Wagners Schleusenhaus am Donaukanal serviert werden, hätte man sich allerdings sparen können. Trotz aller Detaildichte und Recherche erweckt dieser Architekturführer bisweilen den Anschein des hastig Zusammengestellten, etwa wenn das Hotel Hilton in der Bildunterschrift als „Hochhaus Herrengasse“ tituliert oder der City Tower (ein absolut würdiger Eintrag im Kontroversen-Kapitel) den Architekten Ortner & Ortner anstatt Neumann & Steiner zugeschrieben wird.

Wie sieht Wien 2030 aus? Die Sorgfalt im Lektorat mag etwas mangelhaft ausgefallen sein, dafür kann der Führer mit Aktualität punkten: Ausführlich und informativ werden im Kapitel „Wien 2030“ die neuen Stadtviertel in Aspern, am Hauptbahnhof und am Nordbahnhof vorgestellt, die zu jung sind, um schon in früheren Architekturführern gewürdigt worden zu sein. Vor allem im Nordbahnhofviertel sind schließlich in den letzten Jahren zahlreiche Wohnbauten von hoher Qualität entstanden. Für die Seestadt Aspern kommt das Buch fast noch zu früh, hier befinden sich die meisten vorgestellten Häuser noch in Bau oder im Planungsstadium. Zwar lesen sich die Kapitel zu den neuen Stadtentwicklungsgebieten ein bisschen wie eine Werbebroschüre des Magistrats (auch Planungsdirektor Thomas Madreiter von der MA 18 ist mit einem Textbeitrag vertreten), aber als kompakte, informative Übersicht füllen sie in unterhaltsamer Form eine Lücke im derzeitigen Wienführer-Repertoire – und stellen damit ein weiteres Beweismittel für den Erfolg der urbanen Dichte dar. Maik Novotn y


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Sachbuch

Phantomschmerz über die verpasste Revolution

Leben statt lernen, Skills statt Kenntnisse?

Philosophie Slavoj Žižek legt mit seinem Buch über das Ereignis so etwas wie eine Einführung in sich selbst vor

Bildung Konrad Paul Liessmann liefert einen weiteren interessanten Betrag zur aktuellen Debatte über Schule und Lernen

ls Slavoj Žižek kürzlich einen Kommentar in der New York A Times veröffentlichte, sah sich die

s liest sich gut, was Konrad Paul E Liessmann in seinem neuen Buch „Geisterstunde“ über die „Praxis der

Zeitung gezwungen, folgende Anmerkung hinzuzufügen: „Nach Publikation dieses Textes hat ein Leser darauf hingewiesen, dass etliche Stellen in identischer oder ähnlicher Form bereits 2008 in einem Buch von Žižek erschienen sind. Die NYT pflegt kein Material nachzudrucken, das bereits erschienen ist. Hätte die NYT gewusst, dass Teile aus einem früheren Text kopiert sind, hätte sie von einer Veröffentlichung abgesehen.“ Man kann sich das Schmunzeln nicht ver-

kneifen. Was die ehrwürdige NYT und ihre Leser empört, ist das Markenzeichen des „Copy and paste“-Philosophen: das Recyceln, das Wiederkäuen von Texten, Textteilen, Beispielen, ­Anekdoten und – immer wieder – Witzen. Das ist kein Betrug. Es geschieht vielmehr ganz offen und ist eine Art Technik des Denkens, ein geistiges Wiederkäuen, eine Art, dieselben Gedanken immer wieder zu wälzen und aus den kleinen Differenzen, die dabei entstehen, den je neuen Erkenntnisgewinn zu ziehen. Das ist wie bei den verfeinerten Gaumen von Gourmets, die minimale Geschmacksunterschiede wahrnehmen und genießen können. In diesem Sinne liegt nun ein neues Buch von Slavoj Žižek zum Begriff „Ereignis“ vor. Was daran neu ist, lässt sich sehr genau angeben. Das Ereignis ist ein zentraler Terminus der Theorielinken – benennt er doch den Phantomschmerz, den das Ausbleiben der Revolution auslöst. Der wichtigste zeitgenössische Ereignistheoretiker ist Alain Badiou, Žižeks Freund, mit dem er schon mal in einer Doppelconférence auftritt. Auch Žižek selbst hat den Begriff schon in etlichen Varianten abgeklopft. Žižek geht dabei mit Badiou konform, das Ereignis als jenen Bruch zu verstehen, der nicht innerhalb eines existierenden Rahmens stattfindet, sondern vielmehr den Rahmen selbst neu ordnet. Ein Ereignis ist nicht mit dem Sieg einer Fußballmannschaft über die andere vergleichbar. Es besteht vielmehr darin, ein neues Spielfeld mit neuen Regeln vorzugeben. Ein wirkliches Ereignis lässt sich weder vorhersagen – es kann ja nicht aus den existierenden Ursachen abgeleitet werden, ist es doch ein „Effekt, der seine Gründe übersteigt“ – noch willentlich herbeiführen. Man kann handeln, aber man weiß nicht, ob daraus ein echtes Ereignis entsteht oder nicht. Wenn es aber keine Kausalität gibt, die

notwendig zu einem Ereignis führt, dann wird die Kontingenz selbst Teil des Ereignisses. So wohnt dem Ereig-

nis also eine Art von materialistischem Messianismus inne: Es ist ein Geschehen, das kommen mag oder nicht. Žižek dekliniert nun dieses Konzept in vielen Gebieten durch: das Ereignis in der Religion, in der Philosophie, in der Psychoanalyse. Das Ereignis in den Lacan’schen Kategorien: Was ist ein reales, ein symbolisches, ein imaginäres Ereignis? All das gespickt mit Anekdoten, Aperçus, Filmkritiken – alten und neuen. Offenbar hat sich der Autor die häufige Kritik der Unverständlichkeit zu Herzen genommen, sodass er nun eine Art „Einführung in Žižek durch Žižek“ vorgelegt hat. Mit Einschüben wie: „wem das zu abstrakt ist“ oder „vereinfacht gesagt“, bis hin zu dem grandiosen Hinweisen, dass Lacan ein „zentraler Bezugspunkt dieses Buches“ sei. Wer hätte daran gezweifelt? Damit richtet sich das Buch entweder an komplette Žižek-Neulinge oder aber an den Žižek-Gourmet. Den Schluss bildet das virulenteste Gebiet für die Frage nach dem Ereignis – die Politik. Das Kapitel hat nur knappe zehn Seiten. Der Grund dafür ist zugleich das Element der Neuheit, das dieses Buch liefert, jener Begriff, durch den der Žižek-Feinschmecker auf seine Rechnung kommt. Die Neuheit lässt sich genau angeben: Es

ist jener Begriff, von dem Žižek das Ereignis jeweils abgrenzt. In früheren Büchern war dies das falsche, das Scheinereignis. Es war zentral, einen linken Ereignisbegriff vom Faschismus abzugrenzen, erfüllt dieser doch viele Kriterien eines Ereignisses. Deshalb wurde gegen ihn der Terminus „Schein­ereignis“ ins Treffen geführt. Im vorliegenden Buch ist der entscheidende Gegenbegriff das „Ungeschehenmachen“ eines Ereignisses. Statt mit der Perspektive auf ein wirkliches politisches Ereignis sehen wir uns vielmehr mit einem globalen Prozess konfrontiert, der die emanzipatorischen Errungenschaften früherer Dekaden rückgängig macht. Das Ungeschehenmachen der Moderne ist ein fruchtbarer Gedanke – und dennoch ist es schwierig, in Zeiten wie diesen von Nichtereignis zu sprechen. Žižeks Text in der NYT war übrigens ein Kommentar zum „Islamischen Staat“. I s o lde C h a r im

Slavoj Žižek: Was ist ein Ereignis? S. Fischer, 224 S., € 17,50

Unbildung“, so der Untertitel, zu Papier gebracht hat. Der Wiener Philosoph bereitet auf, was an der aktuellen Debatte über Schulen und Universitäten so nervt: den Mythos des begabten Kindes, den aus dem Ruder laufenden Reformismus und die Aufregung über die alljährliche Pisa-Studie. Begriffe wie „Bildungsverlierer“, „bil-

dungsfern“ und „Bildungsprivileg“ verstellen den Blick darauf, was Liessmann als die eigentliche Katastrophe beschreibt: „Was heute unter dem Titel Bildung firmiert, ist deren Karikatur, ein Gespenst, das nicht um Mitternacht, sondern zur besten Unterrichtszeit sein Unwesen treibt.“ Liessmann kam bereits in seinem Buch „Theorie der Unbildung“ (2006) zu einem ähnlichen Befund. Die damals noch relativ neuen Reformen des Bologna-Prozesses haben inzwischen gegriffen und das Bildungssystem verändert. Stätten der Forschung verwandelten sich in Orte der Geschäftigkeit, eines sinnlosen Treibens, wie der Autor befindet. Der eigentliche Motor der Wissenschaften, das Streben nach Wahrheit, werde durch Impact-Faktoren, Zitationsindizes und das Schreiben von Projektanträgen blockiert. Das alte Ideal selbstdenkender Mündigkeit bleibe schon vorher, beim Besuch der Volks- und Mittelschule, auf der Strecke. Hier treten Kompetenzen an die Stelle von Fähigkeiten. Ein Schweizer Lehrplan brachte es für die Grundschule auf annähernd 4000 Kompetenzen, die entwickelt, geübt, getestet und angewandt werden sollen. Man kann dem Autor nur zustimmen, wenn er vor der Gefahr der Selbstüberforderung warnt, die diesem pädagogischen Ehrgeiz innewohnt. Lesekompetenz, Lernkompetenz und soziale Kompetenz suggerieren die Messbarkeit von Bildungsstandards, deren Inhalte und Themen verschwimmen. Festgestellt wird nur, dass eine Schülerin kompetent ist, nicht aber, wie kompetent. Skills ersetzen Kenntnisse. Auch wenn Liessmann sein Buch eine Streitschrift nennt, argumentiert er eher abwägend als zuspitzend. Sein rhetorisches Mittel ist dabei die Antithese. Auf der einen Seite stehen „gespenstische Befunde“, auf der anderen Seite Vorschläge für Auswege aus der Misere. „Dabei wäre alles ganz einfach“, leitet der Autor seine Ratschläge ein. So gäbe es keinen vernünftigen Grund, den Fächerkanon an höheren Schulen substanziell zu ändern. Und sei nicht die Selbstdisziplin – diese „gute alte Tugend“ – eine Voraussetzung zur Schulung der Urteils-

kraft? Alles ganz einfach. Mit feiner Klinge seziert der Autor die Figur des Bildungsexperten, über dessen Befähigung meist nur bekannt ist, dass er wisse, was eigentlich zu tun wäre. Autoren wie Richard David Precht oder Andreas Salcher treten auf den Plan, um dem Bildungssystem den Untergang zu prophezeien. „Der rhetorische Gestus des Bildungsexperten oszilliert zwischen apokalyptischer Warnung, drohend erhobenem Zeigefinger und frohlockender Euphorie angesichts der unglaublichen, aber verborgenen Ressourcen, die er in den Heranwachsenden schlummern sieht.“ In diesen Experten sieht Liessmann die Propagandisten eines Erziehungsideals, das Lernen mit Leben verwechselt. Das Dogma des praktisch Anwendbaren verderbe die Lust an einem fernen, möglicherweise auch neugierig machenden Unterrichtsgegenstand wie den antiken Sprachen oder der Philosophie. Hastig räumen Lehrerinnen den Kanon in den Schrank. Sie haben Angst, sich mit ihrem unnützen Wissen vor den digital natives zu blamieren. Antiautoritäre Pädagogik und Neoliberalismus ergänzten sich im Bemühen, alles nutzbar und messbar zu machen, so der Autor. Wo Taferlklassler zu Usern werden, killt

die App den Apoll. Mit angebrachter Skepsis beschreibt Liessmann den Siegeszug neuer Medien in den Klassenzimmern und Seminarräumen. So sei die Powerpoint-Präsentation oft nur eine Simulation von Wissensvermittlung. „Powerpoint suggeriert, dass nun auch dem geholfen wird, der nichts zu sagen hat.“ Liessmanns Spott auf die Bildungsexperten hat nur einen Schönheitsfehler. Tritt er nicht selbst als solcher in Erscheinung? Sein Aufruf zum Einbremsen der Reformen drückt ein „Früher war alles zumindest gleich gut“ aus. Seine Kritik verliert ihre Brisanz, wo sie der unübersichtlichen Gegenwart die Vergangenheit des Wahren, Guten und Schönen entgegenhält. Um es mit den Worten Peter Sloterdijks, eines von Liessmann zitierten Denkers, zu sagen: Ein Gatekeeper verteidigt hier ein Tor, durch das keiner mehr gehen will. MAT THIAS DUSINI

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Zsolnay, 192 S., € 18,40


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Ein Berserker der aristokratischen Vernunft Geschichte: Eine Biografie des Marquis de Sade erklärt den Strukturwandel der französischen Aristokratie tor gelungen, den Leser in seinen Bann zu schlagen: Selten wurde Struktur und Wandel der französischen Aristokratie so knapp und verständlich dargestellt. Ein schillerndes Individuum in komplexen ge-

nealogischen Verhältnissen und in den Brüchen seiner Zeit vorzustellen ist das Hauptanliegen von Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit in Fribourg. Er hat bisher u.a. faszinierende Porträts der Medici und der Borgia geliefert, nun beweist er seine Meisterschaft an einem besonders anrüchigen Exempel der höfischen „(…) das Verbrechen ist ein MoGesellschaft: Marquis Donatien Alphonse François de Sade (1740–1814). De Sade ist heute nicht nur bekannt als dus der Natur, eine Methode, Verfasser einer Reihe pornografischer, philosophischer und kirchenkritischer Romaden Menschen anzutreiben. ne, mit denen er Einfluss auf die Entwicklung von Literatur und Kunst nahm, von Warum soll ich mich nicht geseinem Namen ist auch der Begriff Sadismus abgeleitet. nauso durch das Verbrechen Reinhardt stellt seine Lebensführung und Weltbild als widerständiges Produkt bewegen lassen wie durch die der kulturellen und gesellschaftlichen Vorgaben über die Zäsuren der Lebenszeit hinTugend? Die Natur braucht weg plastisch und plausibel dar. Wie der Marquis Verlogenheit und Verkommenheit das eine wie das andere“ der Herrschaftsverhältnisse durchschaut und geradezu verteufelt, sich aber seinen M a r q u is de S a D e die 120 Tage von Sodom protegierten Platz zu sichern weiß, ist Ausdruck innerer Zerrissenheit und äußersten Opportunismus zugleich. In der Regierungszeit Ludwig XV. präsenOb als blutjunger, smarter Militär im tierte sich Jean-Baptiste de Sade bei Hof, Ancien Régime, als tugendbesessener Eiein schon lange nicht genutztes Vorrecht ei- ferer bei den Jakobinern, ja selbst im Genes altaristokratischen Clans. Damit strebte fängnis noch gehätschelt und eine Rolle als er einen Platz im offiziellen Leben der Na- Theaterdirektor spielend – immer bleibt er tion an. Dies gelang ihm in Zeiten der Um- ein Verfolgter und Privilegierter zugleich. wälzung nach der zeremoniellen Erstarrung Sein Gedankengebäude hingegen scheint des seine Epoche überlebenden Sonnenkö- von solch Widersprüchen nicht geprägt. nigs recht gut. Trotz der Konkurrenz des Sein radikaler Rationalismus und Atheneu entstandenen Beamtenadels steht er ismus führen in einen monistischen Materials Diplomat, aber auch als frivoler Schrift- alismus, in dem „Natur“ zur einzig existiesteller seinen Mann. renden Substanz wird. Diese allerdings ist, Noch ist der Protagonist dieser Biogra- anders als bei Rousseau, nicht „gut“, sonfie nicht geboren, und schon ist es dem Au- dern wird vom Recht des Stärkeren falter_privatverlage_inserat_herbst_2013.qxd 30.09.2014 11:55 regiert. Seite

Zur Person Donatien-Alphonse­Francois de Sade (1740–1817) gehörte einem alten französischen Adelsgeschlecht an, durch Heirat gelangte er zu Reichtum und nutzte diesen, ein skandalöses, sexuell ausschweifendes Leben zu führen. Nach mehreren Verhaftungen floh er nach Italien und wurde bei seiner Rückkehr wieder inhaftiert. Im Gefängnis wurde er zum Autor und verfasste zahlreiche Werke, darunter „Justine und Juliette“ und „Die 120 Tage von Sodom“.

Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. C.H. Beck, 1464 S., € 27,70

Angesichts der Natur geht die menschliche Freiheit verloren: „(…) das Verbrechen ist ein Modus der Natur, eine Methode, den Menschen anzutreiben. Warum soll ich mich nicht genauso durch das Verbrechen bewegen lassen wie durch die Tugend? Die Natur braucht das eine wie das andere. (…) die einzige Art, der Natur zu dienen, (besteht) darin, ihren Wünschen blind zu folgen“, heißt es in „Die 120 Tage von Sodom“. Ein kruder Monismus, der in seiner Rigorosität als ein düsteres Gegenbild zu dem Pantheismus eines Spinoza oder Goethe erscheint. Mechanisch folgen die Akteure von de Sades

zentralen Werken („Die 120 Tage von Sodom“, drei Fassungen von „Justine und Juliette“) dunklen Gesetzen der Grausamkeit, die in paradoxer Weise an Calvins Prädestination gemahnen. Die Romane werden ausführlich dargestellt, sorgfältig unterscheidend zwischen dem zwar orgiengesättigten, aber nie menschenverachtenden Leben des Autors und dem Wirken der von ihm erfundenen Monster. Die Lektüre der Romane wird man sich nach dieser Biografie wohl sparen können, vielleicht mit Ausnahme der frühen, Fragment gebliebenen Reiseerinnerungen aus Italien, in denen Religionskritik und sensibler Kunstverstand reizvolle Detailstudien ergeben. Die Wirkungsgeschichte, der die abschließenden Kapitel gewidmet sind, zeigt denn auch, dass der große Nachhall, der von de Sade ausgeht, mehr in den Widersprüchen seiner Existenz als in seinem Werk begründet ist. Seine Zeitgenossen schon bestach er mit seinem Charme und wurde dennoch mehrfach zum Tode verurteilt. Selbst in der Kaiserzeit, „gnadenhalber“ in die Psychiatrie verbracht, erlaubte es ihm seine Stellung, mit den Insassen Stücke aufzuführen, zu denen die Pariser Schickeria pilgerte. 1814 entschlief der übergewichtige Marquis friedlich im Irrenhaus von Charenton. T h o mas L eit n e r

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ahrhunderte behäbiger Dominanz einer Adelsfamilie auf ihren Ländereien in der sehr provinziellen Provence finden ihr Ende durch den ersten ehrgeizigen Spross seit Generationen. Bis jetzt hatte man sich mit den Früchten der Arbeit der Leibeigenen und Vasallen begnügt und sich daneben in ehrendem Gedenken an die bedeutsamste Figur der Familiengeschichte ergangen: Man schmückte sich mit der Laura Petrarcas (wie übrigens so manch anderes Geschlecht auch).

Soll man die Gestaltung seines eigenen Begräbnisses wirklich den Verwandten und Nachkommen überlassen? Was, wenn dann auf der Trauerfeier Candle in the Wind, Time to Say Goodbye oder gar Sag zum Abschied leise Servus gespielt wird, einer der Songs also, die angeblich zu den beliebtesten Trauerliedern auf Beerdigungen zählen? Dass es auch anders geht, wird mit diesem Buch bewiesen. Eine illustre Reihe von Autoren und Musikern schreibt über den letzten Song. Dabei kommt nicht nur Tieftrauriges und Herzzerreißendes zum Vorschein, sondern auch die eine oder andere musikalische Überraschung. MIT LETZTEN LIEDERN VON Austrofred, Martin Amanshauser, Martin Blumenau, Boris Bukowski, Karl Fluch, Walter Gröbchen, Rainer Krispel, Kommando Elefant, Ernst Molden, Klaus Nüchtern, Fritz Ostermayer, Kurt Palm, Kurt Razelli, Monique Schwitter, Johannes Silberschneider, Clarissa Stadler, Linda Stift, Christian Y. Schmidt, Mika Vember u.a.


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Sachbuch

Hummeln können fliegen – und tun es immer weniger Biologie: Dave Goulson frönt bester „Wald- und Wiesenbiologie“, wenn er ein vom Verschwinden bedrohtes Insekt beschreibt

beginnenden 21. Jahrhunderts verstehen.

Geschichten, die einen bunten Mix aus biologischen Fakten, Einblicken in die Probleme der Forschung und Anekdoten aus seinem Leben bieten.

Und dann gibt es die Wald- und Wiesenbiolo-

Alles dreht sich dabei um Hummeln, eine Gat-

gen (die von Ersteren zumeist etwas abschätzig betrachtet werden). Diese verbrachten ihre Kindheit meist mit Staunen über die irrlichternde Welt großer und kleiner Tiere, schwammen wie Konrad Lorenz mit Graugänsen im Dorfteich oder waren stets auf der Suche nach Regenwürmern, Schlangen oder Vogeleiern. Zu dieser Biologen-Spezies gehört Dave Goulson, der sich heute seiner jugendlichen Identität als Eiersammler schämt, denn diese stehen unter Naturfreunden in der sozialen Hierarchie kaum über Serienmördern (was sie ja in gewisser Hinsicht auch sind). Heute ist Goulson ein angesehener Insektenforscher und einer von Englands bekanntesten Naturschützern, der für seinen Bumblebee Conservation Trust mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Faszination für jene belebte Welt, die uns zwar überall umgibt und sich dennoch unserer Kenntnis entzieht, hat er sich seit seiner Jugend in Norfolk erhalten. Im Unterschied zu Hilal Sezgin (siehe Rezension Seite 41) ist er aber kein empathischer Tierseelenversteher, sondern von jener eher rücksichtslosen Forscherleidenschaft erfüllt, die ihn bereits als Kind überfahrene Tierkadaver aufsammeln, sezieren und präparieren ließ. Mit dieser ungestümen Energie erzählt Goulson auch seine

Dave Goulson: Und sie fliegt doch. Eine kurze Geschichte der Hummel. Hanser, 315 S., € 20,50

tung der Bienen mit weltweit zahlreichen Arten. Der Untertitel des Buchs „Eine kurze Geschichte der Hummel“ zeigt den Anspruch: ebenso fundamental wie Steven Hawkings „Kurze Geschichte der Zeit“ oder ebenso umfassend wie Bill Brysons „Kurze Geschichte von fast allem“ über diese Insektengruppe zu informieren. Und das erscheint durchaus sinnvoll. Zwar erkennt jeder diese markanten Tiere, doch ist ihre Bedeutung für die Agrarindustrie kaum bekannt. Vor etwa hundert Jahren wurden die damals noch kleinräumigen Felder mit Pferden bewirtschaftet, und diese lieben Klee. Deswegen gab es damals großflächig solche Heuwiesen, die bestenfalls mit den Exkrementen der Weidetiere gedüngt wurden. Auf diesen nährstoffarmen Wiesen wuchsen vor allem Hülsenfrüchte, die mit symbiotischen Wurzelbakterien Stickstoff aus der Luft binden. Eine solche Blume ist der Rotklee, eine wichtige Nektarquelle für Bienen und Hummeln. Durch den Einsatz von motorgetriebenen Traktoren gingen zuerst die Futterwiesen, dann der Klee und zuletzt die Hummeln zurück. Die Grüne Revolution ließ nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Einsatz chemischer Düngemittel die Ernteerträge steil

ansteigen, doch damit wurden alle Pflanzen verdrängt, die nährstoffarme Böden bevorzugen. Und mit dem Rückgang des Rotklees wurde auch das markante Summen in den Landschaften Europas selten. Gar nicht zu hören ist es in Tasmanien. Was zumindest für manche Gärtner ein wirtschaftliches Problem ist, denn mangels bestäubender Insekten müssen sie dort mit großem Aufwand ihre Blütenpflanzen von Hand befruchten. Goulson verbrachte einige Zeit in diesem Land, um mögliche Auswirkungen einer Einbürgerung von Hummeln auf die Fauna und Flora zu erheben. Seine Erklärungen, warum dies durchaus weitreichende Folgen haben könnte, ist jedenfalls beste Wald- und Wiesenbiologie, die nicht nur Ökologiestudenten unbedingt lesen sollten. Unter der Vielzahl interessanter Geschichten aus dem Hummelleben fehlt überraschenderweise jene, die im Buchtitel angesprochen wird. Da eine durchschnittliche Hummel 1,2 Gramm wiegt und nur 0,7 cm² Flügelfläche hat, dürfte sie nach den Gesetzen der Aerodynamik gar nicht fliegen können, wie ein Luftfahrtingenieur in den 1930er-Jahren ausgerechnet hat. Dieses Paradox übernahmen später Motivationstrainer unter dem Motto „Die Hummel weiß nicht, dass sie nicht fliegen kann, sie tut es einfach trotzdem“. Erst 1996 bewies der britische Forscher C.P. Ellington, warum die Hummel wirklich fliegen kann – weil ihre Flügel beweglich sind.

Pe ter Iwanie wicz

illustr ation: peter diamond

s gibt jene Biologen, die sich mit Genetik und Biotechnologie beschäftigen E und die Biologie als Leitwissenschaft des


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Zuerst die Menschen, dann die Tiere? Ökologie: 53 funkelnde Geschichten über Tiere, ihre Rechte und die Kurzsichtigkeit der Menschen

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anchmal scheint es, als ob es nur mehr tierfreundliche, bewusste Konsumenten gäbe. Alle sind gegen Massentierhaltung, alle verabscheuen Tiertransporte und alle wollen Fleisch nur beim Bauern ums Eck, den man persönlich kennt, ganz regional und bio kaufen. Dies hört man vor allem von Großstadt- Zur Person bewohnern, wo die Dichte vertrauenswürdiger Landwirte bekanntlich nicht beson- Hilal Sezgin, ders hoch ist. geboren 1970 in auch erst nach einem erfüllten Leben in der Natur ganz friedlich aus dem Leben, denn inzwischen sind auch fast alle gegen industrielle Schlachtungen. Bevorzugt wird eindeutig die „artgerechte“ Schlachtung von tierfreundlich eingesperrten Rindern und Schweinen, denen man „einfühlsam“ die Hoden abgeschnitten hat. Diese Widersprüche im Umgang und in den Beziehungen zu unseren Haustieren zeigt Hilal Sezgin, Besitzerin eines ­eigenen Gnadenhofs für Tiere, in ihrem neuen Buch „Tierleben“ auf. Ohne den heiligen Zorn mancher veganer Aktivisten, ohne den erhobenen Zeigefinger derjenigen, die es immer besser wissen, sondern mit eleganter Sprache, leichter Ironie und gut recherchierten Fakten erzählt sie Geschichten vom Leben anderer Wesen, die ebenso wie wir Charakter, Eigenarten und Seele zeigen. Alle Texte erschienen zwar schon in den Feuilletons deutscher ­Qualitätsmedien wie Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit, dennoch leidet das Buch nicht unter dem Problem vieler Kolumnensammlungen, die einzelne Ideensplitter ohne Spannungsbogen zwischen zwei Buchdeckeln pressen. Sehr geschickt werden die kurzen Essays in Kapitel zusammengefasst und den vier Jahreszeiten zugeordnet. Der „Frühling“ beginnt mit Beschreibungen von Sezgins Freundschaft zu ihren Schafen und Hühnern und hebt diese Tiere aus ihrer Versenkung als landwirtschaftliche Ressource auf die Ebene von Individu-

Frankfurt am Main, ist eine türkisch-deutsche Autorin und Journalistin. Mit „Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen“ lieferte sie bereits im Frühjahr einen Debattenbeitrag zum Thema Tierrechte. Sezgin lebt mit ihren Tieren auf einem Hof im Landkreis Lüneburg.

Hilal Sezgin: Tierleben. Von Schweinen und anderen Zeitgenossen. Illustrationen von Rotraut Susanne Berner. C.H. Beck, 176 S., € 15,40

Gurken ein Eiweißanteil von 50 Prozent zugewiesen wird. Bei der Gegenüberstellung gesundheitlicher Argumente pro und contra vegane Ernährung schreibt sie: „Klar ist Veganismus unheimlich gesund – aber bombenfest erwiesen ist das eben erst für die Tiere, die wir nicht quälen und essen, und nicht für uns Menschen.“ Im Kapitel „Winter“ führt sie dann mit journalistischer Akribie all die unangenehmen Wahrheiten der Tierproduktion vor und demaskiert Glückliches-Schnitzel-Zauber und Marketingsprech: „Tierwohl ist bei Vogler gelebter Alltag und der Grundstein zur guten Schweineprodukten.“ „Gelebter“ Alltag erscheint dann nur mehr als zynische Paraphrase eines Tierzerlegungsgewerbes.

Als Philosophin mit den Schwerpunkten poli-

weil verzerrt zitierter Aussage „Auschwitz fängt da an, wo einer im Schlachthaus steht und denkt: Es sind ja nur Tiere“ nähert sich Sezgin abschließend dem Thema Rechte anderer Lebewesen an. Was gehen uns denn überhaupt Tiere an, wo doch so viele andere Probleme unserer Welt nicht gelöst sind? Darf man sich denn um das Leid von Rindern, Schweinen und Hühnern kümmern, solange Menschen leiden? Dem hält sie entgegen, dass es kein kosmisches Skript gäbe, in welchen Etappen sich Gerechtigkeit auf der Welt auszubreiten hätte. Wer nach der Maxime „Zuerst Menschen, dann die Tiere“ handelt, der wird möglicherweise auch eher dazu tendieren, bei Menschen genauer zu differenzieren, wer des Mitgefühls bedarf und wer nicht. Ein afrikanisches Sprichwort besagt: Solange die Löwen keinen eigenen Geschichtenerzähler haben, werden Jagdgeschichten den Ruhm der Jäger verbreiten. Sezgin erzählt von der wunderbaren und einzigartigen Persönlichkeit anderer Lebewesen, zu denen viele Menschen keine andere Beziehung aufbauen können, als sie zu essen. Ein wunderbares, aufregendes und unaufgeregtes Buch. P e t e r I w a n i e w i c z

tische Theorie und Soziologie sieht Sezgin auch die Querverbindungen zwischen Kapital, Produktion und Markt. Sie erzählt vom seltenen Beispiel eines veganen Schäfers. Dieser besitzt eine Herde, die aber nur mehr aus „Gnadenschafen“ besteht, die er vor der Schlachtung oder aus schlechter Haltung gerettet hat, und belieferte Wochenmärkte mit ökologisch angebautem Obst. Da er den Preis für die Produkte nach der geschätzten Finanzkraft seiner Kunden bemaß, wurde er dafür von der Marktaufsicht ausgeschlossen, weil dies angeblich den Bestimmungen des freien Wettbewerbs zuwiderlief. In den Kapiteln „Sommer“ und „Herbst“ umkreist Sezgin das Phänomen des Veganismus und zeigt ihn als moderne Bewegung und Antwort auf die zunehmende Industrialisierung der Tierhaltung, bei der der Kapitalismus Reproduktion, Wachstum, Körper und Tod in den Produktionsprozess gezwungen und bis zur Unkenntlichkeit deformiert hat. Doch auch bei diesen eher düsteren Aspekten fleischbasierter Ernährung verliert Sezgin nie die nötige selbstkritische Distanz und mokiert sich schon auch mal über die „Delirien rohköstlicher Esoterik“, wenn

Anhand von Theodor Adornos umstrittener,

Nach den beiden Bestseller-Erfolgen Triest abseits der Pfade und Venedig abseits der Pfade entführt Wien uns Wolfgang Salomon in Wien abseits Pfade ABSEITS DER PFADE • BAND der I an Orte seiner Heimatstadt, die oftmals gar nicht so Wien, die Stadt an der blauen Donau: Wolfgang Salomon erkundet mit uns das weit abseits der ausgetretenen touristischen Pfade am Stadtrand liegende Kahlenbergerdorf liegen, den meisten Besuchern aber trotzdem verund philosophiert dort mit Erika Pluhar am Friedhofsbankerl über Marisa Mell, WOLFGANG SALOMON,borgen geboren bleiben. Ob im Norden und Osten (Band I) das Leben und den Tod. Er schwitzt mit 1967 in Wien, ist als Stimmungsvermittder Seele Wiens im „Gänsehäufl“, begleitet ler im kulinarischen, musikalischen oder und im Herzen undden Westen (Band II): Entdecken Sie Fiaker-Willi auf seinem Weg in die Arbeit, kulturellen Bereich tätig. Er bekocht seit trifft beim auf denArt „Ausbrecherdie Donaumetropole aufKriminalmuseum ganz neue und Weise. einem Jahrzehnt in seinem eigenen

Nach den beiden Bestselle Triest abseits der Pfade u abseits der Pfade entführt Salomon in Band I von Wie Pfade nun an Orte und Plä Heimatstadt, die oftmals g abseits der breit ausgetrete tischen Pfade liegen, aber d Wienbesuchern trotzdem v bleiben.

Wien ABSEITS DER PFADE

• BAND I

Seine fotografischen Rundgänge zeigt er auf www.abseitsderpfade.at.

könig“ Adolf Schandl, erkundet die Welt der Daubelfischer an der Donau, zeigt uns, wo einer der besten Winzer Wiens seinen Heurigen hat, und besucht „am Himmel“ eine Naturhonigproduzentin.

WOLFGANG SALOMON •

Lokal seine Gäste mit individuellen Menüs, verwöhnt sie mit persönlich ausgesuchten Weinen, für die er durch ganz Europa reist, und sorgt auch für den passenden musikalischen Rahmen. Er versteht es, Menschen kulturell mit seinen Reiseerlebnissen und seiner Sicht der Welt zu begeistern. Seine Liebe gilt dem Meer, der Literatur, der SchwarzWeiß-Fotografie und seiner Familie. Zuletzt erschienen: Triest abseits der Pfade, Braumüller 2013; Venedig abseits der Pfade, Braumüller 2014.

Ergänzt mit zahlreichen Sch Fotos, kulinarischen Adress Rezepten aus der Küche W uns Wolfgang Salomon „se wie man sie sonst in keinem finden kann.

WO L F G A N G SA LO M O N

A B S EI T S D ER PFA D E BAND I

ISBN 978-3-99100-116-4 € 14,90

foto: wikipedia

Vermutlich scheiden diese glücklichen Tiere

en. Das schafft Sezgin mit einem bewundernswert lockeren Schreibstil und einer hohen journalistischen, geradezu literarischen Qualität der Sprache. Trotz des im Hintergrund allgegenwärtigen Tierleids durchzieht ihre Texte feine Ironie: „Ich habe einmal einen Artikel über Leben und Tod deutscher Mastschweine geschrieben. Es war ein trauriger Text. Ein Freund gab ihn seiner Mutter zu lesen, sie war fassungslos. Sie empfand großes Mitleid mit den Schweinen und ihrem Leben in engen Ställen, ohne Stroh und auf Spaltenböden. Und sie sagte aus tiefsten Herzen: ,Zum Glück esse ich kein Schwein mehr. Nur mehr Hühnchen und Rind.‘ Ja, das ist Mitleid, ein Funke zumindest. Leider schafft er es den Weg zur Flamme nicht.“

Wolfgang Salomon Wien abseits der Pfade Bd. I www.braumueller.at 200 S., brosch., € 14,90 ISBN 978-3-99100-116-4

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Sachbuch

Mali, Dijon, Wien und die Widersprüche der Welten Reisen: Doris Byers exzellenter literarisch-anthropologischer Reisebericht mit Fotos von Abdoulaye Sima führt nach Afrika ie sind ein ungleiches, unwahrscheinliS ches Team: Doris Byer, Wienerin, Jahrgang 1942, Anthropologin und erfahrene

Forschungsreisende wie geübte Einzelgängerin, und Abdoulaye Sima, ein junger Franzose westafrikanischer Abstammung, Jahrgang 1973, aufgewachsen in Dijon, von Beruf Bühnenregisseur und Fotograf mit den Wohnorten Paris und Aix-en-Provence. Über den Weg gelaufen sind die beiden einander zufällig, als eigenbrötlerische Touristen am Rand der Sahara in der südmarokkanischen Oase Tigmart. „In Wien oder in Paris hätten wir uns sicher nicht getroffen“, schreibt Byer in „Mali. Eine Spurensuche“, das sie über die Geschichte ihrer nachfolgenden Reisen mit Abdoulaye Sima geschrieben hat. Der ist auf dem Weg in die Heimat seiner Herkunftsfamilie in Tigmart gestrandet und schließt sich nun, wo es für ihn aufgrund gesperrter Grenzen kein Weiterkommen mehr auf dem Landweg nach Süden gibt, stattdessen Doris Byer auf ihrer Rückreise durch Marokko an. Aus dieser ersten gemeinsamen Reise entsteht

die Idee zu einem Projekt. Später, als Byer und Sima dieses große Ziel schon ein paarmal aus den Augen verloren haben, wird Byer es einmal so zusammenfassen, nämlich „dass sie gemeinsam die Geschichte seiner Familie zwischen Afrika und Europa vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens erarbeiten wollten, um voneinander zu lernen und das Verhältnis zwischen den bei-

den Kontinenten in einem neuen Licht zu sehen“. Drei emotional anstrengende Reisen nach Mali und in den Senegal unternehmen sie 2002, 2005 und 2006 miteinander, und Byer besucht auch Simas Eltern in Dijon, die dort seit den 1960er-Jahren leben und arbeiten. Herausgekommen ist bei diesem aufwändigen Vorhaben eine ganz ungewöhnliche Art von Buch, in dem Byer wie schon zuvor in „Essaouira, endlich“ (2004) über die Grenzen ihrer wissenschaftlichen Disziplin hinausgeht. „Mali“ ist keine kulturanthropologische Studie, es ist ein exzellenter, vielseitiger literarisch-anthropologischer Reise- und Erfahrungsbericht, der sich aus vielen Elementen zusammensetzt. Da ist die Familiengeschichte der Simas zwischen Europa und Westafrika. Da ist die bis zurück ins 13. Jahrhundert reichende Geschichte des einflussreichen Volks der Soninké, dem die Familie angehört. Ebenso erzählt Byer in Ausschnitten von der Kolonialgeschichte des früheren Westsudan, vom heutigen Alltagsleben in Mali oder von den Reiseerlebnissen in einem von den Nachwirkungen der Entkolonialisierung gezeichneten Land, das auf Umwegen über weit verzweigte und für den Einzelnen oft erstickend dicht gewobene Familienbande doch funktioniert. Eingestreut sind Porträts von zahlreichen Cousins, Tanten oder Onkeln von Abdoulaye Sima, denen sie unterwegs begegnen. Die unsichtbaren Verhaltensregeln, die in den

Städten und Dörfern entlang der Flüsse Niger und Senegal gelten, sind für Byer trotz ihrer vielfältigen Erfahrungen mitunter so schwer zu durchschauen, dass sie nicht nur einmal zur Einsicht kommt, einfach nichts richtig machen zu können. Es ist ein konservatives Milieu, dem Simas Fa-

Doris Byer: Mali. Eine Spurensuche. Mit Fotos von Abdoulaye Sima. Droschl, 400 S., € 26,80

milie entstammt, in dem „starke Frauen, die zur totalen Abhängigkeit erzogen worden waren, nun auch totale Abhängigkeit reklamierten, und zwar mit ihrer ganzen Stärke“. Auch Sima fühlt sich nicht selten befangen, wird als „Cousin“ oder „Sohn aus Frankreich“ meist hofiert, mitunter aber auch kritisiert, weil er den Geboten des Islam nicht genug folgt oder die Sprache seines Volkes nicht spricht. Doris Byer tritt in diesem Buch nicht als Ich-Erzählerin auf. Sie spricht von sich selbst in der dritten Person. Sie ist „Doris“ oder „die Frau aus Wien“. Das ist der einzig seltsam anmutende Kniff dieses famosen, facettenreichen Buchs, der zweifellos auf Entfremdung und Distanzierung aus ist und damit auch Erfolg hat. Dessen ungeachtet lässt sich aus diesem Buch nicht nur viel lernen und erfahren. Es ist auch ein exzellentes Lehrstück darin, wie souverän man als Beschreibende mit Widersprüchen umgehen kann, die einem allerorten begegnen – und erst recht, wenn Menschen über Generationen hinweg zwischen zwei Welten leben.

J ul i a K os p ac h

Das ideologische Zeitalter und die Eihaut aus Büchern Autobiografie: Ulrich Raulff erinnert sich an seine Lesesozialisation in den 1970er-Jahren, dem Jahrzehnt des Taschenbuchs hatte das, was man sich unter 68 vorIso,chstellt, teach ins, Demos, freie Liebe und verpasst. Als es losging, war ich noch

auf der Schule, dann kam die Bundeswehr, und als ich wieder auf der Straße stand, war das Fest vorbei. Oder der Spuk, wie man will.“ Der spätere Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung und heutige Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach Ulrich Raulff erinnert sich an seinen Studienbeginn im mittelhessischen Marburg – eine schwierige Zeit für einen, der sich anschickte, „ein Intellektueller zu werden“. Und wiederum, von heute aus gesehen, auch nicht. Denn in den 1970er-Jahren wurde das Denken, die Theorie, wurden die Bücher noch ernst genommen – und von ihnen nichts weniger als der „große Durchblick“ erhofft. Jeder neue Suhrkamp-WissenschaftBand wurde mit einer Inbrunst erwartet wie heutzutage nur noch die neueste Version des iPhone. Im „Jahrzehnt des Taschenbuchs“, konstatiert Raulff, glaubte man noch an den „Wert von Begriffen und ihre Bedeutung für das Leben“. In Diskussionen ging es noch „um mindestens alles“. Gelesen wurde mit Bleistift und vor Bedeutungsschwere triefenden Randnotizen: „Sehr gut! Dialektik. Stillstand. Geschichtsbild.“ Oder manchmal auch nur, um die Liebe einer

Frau zu erringen, wie der dunkelhaarigen Rita, die dem lesehungrigen Jungstuden-

ten immer eine Lektürelänge voraus zu sein schien. Die Wohnungen dieser Besessenen besaßen eine „zweite, innere Hülle aus Büchern. Wem es zuerst gelang, die intellektuelle Eihaut zu schließen, indem er alle Wände restlos mit Büchern überzog, hatte gewonnen.“ Mit der Schilderung der frühen Jahre seines Lesens – beginnend mit der Lektüre des Fünfjährigen über die Geschichte des Panamakanals – liefert Raulff ein kritisches und auch ein wenig nostalgisches Zeitpor­trät ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auch was sein eigenes Leben betrifft. Akademische Lehrer, Freunde und Weggefährten bevölkern diese Autobiografie eher am Rande, die sich als Bildungsgeschichte eines Geistes lesen lässt und sich dabei immer wieder zu poetischen Miniaturen verdichtet, wie etwa einem Ausflug über die Bedeutung des Wortes „Schlüpfer“. Außer in der Episode über Rita erfährt man wenig über sein Liebes- und Privatleben.

zont: Die Herrschaft des Textes wurde durch jene des Bildes ersetzt, und Raulff ging ans Londoner Warburg-Institut. Sein letztes Buch „Kreis ohne Meister“ (2009)

Den Lebensstationen entsprechen geistige

Interessen: In Marburg dominiert noch der Neomarxismus, vor dem der unsichere und gleichzeitig arrogante junge Mann nach ­Paris flieht, um u.a. bei Michel Foucault zu studieren. Dem Eintauchen in den Strukturalismus – aus dem Übersetzungen ins Deutsche von Philosophen wie Deleuze oder Virilio hervorgingen – folgt die nächste Fluchtbewegung, denn Ende der1970erJahre erschien eine neue Disziplin am Hori-

Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens. Klett-Cotta, 176 S., € 18,50

über Stefan George, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2010, charakterisiert die Stoßrichtung des Erkenntnisinteresses von Ulrich Raulff und die Faszination, die das Schwierige, Mystische, Unverständliche – beginnend mit der unverstandenen Geschichte des Panamakanals – nach wie vor auf ihn ausüben. Adorno/Horkheimer, der Strukturalismus, Heidegger, George und eben Warburg, der eine Theorie bot, „die obendrein mit einer Prise Magie und Divination gewürzt war“. Da scheint es nur folgerichtig, dass Raulff meint, die intellektuelle Biografie Aby Warburgs, verfasst von dem Skeptiker und Realisten Ernst Gombrich, sei dem „genialen Mann nicht gerecht“ geworden. „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“ beschreibt eine untergegangene Welt, in der der Weg zum Wissen noch nicht über Suchmaschinen, sondern in das dunkle Herz von Bibliotheken und die Unaufgeräumtheit von Zettelkästen führte: den langen Stopp an der „letzten Printtankstelle vor der Datenautobahn“, als man zwar auch schon nervös, flüchtig und querbeet las, aber noch „nicht mit den kalten Augen von Google“, sondern mit heißen Ohren. K i rst i n B r e i t e n f e ll n e r


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Es ist kurz nach fünf Minuten vor zwölf Ökologie: Die Erzählerin und Sachbuchautorin Karen Duve stellt der Menschheit eine düstere Prognose

D

as Ende ist nah. Es braucht nur vier Worte, um sich auf das neue Buch von Karen Duve einzustimmen. Die norddeutsche Autorin mit ungewöhnlicher Laufbahn – abgebrochene Ausbildung zur Steuerinspektorin, lange Jahre Taxifahrerin in Hamburg, ab Mitte 30 erfolgreiche Romanautorin und in den letzten Jahren verstärkt als Verfasserin von Sachbüchern aktiv – legt nach ihrem Bestseller „Anständig essen. Ein Selbstversuch“ (2010) einen Essay über den drohenden Kollaps der Zivilisation vor. „Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen“ handelt davon, wie knapp die Menschheit vor dem Zusammenbruch steht, weil es einfach nicht gelingt, mit der Ausbeutung von Ressourcen Schluss zu machen und eine wirkliche Trendwende – man kann, wie die Autorin, durchaus auch von einer „Revolution“ sprechen – zu vollziehen.

foto: wikipedia/Justus Nussbaum

Es ist kurz nach fünf Minuten vor zwölf, wenn

es nach Duve geht. Und auch wenn einem das, wovon sie schreibt, naturgemäß nicht gefallen kann, muss man ihr in sehr vielen Punkten recht geben. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir längst, dass das Aufrechterhalten unseres Lebensstils nicht ewig möglich sein wird und dass das auf Kosten unserer Kinder (oder spätestens Enkelkinder) passiert, denen wir einen geplünderten Planeten zurücklassen werden. Doch nur zu gern sehen wir wohlhabenden Mitteleuropäer weg und lassen uns von Wirtschaft und Politik einlullen. Grundlegende Reformen bleiben aus, weil niemand in einer Machtposition zu sagen wagt, wie brenzlig es schon ist – klar, denn dann wäre er seine Position schnell wieder los. Politik und Geschäftswelt funktionieren gleich: Schnelle Gewinne zählen mehr als längerfristige Lösungen, die bedeuten würden, sich massiv einschränken zu müssen. Was will Karen Duve mit ihrem Buch erreichen? In erster Linie will sie uns die

vernebelten Augen öffnen: „Sind die Überschwemmungen noch nicht hoch genug, die Stürme nicht verheerend genug gewesen?“, schreibt sie in der Einleitung. „Ist es denn völlig unerheblich, wenn der UN-Klimarat und der Club of Rome mit einer alarmierenden Studie nach der anderen darauf hinweisen, dass das Ausbleiben von konsequenten Maßnahmen – und zwar sofort, jetzt gleich, nicht erst in 20 Jahren! – die Menschheit unweigerlich in eine Katastrophe führen wird?“ Duve gibt auch gleich die Antwort darauf: „Alle, die es wissen wollen, wissen sehr gut, was da auf uns zukommt. Weiteres Wirtschaftswachstum wird nur noch sehr kurzfristig zu mehr Wohlstand führen, längerfristig aber bloß noch zu mehr Klimaerwärmung, mehr Müll, mehr Hunger, mehr Dürrekatastrophen, mehr Waldbränden und mehr Überschwemmungen. Sehr viel mehr Überschwemmungen.“ Also, packen wir’s an? So leicht ist es leider nicht. Im Hauptteil des Buches setzt Duve sich mit Eigenschaften von Menschen auseinander, die die schon länger notwendige Umkehr verhindern. Es handelt sich dabei blöderweise um Merkmale, die vor allem bei der Besetzung von wichtigen Positionen in Wirtschaft, Forschung oder Politik gefragt sind: Einsatzbereitschaft, Risikobereitschaft, Selbstvertrauen, Durchsetzungsvermögen.

Zur Person Karen Duve (Jg. 1961) gehört zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen. Mit „Anständig essen. Ein Selbstversuch“ gelang ihr 2011 ein erfolgreicher Debattenbeitrag zu Ernährung und Tierrecht. Duve lebt seit 2009 mit Tieren auf einem Hof in der Märkischen Schweiz, Brandenburg

Laut Duve sind es schlichtweg die Falschen, die

den Kahn steuern und uns immer weiter in den Sumpf führen: „Man macht schließlich nicht deswegen Karriere, weil man intelligenter, kompetenter oder sozialer als andere ist, sondern weil man gemeiner, gieriger, aggressiver und schamloser ist.“ Und: „Was uns da seit jeher als klassische Unternehmertugend gepriesen wird, würde sich bei genauer Betrachtung aber auch für eine Verbrecherlaufbahn eignen.“ Duve stellt unterschiedliche Berufszweige an den Pranger: nur an ihrem Geld und Status interessierte Börsenmakler; Physi-

Karen Duve: Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen. Galiani Berlin, 182 S., € 12,40

ker, die noch kurz vor Fukushima erklärten, wie minimal die Wahrscheinlichkeit von Zwischenfällen in Atomkraftwerken sei; die Bauernlobby, die dafür sorgt, dass Tiere weiter mit Antibiotika vollgepumpt werden, mit der Folge, dass immer mehr Antibiotika bei Menschen keine Wirkung mehr zeigen; oder die Pharmaindustrie, die die Antibiotika-Forschung trotzdem praktisch eingestellt hat, weil sie nicht profitabel ist. Das ist eine erstklassige Runterzieher-Lektü-

re. Aber wo bleibt das Positive? Im letzten Drittel wagt Duve den Schritt zu möglichen Lösungsansätzen. Einer wäre ihres Erachtens, mehr Frauen in leitender Funktion und in Aufsichtsräten sitzen zu haben, notfalls mit einer 50-Prozent-Quote per Gesetz. Die im Untertitel erwähnten „Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen“ sind nämlich bis heute großteils Männer. Nicht alle Männer seien so schlimm, schränkt Duve ein, aber die, die sich auf eine Karriere mit 16-Stunden-Tagen einließen. Manchmal neigt die Autorin zu SchwarzWeiß-Malerei, um die Botschaft rüberzubringen. Das geht in Ordnung. Was beim Lesen saurer aufstößt, ist der legere Umgang mit komplexen Zusammenhängen. Wenn es um den Stand der Forschung in einer bestimmten Disziplin geht, genügt Duve oft schon ein Zitat aus einem Zeitungsartikel, um Auskennertum zu signalisieren. Das ist insofern schade, als es diesen wichtigen Essay manchmal in ein etwas unseriöses Licht rückt. Das Stilmittel der Wiederholung und Variation wendet Duve dagegen sehr geschickt an. Immer wieder bläut sie uns mit leicht abgewandelten Worten ein, was alles falsch läuft. Am Ende kann niemand behaupten, die Botschaft des Buches nicht verstanden zu haben: Das Ende ist nah. Ganz am Schluss spielt Duve ihren Hang zu böser Ironie voll aus: „Es kann doch eigentlich nur besser werden.“ Nachdem der Homo sapiens ausgestorben ist. SEBASTIAN FASTHUBER

Ferngesteuerte Gewalt Eine Theorie der Drohne

www.passagen.at

„Dieses Buch zeigt den Ernst der ethischen, psychologischen, rechtlichen Fragen, die dieses neue Wunderwerk der militärischen Technik stellt.“ France Culture

Herausgegeben von Peter Engelmann Aus dem Französischen von Christian Leitner 978-3-7092-0133-6 288 Seiten | € 29,90

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Sachbuch

Von Wölfen, Schafen und mangelnden Hunden Biologie: Die Wölfe sind zurück und haben in Mitteleuropa sowohl Befürworter als auch Gegner, erzählt Eckhard Fuhr or kurzem machten Wölfe auf eiV ner Kärntner Alm von sich reden. Und nicht nur dort. Nachdem sie Jahr-

hunderte an die Ränder Europas verdrängt worden waren, gelang Wölfen im gesamten mitteleuropäischen Raum seit der Jahrtausendwende ein bemerkenswertes Comeback. Das haben sie mit anderen Großtieren gemeinsam, darunter Biber und Bär. Was sind die Chancen und Schattenseiten dieser Rückkehr? Wie begründet sind die Warnungen der Viehzüchter, die sich vor allem im Alpenraum mit der Rückkehr der Wölfe partout nicht arrangieren wollen? Oder nicht können? Stimmt es, dass sich Wölfe und Viehzucht

in den Alpen gegenseitig ausschließen? Wie erklärt es sich, dass Schafzüchter in Nord- und Ostdeutschland, wo schon seit Jahren Wolfsrudel leben, mit den Neuankömmlingen offenbar besser zurechtkommen? Diesen Fragen ist der Journalist und Jäger Eckhard Fuhr nachgegangen. Eines gleich vorweg: Fuhr, der als Kolumnist für die Welt eher konservative Positionen zu Themen rund um Naturschutz, Landwirtschaft und Jagd vertritt (so wandte er sich vehement gegen die Positionen der Tierrechtlerin Hilal Sezgin, siehe Rezension S. 41), hat ein abwechslungsreiches, differenziertes Buch rund um den Wolf geschrieben. Er geht der langen gemeinsamen Entwicklungsgeschichte von Mensch und Wolf auf den Grund und behandelt das Verhältnis von Wolf und Hund. Mehrmals beruft sich Fuhr dabei auf den österreichischen Verhaltensforscher und Wolfspezialisten Kurt Kotrschall. Die enge Verbundenheit insbesondere von Frauen und Wölfen illustriert Fuhr an drei prominenten Beispielen, darunter die Musikerin Hélène Grimaud und die Forscherin Gudrun Pflüger. Auch Trendphänomenen wie Managementtraining durch den Einsatz von Wölfen, die sozusagen „sanfte“ Führung durch natürliche Autorität lehren sollen, geht er nach. Dass Fuhr Zugang zu Jagdkreisen und

illustr ation: Peter diamond

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-zeitschriften und den Wolfsmanagement-Einrichtungen Sachsens und Brandenburgs hat, kommt seiner Recherche zugute. Er kennt die Positionen der Verbände und Medien, die sich offiziell zum Wolfsschutz bekennen, und auch die nicht wenigen, aber anonymen Wolfshasser unter den Jägern Mitteleuropas, die keinen anderen „Superjäger“ neben sich dulden wollen. Daraus erklären sich die illegalen Wolfsabschüsse, aber auch die „Wolfs­ toleranz“, die die „Rückkehr der Wölfe“ nach Deutschland erst möglich gemacht hat. Ebenso wie ein grundsätz-

licher gesellschaftlicher Meinungsumschwung zugunsten von Raubtieren in den letzten dreißig Jahren, den Fuhr durchaus auf den Einfluss der Naturschutz- und Umweltbewegung zurückführt. In einer mehrheitlich agrarindustriell geprägten Landschaft finden Wölfe ausreichend Beute in Form von Rotund Rehwild, aber auch den sich rasant vermehrenden Wildschweinen, die vom Maisanbau profitieren. Fuhr geht auf den Eiertanz des Freistaates Bayern ein, dessen Regierung und Beamte es sich spätestens seit der Affäre um den unglücklichen Braunbären Bruno nicht nachsagen lassen wollen, mit Großtieren unter Artenschutz nicht umgehen zu können. Leider, so das vorläufige Fazit, sei es in alpinen Regionen um die Gelassenheit dem Wolf gegenüber schlecht bestellt. Fuhr schließt sich dem Aufruf des WWF-Wildbiologen Janosch Arnold an, der den Rat gibt, Wölfe „weder zu glorifizieren noch zu dämonisieren“. Leider gebe es noch kein überzeugendes

Konzept dafür, Wolfsschutz und Schafweidewirtschaft in den Bergen miteinander zu vereinen. Denn Schafhaltung in den alpinen Regionen bedeute, dass Schafe unbewacht und ohne Abzäunung den Sommer auf Almen verbringen und erst im Herbst wieder „eingesammelt“ würden. Diese Praxis der alpinen Schafhalter, die oft am Existenzminimum agierten, passe mit der Präsenz von Wölfen nicht zusammen und müsse geändert werden. Den Schafhaltern in den Ebenen Nord- und Ostdeutschlands falle die Umstellung dahingegen leichter, da sie sich teilweise der Tradition der Herdenschutzhunde besonnen hätten. Andererseits müsse die Gesellschaft Verständnis dafür aufbringen, wenn Schafhalter von Politik und Verwaltung durch Kompensationszahlungen für von Wölfen gerissene Schafe finanziell entschädigt werden wollten. Schließlich leisteten ihre Herden durch die extensive Landschaftspflege auch einen Dienst am Gemeinschaftswesen. Fuhr geht sogar so weit, die Frage zu stellen, ob die aufwendige Behirtung von Schafherden nicht von der Allgemeinheit finanziert werden sollte – Schafhirten im öffentlichen Dienst, sozusagen.

K a r i n C hl a dek

Eckhard Fuhr: Die Rückkehr der Wölfe. Wie ein Heimkehrer unser Leben verändert. Riemann, 224 S., € 20,60


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Die Freude flügge gewordener Mauersegler im Himmel Ökologie: Andreas Weber hat ein poetisches Sachbuch über die Erotik und die Verbundenheit des Lebens geschrieben ine erotische Ökologie? Was soll das E sein? Was zuerst seltsam klingt, wird klarer, wenn der Publizist Andreas Weber

erklärt, dass es ihm vor allem um Verbundenheit geht, um ein umfassenderes Verständnis von Liebe, nämlich die Liebe zur Welt. Liebe und Erotik möchte er nicht als kitschiges Gefühl in einer Zweierbeziehung verstanden wissen, sondern als unbändige Kraft der Fülle und schöpferischen Energie. Seine Grundthese einer erotischen Ökologie lautet: „Sich selbst seine Lebendigkeit zu erlauben heißt: sich selbst zu lieben – und zugleich die schöpferische Welt, die ihrem Prinzip nach zutiefst lebendig ist.“ Das klingt zunächst einmal ziemlich esoterisch.

Anhand der vielen Beispiele von persönlichen Erlebnissen von Verbundenheit mit der Mitwelt, die Weber anführt, wird seine These jedoch um einiges nachvollziehbarer, wenn sie auch oft im Poetischen hängenbleibt. Aber das ist ja durchaus legitim. Weber beruft sich etwa auf den deutschen Dichter Rainer Maria Rilke oder den US-amerikanischen Autor und Umweltaktivisten Gary Snyder. Und führt als Beispiel dieser Lebenserotik die für alle Anwesenden spürbare Freude von jungen, gerade flügge gewordenen Mauerseglern im Juli-Abendhimmel an – eine Art Rundumflow, ein intensives und offenbar auch zwischen den Spezies nachvollziehbares Erlebnis, von dem auch weniger philosophisch veranlag-

te Italienurlauber gerne berichten. Lebendigkeit und das Gefühl der Verbundenheit sieht Weber in engem Zusammenhang mit Spiel und Freude. „Liebe ist kein angenehmes Gefühl, sondern das praktische Prinzip schöpferischer Lebendigkeit“, stellt er fest. Es geht um Kooperation statt Konkurrenz, um die Zusammenarbeit verschiedener Organismen, beginnend bei Zellverbänden. Heutzutage gehört es zum biologischen Allgemeinwissen, dass der menschliche Körper ohne die Unzahl von Bakterien, die etwa den MagenDarm-Trakt besiedeln, gar nicht funktionsfähig wäre. Weber leugnet nie, dass es Konkurrenz und Tod in der Natur gibt, betont aber, diese Phänomene seien nur eine Seite der Medaille. Durch das „Wettrüsten“ zwischen Jägern und potenziellen Beutetieren seien beide zunehmend aufeinander abgestimmt und auch voneinander abhängig. Ohne Tod kein Leben. Weber ist Biologe und Philosoph. Ähnlich wie

Jakob Johann von Uexküll oder Francisco Varela (beim dem er promovierte) setzt sich Weber in seiner publizistischen Tätigkeit (in literarischen Sachbüchern, aber auch in Medien wie GEO, National Geographic, mare, Die Zeit oder FAZ) für eine Überwindung der mechanistischen Interpretation von Lebensphänomenen ein. Nun ist der Gedanke, dass alles Lebendige miteinander verbunden sei, nicht neu – man denke

Alles Wind oder was? Ökologie: Dirk Maxeiner und Michael Miersch sezieren anhand von Klimawandel und Energiewende den Umweltdiskurs irk Maxeiner und ­Michael Miersch haben sich in „Alles D grün und gut?“ die großen Kaliber

des aktuellen Umweltdiskurses vorgenommen: Klimawandeldebatte und Energiewende. Nicht alles dabei ist neu: Dass der Ausbau der klimaschonenden Wasserkraft nicht unbedingt umweltverträglich sein muss, muss man gerade in Österreich niemandem erklären. Dass „Biosprit“ besser Agrosprit genannt wird und der biologischen Vielfalt in Europa sowie in tropischen Wäldern nicht gerade zuträglich ist, wohl auch nicht. Dass Windräder Vögel und Fledermäuse töten, sei hingegen eher unbekannt und werde im Namen von Klimaschutz und Atomausstieg von vielen Öko-Aktivisten bewusst verschwiegen, meinen die Autoren. „Die Klimaerwärmung ist ein Umweltproblem unter vielen“, so Maxeiner/Miersch. Sie leugnen den von Menschen verursachten Klimawandel zwar nicht, halten ihn aber auch nicht für die finale Katastrophe, als die er meist dargestellt wird. Liest man die genau recherchierte Entstehungsgeschichte der Klimadebatte und ihre offenbar zunehmende Ideologisierung, ist man geneigt, sich der Position der Autoren anzuschließen.

Andreas Weber: Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie. Kösel, 287 S., € 20,60

Nicht zuletzt, weil die beiden auch andere Topoi wie das offensichtlich sinnlose „Wassersparen“ im wasserreichen Mitteleuropa hinterfragen. Oder die seit Thomas Robert Malthus (1766–1834) präsente These von der „Überbevölkerung“, die etwa als Begründung dafür diente, dass die englischen Machthaber die Hungersnot in Irland von 1845 und damit den Hungertod von Millionen „überzähliger“ Menschen hinnahmen. Sosehr die genaue Recherche gefällt, ein Unbehagen bleibt: Ist wirklich so gut wie alles, was den „grünen“ Diskurs in den letzten Jahren beherrscht hat, stark übertrieben? Auch dazu gibt es ebenso genau recherchierte Bücher und Filme, etwa von der französischen Journalistin MarieMonique Robin. K a r i n C h ladek

nur an die Gaia-Theorie von James Lovelock oder an ursprüngliche Religionen. Mit den Schilderungen seiner persönlichen Erlebnisse von Verbundenheit mit natürlicher, aber auch städtischer Umgebung (im italienischen Ligurien, wo Weber eine Zeitlang lebte, und in Berlin) macht Weber deutlich, was er meint. Vor allem die sinnlich überwältigende Erfahrung mediterraner Sommer und die ebenso beeindruckende Erfahrung des jahreszeitlich bedingten „Todes“ der Natur haben ihn geprägt. Andreas Weber hat ein ausgesprochen philosophisches Buch verfasst. Persönliche Erlebnisse gehören zu seinen Argumenten dazu und machen sie nachvollziehbar. Dem Zwang zur wissenschaftlichen „Objektivität“ gibt er nicht nach, er würde auch sicher bestreiten, dass es diese „Objektivität“ gibt. Vielem, was er sagt, kann zugestimmt werden, vieles ist nicht gerade neu, einiges auch redundant. Dennoch wird sich eine interdisziplinäre, eher geisteswissenschaftlich orientierte Leserschaft, die dem Poetischen nicht abgeneigt ist, mit so einigem, was Weber beschreibt, identifizieren können. Wer sich Fakten erwartet, wird enttäuscht sein. Aber Leser, die primär Interesse an Fakten und Zahlen haben, werden wohl kaum zu einem Buch mit dem Untertitel „Eine erotische Ökologie“ greifen – einem Sachbuch, das sympathisch aus der Reihe tanzt. K a r i n C h ladek

Falter s REISEFÜHRER NEU

Othmar Pruckner

DAS WALDVIERTEL

NATUR • KULTUR • ESSEN • TRINKEN • SPORT

Dirk Maxeiner und Michael Miersch: Alles grün und gut? Eine Bilanz des ökologischen Denkens. Knaus, 384 S., € 20,60 (erscheint am 13.10.)

Die Neuauflage des Reiseführers porträtiert die Region und empfiehlt Radtouren, Ausflugsund Wanderziele. Der Band enthält 16 Karten, hunderte Farbfotos, unzählige Telefonnummern, Post- und Internetadressen sowie ein praktisches Ortsregister – die perfekte Grundlage zur Orientierung im Waldviertel.

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424 Seiten, € 29,90

24.09.2014 13:50:48 Uhr


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Sachbuch

Wir haben nicht nur einen Fisch in uns! Evolutionstheorie: Neil Shubin erzählt die Geschichte der Evolution mit seiner bewährten Masche: unterhaltsam und naiv ielleicht hat der Verlag ihn gebeten: Mach’s noch mal, Neil. Und warum V auch nicht? Neil Shubins „Der Fisch in

uns“ war vor einigen Jahren ein beachtli­ cher Erfolg beschieden. Sein neues Buch „Das Universum in dir“ folgt wie schon im Titel demselben Strickmuster. Neil Shubin ist Paläontologe an der Univer­

sität von Chicago. Berühmt wurde er 2004 durch den Fund eines fossilen Fisches. Tik­ taalik verkörpert buchstäblich den Über­ gang von den Fischen zu den Amphibien. Eben den „Fisch in uns“. Die Entdeckung und Interpretation von Tiktaalik lieferten einen schönen Rahmen für Shubins erstes populärwissenschaftliches Buch. „Das Universum in dir“ fehlt dieser per­ sönliche Touch, aber die Grundidee ist die­ selbe – zu beschreiben, wie erdgeschichtli­ che Prozesse sich in unsere Körper einge­ schrieben haben: Das Entstehen der Urwäl­ der nötigte die Primaten dazu, Farben zu sehen, um die leckeren Früchte zwischen den grünen Blättern erkennen zu können. Unsere „innere Uhr“ wird durch die Mond­ zyklen mitbestimmt. Die Domestizierung der Kuh hat ihre Spuren in unserem Ver­ dauungsapparat hinterlassen, nämlich in Enzymen, die Milch abbauen können. Keine Frage, Shubin beherrscht die Re­ zepte erfolgreicher Populärwissenschaft: Anschaulich muss der Text sein, immer wie­ der auch mal witzig, garniert mit eingängi­ gen Metaphern, geschrieben mit Tempo und

Zug. Die Lektüre ist also kurzweilig, nur ist man mitunter etwas verloren. Eine Assozia­ tion führt zur nächsten, hier eine Anekdote, dort ein Wissensschmankerl platziert. Viele Versatzstücke kennt man: die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung als Beleg für den Big Bang, die lange nicht ak­ zeptierte Kontinentalverschiebung nach Al­ fred Wegener, das Aussterben der Dinosau­ rier nach einem Kometeneinschlag etc. Was also soll man gegen ein flott ge­ schriebenes Buch sagen? Es ist naiv, und das gleich in verschiedener Hinsicht. Shubin ist ein naturseliger Diesseits-Mystiker. Bei­ spiel: „Es liegt fast etwas Magisches in der Vorstellung, dass unser Körper, unser Geist und die Ideen, die aus diesem Geist ent­ springen, ihre Wurzeln in der Erdkruste, im Wasser der Ozeane und in den Atomen der Himmelskörper haben.“ So erfahren wir, wie erdgeschichtliche Prozesse uns geprägt haben, aber nicht, wie wir unseren Planeten zugerichtet haben. Die Themen Umweltzerstörung und an­ thropogener Klimawandel kommen prak­ tisch nicht vor. Gerade für Letzteren hät­ te es eine Unmenge an Anknüpfungspunk­ ten gegeben. Wie sich die Klimageschichte anhand von Bohrkernen in der Antarktis oder in Baumresten rekonstruieren lässt, ist ein Leitmotiv Shubins. Aber er schaut nur zurück. Eindimensional fällt auch sein Bild des Wissenschaftlers aus. Immer wieder taucht er selbst als Person auf und erzählt von sei­

ner Fossilienjagd in Grönland oder in der Sahara. Daneben treten aber noch Dutzen­ de mehr oder häufig weniger bekannte For­ scher auf. Galilei et al. sind getrieben von Wissensdurst, manche verkannt, gelegent­ lich auch leicht skurril. Sie werfen Frösche von Institutsdächern, um zu sehen, ob sie dies überleben, sprich: sich von Windhosen getragen verbreiten können.

Neil Shubin: Das Universum in dir. Eine etwas andere Naturgeschichte. S. Fischer, 303 S., € 22,70

Für Shubin sind sie bloße Stichwortgeber, Pappkameraden, die kurz am Wegesrand der Wissenschaftsgeschichte aufpoppen und auf der nächsten Seite schon wieder verges­ sen sind. Der komplexe Prozess der For­ schung, die Gemengelage an Interessen, die Ambivalenz der Wissensproduktion, all das sucht man vergebens. So preist Shubin Nor­ man Borlaug, den „Vater der Grünen Revo­ lution“. Er habe Millionen Menschen „vor dem Hungertod gerettet“. Mag sein, aber so einfach darf es sich ein Autor dann doch nicht machen. Pestizide, Monokulturen und mächtige Agrokonzerne sind kein reiner Se­ gen. Aber beim atemlosen Ausspeien der Wissenshäppchen bleibt Shubin für kom­ plexere Betrachtungen kein Raum. Nochmals: Neil Shubin kann Leser mit seinem lebendigen Stil und umfassenden Wissen für die Naturgeschichte begeistern. Nur sollte sein nächstes Buch etwas weni­ ger kulturblind und dafür etwas selbstrefle­ xiver ausfallen. Wie wäre es mit „Der Treib­ hauseffekt in uns“?

O l i ver H o c h a de l

Wer macht die Revolution, und wer muss sie bezahlen? Geschichte: Karl Schlögel beleuchtet das Verhältnis Russlands zu den Juden anhand von Berliner Debatten der 1920er-Jahre er von Russen, Juden und der Revo­ W lution spricht, begibt sich auf ver­ mintes Terrain. „Die Juden waren schuld an der Oktoberrevolution und dem Un­ tergang Russlands!“, schreien die Anti­ kommunisten. „Jüdisch-bolschewistische ­Weltverschwörung“, fügen die Nazis hin­ zu. Hitler rechtfertigte den Überfall auf die Sowjetunion mit deren Bekämpfung. Anti­ semitismus als Totschlagargument verbin­ det beides. Der Umstand, dass sich am Umsturz aller Verhältnisse im Petrograd des Jahres 1917 – der zur folgenreichsten politischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts wurde – tatsächlich eine beträchtliche Anzahl von Revolutionären jüdischer Herkunft beteilig­ te, macht die Sache nicht einfacher. Der emeritierte Osteuropahistoriker Karl

Schlögel stellt gleich zu Beginn von „Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden“ klar: „Kommunisten wa­ ren innerhalb des Judentums immer nur

eine winzige Minderheit, und Juden hatten in ihrer überwältigenden Mehrheit mit dem Kommunismus nichts zu tun.“ Was Schlögel, der für eine „nicht tribu­ nalisierende Geschichtsschreibung“ plä­ diert, an diesem Gegenstand mit großem polemischem Potenzial eigentlich interes­ siert, bleibt ein wenig im Unklaren. Mög­ licherweise geht es ihm um die endgültige Widerlegung der „Argumente“ der Nazis. Seine Entdeckung des „Vaterländischen Verbandes russischer Juden im Auslande“ im Berlin der 1920er-Jahre – ein Gegen­ stand, für den Schlögel ein ausgewiesener Experte ist – und vor allem des Aufrufes „An die Juden aller Länder!“, der 1922 er­ folgte, ist jedenfalls spektakulär. „Die Trotzkis machten die Revolution, aber die Bronsteins müssen dafür bezah­ len“, heißt es da in Anspielung auf den bür­ gerlichen Namen des Revolutionsführers Leo Trotzki. Im Klartext: Die große Masse der Russen wird „die Juden“ für den Um­ sturz aller Verhältnisse, der sich alsbald als

„Das russische Kapitel im jüdischen Jahrhundert ist nun zu Ende. Die Heimat der größten jüdischen Bevölkerung der Welt ist zu einer kleinen, abgelegenen Provinz des jüdischen Lebens geworden; der jüdischste aller Staaten seit der Zeit des Zweiten Tempels ist vom Erdboden verschwunden“ Jurij Slezkin

nicht besonders gelungen erwies, zur Re­ chenschaft ziehen. Besagte Emigrantenorganisation war auch ver­

antwortlich für die Publikation zweier Bü­ cher, deren Übersetzung den Hauptteil des Buches darstellt. Da ist einerseits die drei­ hundertseitige Schrift „Die Russische Re­ volution und die Judenheit. Bolschewismus und Judentum“ von Daniil Pasmanik mit Überlegungen zur Rolle, die der Erste Welt­ krieg für die Oktoberrevolution spielte, zum Verhältnis von antibolschewistischen „Wei­ ßen“ und Juden sowie einer Untersuchung der Pogrome in der Ukraine während des Bürgerkrieges. In „Die Umwälzung in Russland und das Schicksal der russischen Juden“ reflektieren sechs Publizisten, Historiker und Politiker jüdisch-russisches Selbstverständnis nach der Revolution und gehen der Frage nach, wie wichtig die „Protokolle der Weisen von Zion“, jener Grundtext aller neueren Anti­ semiten, tatsächlich waren. Es geht um das

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S a c h b u c h    Verhältnis zu den Juden anderer Länder und zum Zionismus. Auch hier erklärt Pasmanik dezidiert: „Wir sind für die Trotzkis verantwortlich, solange wir uns von ihm nicht losgesagt haben.“ Der Publizist und Historiker Josef Schechtman konstatiert: „Einstein ist nicht eine Errungenschaft der jüdischen, sondern der deutschen natio­ nalen Kultur.“ Die Geschichte der russischen Juden nach der Oktoberrevolution ist gleichermaßen eine „historia activa“ wie eine „historia lacrimosa“, eine „Geschichte der Frommen und eine Geschichte der Schamlosen“, wie es die Publizistin Sonja Margolina (die Ehefrau von Karl Schlögel) schon vor fast zwanzig Jahren in ihrem Essay „Das Ende der Lügen“ formulierte. Mit 5,3 Millionen Juden war die Sowjetunion das Zentrum des europäischen Judentums. Die russischen Juden demonstrierten

in den 1920er-Jahren mehrheitlich nicht nur Loyalität zur kommunistischen Herrschaft; die Schaffung jüdischer Theater und die Aktivitäten zahlreicher jüdischer Schriftsteller und Künstler von Isaak Babel über Marc Chagall bis El Lissitzky lassen geradezu von einer Blüte jüdischer Kultur sprechen. Das „tragische Erfolgsmodell“, wie der Historiker Jurij Slezkin diese jüdische Sowjet-Integration bezeichnete, wurde durch Hitler und danach durch Stalin beendet. Drei Millionen sowjetischer Juden wurden von den Nazis ermordet; für Stalin war es in der Folge nicht besonders schwierig, die Erinnerung daran in der Gesamtzahl der sowjetischen Kriegstoten von 27 Millionen verschwinden zu lassen. In den Jahren 1968 bis 1994 verließen 1,2 Millionen sowjetischer Juden das Land, heute leben in der Russländischen Föderation nur noch 230.000 Juden. Eine Auseinandersetzung mit Alexander Solschenizyns „Zweihundert Jahre gemeinsam“, der die Geschichte des russischen Judentums in der Gegenwart beendet sah, beschließt Karl Schlögels kleine Geschichte des „jüdischen Kommunismus“. Nicht ohne eine Aufgabe zu formulieren,

die der deutsche Historiker selbst nicht mehr leisten kann: „Dem postsowjetischen russischen Judentum wird eine nicht geringe Rolle zufallen, die Geschichte der russischen Juden im 20. Jahrhundert zu erzählen und ein Narrativ zu finden, in dem die komplexesten und widersprüchlichsten Erfahrungen aufgehoben sind.“ Dann darf man die Frage nach dem „jüdischen Bolschewismus“ als endgültig beantwortet verstehen.

Erich K lein

Karl Schlögel, Karl-Konrad Tschäpe (Hg.): Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Eine Debatte in Berlin 1922/23. Matthes & Seitz, 762 S., € 51,30

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Es begann schon 1000 Jahre vor Galilei Wissenschaftsgeschichte: John Freely belegt, dass moderne Wissenschaft viel älter ist, als gedacht eist wenden sich Physiker der M Geschichte ihres Fachs erst gegen Ende ihrer Karriere intensiver zu – wenn überhaupt. John Freely ist ein prominentes Gegenbeispiel für diese Regel. Geboren 1926 in Brooklyn, New York, misstraute der irischstämmige Amerikaner der damaligen Lehrmeinung bereits, als er seine durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochene Ausbildung wieder aufnahm. Warum sollte die moderne Wissenschaft

erst mit Galileo Galilei, der sich heroisch für das heliozentrische Weltbild des Kopernikus einsetzte, begonnen haben, fragte er sich. Lag das Abendland nach der griechischen Antike tatsächlich so lange im natur-

in Bagdad“ ab. In seinem neuesten Werk, „Aristoteles in Oxford“, schildert er die Wissensentwicklung und -vermittlung von einem Forscher zum nächsten, die in Europa 1000 Jahre vor der Geburt Galileis ihren Anfang nahm. Es geht im Wesentlichen auf seine Zeit am All Souls College in Oxford zurück. Dort war Freely Postdoktorand beim elf Jahre älteren australischen Mittelalterspezialisten Alistair Cameron Crombie, bevor er in Istanbul an der heutigen Bosporus-Universität selbst Professor wurde. Aufgrund der Forschungen Crombies hatte man Wissenschaftsgeschichte in Oxford überhaupt erst zum offiziellen Lehrfach erhoben. John Freely beginnt seine Ausführun-

„Ob Fischer, ob Schuster, ob Physiker: Jeder Mensch braucht einen Lehrer. Darum geht es mir in diesem Buch – um die Wissensvermittlung von einem Menschen zum nächsten“

J o h n F r ee l y

wissenschaftlichen Dunkeln, wie behauptet wurde? Zurück von seinem zweijährigen US-Navy-Einsatz in Asien hatte Free­ly, knapp 20-jährig, am Iona College in New Rochelle ein GI-Stipendium erhalten und auf dem Campus gleich am ersten Tag die Statue des Columban von Iona entdeckt, des Schutzpatrons seiner Schule. Dieser heiliggesprochene Klostergründer war im sechsten Jahrhundert einer der Protagonisten einer Bildungsoffensive gewesen. Schriften meist isoliert arbeitender Gelehrter wie Boëthius oder Cassiodor waren abgeschrieben und verbreitet worden, sodass immer mehr europäische Denker alte Werke studieren konnten, zumal im 12. und 13. Jahrhundert auch die ersten Universitäten Europas entstanden. In Wahrheit, das wurde John Freely bald klar, war nach dem Niedergang der römischen Klassik und dem verheerenden Brand der legendären Bibliothek von Alexandria nie alles Wissen verlorengegangen.

gen mit einem Blick auf das Europa an der Wende von der Spätantike zum frühen Mittelalter, als mit der Plünderung Roms durch die Goten 410 die „Wirren und Wanderungen“ einsetzten. Ungemein detailreich und ausgestattet mit seinen über Jahrzehnte auf vielen Reisen selbst zusammengetragenen Quellen gelangt er im 17. Kapitel endlich zu Isaac Newton. Dessen Forschungen bilden den krönenden Abschluss der langen Reise durch Europa und weisen zugleich der Wissenschaftskultur, die wir als modern bezeichnen, den Weg. Man findet auf dieser Reise viele Belege für Crombies und Freelys These, dass in der abendländischen Wissenschaft vom frühen Mittelalter bis Kopernikus, Galilei und Newton mehr Kontinuität auszumachen ist, als es Anhänger von Thomas Kuhns Konstrukt der „Paradigmenwechsel“ glauben wollen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Kapitel „Die experimentelle Methode“. Was heute zum Kanon einer

nachhaltigen Theoriebildung gehört, geht auf Gelehrte wie den Franzosen Petrus Peregrinus zurück, den sein Schüler und Patron der „empirischen Methode“ in der Philosophie, Roger Bacon, als „dominus experimentorum“ bezeichnete und mit den Worten lobte, seine Wissenschaft sei „das Ende jeglicher theoretischer Argumentation“. Erstaunlich, wie „modern“ Peregrinus das

Phänomen des Magnetismus experimentell untersuchte. In seinem einzigen erhaltenen Werk, „De Magnete“ von 1267, einer „Epistola“, die er als Soldat im Heer des Königs von Sizilien während einer Belagerung verfasste, beschreibt er, wie er anhand eines kugelförmigen Magneten mithilfe einer Nadel die Existenz magnetischer Feldlinien nachweisen kann. Darüber hinaus entdeckte Peregrinus die Polarität von Magneten und lieferte dank seiner innovativen Ideen im Instrumentenbau den ersten, allerdings noch nicht hinreichenden Entwurf für ein astronomisches Navigationsgerät. Ohne Navigation überquert kein Schiff sicher die Ozeane. Im übertragenen Sinne darf man behaupten, dass auch niemand sicher durch die Wissenschaftsgeschichte kommt, wenn er nicht das fulminante Werk von John Freely liest. André Behr

John Freely: Aristoteles in Oxford. Klett-Cotta, 448 S., € 25,70 (erscheint am 25.10.)

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Dank eines feinen Ariadnefadens von

Alexandria über das mittelalterliche Byzanz und die islamische Welt ist vieles überliefert worden, teilweise durch Übersetzungen vom Griechischen ins Aramäische, Persische, Arabische und endlich ins Lateinische. Den „Ariadnefaden“ wickelte ­Freely minutiös in seinem 2012 auf Deutsch erschienenen Buch „Platon

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Sachbuch

Warm anziehen ist besser als aussterben Archäologie: Hermann Parzinger rekapituliert das Gebahren der Menschheit vor Beginn der Geschichte

Die erste industrielle Revolution begann vor

20.000 Jahren. Ein kleines Loch im spitzen Knochensplitter – und die Nähnadel war erfunden. Der Erfolg zeigte sich in den bald darauf folgenden kältesten Tagen der Menschheit: Sich warm anziehen statt aussterben war angesagt. Leder und Felle konnten erstmals so verbunden werden, dass man in seiner Kleidung (die erstmals diesen Namen verdiente) nicht erfrieren musste. Dafür, dass genügend Häute und Pelze erbeutet wurden, sorgte eine andere sensationelle Erfindung: die Speerschleuder. Als „älteste Maschine der Menschheit“ würdigt sie der Autor. Durch diesen verlängerten Arm erreichte der Speer des ambitionierten Steinzeitschützen eine wesentlich höhere Abwurfgeschwindigkeit und Durchschlagskraft. „Dieser Drang zu höherer Effektivität wird zu seinem Signum im Umgang auch mit all seinen anderen Lebensbereichen“, charakterisiert Hermann Parzinger das Alleinstellungsmerkmal des damals noch jungen Homo sapiens. Den größten Sprung nach vorne hatten allerdings schon seine Urahnen getan.

schreibt, welche Menschen hier welches Leben führten. Bei der Geografie macht sich sein Hang zur Vollständigkeit allerdings bezahlt: Waren zunächst Afrika und Kleinasien die kulturellen Zentren der Menschen, machen diese sich gegen Ende der letzten Kaltzeit dank neuer technischer Möglichkeiten auf zur europäischen Atlantikküste im Westen und bis ins heutige China nach Osten. Die damals noch bestehenden Landbrücken führten sie nach Australien und Amerika. Die Quellenlage zu den frühesten Kulturen in den verschiedenen Kontinenten erweist sich als höchst unterschiedlich. Doch Parzinger beschreibt sie alle: die ersten Reisbauern am Yangtse ebenso wie die australischen Aborigines, die Jäger und Sammler der amerikanischen Clovis-Kultur und den ältesten uns bekannten Kultort, den türkischen Göbekli Tepe, wo schon vor 11.000 Jahren groß gefeiert wurde.

Mit der gezielten Nutzung des Feuers war das Wesen, das damals noch Homo erectus oder heidelbergensis hieß, ­hunderttausende Jahre zuvor endgültig aus dem Tierreich ­hervorgetreten. Der Archäologe folgt den „Kindern des Prometheus“ von der Zähmung des Feuers bis zu den ersten Schriftkulturen. Diese Spurensuche beschäftigt Hermann Parzinger schon lange. Er hat selbst mehrere prähistorische Schätze geborgen, war Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts und leitet heute die größte Kultureinrichtung Deutschlands, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in die unter anderem die Berliner Museen eingegliedert sind. Das Schreiben über die Wunder der Welt von vorvorgestern ist ihm geläufig. „Die frühen Völker Eurasiens“ (2011) waren sein letztes Buchthema. Mit einem originellen Ansatz erklärt Parzin-

ger den letzten großen Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen, die Sesshaftwerdung. Entstand die Idee des Domestizierens aus den rituellen Zusammenkünften der verstreut lebenden Wildbeuter? Dafür lohnte es sich, Tiere nicht zufällig zu erbeuten, sondern gezielt zu züchten – und Pflanzen dort hinzusetzen, wo man sie immer wieder brauchte. Unsere gesamte Kultur könnte also aus großen Feiern entstanden sein. So unterhaltsam ist Parzinger allerdings nicht immer. Manchmal gewinnt der Archäologe, der die Schichten eines Fundorts mit Fachausdrücken präzise bestimmt, die Oberhand über den Autor, der plastisch be-

Parzinger berichtet aus Zeiten, in denen es

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. C.H. Beck, 848 S. (mit 110 Abbildungen und 19 Karten), € 41,10

nichts gab, um das Vergangene vor dem Vergessen zu bewahren, Fundstück für Fundstück muss er zurückerobern, um zu rekonstruieren, was gewesen sein könnte. Die Überfülle an Geschichten vor unserer Geschichte sammelt er in bisher einzigartiger Systematik und bebildert sie mit aufschlussreichen Landkarten und Fotos. Wie viel Kultur und wie viele Kulturen schon Jahrtausende vor unserer Schrift existierten, wie tief das, was wir heute sind, in einem lange vergessenen Vorgestern wurzelt, erzeugt dabei vor allem eines: Staunen. A n dreas K rem l a

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Illustr ation: peter diamond

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eschichte beginnt mit der Erfindung der Schrift. Doch was haben wir getan, bevor wir schreiben konnten? Der renommierte Archäologe Hermann Parzinger bietet in seinem neuen Buch „Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ ein breites Spektrum von Antworten.


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Die Erfindung des weißen Brautkleids

Was Homo-sapiensBesitzer wissen müssen

Kulturgeschichte: Monika Wienfort erzählt eine spannende Geschichte der Ehe seit der Romantik

Anthropologie: Was ist der Mensch? Und wie wartet man ihn? Ein Drehbuchautor liefert pointierte Antworten

arum Monika Wienforts Geschichte der Ehe ihren Anfang W in der Romantik nimmt, ist schnell be-

ehmen wir an, Sie kennen all das N hier nicht: keine Friseure, keine Computer, keine Körperteile.

antwortet: Die Literaten dieser Epoche brachten zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals die Vorstellung der Liebesehe ins Spiel. Es ist ein Ideal, das bis heute nicht mehr verschwunden ist. Seither geht es pathetischer und euphorischer zu bei der Partnerwahl. Der Traum von der Liebesehe geistert durch die Köpfe und Herzen, ganz unabhängig davon, ob die Praxis der Partnerwahl nach wie vor den Versuch darstellt, „erotische Anziehung und gegenseitigen Nutzen miteinander zu verschmelzen“, wie Monika Wienfort ganz unromantisch feststellt.

Die Ehe als Lebensform war von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert ein Privileg Das durch seine Detailfülle bestechen-

de Buch der deutschen Historikerin „Verliebt, verlobt, verheiratet“ kreist besonders um die Frage nach den Handlungsspielräumen, die Ehefrauen und Ehemännern zu verschiedenen Zeiten zur Verfügung standen, und in welcher Weise diese davon Gebrauch machten. Dafür hat Wienfort Unmengen an Material zusammengetragen und dieses in einer Abfolge von Kapiteln strukturiert, die der Chronologie einer ehelichen Beziehung von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende durch Witwenschaft oder Scheidung folgen. Sehr schnell wird klar: Die Ehe als Lebensform war von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert ein Privileg, ein oft fernes Lebensziel, von dem viele ausgeschlossen blieben: Soldaten, Besitzlose, Handwerksgesellen, Knechte, Mägde und Dienstboten, jüngere Bauernsöhne, Zugewanderte. Über Jahrhunderte limitierten die Eliten ganz bewusst den Zugang der ärmeren Bevölkerung zur Ehe, nicht zuletzt, um sich deren uneingeschränkte Arbeitskraft zu erhalten. Im alpinen Raum Bayerns, Österreichs und der Schweiz lag die Ledigenquote jahrhundertelang bei bis zu 50 Prozent. Tirol, wo die Ehebeschränkungen besonders rigide waren, schaffte den sogenannten „Ehekonsens“, die verpflichtende Heiratserlaubnis durch die Gemeinde, überhaupt erst 1921 ab. Auch ist es überraschend zu erfahren, dass das heutige hohe Heiratsalter in Westeuropa um 1800 kaum nennenswert geringer war, dass es nie zuvor in der Geschichte eine heiratsfreudigere Zeit gegeben hat als die 1960er- und 1970er-Jahre oder

dass der Heiratsantrag mit gebeugtem Knie und der alles entscheidenden Frage „Willst du meine Frau werden?“ nicht etwa eine Tradition der bürgerlichen Stände des 19. Jahrhunderts ist, sondern eine Erfindung der Filmkultur des 20. Jahrhunderts. Von der wilden Ehe und dem Umgang mit

unehelichen Kindern ist in diesem erhellenden Buch ebenso die Rede wie von Altersunterschieden zwischen den Ehepartnern, Erbschaftsangelegenheiten, „Leichentrauungen“ im Krieg, Sexualratgebern für Eheleute oder Abtreibungstechniken. Man erfährt auch, dass das schottische Gretna Green an der Grenze zu England das europäische Las Vegas ist, wo jeder schnell, unbürokratisch und umstandslos heiraten kann. Und natürlich findet man hier auch eine ausführliche Geschichte jener Auflage, die bis heute oft tonnenschwer auf den Schultern Heiratswilliger – vor allem Frauen – lastet: nämlich dass der Hochzeitstag ein ganz besonderer Tag, sogar der schönste Tag im Leben sein muss. Anders als noch das Ancien Régime legte das Bürgertum des 19. Jahrhunderts großen Wert auf Geschlechterungleichheit. „Dieses Jahrhundert konnte keines der Ehefrauengleichstellung sein, weil der bürgerliche Verfassungsstaat privilegierter Männer gerade aus dem familiären Patriarchalismus seine wichtigste Legitimation bezog.“ Mit weitreichenden Konsequenzen: Für Männer gab es neben der Heirat andere wesentliche Übergangsschritte: Schulabschluss, Eintritt ins Arbeitsleben, Bildungsreisen, Unternehmensgründung, Beförderungen. Für bürgerliche Mädchen hingegen bün-

delten sich „die Lebenschancen in der Heirat – oder ihrem Ausbleiben“. Kein Wunder, dass im 19. Jahrhundert die Braut, für die so viel davon abhing, ins Zentrum des Hochzeitsgeschehens rückte, und mit ihr das weiße Hochzeitskleid. Zur Trendsetterin der Hochzeit in Weiß wurde ausgerechnet eine Frau, die später zum Inbegriff der schwarz gekleideten Witwe avancierte: Die britische Queen Victoria heiratete 1840 in einem weißen Kleid.

Julia Kospach

Monika Wienfort. Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik. C.H. Beck, 336 S., € 25,70

Da kommt Paul Hawkins’ Anleitung genau recht, um Sie mit Wesen und Welt der Menschen vertraut zu machen. Er schreibt für die fiktive Zielgruppe der Homo-sapiens-Besitzer. Doch auch jenen, die schon einigen Artgenossen und deren Artefakten begegnet sein sollten, bietet er bemerkenswerte Anregungen. Durch Erklärung der trivialsten Phäno-

mene richtet er ein ungewohnt „unbefangenes“ Streiflicht auf unsere Alltagsdinge und Angewohnheiten – und enthebt sie damit ihrer Selbstverständlichkeit. Religionen etwa beschreibt er als „herrlich bunte Sammlungen strenger Regeln und vager Gerüchte, an denen sich jeder Mensch erfreuen kann“. Das Spektrum der erklärten Objekte reicht von Organen über Make-up und Gefühle bis zu Paarungsverhalten und Eigenheimen. Dazu gibt es kunstvoll unschuldige Bildchen, die der Autor selbst gezeichnet hat. Stellenweise fügt sich scheinbare Naivität mit scharfsinniger Beobachtung zu britischem Humor. Ungewöhnlicherweise liegt die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originals als erste Ausgabe vor. Als deutsch-englischer Grenzgänger hat der in Berlin lebende Drehbuchautor erst vor kurzem mit „Denglisch for Betterknowers“ (Ullstein 2014; mit Co-Autor Adam Fletcher) einen kleinen Bestseller gelandet. Bei mancher Beschreibung, wie zum Beispiel jener der Weisheitszähne, fragt man sich al-

lerdings auch: Wozu das jetzt? Hier scheint sich Hawkins mit seinem Gebrauchsanweisungsmodus unter Vollständigkeitsdruck zu bringen. Doch zumindest sind auch die farbloseren Absätze rasch gelesen. Alles nur Blödelei? An den besten Stellen sind Hawkins’ Erklärungen des Menschen nicht nur sehr witzig, sondern auch ein bisschen weise, etwa wenn er in der Rubrik „häufig auftretende Gefühle“ erklärt: „Mit Reue quälen Menschen sich selbst, indem sie sich ein Paralleluniversum vorstellen, in welchem sie weniger unbeholfen, dämlich oder verantwortungslos sind als in ihrem eigenen.“ Bei manchen Lesern dürfte der eine oder

andere der pointierten Aphorismen einen echten Treffer in Sachen Weltund Selbsterkenntnis landen – vergleichbar mit den absurden Koans, mit denen Zenmeister ihren Schülern logisch nicht erklärbare Einsichten vermitteln. Die anderen bringt wohl so mancher der bunten Welterklärungsschnipsel zumindest zum Lachen. Und das ist auch keine gering zu schätzende (menschliche) Leistung.

A n drea s K rem l a ­­

Paul Hawkins: Gebrauchsan­ weisung Mensch. Bedienung, War­ tung, Reparatur. C.H. Beck, 192 S., € 10,30

da capo Ausgewählte Texte aus 25 Heften „schreibkraft“. Mit Beiträgen von Jörg Albrecht, Julian Blunk, Thomas Ernst Brunnsteiner, Ann Cotten, Laura Freudenthaler, Harald A. Friedl, Brigitte Buchs, Georg Gartlgruber, Wolf Haas & Teresa Präauer, Händl Klaus, Michael Helming, Bernhard Horwatitsch, Egon Christian Leitner, Clemens Marschall, Michael Ostrowski, Gerhild Perl, Peter Piller, Jürgen Plank, Krimhild Pöse, Alexandra Rollett, Stefan Schmitzer, Karin Schöffauer, Roland Steiner, Dirk Werner

Das Feuilletonmagazin Heft 26, „da capo“, 96 Seiten, 6 Euro schreibkraft@mur.at, http://schreibkraft.adm.at


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Sachbuch

Megaevent mit 247 Herrscherhäusern Geschichte: Vor 200 Jahren wurde der Wiener Kongress eröffnet. Eine Rundschau zu den Neuerscheinungen

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er große Kongress zur Neuordnung Europas nach Napoleon begann offiziell zwar erst am 1. November 1814, aber bereits ab dem 16. September 1814 stand Wien unter Hochspannung. Der Donner der Geschütze begleitete den Einzug der zahlreichen Herrscher, Truppen in farbenprächtigen Uniformen paradierten zu deren höherer Ehre, die Herzöge und Könige Europas meldeten bereits mit ihren Antrittsinszenierungen politische Begehrlichkeiten an.

Wien wird Kongressstadt Zu regeln gab es jede Menge. Die Französische Revolution und Napoleon hinterließen von Portugal bis Russland, von Skandinavien bis Italien eine Menge neuer Staatengebilde und damit veränderte Grenzen. Nach Krieg, Revolution und Besetzung sollte eine neue Ordnung her. Es hat schon bessere Zeiten für die Erinnerung an den Wiener Kongress gegeben. Da gab es einst eine berühmte Operette („Wiener Blut“, 1899), einen bekannte Film („Der Kongress tanzt“, der erste deutsche Tonfilm 1931) und jede Menge Melodien, die auch gern gesungen wurden („Das gibt’s nur einmal“). Heute ist der Mythos verblasst, auch wenn er zur Erzählung über „Europa“ durchaus taugt und auch immer wieder einmal genutzt wird.

„Da feierten nun, ein trauriges Bild, ein Monarch und seine Standesgenossen sechs Monate lang Feste auf Kosten eines Volkes, das 25 Kriegsjahre durchlitten hatte“

C har l es S ea l s f ie l d

Merkwürdig ist dieses partielle Desinteresse deshalb, weil der Friedenskongress anno 1814/1815 für das politische Selbstverständnis des Landes lange Zeit prägend war, immerhin installierte sich damals Österreich als Vermittlungsinstanz und Wien als Kongressstadt. Aber affirmativ lässt sich heute seine Geschichte nicht erzählen, immerhin war der Kongress auch der Auftakt zur Unterdrückung von Demokratisierung und Parlamentarisierung, ein Versuch, ein überlebtes System und seine Privilegien zu erhalten. Schon während des Kongresses war die Überwachungspraxis der österreichischen Polizei berüchtigt. Kein Jahrestag ohne eine Reihe von historischen Büchern. Auch zum Wiener Kongress sind bereits einige erschienen. Das inhaltlich, optisch und preislich üppigste Produkt „Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas“ stammt aus dem Wiener Gerold-Verlag, herausgegeben von Thomas Just, Wolfgang Maderthaner und Helene Maimann. 24 Historiker und Historikerinnen breiten das Thema nach vielerlei Richtungen aus, die Aufsätze überspannen die gan-

ze Epoche von der Französischen Revolution 1789 bis zu jener von 1848, beziehen auch die Entwicklungen in Preußen oder Amerika ein und bieten Exkursionen in die Wiener Stadtgeschichte abseits des Kongresses.

Die Monarchie feiert ein Comeback Es ist erstaunlich, was alles an Themen beim Wiener Kongress verhandelt und entschieden wurde; es gab Sektionen für die Stellung der Juden, die Sklavenfrage, das Urheberrecht oder die Flussschifffahrt. Dieter Langewiesche öffnet in seinem Einleitungsbeitrag die globale Perspektive und streut dem Kongress Rosen, weil er eine „zukunftsoffene Form des Krisenmanagements in der institutionalisierten Politik institutionalisiert“ hat. Von Restauration wurde viel gesprochen, aber den Big Playern war es gar nicht darum zu tun, das Rad der Zeit zurückzudrehen, etwa die vielen Kleinstaaten und Erzbistümer zu restituieren, sondern sie legitimierten völkerrechtlich viele Staatsgebilde, die in der napoleonischen Zeit geschaffen wurden, und machten in Adaptionen den Code Napoleon zur Rechtsnorm ihrer Länder. Die Monarchie feierte anno 1814 ihr Comeback, die Imperien festigten ihre herausragende Stellung, bei den angereisten 247 Herrscherhäusern formierte sich gleich zu Kongressbeginn eine Oberliga. Am 25. September trafen einander der König von Preußen und der russische Zar in Wolkersdorf, um gemeinsam in einer Kalesche nach Wien weiterzureisen. Kaiser Franz von Österreich ritt den beiden mit sämtlichen Erzherzögen und Generälen bis zum Tabor entgegen. Angeblich säumten 100.000 Schaulustige den Weg des mächtigen Trios. Als Vierter im Bunde gesellte sich der Abgesandte des englischen Königshauses hinzu. Als die Gebietsansprüche der russischen (Polen) und preußischen Delegation (Sachsen) zu üppig ausfielen, brachten Österreicher und Briten Talleyrand, den alten Fuchs und Wendehals der französischen Diplomatie, als Verbündeten ins Spiel. Frankreich saß damit wieder am Tisch der europäischen Großmächte, als der große europäische Staatenbazar eröffnet wurde. Es gibt kein Buch über den Wiener Kongress, das nicht längere Passagen über die spektakuläre Folge von Bällen, Redouten, Theateraufführungen, musikalischen Veranstaltungen oder Schlittenpartien enthält, die Wien nonstop für seine edlen Gäste in Szene setzte. Der Sammelband hält das mit vielen Beiträgen zu diesem Komplex nicht anders.

Geburt der „kulturellen Großmacht“ Festkultur und Kabinettspolitik gehörten zusammen. Wien stand beim Kongress unter Zugzwang, alle vorherigen Begleitveranstaltungen bei den Verhandlungen in Paris und London zu überbieten, Österreich als kulturelle Großmacht zu feiern und die Stadt mit ihren 350.000 Einwohnern als führende Kulturmetropole vorzuführen. Das große Feuerwerk im Prater, sachkundig von der Firma Stuwer am 29. September 1814 inszeniert, eröffnete den Reigen der Festlichkeiten, Beethoven wurde mit seiner Kongresskantate „Der glorreiche Au-

Der Wiener Kongress zur Neuordnung Europas nach den Napoleonischen Kriegen tagte vom 18. September 1814 bis 9. Juni 1815, an ihm nahmen 247 Herrscherhäuser teil, 100.000 Gäste mussten in Wien beherbergt werden, das damals 350.000 Einwohner hatte. Das vom Kongress erarbeitete Kräftegleichgewicht hielt 100 Jahre – bis zum Ersten Weltkrieg

genblick“ als Superstar abgefeiert. In der Hofreitschule, im Redoutensaal und in anderen Räumlichkeiten der Hofburg drängten sich tausende Adabeis bei Walzer, Polonaisen und Quadrillen. Nicht selten führte Größenwahn die Regie: Je zwei Pianisten spielten etwa an zwanzig Klavieren im Redoutensaal, bei der Feier des Jahrestags der Vielvölkerschlacht wurden in der gesamten Länge der PraterHauptallee Holztische und Sitzbänke aufgestellt, an denen 14.000 Soldaten verköstigt wurden. Als Alternative zu den Megaevents öffneten sich die Palais des Hochadels und des reichen Bürgertums zu kleineren, exklusiveren, intimeren Veranstaltungen und Gesprächsrunden. Neben dem repräsentativen Sammelband sind zum 200-Jahr-Jubiläum populär gehaltene Monografien erschienen, die den barocken Unterhaltungsbetrieb des Kongresses in den Mittelpunkt stellen, aber auch bemüht sind, das unübersichtliche Gemenge von exzentrischen Persönlichkeiten, politischen Konstellationen und oft erpresserischen Verhandlungen in eine schlichte wie übersichtliche Nacherzählung zu bringen.

Köllnerwasser und Kontrolle

Thomas Just, Wolfgang Maderthaner, Helene Maimann (Hg.): Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas. Gerold, 438 S., € 90,– Anna Ehrlich, Christa Bauer: Der Wiener Kongress. Diplomaten, Intrigen und Skandale. Amalthea, 300 S., € 24,95 Hannes Etzlstorfer: Der Wiener Kongress: Redouten, Karoussel & Köllnerwasser. Kremayr & Scheriau, 221 S., € 24,–

Das Übersichtswerk von Anna Ehrlich und Christa Bauer „Der Wiener Kongress. Diplomaten, Intrigen und Skandale“ zeugt freilich auch von den Tücken eines solchen Unterfangens, denn manchmal geraten ihre Ausführungen fast in ein lexikalisches Fahrwasser. Immerhin versuchen die Autorinnen, durch Zitate Farbe in die Darstellung zu bringen, etwa durch Ausschnitte aus Joseph Richters humorigen, im Wiener Dialekt gehaltenen „Eipeldauer-Briefen“. Ähnlich angelegt ist die deftiger angerührte Einführung von Hannes Etzlstorfer „Der Wiener Kongress: Redouten, Karoussel & Köllnerwasser“, die sich ausgiebiger den Kuriositäten hingibt, in die KongressKochtöpfe schaut oder neugierig auf dem sogenannten „Schnepfenstrich“ in unmittelbarer Nähe der Hofburg Ausschau hält. Etzlstorfer befasst sich auch mit der Frage der Einquartierung, galt es doch, in sechs Monaten 100.000 Gäste unterzubringen. Wien war damals auf einen Tourismus solchen Ausmaßes nicht einmal im Ansatz vorbereitet; das Oberstkämmereramt bekam die Aufgabe, alle „entbehrlichen“ Parteien aus der Hofburg zu expedieren, um Platz für die Kongressprominenz zu schaffen. Wer bei diesen Büchern eine ausführlichere Behandlung der politischen Verhandlungen vermisst, mehr über die Entscheidungsträger wissen und trotzdem auf eine flotte Lektüre nicht verzichten will, wird mit der umfangreichen Erzählung des USHistorikers David King gut bedient. In der Gestaltung nimmt „Wien 1814. Von Kaisern, Königen und dem Kongress, der Europa neu erfand“ sichtlich Anleihen beim historischen Roman; nicht selten bricht die direkte Rede ein, die historiografische Analyse muss zugunsten der dramatischen Schilderung und psychologischen Ausgestaltung zurückstehen, sichtlich schlägt dann und wann die Fantasie des Autors zu. Der politische Poker, bei dem Königreiche und Fürstentümer geschaffen werden oder verschwinden, liefert laufend neue Int-


S a c h b u c h    rigen in einem Handlungsbogen, in dem die Geheimpolizei im Überwachen, Abfangen von Briefen und Dechiffrieren eine wichtige Rolle spielt und der mit der Rückkehr Napoleons aus Elba im März 1915 auf seinen Höhepunkt zusteuert.

Restauration und Aufbruch Mit ganz anderer Perspektive ist das Buch Eberhard Straubs fabriziert. Der habilitierte Historiker und ehemalige FAZ-Redakteur rückt in „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ mit aller ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Leidenschaft aus, um den Kongress und sein Friedensprojekt gegen Vorwürfe und Einwände und als Leitprinzip kluger Politik zu verteidigen. Das Zauberwort des Kongresses war Balance, sein Konzept war, den Verlierer nicht zu bestrafen, sondern zu integrieren, misstrauisch zu sein gegenüber den „berechtigten“ Ansprüchen der kleineren Nationen im Vielvölkerteppich Europas. Verdächtig und nicht gewünscht waren moralische Empörung, revolutionärer Nationalismus, sogenannte heilige Rechte, weil in ihnen letzten Endes nur revolutionäre Barbarei und Vernichtung durch Krieg steckten.

David King: Wien 1814. Von Kaisern, Königen und dem Kongress, der Europa neu erfand. Piper, 512 S., € 30,90 Eberhard Straub: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas. KlettCotta, 255 S., € 22,60 Hazel Rosenstrauch: Congress mit Damen. 1814/15: Europa zu Gast in Wien. Czernin, 192 S., € 18,90

Straubs gut zu lesendes Buch spannt den großen Bogen von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, mit dem eine Epoche der Koexistenz und der Staatskunst endgültig endete. 100 Jahre hatten die Regeln des Ausgleichs einigermaßen funktioniert, die Großmächte hatten es trotz Herrscherwechseln, Revolutionen, Regionalkriegen und Demokratisierung verstanden, den Zusammenhalt zu garantieren und den Big Bang zu vermeiden. Eine starke Empfehlung verdient auch Hazel Rosenstrauchs kurzweilige, kenntnisreiche, in Teilen auch sehr persönlich gehaltene Studie „Congress mit Damen. 1814/15: Europa zu Gast in Wien“, die zwischen Kulturgeschichte und einführender Analyse pendelt. Rosenstrauch blickt mit Distanz zurück auf die seltsame Zwischenposition des gar nicht so friedlichen Friedenskongresses zwischen Feudalismus und Moderne, auch sie erzählt vom leitenden Mythos „Europa“, vergisst allerdings nicht hinzuzufügen, dass Länder beliebig verteilt, Herrscher hin und her geschoben, die Freiheitsrechte unterdrückt wurden. Bei Intellektuellen und Literaten hatte die Heilige Allianz keine gute Nachrede,

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denn diese schickte sie in die Gefängnisse. Aus den genannten Gründen konstatiert die Historikerin: „Der Wiener Kongress hat keinen guten Ruf “, um dann nachzusetzen: „Die Wirklichkeit war natürlich komplizierter.“ Unter der aristokratischen Restauration verbarg sich der bürgerliche Aufbruch: die Einebnung der Ständegrenzen, die Verrechtlichung des Lebens, die Etablierung der Kaffeehäuser, eine klassenübergreifende Mode, die Sommerhäuser für eine neue Oberschicht usw. Rosenstrauch ist sichtlich und nachvollziehbar fasziniert von den vielen starken, selbstbewussten Frauen, die sich ihren Teil vom Leben nahmen, dezidierte politische Meinungen hatten, eigenen künstlerischen Ambitionen nachgingen und gesellige Vergnügungen liebten. Sie baut ihnen kleine Denkmäler, etwa der habsburgischen Napoleon-Gattin Marie-Louise, der kunstsinnigen bürgerlich-jüdischen Fanny von Arnstein, der strahlenden Fürstin Katharina Pawlowna Bagration, der Schriftstellerin Caroline Pichler. „Wir begegnen einer illustren, lustigen Gesellschaft, die man heute als libertär bezeichnen würde.“ A l fred P f o ser

Der Schützengraben ist das Symbol der Moderne Geschichte: Philipp Blom hat schon wieder einen Wälzer verfasst – diesmal über die Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1938 egen die populären Kulturgeschichten Philipp Bloms haben Rezensenten etG liche Einwände vorgebracht: Sie fanden sie

„Die zerrissenen Jahre“ ist in gewisser Hinsicht die Fortsetzung von Bloms Erfolgsbuch „Der taumelnde Kontinent“ (2011), in dem er schildert, wie der Modernisierungsschub um 1900 die Menschen angesichts der Flut von Neuerungen verwegen, schwindlig oder nervös machte. Der Kriegsbeginn wurde von vielen Freiwilligen als Ausweg aus den Ambivalenzen und Verunsicherungen der Moderne gesehen. Dabei löste er eine beschleunigte Dynamisierung in der organisatorischen und technologischen Entwicklung aus, die die Verunsicherungen noch weiter vorantrieb.

oberflächlich, echauffierten sich darüber, dass sie zu wenig originäre Forschung betreiben, sich in Anekdoten und Geschichten verlieren, in zu vielen Themenfächern wildern und zu mutig auf Thesen zugespitzt waren. Umgekehrt umreißen diese Argumente genau die Stärken eines Autors, der immer aufs Ganze einer Epoche zielt, mit leidenschaftlicher Feder prägnante Bilder zeichnet und aussagekräftige Tableaus arrangiert. Blom bemüht sich, durch Anschaulichkeit seine Leser zu involvieren und bei aller Sprunghaftigkeit und allem Hang zum Abseitigen Kompaktheit zu erzielen. Das gilt auch für sein neuestes Buch, eine Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit. „Die zerrissenen Jahre“ scheuen sich nicht, mit einer starken These anzutreten und diese in chronologisch geordneten Essays aufzubereiten. Die Studie über die brutale Ambivalenz der Moderne beginnt auf den Schlachtfeldern Flanderns.

Der Schützengraben ist das Symbol der Mo-

Maschinengewehre, Giftgas, Stacheldraht,

großkalibrige Artillerie mit bisher nicht gekannter Reichweite und Treffsicherheit, Flugzeuge und Panzer machen die involvierten Soldaten zum Beiwerk der Materialschlachten. Die Massen der Kriegszitterer irren schon bald als monströse Hinterlassenschaft des Krieges durch ihre Heimat.

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938. Hanser, 572 S., € 28,70

derne. Längst ist für die einzelnen Soldaten jede Überschau, jeder Sinn verlorengegangen, tagelang harren sie in Öde und Schmutz aus, um ab und zu in den Horror ferngesteuerter Waffen zu geraten. Für Blom ist es von der Schlacht an der Somme nicht weit zu den automatisierten Fabriken der 1920er-Jahre, in denen Menschen von Maschinen verschluckt werden und ihnen taylorisierte Unterordnung abverlangt wird. Charlie Chaplins „Modern Times“ stellt die populärste cineastische Spielart dieser Albträume dar, im Bereich der Literatur ist es Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Auffallend viele Automaten und Roboter halten als Metaphern von bionischen Zwischenwesen Einzug in die populären Medien und vervollkommnen die Versprechungen, die die Prothesenindustrie während des Krieges gegeben hat.

In Filmen wie Fritz Langs „Metropolis“ mutieren Arbeiter zu Ameisenwesen. Die eiserne Faust des Fortschritts befeuert die Hightech-Fantasien. Architekten, Mediziner und Soziologen beschäftigen sich mit der Optimierung von Arbeitsprozessen und der Standardisierung von Wohnungen. Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus wetteifern mit ihren Visionen von durchrationalisierten Lebenswelten, Städten und Fabriken. Der Erste Weltkrieg gibt in Philipp Bloms Buch

Rand- wie Leitthema ab. Seine Nachwirkungen sind beinahe in jedem Kapitel präsent. Bei Siegern und Verlierern sind die traumatischen Folgen, Millionen Tote und Verluste, zivilisatorischer Niedergang und Massenelend der Nährstoff für Depressionen – und explosive Lebensgier. Aus dem Elend wachsen die Versprechungen von Ideologien, die einen Ausweg aus der Tristesse in die Vollkommenheit bieten und selbst die USA an den Rand des Bürgerkriegs bringen. Das Buch schreitet in seinen mit feurigem Atem formulierten Essays ein weites Land ab, von der Schwarzen-Renaissance in Harlem bis zum stalinistischen Magnitogorsk im Ural, vom Justizpalastbrand in Wien bis zum Spanischen Bürgerkrieg, von den astronomischen Entdeckungen des Hubble-Teleskops bis zu den surrealistischen Träumen der Weltrevolution. Ein anregendes, fesselndes Panorama.

A l fred P f o ser

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01.10.2009 11:44:25 Uhr


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Sachbuch

Die vier Elemente und unsere Nahrung Kochen: Michael Pollan erzählt eine faszinierende Geschichte vom Kochen, Braten, Backen und Vergären zu Experimenten und zum Selbstausprobieren ist legendär. Diese Lernerfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Bücher und machen alles, worüber er schreibt, gleich doppelt relevant. Dazu ist er auch noch ein exzellenter Geschichtenerzähler mit einem ausgeprägten Sensorium für die leise Komik, die bei genauerer Betrachtung den meisten Dingen und ganz besonders allem menschlichen Streben innewohnt. Das war so in seinem grandiosen Buch „Die Botanik der Begierde“ (dt. 2002), in dem er die gemeinsame Evolutions- und Kulturgeschichte des Menschen und der vier Pflanzen Apfel, Kartoffel, Tulpe und Cannabis aus Sicht der Pflanzen (!) erzählte, und das ist so in seinem neuen Buch „Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation“. Eines von vier großen Kapiteln darin ist dem Themenkreis Brot, Getreide, Backen und Mehl gewidmet, eines dem Grillen und Braten, eines dem Sieden und Schmoren und eines dem Vergären und Fermentieren. Vorderhand klingt das – wie soll man sagen? – hausbacken und ist doch alles andere als das.

Alles, worüber Pollan schreibt, bekommt fri-

linarische Vier-Elemente-Lehre, in der jede der üblichen Verarbeitungsformen von Nahrungsmitteln – das Braten, das Backen, das Sieden und das Fermentieren – einem der vier klassischen Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde zugeordnet ist. Diese Struktur eröffnet Pollan Ausritte in die antike Philosophie oder in Archäologie und Psychoanalyse, die er ganz elegant mit Erkenntnissen aus Mikrobiologie, Chemie oder Physik und mit interkulturellen Kochtechnik- und Speisevergleichen zu verschränken weiß. Mit Bestimmtheit sagen kann man: Ein Kapitel ist besser als das andere. Insgesamt gilt also eine ganz dringende Leseempfehlung. Um beispielhaft oben erwähntes Brotkapitel herauszugreifen: Zum Thema Mehl liest man hier nicht nur über die Machenschaften skrupelloser Müller oder über die

schen Glanz. Kein Wunder, dass das Time Magazine den 59-jährigen US-Sachbuchautor, Esskulturexperten, Uni-Professor, Food-Aktivisten und Gartenenthusiasten 2010 schon einmal zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt gezählt hat. Pollans Schreiben hat wie er selbst echtes Charisma. Nach der Lektüre seiner Bücher fühlt man sich animiert und klüger. Das liegt auch daran, dass Pollan, der optisch übrigens dem französischen Philosophen Michel Foucault verblüffend ähnelt, ein Forscher- und Entdeckergeist klassischer Prägung ist. Er geht den Dingen niemals nur theoretisch auf den Grund. Er sucht die Praxis, will es genauer wissen und selbst Hand anlegen. Sein Hang

Zur Person Michael Pollan wurde 1955 auf Long Island geboren. Er ist Professor an der Berkeley Graduate School of Journalism und hat mehrere Bestseller über Kochen, Ernährung und Esskultur verfasst. Zuletzt auf Deutsch erschienen: „64 Grundregeln Essen. Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte (2011)

Pollans „Kochen“ ist nämlich auch eine Art ku-

Michael Pollan: Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation. Kunstmann, 480 S., € 30,80

mikroskopische Scharfkantigkeit von Weizenkleie, die sie zu tödlichem Schneckenstreu macht. Man erfährt auch, dass Weißbrot schon bei den Römern und Griechen ein Instrument der sozialen Segregation war – nach dem Motto: Je weißer das Brot, desto vornehmer der Mensch. „Die Farbe seines Brotes kennen“ hieß bei Juve-

nal, über jemandes Stand und gesellschaftliche Stellung Bescheid zu wissen. Genau diese Nachfrage nach immer hellerem Brot brachte auch einen Mechanismus im Gang, der als „Parabel für den Irrsinn menschlichen Einfallsreichtums“ gelten darf und, so Pollan, dafür, „wie unsere Spezies gelegentlich durch allzu große Cleverness gegen die eigenen Interessen arbeitet“. Gemeint ist, dass weißem Brot aus industriell hergestelltem Weißmehl schon seit dem 19. Jahrhundert in der Regel genau jene Bestandteile des Korns fehlen, die es zu einem nahrhaften Lebensmittel machen: der ölige Keim und die ballaststoffreiche Schale. In „Kochen“ versteht man erstmals, warum der Unterschied zwischen Mehl und Vollkornmehl so relevant ist, und staunt darüber, dass die meisten Vollkornmehle überhaupt keine Vollkornmehle sind. Gluten, Backhefe und Sauerteigbazillen treten einem hier als geniale Mechanismen der Natur entgegen, über die wir noch viel zu wenig Bescheid wissen. Tatsächlich hat Pollan auf Umwegen über seine Recherchen zu Gärung und Fermentierung herausgefunden, dass vor allem die Welt unserer körpereigenen Bakterien noch weitgehend Terra incognita ist. Eine unbekannte Welt der „Mikrobenökologie“, von deren Erforschung sich die Wissenschaft für die nächsten Jahre eine Revolution erwartet. „Radikale Hypothesen, bahnbrechende Entdeckungen und sogar Nobelpreise liegen in der Luft“, schreibt Pollan. Was aber vor allem in der Luft liegt, ist große Spannung – nämlich die, die Pollan seinem großen Thema der menschlichen Kochtechniken so mühelos abgewinnt.

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Illustr ation: peter diamond

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ichael Pollan verfügt über eine unvergleichliche Begabung. Er kann komplexe Dinge, die vermeintlich niemanden interessieren, so spannend und eingängig erzählen, dass man nicht nur lesend am Ball bleibt, sondern anschließend sofort losrennt, um sie selbst auszuprobieren. Nehmen wir einmal das Beispiel Brotbacken mit Sauerteig. Es ist nicht gerade so, als würde man wie vom Erregungsblitz gestreift aus seinem Sessel auffedern, wenn das Gespräch darauf kommt. Geschweige denn interessiert einen im Detail, welche Bakterienstämme und Hefen warum und in welcher Abfolge am Werk sind, um Mehl und Wasser zu einem Brotteig aufgehen zu lassen. Wenn sich allerdings Michael Pollan der Sache annimmt, klebt man erst mit der Nase auf den Buchseiten, um sich anschließend eine Osttiroler Getreidemühle und drei Säcke Getreide zuzulegen. Und während man zum allerersten Mal im Leben eigenhändig Mehl mahlt, fragt man sich, wie man es so lange aushalten konnte, nicht genau über das aufregende Wirken des Lactobacillus sanfranciscensis Bescheid gewusst zu haben.


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Besser, er tat’s mit dem stumpfen Messer! Essen: Bee Wilson stellt anhand der Geschichte der Koch- und Esswerkzeuge den „Prozess der Zivilisation“ dar m Jahr 1637 soll der französische Kardinal Richelieu bei Tisch einen Gast dabei Ibeobachtet haben, wie der sich mit einem

scharfen, zweischneidigen Messer Speisereste aus den Zähnen herausstocherte. Den mächtigen Kirchenfürsten stieß dieser Anblick so nachhaltig ab, dass er befahl, alle Messer, die an seiner Tafel verwendet wurden, stumpf zu machen. Was wie eine harmlose, kleine Anekdote klingt, hatte weitreichende Folgen. Mit Richelieus Entschluss, dessen Beispiel bald auch Ludwig XIII. selbst folgte, setzte in ganz Europa eine Veränderung des Tafelbestecks und damit der Tischsitten ein. Norbert Elias nannte es später den „Prozess der Zivilisation“. Man begann, Dinge ekelhaft zu finden, die

früher ganz den höfischen Gepflogenheiten entsprochen hatten, vom Essen mit den Händen bis zum Einsatz eines persönlichen, höllenscharfen Messers für alles, was geschnitten werden musste. Noch im Mittelalter trugen Männer wie Frauen ständig ein scharfes Messer bei sich, mit dem sie auch aßen – und man „aß genauso wenig mit dem Messer einer anderen Person wie man sich heutzutage mit der Zahnbürste eines Fremden die Zähne putzen würde“. Auch die Tafelmesser des 16. und 17. Jahrhunderts waren bei aller Vielgestaltigkeit noch scharf gewesen. Die der Nach-Richelieu-Ära des 18. Jahrhunderts hingegen waren geradezu „demonstrativ stumpf “. Wer

sich fürderhin mit einem scharfen Messer bei Tisch zeigte, galt als sittenloser Klotz. Für den Gebrauch von Messern und anderem Besteck entwarf man „ein ausgeklügeltes Regelwerk“, bei dem es nicht zuletzt darum ging, „wie wir mit der erschreckenden Brutalität dieses Werkzeugs umgehen“. In China wurden Messer gleich ganz vom Tisch verbannt und durch Stäbchen ersetzt. Man darf also mit Recht behaupten, dass hinter der Entwicklung der Tischsitten nicht zuletzt auch die Angst steckte, „dass der Tischnachbar das Messer zücken und auf einen losgehen könnte“. Besser, er tat’s mit einem stumpfen Messer! Beschrieben ist all das in dem neuen Buch der britischen Historikerin Bee Wilson, Jahrgang 1974. „Am Beispiel der Gabel“ erzählt von Esswerkzeugen, Küchen­ utensilien und -geräten und welchen Einfluss diese auf unser Essen haben und in inwiefern kulturelle Faktoren den Werkzeuggebrauch bestimmen. Vor allem aber erzählt es „die Geschichte, wie wir lernten, Feuer und Eis zu zähmen, Schneebesen und Löffel zu schwingen, Reiben und Stampfer sowie Mörser und Stöße zu verwenden“. Es handelt sich dabei um einen ebenso interessanten wie bisher unterbelichteten Teil der Technikgeschichte. Zu selbstverständlich seien uns vielen Dinge des täglichen Ess- und Küchengebrauchs, schreibt Wilson, als dass ihrer Entstehung schon oft im Detail nachgegangen worden wäre.

Das Thema ist ergiebig, und Bee Wilson verfolgt es mit Akribie und Leidenschaft. Man erfährt nicht nur, dass in den glutheißen Küchen der frühen Neuzeit, in denen über offenem Feuer gekocht wurde, oft Hunde oder Gänse in Tretmühlen den Bratspieß am Drehen hielten – eine Praxis, die in den USA noch bis ins 19. Jahrhundert zu finden war. Es ist auch von einer „Schneebesen-Blase“ an

Bee Wilson: Am Beispiel der Gabel. Eine Geschichte der Koch- und Esswerkzeuge. Insel, 373 S., € 25,70

der Ostküste der USA zwischen 1856 und 1920 die Rede, in der nicht weniger als 692 Patente für Schneebesen angemeldet wurden, von denen die allermeisten das Problem nicht zufriedenstellender lösen konnten als die traditionellen, oben zusammengebundenen Bündel von Zweigen. Wilson geht der Frage nach, warum die USA das einzige Land der Welt sind, in dem Rezeptmengen immer noch in „cups“, also „Tassen“ angegeben werden. Dieses herrliche Buch beantwortet schließlich mit britischer Nüchternheit eine Frage, die Freunde des Kochens seit jeher umtreibt: „Die perfekte Pfanne gibt es ebenso wenig wie das perfekte Heim.“ Dafür aber immer wieder viele neue „Küchenspielzeuge“ wie automatische Entsafter, Bunsenbrenner, Getreidemühlen oder Kugelausstecher für Melonen, mit deren Hilfe man, wie die Autorin, seine Küchenregale höchst erfolgreich in „Friedhöfe verstorbener Leidenschaften“ verwandeln kann. Was könnte schöner sein! J ulia K o spa c h

„Ich-ipedia“ oder Die Paranoia zum Tanzen bringen Musik: Jonathan Lethem hat ein erstaunliches Buch über sein Lieblingsalbum der Talking Heads, „Fear of Music“, geschrieben Sommer 1979, in New York, saß ein Imermfünfzehnjähriger Junge in seinem Zimund lauschte einer Stimme, die aus

dem Radio zu ihm sprach. Die Stimme sagte: ,Die Talking Heads haben ein neues Album. Es heißt Fear of Music.‘ Es war die Stimme von David Byrne, dem Sänger der Band Talking Heads.“ Der Junge vor dem Radiogerät war Jonathan Lethem, Sohn politisch bewegter Hippies und heute einer der renommiertesten und klügsten US-Autoren der jüngeren Generation und Verfasser von Romanen wie „Chronic City“ (dt. 2011) oder „Der Garten der Dissidenten“ (dt. 2014). Die minimalistische Radiowerbung für die Platte, in der wohlgemerkt noch kein Ton der Musik zu hören war, faszinierte den 15-Jährigen. Er spürte: Hier war etwas, das sein Leben verändern würde. 35 Jahre später legt Lethem „Fear of Music“ vor: Wie der gleichlautende Titel zeigt, weniger ein Buch über „Fear of Music“ als vielmehr eines, das die Wirkung der Musik auf den Jugendlichen von damals zu demonstrieren versucht – und mit Worten zeigen will, wie das Album der Talking Heads klingt. Lethem stattet dazu seinem jüngeren Ich in des-

sen Zimmer in Brooklyn einen Besuch ab und stellt dessen Gedanken und Empfindungen zu „Fear of Music“ dem gegenüber, was er in den Jahrzehnten danach über sein Lieblingsalbum herausgefunden hat. Recherche? Fehlanzeige. Er ging absichtlich

offline, als er das Buch („nach exklusiver Konsultation von Ich-ipedia“) schrieb. Neben Blondie waren die Talking Heads um 1980 die definitive New Yorker Band. Sie begannen in der Punkära, waren aber zu intellektuell und kunstsinnig, um der Bewegung anzugehören. David Byrne sang mit Vorliebe über Identität, Zweifel und Paranoia. Der Witz bestand darin, dass seine Inhalte oft verkopft waren, die Musik dagegen sehr körperlich. Das von Brian Eno produzierte dritte Talking-Heads-Album „Fear of Music“ markierte den Punkt, an dem die Band ihren Sound mit Funk, Disco und afrikanischen Rhythmen zu kombinieren begann. Lethems „Fear of Music“ wiederum liefert ein wunderbares Beispiel dafür, wie man über Musik schreiben kann, ohne in Schwärmerei zu verfallen. Lethem geht ins Detail und schweift noch lieber ab, lässt sich von einzelnen Textzeilen zu gewagten, fast immer anregenden Exkursen hinreißen. Schon im Kapitel über die Plattenhülle mit ihrem „Dekor aus erhabenen, kreuzgerippten Reifen“ hält er sich nicht lange mit Beschreibungen auf. Schnell ist er bei Assoziationen zu „Monolithen, Orgasmatrons, Blarney-Steine(n) und dergleichen“ angelangt. Am meisten erhellend ist „Fear of Music“, wenn es zwischen dem Autor Lethem, der alles über Entstehung, Hintergründe und Wirkung von „Fear of Music“ weiß, und dem jungen Jonathan pendelt, der wun-

derbar unschuldig ist und noch rätseln darf, in welcher Sprache Byrne im Eröffnungssong „I Zimbra“ singt. Er tippte damals auf eine afrikanische Sprache, tatsächlich entstand der Text unter dem Einfluss der Lautgedichte des Dadaisten Hugo Ball.

Jonathan Lethem: Fear of Music. Ein Album anstelle meines Kopfes. Tropen, 176 S., € 18,50

Mit leichter Hand schlüsselt Lethem mögliche Bedeutungen von Songs auf und erklärt, warum die Talking Heads nie eine typische Rockband waren. Während Letztere auf Gefühle wie Angst und Panik als Medizin nur Sätze wie „Am Ende wird alles gut (Baby)“ parat haben, blieb Byrne auch in seinen tröstlichen Momenten stets ein Zweifler. Statt einer Widmung stellt er seinem Buch eine augenzwinkernde Warnung voran: „Inhalt steht unter Interpretationsdruck. Kann beim Nutzer ungewollte Reaktionen (…) auslösen – dazu können unter Umständen Entmystifizierung oder auch das Gegenteil, Mystifizierung, gehören.“ Lethem steht tatsächlich unter hohem Interpretationsdruck. Er liefert ein Beispiel dafür, wie sehr man sich in Popmusik reingraben und reinsteigern kann, weil ein gutes Album weit mehr ist als eine Aneinanderreihung von Songs. Umso mehr freut man sich, wenn er sich kurz gehen lässt und über „Life During Wartime“ konstatiert: „Der Song macht Fear of Music doppelt so groß, mindestens.“ Da sind sich der 15- und der 50-Jährige einig.

SEBASTIAN FASTHUBER


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Sachbuch

Artischocke mit Taglilie. Oder doch Fleisch? Die Kochbuchparade des Bücherherbsts. Resümee: Die vegetarisch-vegane Flut steigt. Aber es gibt Inseln

W

ie jedes Halbjahr versuchen wir hier, die Trends der Saison sichtbar zu machen, Selten fiel es so schwer, nicht alles dem einen großen Trend unterzuordnen: vegetarisch und vegan. Das ist mehr als eine Mode. Ethisch oder gesundheitlich oder durch beides motiviertes Essverhalten verknüpft sich mit dem Plädoyer für biologische Landwirtschaft, jedenfalls für ein nachhaltiges und überlegtes Verhalten zu unseren Lebensmitteln. Auf den zweiten Blick finden wir noch ein zweites Trend-Evergreen, nämlich Regionales, und als Drittes ersetzt der Trend zu NoNonsense-Food, was in den letzten Jahren allzu oft chi-chi daherkam. Wir haben es also weniger mit Kochkapitänen zu tun als vielmehr mit Glaubensleuten. Am liebsten sind mir jene, die den Glauben in Ästhetik umdeuten. „Moos. Fisch. Rinde. Blatt – Genuss der Landschaft“ von Valentino Brienza und Luisa Martini, fotografiert von Michael Rathmayer, knüpft an die nordische Ästhetik von Noma oder Fäviken, ist aber deutlich südlicher und weniger protestantisch. Motto: Finde es in der Natur und koche es. Kombinationen wie Lammniere/Artischocke/Taglilie oder Rucola/Limette/Amaranth kommen sehr anregend daher, die Fotos von Rathmayer sind phantastisch. Genau den gegenteiligen Weg geht AnneKatrin Weber mit Deftig vegetarisch. Hier

wird gegrillt und gratiniert, frittiert und geschmort, dass, nein, nicht die Schwarten, aber die Schoten krachen. Man muss auch der Mehrheitszunge mächtig sein, um Gerichte wir Dinkelfrikadellen oder KartoffelMeerrettichfladen zu goutieren. Aber beim Essen hört sich das mit dem Akzent sowieso auf. Eschi Fiege, Regisseurin und Autorin, will eine gute alte mitteleuropäische Tradition wiederbeleben: den Mittagstisch. Joseph Roths Bezirkshauptmann von Trotta lässt grüßen, aber kein monumentaler Tafelspitz kommt bei Fiege auf den Mittagstisch. Sondern Vegetarisches. Leidenschaftlich Vegetarisches. Fiege lebt in den Nähe des Naschmarkts und speist ihre Leidenschaft aus dem dortigen Angebot (solange es noch Obst und Gemüse gibt). Poppig wie alle Leon-Bücher kommt auch dieses daher, es treibt das Vegetarisch-Thema noch einmal auf die Spitze: Fast Food Vegetarisch. Leon ist ja eine englische Restaurant-Kette, die sich schnelles, aber gutes Essen auf die Fahnen schreibt. Zum schnellen vegetarischen Essen ist es da nur ein Schritt. Die Familientauglichkeit der anderen Leon-Bücher bleibt, die schi-

Brienza/Martini/ Rathmayer: Moos. Fisch. Rinde. Blatt. Styria, 176 S., € 39,99

Anne-Katrin Weber: Deftig vegetarisch. Becker Joest Volks Verlag, 220 S., € 30,80

cke Optik auch. Praktisch sind Features wie „der Vorratsschrank“ und die Zweiteilung in Hauptdarsteller und Nebendarsteller, also Hauptgänge und Kleinigkeiten. Lisa Pfleger ist als Selbstversorgerin in der Buckligen Welt bekanntgeworden. Vegan. Regional. Saisonal bietet neben Einblicken in ihr Leben Rezepte, die garantiert niemanden überfordern; auch Balkon und Fensterbrettbesitzer kommen auf ihre Rechnung. Den schwarzen Schweinen widmet die Sizilianerin Cettina Vicenzino ihre „Cucina Vegetariana“. Ihre Oma habe immer leckere Würste von diesen glücklichen, frei lebenden Tieren zum Trocknen gebracht. „Ich habe über diese schwarzen glücklichen Schweine nachgedacht (…) und bin zum Schluss gekommen: Ich will die gar nicht mehr essen. Weder die glücklichen noch die unglücklichen.“ Ich Buch bietet appetitliche italienische Alternativen. Stevan Paul: Die italienische Küche ist aufgrund von Ge-

schichte und Geografie nicht mit Fleisch und Fisch überladen; Pasta und Gemüse dominieren ohnehin. So liegt es nahe, dass sich gleich einige Kochbücher dem Thema „Italien vegetarisch“ widmen. Die Herausgeber Claudio del Principe und Katharina Seiser bringen nach „Österreich und Deutschland vegetarisch“ nun auch Italien vegetarisch. Angenehmerweise gibt es kaum Überschneidungen mit Frau Vicenzino. Ganz ernst macht die Berliner Designerin Anat Fritz mit Raw Food, 100% Vegan. Hier gibt’s nichts zu kochen, hier wird nur gemischt und höchstens gemixt. Anspruchslos, aber mitten im Trend. Ich kann mir nicht helfen, so viel Rohheit und Gesundheit auf einmal wirkt anstrengend. Aufatmen! Wunderschön klassisch kommt der Band Sizilien daher. Die Autorin der Texte muss man hinten aus dem Kleingedruckten heraussuchen, sie heißt Pamela Sheldon Johns. Das Buch ist nach Orten und Regionen geordnet, um Umweltempfehlungen wie die Fischliste von Greenpeace kümmert man sich – man ist in Sizilien! – wenig, Schwertfischrezepte gibt’s also ausreichend. Wie sich’s gehört für diese schwierige, wunderbar Insel. Dieser Mann, weiß, wie der Hase läuft, notfalls auch, wie die Karotte läuft. Wenn Alain Ducasse, Autor zahlreicher Kochbuchklassiker und Patron einer weltweit erfolgreichen Restaurantkette, Doyen der modernen französischen Küche, ein Buch mit dem Titel Ducasse Nature herausgibt (gemeinsam mit Paule Neyrat), dann ist der Trend gegessen. Nein, zum Vegetarier mutiert der

Eschi Fiege: Mittagstisch. Brandstätter, 208 S., € 29,90

Cettina Vicenzino: Cucina vegetariana. Christian Verlag, 224 S., € 25,90

Auf die Hand. Brandstätter, 272 S., € 34,90 König / Monti / Prader: Ke:xs. Brandstätter, 192 S., € 29,90 Baxter /Dimbleby: Leon Fast Food Vegetarisch. Dumont, 304 S., € 30,90 Lisa Pfleger: Vegan. Regional. Saisonal. Ulmer Verlag, 192 S., € 20,50 Del Principe / Seiser: Italien vegetarisch. Brandstätter 272 S., € 34,90 Pamela Sheldon Johns: Sizilien. Edel, 272 S., € 36,00 Gabriele Gugetzer: Roh. Graefe|Unzer, 192 S., € 25,70

Anat Fritz: Raw Food. 100% Vegan. Dorling Kindersley, 160 S., € 17,50

Alain Ducasse: Ducasse Nature. Haedecke, 360 S., € 30,80

Meister nicht, dieses Buch ist voller Fleisch, Fisch und Schinken; aber der Gemüseanteil nimmt zu. Ducasse ist ein Ästhet des Unaufdringlichen – allein, wie er Brote variiert, vom Kräuterbrot mit Pecorino bis zum Körnerbrot mit frischen Saubohnen, das ist schon prima. Nichts anbrennen lässt die Foodjournalistin Gabriele Gugetzer in Roh. Da gibt’s Carpaccio vom Lamm, Wild, Rind und auch vom Fisch (Ceviche). Gemüsevarianten kommen nicht zu kurz, auch das Tartar in seinen verschiedenen Ausformungen wird nicht unterschlagen. Praktische Erklärungen und Gebrauchsanweisungen heben dieses Buch weit über den Durchschnitt. Auch dieses Werk musste kommen. Backlash, dein Name ist Fleisch. Georg Schweisfurth

ist Fleischhauer, Simon Tress Koch. Beide legen Wert auf höchste Bioqualität, also Demeterware, beide zollen dem verarbeiteten Tier Respekt, indem sie alles von ihm konsumieren, Kutteln, Hoden und Schnauze inklusive. Das Buch hat einen längeren ideologischen Teil, wo all dies argumentiert wird, und einen feinen praktischen, wo Wurst und gefüllter Saumagen zu ihrem Recht kommen. Dass die beiden Autoren das Buch ihren Vätern widmen, nehmen wir als Zeichen der neuen Fleischzeit. Katharina Seisers, Meinrad Neunkirchners und Julian Riess’ Einer für alles beruht auf einer guten Idee, auf der Feier des Eintopfs, dazu noch des im Emailgeschirr der lobenswerten Familie Riess angefertigten. Die Rezepte werden dann aber sehr weit ausgelegt, Risotto gehört ebenso dazu wie eine Tarte. Das macht den schönen Ansatz etwas beliebig. Aber mein richtig gutes Eintopfbuch kommt bestimmt noch. Ein richtig gutes Fast-Food-Buch stammt von Steven Paul und Daniela Haug: Auf die Hand. Fingerfood und Abendbrote. Wir wollen hier nicht am Begriff des Abendbrots herummäkeln, denn hier bekommen wir Rezepte auch aus den Ländern der aufgehenden Sonne. Japanischer Schnitzelsandwich oder Kimchi-Burger, warum nicht? Schön fotografiert, schick designt, durch und durch brauchbar. Brauchbar ist auch unser Abschlussbuch, das genau genommen am Anfang des Essens zu seinem Recht kommt, wenn wir Gästen mit Cocktails aufwarten. Frau König hatte nach ihrem fulminanten Flachkuchenbuch nur wieder eine gute Idee: „Ke:xs, süß salzig köstlich“ bietet genau, was der Titel verspricht. Mit dem Inhalt könnten Sie Ihre Gäste aber auch einen ganzen Abend lang erfreuen. armin t h u rnher

Georg Schweisfurth, Simon Tress: Fleisch. Christian Verlag, 400 S., € 51,40

Seiser, Neunkirchner, Riess (Hg.): Einer für Alles. Brandstätter, 208 S., € 29,90


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