Bücher-Frühling 2024

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FA LTER

Bücher-Frühling 2024

Belletristik: Comiczeichner Mahler im Gespräch +++ Die Österreicher: Toxische Pommes, Stephan Roiss, Christoph Ransmayr +++ Buchmessen-Gastland Niederlande +++ Kinder: Vom Bilderbuch bis zum Jugendroman

Sachbuch: Judentum +++ Ukraine und Russland +++ Paul Auster über den US-Wa ff enwahn +++ KI

Klima: „Landkrank“ +++ Bruckner-Jahr: „Dickschädels Reisen“ +++ Kochbücher

70 Bücher auf 40 Seiten
Nr. 12a/24
ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL Falter Zeitschri en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien

Ostern wird bunt. Vor allem im Kopf.

Erwin Moser

Der Wunschhase

In sechs Geschichten erzählt Erwin Moser von ungewöhnlichen tierischen Helden, wie etwa der Kellerassel, die dem Schmetterling in der Not hilft oder dem Krebs, der dem Hai sch entkommt. Ab 4 Jahren.

Michael Köhlmeier

Das Philosophenschi

Zusammen mit ihrer Familie wird Anouk Perleman-Jacob auf einem „Philosophenschi ” ins Exil deportiert. Plötzlich wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in das Exil geschickt: Es ist Lenin.

eBook: € 17,99 | Digitales Hörbuch: € 23,95

Laura Noakes

Cosima und der Diamantenraub

Das erste warmherzige, humorvolle und spannende Abenteuer eines außergewöhnlichen Erzähltalents.

eBook: € 9,99

25,50

Poznanski kombiniert MittelalterAtmosphäre mit einem top-aktuellen KISzenario zu Nervenkitzel, der atemlos macht!

eBook: € 20,99

9,95

Eine magische Feengeschichte über den Mut, in die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen – ideal für Jungen und Mädchen zum Schulstart.

eBook: € 5,99

15,–

Herbert Dutzler blickt liebevoll auf das Ausseerland und seine Menschen – ohne die Augen vor den Schattenseiten zu verschließen.

eBook: € 9,99

21,50
16,–
25,50

DSebastian Fasthuber ist für die schöne Literatur zuständig

er Aufmacher ist einem Grenzgänger zwischen Literatur und Comic gewidmet: dem Zeichner Mahler. Wie gewohnt gibt es einen Schwerpunkt mit heimischer Literatur und natürlich wird das Buchmessen-Gastland Niederlande gewürdigt. Thematisch ist alles dabei: Mutterscha , Flucht, Geld und Liebe.

LITERATUR

Gerlinde Pölsler betreut das Sachbuch und das Kinderbuch

Vom Krieg“ heißt die Graphic Novel, in der Nora Krug über das erste Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine erzählt. Paul Auster sinniert über den Waffenwahn der USA, der Soziologe Nikolaj Schultz beschreibt das Lebensgefühl in der Klimakrise. Außerdem: Hexen, KI und „Instagram-Wohnen“.

KINDERBUCH

Sabine Adler: „Was wird aus Russland?“

Peter

bis Zombie-Apokalypse: „Das kleine

Schorsch Feierfeil ist Illustrator, Grafiker und Animationsfilmemacher. Seit vielen Jahren zeichnet er regelmäßig für den Falter. Zudem gestaltet er Albumcovers und animiert Musikvideos. Einen Überblick seines künstlerischen Schaffens und die Möglichkeit einen Kunstdruck zu erwerben, bietet seine Homepage: www.schorschfeierfeil.com

Elena Calliopa Lotta Emilia

Poetry Slam Graz vs. München

Pia

Redaktion: Sebastian Fasthuber, Gerlinde Pölsler Herstellung: Falter Verlagsgesellscha m.b.H.; Layout: Barbara Blaha ; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Daniel Jokesch, Rainer Sigl; Geschä sführung: Siegmar Schlager; Leitung Sales: Ramona Metzler

Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die O ff enlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/o ff enlegung/falter ständig abru ar Bücher-Frühling ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, ö ff entlichen Dienst und Sport.

Lukas

Ho auer Mario Tomić

Elias Hirschl

Jaromir Konecny

Hierzegger Egyd Gstättner Erich

Klein

Erika Pluhar

Stefanie

Sargnagel Helene Maimann Literarische Soiree

Max Hö er

Helwig Brunner Wittrich Konrad P. Liessmann

Sarah Knausenberger

Anna-Lena Obermoser Günther Freitag

Lilly Gollackner

Martin Vejvar

Nicole StreitlerKastberger

Katja Gasser Junges Literaturhaus Margit Schreiner Grazer Vorlesungen

KarlMarkus Gauß Volha Hapeyeva Johannes Silberschneider

Grundbücher

Michael Köhlmeier Toxische Pommes Daniela Strigl Monika Helfer

Anna Mitgutsch Christoph Ransmayr

Valerie Fritsch

Petra-Maria Dallinger

Andrea Grill

Bestof Horváth

Elvira Mujčić Marlene Streeruwitz Eva Horn

Clemens J. Setz

Eric Schwarz Aleksandar Hemon Mathias Enard Mascha

Literatur im Anthropozän

Jacobs

Symposium JugendSoiree Georg Hofer

Senta Roth

Irene Diwiak Mieze Medusa John Wray Jürgen Hosemann eodora Bauer Martin Puntigam

Unruhe bewahren

Akademie Graz

Maria Hofer

Ilija Trojanow Julia Jost omas Brudermann

Hildrun Walter Gerald Krieghofer Da Wastl Science meets Poetry Günter Eichberger

Stefan Schmitzer

Gabriel Schmidt Wolfgang Pollanz

Klaus Zeyringer

Klaus Lederwasch Robert Palfrader

INHALT FALTER 12/24 3
AUFMACHER Der Wiener Zeichner Nicolas Mahler über Franz Ka a, Humor und das sinkende Niveau im Literaturbetrieb 4–5 AUS HEIMISCHEM ANBAU Das Erzähldebüt von Social-Media-Star Toxische Pommes 6 Häusliche Gewalt: Valerie Frisch und ihr Roman „Zitronen“ 7 Ein Hallsta -Roman von Dominika Meindl 8 Andrea Grill bündelt ihre Interessen und Stärken 8 Die Hauptfigur von Stephan Roiss ist ein trauernder Punk 9 Ein Erzählband zum 70er von Christoph Ransmayr 10 Moritz Franz Beichl ergründet, wie „Männer“ sind 10 VOM NACHBARN Ulrich Peltzer schreibt über einen Getriebenen und Spieler, dem das Geld im Grunde egal ist 11 Tür an Tür mit Joseph Roth: Jan Kone ff ke 12 Punk-Chronist Jürgen Teipel erzählt nun von sich selbst 12 MUTTERSCHAFT UND FLUCHT Olga Ravn fragt sich in „Meine Arbeit“, ob man gleichzeitig Mu er und Schri stellerin sein kann 13 Furzen auf hohem Niveau: Neues von Vladimir Sorokin 14 Aleksandar Hemons großer Schelmenroman „Die Welt und alles, was sie enthält“ 15 IN ENGLISH Schwarze Selbstermächtigung mit Percival Evere 16 Bernardine Evaristo: Zeitreise in Versform 16 Endlich übersetzt: Der erste Roman von Joy Williams 17 NIEDERLANDE UND DER REST DER WELT Sex im Sommer in den Romanen von Dacia Maraini und Gabriel García Márquez 18 Mathias Enard serviert harten Stoff 19 Älterwerden mit Jean-Philippe Toussaint 19 Die Niederländer wollen raus! Romane von Gijs Wilbrink, Wytske Versteeg und Gerbrand Bakker 20 Ein Meisterwerk von Julien Green, frisch übersetzt 21 Volha Hapeyeva verbindet Sprachspiel und Umweltschutz 21
Bilderbücher Schönes zu Freundscha und erzählende Sachbücher 22 Kinderbücher Eine chaotische Familie, eine Zauberin und ein Basilisk 24 Jugendbücher Gegenwart, Vergangenheit und eine wahre Fluchtgeschichte 25
UND GESELLSCHAFT Aus Kiew und St. Petersburg: Nora Krugs Graphic Novel über
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SACHBUCH POLITIK
den Krieg in der Ukraine
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Mirna Funk erklärt, was wir von Juden lernen können
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Schäfer: Geschichte der askenasischen Juden
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Daniel Kehlmann und Omri Boehm über Kant
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31 Wie künstliche Intelligenz unsere Welt verändert 31 GESCHICHTE Ulinka Rublack über Kunst und Kommerz in der Ära Dürer 32 Sommer 1944: Christian Bommarius’ „Todeswalzer“ 32 Daniel Finkelstein: Überleben unter Hitler und Stalin 33 Die Geschichte der Hexenverfolgung in 13 Prozessen vom Mi elalter bis heute 34 Yuval Noah Hararis „Spiel der Welten“ als Graphic Novel 34 KULTUR UND LEBEN
Reisen“: Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner 35
Hofmannsthal in einer großen Biografie 35 Verantwortungsvoll ejakulieren 36 Diedrich Diederichsen will nicht weniger als das 21. Jahrhundert erklären 36 „Instagram-Wohnen“: Ein Bild von einem Haus 37 Von Atombombe
37 Armin
38 FOTOS: KATHARINA GOSSOW, REGINE SCHÖTTL
Klimakrise: Soziologe Nikolaj Schultz ist „landkrank“
Paul Auster über die Wa ff ensucht der US-Amerikaner
„Dickschädels
„Jedermann“:
Buch der großen Risiken “
Thurnher sichtete neue Kochbücher
: Falter Zeitschri en Gesellscha m.b.H.,
Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912,
Falter 12a/24 Herausgebe r: Armin Thurnher Medieninhaber
1011
E: wienzeit@falter.at
Lesebühne
Halbjahr 2024
Erstes
IMPRESSUM ILLUSTRATIONEN

„Alles kann ich nicht zeichnen“

Der Wiener Zeichner Nicolas Mahler hat sich nach Bernhard, Proust und Musil nun Ka a vorgeknöp . Außerdem übernimmt er die Leitung der Schule für Dichtung. Ein Gespräch über Comics und Literatur, seinen schleichenden Aufstieg und sinkende Niveaus

Nicolas Mahler – oder kurz Mahler –setzt sich am liebsten zwischen die Stühle Comic und Literatur. In dem neuen Band „Komplett Ka a“ führt er in ausgewählten Szenen durch Franz Ka as Leben und Werk. Gleichzeitig beginnt er seine Tätigkeit als neuer Leiter der Wiener Schule für Dichtung.

Falter: Herr Mahler, Ihr Vorgänger Fritz Ostermayer führte die Schule für Dichtung als kreatives „Narrenhaus“. Hat Sie das gereizt?

Nicolas Mahler: Das Narrenhaus-Argument hat mich überzeugt, mit dem Begriff kann ich mich anfreunden. Es gibt in Wien ja auch das Institut für Sprachkunst. Neben dieser Uni kann etwas Kleines bestehen, wo man sich mehr erlauben kann. Nur der Name Schule für Dichtung ist für mich noch gewöhnungsbedür ig.

Inwiefern?

Mahler: Ich habe eigentlich nur zu dem kürzesten Wort einen entspannten Zugang, dem „für“. Dichtung – in dem Begriff schwingt etwas so Seriöses mit, wo ich mich nicht sehe. Und mit Schule verbinde ich eigentlich wenig Positives, ich war ein furchtbarer Schüler.

Sagen das nicht alle, aus denen später etwas geworden ist?

Mahler: Ich war wirklich ein furchtbarer Schüler. Nicht, weil ich faul gewesen wäre. Ich habe versucht zu lernen und war trotzdem schlecht.

Haben Sie deshalb nichts studiert?

Sie haben gleich nach der Matura als Comiczeichner begonnen.

Mahler: Ich wollte schon eine Ausbildung machen, aber es gab nichts. Interessiert haben mich technische Dinge, für die sich die Kunsthochschule nicht zuständig fühlte. Da ist mir sehr überheblich begegnet worden:

„Wir bilden Künstler aus. Wenn sie wissen wollen, wie Siebdruck funktioniert, gehen Sie auf eine Volkshochschule.“ Mir waren Volkshochschulen immer sympathischer als Kunsthochschulen.

Sie wollten kein Künstler werden?

Mahler: Das war nicht mein Anspruch. Ich wollte das machen, was mich interessiert und reizt.

Wie lange dauerte es, bis Sie Ihren reduzierten Stil entwickelten?

Mahler: Schon circa zehn Jahre. Meinen ersten Job hatte ich kurz nach der Matura bei der AZ . Der Gourmetkritiker Christoph Wagner war damals stellvertretender Chefredakteur. Meine Serie war über Frühstückseier. Ich glaube, weil es um Lebensmittel ging, hatte er einen Bezug dazu und hat sie genommen. Ein halbes Jahr lang, bis zum Ende der AZ , habe ich jeden Tag einen Comicstrip gezeichnet. Das war die beste Schule, das kann dir keine Uni bieten.

Sie waren in den letzten Jahren wahnsinnig produktiv. Haben Sie immer schon so schnell gezeichnet?

INTERVIEW: SEBASTIAN

Nicholas Mahler

1969 geboren und aufgewachsen in Wien, bewirbt er sich nach der Matura ohne Erfolg an Kunsthochschulen. Comicstrips erscheinen ab den späten 1980ern in AZ und Der Standard. Erste Buchveröff entlichung „TNT: Eine Boxerstory“ im Eigenverlag. Mi lerweile liegen mehr als 50 Bücher vor, davon Literaturadaptionen wie „Alte Meister“ im Suhrkamp Verlag

Mahler: Überhaupt nicht. Ich habe früher sehr lang gebraucht. Für den Standard habe ich Anfang der 1990er einen Comicstrip für Kinder gemacht. An einer Zeichnung bin ich zwei Tage gesessen. Mittlerweile ist das anders. Mein Ziel war immer, eine Idee schnell umsetzen zu können. Weil ich mehr an der Idee und am Konzept interessiert bin.

Mochten Sie die Zeitungsarbeit, oder wollten Sie eigentlich Bücher machen?

Mahler: Ich wollte immer schon Bücher machen. Aber wenn du noch keines vorweisen kannst, will dich kein Verlag. So ist das jahrelang gelaufen. Die Zeitungsarbeit war mir aber auch immer sympathisch, vor allem, weil man da sehr schnell sein muss. Und die Sachen erscheinen dann in einer hohen Auflage. Für mich ist es eine Horrorvorstellung, sich mit dem Kunstmarkt auseinandersetzen zu müssen, von ein paar Sammlern abhängig zu sein.

Wie kam es zum ersten Buch?

Mahler: Ich habe mit meinem Kollegen Heinz Wolf einen Selbstverlag gegründet. Natürlich hat in den Buchhandlungen niemand auf uns gewartet. Der Umschwung kam nach einem Paris-Aufenthalt. Da habe ich den Verlag L’Association entdeckt. Die haben das publiziert, was mich interessiert hat. Ich habe ihnen etwas geschickt und sie haben es sofort genommen. Das ist 25 Jahre her. Seither wurde fast jedes Buch von mir dort auf Französisch veröffentlicht. Gleichzeitig mit meinem Debüt brachten sie „Persepolis“ von Marjane Satrapi. Meines wurde 1500 Mal verkau , „Persepolis“ eine Million Mal. Damit war der Verlag gerettet.

Ab wann dachten Sie: Okay, jetzt läu ’s? Mahler: Das passierte schleichend. Es gab viele Ablehnungen. Rückblickend war ich sehr zäh. Was ich an Absagen bekommen habe, füllt heute buchstäblich Aktenordner. Ich habe sie aufgehoben und gesammelt. Aber es gab auch immer Ermutigungen durch Einzelpersonen oder Verlage, die meine Sachen gut fanden.

Die Termine auf Ihrer Website lesen sich fast wie bei einem Rockstar. Sie sind international sehr gefragt.

Mahler: Durch die französischen Ausgaben sind viele Übersetzungen zustande gekommen. Meine Bücher erscheinen in zwölf Ländern. Das Lustige ist, Österreich war bei den Verkäufen immer schon auf dem letzten Platz. Aber eines ist in jedem Land gleich: Die Bücher funktionieren in kleinen Buchhandlungen besser, es braucht engagierte Buchhändlerinnen, die sie richtig platzieren. In großen gehen sie unter. Meistens liege ich da zwischen Mangas und Witzbüchern, auch meine Adaptionen von Joyce, Proust oder Arno Schmidt. Dort wird sie natürlich niemand suchen.

Ihre Kollegin Anke Feuchtenberger ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Hil das der Comicszene? Mahler: Ideal wäre natürlich, wenn man Comics in Zukun bei den literarischen Neu-

erscheinungen am Buchmarkt finden würde. Wie gesagt landen gezeichnete Bücher in Buchhandlungen meist im hintersten Winkel. Bei Feuchtenberger, die seit 30 Jahren herausragende Bücher macht, wird das durch die Nominierung hoffentlich anders sein. Ich denke, es wird jetzt als „richtiges“ Buch wahrgenommen.

Sie selbst sind schon vor einiger Zeit bei Suhrkamp gelandet. Wie kam es zu Ihren Comic-Adaptionen von Werken der Weltliteratur?

Mahler: Suhrkamp wollte eine Comicreihe machen. Ich konnte mir ein vorhandenes Werk aus ihrem Katalog aussuchen und bin gleich auf Thomas Bernhard gekommen. „Alte Meister“ war mein erster Bernhard, ich hatte ihn als sehr witzig in Erinnerung. Ich machte ein paar Probeseiten und musste sie Peter Fabjan vorlegen, dem Halbbruder. Der fand das gut und hat mir vertraut. Zu meiner Überraschung ist das Buch sehr positiv aufgenommen worden. Von da an konnte ich machen, was ich wollte.

Was muss ein Text haben, um für Sie infrage zu kommen?

Mahler: Alles kann ich nicht zeichnen. Bücher müssen übersichtlich sein. Ich mag es nicht, wenn sie zu viele Figuren oder verworrene Handlungen haben. Und es muss ein gewisser Witz drin sein.

Wo war der Witz am schwierigsten aufzuspüren?

Mahler: Bei Proust musste ich lange suchen. Aber ich habe ihn gefunden.

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Und wie sieht es mit Ka a aus?

Mahler: Es gab immer schon Leute, die gesagt haben, sie lesen ihn, weil er so lustig ist. Das ist mir ein bissl übertrieben und blasiert vorgekommen. Jetzt habe ich mich intensiv mit Ka a beschä igt. Meiner Meinung nach kann man sich an bestimmten Dingen erfreuen. Es ist schön, wenn sich bei ihm die Sätze drehen, ohne Pointen zu haben. Aber direkt witzig war er nicht.

Sie haben bei ihm Leben und Werk zusammengezogen. Weil Sie sich für kein bestimmtes Buch entscheiden konnten?

Mahler: Genau. Geholfen hat mir, dass eines Tages der inzwischen verstorbene BernhardLektor Raimund Fellinger angerufen hat. Er hat gesagt, ich soll die Biografie von Thomas Bernhard zeichnen. Mir kam das zuerst ganz schön anmaßend vor. Heute bin ich sehr froh, es gemacht zu haben. Ich kann bei der Arbeit alles verwenden – das ganze Werk, das Leben, die Briefe. Dieses Reingraben und Raussuchen macht mir gerade viel Spaß. So war’s auch bei Ka a.

Gibt es Sachen, die nicht funktioniert haben oder abgelehnt wurden?

Mahler: Suhrkamp hat sich „Warten auf Godot“ gewünscht. Aber Becketts Nachlassverwalter wollten keine Adaptionen. Gottfried Benn ist auch nichts geworden. Der war mir nach meiner Recherche so unsympathisch. Und Wittgenstein habe ich mir nicht zugetraut. Den kapiere ich einfach nicht.

Wie kam es überhaupt zu der Annäherung von Literatur und Comic?

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Mahler:

Komple Ka a.

Suhrkamp, 128 S., € 18,50

Ka a für Bosha e. Ausgewählt und gezeichnet von Mahler. Insel, 128 S., € 12,40

Mahler: Kleinverlage wie Reprodukt oder Edition Moderne gibt es schon lange. Aber sie kamen nicht in Buchhandlungen rein, waren nur in Comicshops präsent. Man hat es mit Krücken wie „Kunstcomics“ oder „Comics für Erwachsene“ versucht. Darüber hat im Betrieb natürlich jeder gelacht. Der Erfolg von „Persepolis“ hat viele Türen geöffnet. Die großen Buchverlage wurden hellhörig und haben meine Kollegen teilweise mit hohen Vorschüssen eingekau

In Ihrem Buch „Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ stellten Sie die Diagnose: „Die Comics sind nicht erwachsen geworden, der Kulturbetrieb vertrottelt nur zunehmend!“

Mahler: Ist ja auch so. Die Comics haben sich nicht groß verändert. Man könnte sagen, der Kulturbetrieb rutscht vom Niveau her auf die Augenhöhe der Comicszene. Ich erwarte minütlich, dass alles zusammenbricht. Aber ich will auch nicht kulturpessimistisch werden. Mich erstaunt immer wieder, dass Personen ihre Wohnung verlassen und zu meinen Terminen in Literaturhäusern kommen. Sie könnten ja auch „Tatort“ schauen.

Funktionieren die Au ritte gut?

Mahler: Egal, wo ich hinkomme, habe ich aktuell auf jeden Fall 60 Leute. Die Veranstalter sind o enttäuscht, weil sie sich mehr erwartet haben. Ich nicht. Zumindest nicht in Städten wie Bielefeld oder irgendwo sonst, wo ich keinen Bezug hin habe. Wegen der Bilder, die ich zeige, ist es dankbarer als eine Lesung. Ich mache mir auch

viele Gedanken über Vermittlung und halte Vorträge.

Gehen Sie auch in Schulen?

Mahler: Viel. Und ich mache Lehrerfortbildungen. Früher haben die Lehrer gesagt, dass Comics Schund sind. Jetzt müssen die Comiczeichner Lehrer fortbilden. Das sagt auch einiges. Früher hab ich die Vorträge für Schüler einfacher gehalten als die bei den Lehrerfortbildungen. Aber mittlerweile habe ich sie von Niveau her angepasst. Die Lehrer waren auch schnell überfordert.

Sie touren gerade mit Ka a. Wie läu das?

Mahler: Neulich war ich in Lissabon an einer deutschen Schule. Da gehen keine Kinder von Deutschen hin, sondern von betuchten Portugiesen. Kostet tausend Euro Schulgebühr im Monat, das Durchschnittsgehalt in Portugal ist 900 Euro. Du gehst da rein und glaubst, du bist in einem Urlaubsclub. Ich sollte zu 17-Jährigen über Ka a sprechen, nur leider haben sie im Vorfeld nichts von Ka a gelesen.

Was haben Sie dann erzählt?

Mahler: Ich habe mich mehr auf meine eigene Entwicklung konzentriert und alle meine Bücher gezeigt. „Alte Meister“ war das 36. und eigentlich das erste, das wirtscha lich relevant war. Dieses Bild hat eingeschlagen. Die Eltern dieser Kinder erwarten ja, dass die ein paar Jahre nach der Schule richtig Geld verdienen. Die Lehrerinnen haben mir danach gratuliert und meinten, es ist toll, wenn einer kommt und ihnen erzählt, er hat bis 40 überhaupt kein Geld verdient. F

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Barbiepuppen mit Brandblasen

In ihrem eindrucksvollen Debütroman erzählt Toxische Pommes eine Geschichte über Flucht, Entwurzelung

und Einsamkeit

Gleich der erste Satz ist ungewöhnlich schön, melancholisch und komisch: „An einem schwülen Freitagnachmittag beschloss ich, unter meinem Schreibtisch ein Bett zu bauen.“ Die Protagonistin, eine Vertragsbedienstete in einer Behörde, macht sich daran, Bücher und Zettel so anzuordnen, dass sie sich hinlegen kann. Sie könne es sich nicht erklären, wie sie an diesen Punkt gekommen sei. Sie hatte doch immer alles richtig gemacht und ihren „Teil des Integrationsversprechens eingehalten“. Sie sei weiß, christlich und esse gern Schweinefleisch. „Ich hatte immer nur gelernt oder gearbeitet, war nie krank gewesen, hatte ein Semester unter Mindestzeit studiert, einen Doktortitel und Schlafprobleme, seit ich fünfzehn war.“

„Ein schönes Ausländerkind“ ist der eindrucksvolle Debütroman von Toxische Pommes, die ihren bürgerlichen Namen geheim hält und die wie ihre Hauptfigur Juristin ist sowie Migrationshintergrund hat. Während der Pandemie begann die Autorin unter dem Pseudonym Toxische Pommes auf Tiktok satirische Videos zu posten. Sie schlüp in Charaktere wie „Bobo-Lorenz“ und „Rassismus-Renate“ oder macht sich über die eigene Berufsgruppe lustig. In wenigen Sekunden skizziert sie ganze Milieus und Gedankenwelten.

Mittlerweile steht sie auch mit einem Kabarettprogramm auf der Bühne, „Ketchup, Mayo & Ajvar – Die sieben Sünden des Ausländers“. In ihrem ersten Buch verarbeitet Toxische Pommes auch Teile ihrer eigenen Lebensgeschichte.

Melancholie und Komik prägen, wunderbar ineinander verwoben, den gesamten Roman. Die kurzen, witzigen Formen, die man von Toxische Pommes aus dem Netz kennt, verbinden sich mit einer langen Erzählung über Ent- und Verwurzelung und Verlust. O schreibt sie Sätze auf B/K/M/S – Bosnisch/Kroatisch/Montenegrinisch/Serbisch –, die sie sowohl übersetzt als auch erklärt.

Toxische Pommes erzählt die Geschichte einer Familie, die vor dem Krieg in Kroatien nach Österreich flüchtet. Allerdings wollen die Eltern, die ursprünglich aus Serbien und Montenegro stammen und deshalb in Kroatien ihre Jobs verloren haben, nicht um Asyl ansuchen, sondern als Gastarbeiter erwerbstätig sein.

Auf Anraten einer Freundin landen sie in Wiener Neustadt bei Renate Hell. Sie dürfen dort in einem leerstehenden Haus wohnen. Dafür müssen die Neuankömmlinge jedoch als Dienstboten bereitstehen. Die Mutter putzt den ganzen Tag und soll immer noch mehr leisten. Der Vater soll sich zu Beginn einen Job suchen, doch er bekommt keine Arbeitserlaubnis.

„Ein schönes Ausländerkind“ ist die Geschichte eines Mädchens, das mit aller Kra versucht, in Österreich anerkannt zu werden, Klassenbeste wird, und dann doch nur in die Hauptschule gehen soll. „Immerhin ist Deutsch ja nicht ihre Muttersprache“, sagt der Lehrer.

Toxische Pommes beschreibt eindrücklich die Geschichte der Eltern, die in ihrer Heimat Studien abgeschlossen haben, angesehene Berufe ausübten und einen großen Freundeskreis hatten. Als der Krieg kam, wurden sie als Nicht-Kroaten ausgestoßen, obwohl sie die nationalistische Politik von Slobodan Milošević und die Angriffe Serbiens auf die anderen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien ablehnten. In Österreich rackern sie sich ab, egal wie müde und erschöp sie schon sind.

Für ihre Tochter tun sie, was sie können. Als ein Kau aus abbrennt, fährt der Vater sofort los, um die echten Barbiepuppen, die sich die Familie nicht leisten kann und die den Brand nur mit leichtem Schaden überstanden haben, nun für einen Spottpreis zu kaufen. Die Mutter bietet einer Lehrerin die Stirn, die Nicht-Österreichern aus Prinzip keinen Einser geben will. Und dennoch verlieren die Familienmitglieder immer mehr die Verbindung zueinander.

Toxische Pommes: Ein schönes Ausländerkind. Zsolnay, 208 S., € 23,70

Als die Tochter – also die Hauptfigur, deren Namen wir nie erfahren – einigermaßen gut Deutsch spricht, musste sie für ihren Vater übersetzen. Traurig, auch wütend beobachtet sie, wie er, der nun Hausmann ist, sich verändert.

Sobald er außer Haus geht, wird er zu einem anderen Menschen: „Seine Körperhaltung veränderte sich, sein Gang wurde bedächtiger, sein Rücken gebückter und die Stimme schwächer. Es war, als hätte ihm jemand die Kleider vom Leib gerissen und als müsste er auf einmal nackt durch die Welt gehen.“

Als die Mutter Arbeit findet und anschließend auch ihren Studienabschluss nostrifiziert, bleibt er daheim, verbringt Tage und Nächte damit, alles penibel zu reinigen, später sitzt er ständig vor dem Computer. Wenn Freunde seiner Tochter zu Besuch kommen, versteckt er sich.

Die Autorin beschreibt das Leben der Familie in Österreich, aber auch ihre Fahrt in die alte Heimat, die sie jeden Sommer antritt. Wie sehr sie es genießt, mit den Verwandten zusammen zu sein.

Aber auch das schwere Leben der Großmutter in Montenegro ist Thema. Sie hat zwei Söhne verloren. Eine höhere Schule dur e sie nicht besuchen, weil dort nur „Huren“ hingehen, wie ihr Vater sagte. Sie hätte Sängerin werden können, aber diesmal war ihr Mann dagegen, weil seine Frau ja keine „Hure“ sei.

Und sie erzählt, wie der Vater ein anderer wird, wenn er durch seinen Heimatort spaziert: „Hier war er nicht nur ein schlecht integrierter Vater, der sich zu Hause vor der Welt versteckte, sondern er war Schulkamerad, Freund, Bruder und Sohn.“

Toxische Pommes gelingt ein einfühlsames Porträt einer Familie, die in zwei Welten leben muss. Mit Witz und Selbstironie durchbricht sie auch immer wieder tragische Situationen. Dennoch bleiben am Ende Einsamkeit und Ernüchterung.

Geschichten zum Vorlesen für Groß und Klein - von Erwin Moser

Zwei Angsthasen finden Unterschlupf beim Wunschhasen, der sonderbarerweise keine Angst vor Fuchs und Luchs hat. Ob die beiden Angsthasen hier wirklich sicher sind?

In seinen fabelhaften Geschichten und Bildern erzählt Erwin Moser von tierischen Helden wie der Kellerassel, die dem Schmetterling in der Not hilft, oder dem schlauen Krebs, der ohne Furcht den großen Fischen begegnet.

Zum Weitererzählen, Träumen und Staunen für die ganze Familie!

3-407-75898-9

Gebunden, 71 Seiten, ab 4, ISBN 978

6 FALTER 12/24 LITERATUR
beltz.de © Erwin
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Moser

Sterne, wie kitschig leuchtende Zitronen

In ihrem neuen Roman widmet sich Valerie Fritsch dem Thema häusliche Gewalt. Nicht ohne Klischees

Valerie Fritsch hat einen offensichtlich österreichischen Roman geschrieben. Kein anderes EU-Land verzeichnet so viele Frauenmorde, wohingegen die Sorge um das Tierwohl hier besonders ausgeprägt zu sein scheint. „Die Hunde nämlich hatten es gut. Sie bekamen all die herrenlose und ungewollte Liebe im Haus am Rande des Dorfes“, schreibt die Autorin in ihrem neuen Roman „Zitronen“, erschienen im Suhrkamp Verlag, und kokettiert mit der heimischen Grausamkeit.

In diesem Haus fehlt jede Spur von Liebe. August Drach, ein kleiner Bub, wird von seinem Vater misshandelt. Der schlägt das Kind, wenn ihm selbst etwas misslingt, beschuldigt es für Fehler und Verbrechen, um es bestrafen zu können. Kommt August mit blauen Flecken in die Schule, fragt niemand nach. Er habe sich wohl wieder an der Treppe gestoßen, sagen die Lehrer und wenden den Blick ab. Und das im Dorf, wo jeder jeden kennt.

August lernt, in Deckung zu leben. Er weiß, dass es auf eine Frage keine richtige Antwort gibt, dass er schuldig ist, wenn der Vater ihn dafür befindet. Die Mutter lebt in ihrer eigenen Welt, schaut verträumt aus dem Fenster und lässt ausgefallene Haare einzeln hinausfliegen. Ist der Vater grausam, tröstet sie August erst später: „Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einen erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah.“

Doch eines Tages verschwindet der Vater, verlässt die Familie. Und die Mutter verwandelt ihre punktuelle Zuwendung in eine krankha e. August muss Tabletten, Schimmel und Asbest essen, damit er kränkelt und die Mutter ihn bemuttern, ja „übermuttern“ kann. Während im Wohnzimmer in Dauerschleife das Begräbnis von Lady Di im Fernsehen läu , pflegt sie ihren Sohn am Krankenbett. „Abends blickte sie, stolz auf ihre Leistungen, in den Spiegel und sah ein Spiegelbild, das selbst genas.“ Es sind

Die Minuten blühten wie Millionen von Blumen auf dunklen Wiesen um ihn herum, und nicht eine ließ sich pflücken, keine verging

VALERIE FRITSCH

«Anschaulich und atemlos.

Im Grunde gibt es kaum ein historisches Thema, das für unsere Gegenwart so relevant sein könnte wie ‹Marseille 1940›.»

Florian Illies, DIE ZEIT «Eine Geschichte vom großen Mut einzelner, sehr unterschiedlicher Menschen.»

Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung

Valerie Fritsch: Zitronen.

Suhrkamp, 186 S., € 25,50

seltsam sterile Sätze, die es beim Lesen schwer machen, selbst so etwas wie Empathie zu entwickeln.

Sobald es August besser geht, mischt ihm die Mutter wieder Gi ins Essen. Der Arzt, ein behäbiger Mann aus dem Dorf, wird bald zur wichtigsten Bezugsperson und verliebt sich in die Mutter. Er behandelt sie „wie eine Prinzessin“, „sah in ihr, was keiner je gesehen hatte“. Obwohl der Arzt irgendwann herausfindet, was die Frau ihrem Kind antut, schweigt er.

Die Mutter sei kein Monster, erklärte die Autorin jüngst in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, sondern leide an einer psychischen Krankheit: dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. So wie alle Menschen ist sie vulnerabel, aber verkehrt ihre Liebe in eine hinterhältige Form der Gewalt.

Hier endet der erste Teil von „Zitronen“, der die Kindheit Augusts umfasst. Valerie Fritsch, geboren 1989 in Graz, recherchierte akribisch zum Thema Gewalt. „Wenn ich etwas gar nicht verstehe, habe ich das Bedürfnis, mich dem zu nähern und etwas mehr zu verstehen“, sagt die Autorin. „Häusliche Gewalt ist überall, hinter jeder Tür passieren schlimme Dinge.“

Fritsch legt ihren vierten Roman vor. Drei Jahre nahm sie sich Zeit, um Gespräche mit Tätern und Opfern zu führen, um mit Mördern über ihre Lebensgeschichte zu sprechen. Den Kontakt hat sie über den Verein zur Resozialisierung „Neustart“ hergestellt. Mehrere gewalttätige Männer teilten dafür intime Details mit ihr, erklärten sich und ihre Motive.

Im zweiten Teil des Buches ist August Drach erwachsen und verschwindet in der Anonymität der Stadt. Er trifft auf Gestalten der Nacht, lernt zu lügen und die eigene Vergangenheit zu vergraben. Nur die Schlaflosigkeit erinnert ihn an die Kindheit. „Die Minuten blühten wie Millionen von Blumen auf dunklen Wiesen um ihn herum, und nicht eine ließ sich pflücken, keine ver-

Thinking like

Hannah Arendt

ging.“ Es sind schwülstige Metaphern wie diese, die Fritschs Roman stellenweise ins Klischee kippen lassen.

Irgendwann trifft August auf Ava und verliebt sich. Es ist die erste große Liebe, eine, die alles einnimmt, aber auch ständig im Verdacht steht, zu vergehen, so kostbar, dass August um sie fürchtet. Obwohl die beiden heiraten, lässt sich sein Misstrauen nicht besän igen. Er prü sie, stößt sich an ihrer Art, den Bäcker anzusehen – und schreit sie an, schüttelt sie. Irgendwann geht Ava.

Im letzten Teil mündet die Geschichte des August Drach in ein blutiges Finale. Er fährt nachhause, rächt sich an der Mutter. Spätestens jetzt wird überdeutlich, welche Intention die Autorin verfolgt: zu ergründen, was zum Grauen motiviert; die Banalität des Bösen familiensoziologisch zu untersuchen. Es ist eine zeitlose Geschichte.

Diese durchaus interessante Prämisse tritt jedoch mitunter plump hervor. „Alles, was er tat, tat er mit der Inbrunst der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins“, schreibt Fritsch und liefert eine scheinbare Erklärung für die Grausamkeit: Wer selbst misshandelt wurde, misshandelt andere.

Doch gilt das für alle? Warum werden die einen gewalttätig und die anderen nicht? Ist die eigene Prägung unabwendbar – oder entscheidet der Mensch als freies Wesen über sein Tun? Weiterführende Fragen zur Gewalt kommen in Fritschs Prosa nicht vor. Ihre Erzählung verläu knapp, die Charaktere bleiben farblos, wie Puppen eines Schauspiels. Auch der Buchtitel kippt in den Kitsch, wenn Fritsch die Zitronen als Sterne beschreibt, die hoffnungsfroh am Himmel stehen.

„Gewalt und Liebe heben einander nicht auf“ ist ein zentraler Satz des Romans. Einer, der nicht umstrittener sein könnte. Sollten wir also Mitleid haben, mit dem armen Mann? Dieses Fazit möchte man Fritsch nun wirklich nicht unterstellen.

Eike Gebhard, Deutschlandfunk

Lyndsey Stonebridge bringt Hannah Arendt in einen Dialog mit unserer unruhigen Gegenwart – und fordert uns dazu auf, so zu

LITERATUR FALTER 12/24 7
Aus dem Englischen von Frank Lachmann. | 351 Seiten Gebunden | ISBN 978-3-406-81467-9 Auch als Hörbuch!
«Der Zusammenhang von Leben und Denken ist leitmotivisch bei ihr und das ist das Interessante.»
351 Seiten
28 Abbildungen
2 Karten | Gebunden | 26,80[A] ISBN 978-3-406-81490-7 Auch als Hörbuch (DAV)!
denken wie sie: unerschütterlich, liebevoll und trotzig.
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Die Ärztin, die Tischlerin und ein aggressiver Schwan

Zwillinge, wohin man schaut: Die Oberösterreicherin Dominika Meindl hat einen Hallsta -Roman mit Schmäh geschrieben

Braucht die Welt noch einen HallstattRoman? Immerhin haben sich schon Kapazunder wie Reinhard Kaiser-Mühlecker und Evelyn Grill in diesem Genre versucht. Wenn man’s angeht wie Dominika Meindl, lässt sich ein Projekt solcher Art vertreten.

Die Autorin hat einen super Schmäh, sie weiß, wie man glaubha e Figuren zeichnet, und versteht sich auf die Kunst des gekonnten Plotau aus. Außerdem kennt sie Land und Leute. Da kann eigentlich wenig schief gehen. Tut es auch nicht.

Schlanke 200 Seiten braucht Meindl, um eine relativ komplexe Geschichte erstens zu entwickeln, zweitens auszuführen und drittens nach allerlei Verwicklungen zu einem leidlich guten Ende zu bringen. Dass sie dabei nicht ins Hudeln kommt und man sich gut unterhalten fühlt, spricht für ihre Könnerinnenscha

Es beginnt mit einer Heimkehr. Nach dem Tod ihres Vaters übersiedelt die Ärztin Johanna, längere Zeit in Wien wohnha , in ihren Kindheitsort Hallstatt zurück, um die väterliche Ordination zu übernehmen. Der alte Herr hat ein mit allerhand Gerümpel angefülltes Haus sowie einen übergewichtigen Labrador namens Balu hinterlassen.

Johanna leidet unter Eingewöhnungsschwierigkeiten, zumal sich der beschauliche Ort im inneren Salz -

kammergut zur überrannten Traumdestination für asiatische Halb- und Vierteltagestouristen entwickelt hat. In an Shortcuts erinnernde Szenen bringt Dominika Meindl das Personal ihres Romans zum Einsatz.

Als da sind: Johannas Zwillingsschwester Doris, eine zupackende Tischlerin, deren Ehemann Martin, eine Slowenisch-Kärntner Zuwandererfamilie mit zwei Kindern – deren mütterlicher Teil überraschend schnell an einer Krebserkrankung verstirbt – sowie der chinesische Strategieberater Ren, der seine Kindheit teilweise in Österreich verbracht hat und das liebliche Hallstatt im Au rag der chinesischen Regierung auf seine 1:1-Kopierbarkeit hin überprü

Meindl spielt mit dem Zwillings- beziehungsweise Verdoppelungsmotiv, denn es gibt eben nicht nur die Zwillingsschwestern doppelt, sondern auch deren Heimatort, von der Autorin übrigens zur „Stadt“ erhoben –„Hallstadt“ gewissermaßen.

Die Handlung wird gemütlich vorangetrieben, mit viel ärztlichem Alltag und kleinen und größeren, sagen wir, Liebesproblemen. Auch so etwas wie Actionszenen bietet Dominika Meindl auf: Ein aggressiver Schwan attackiert einen im See schwimmenden Familienvater, im Beisein eines Priesters wird ein neuer Raika-Bankomat im Ortszentrum eingeweiht, und die Tischlerin Doris – ner-

Wie erzieht man vollkommene Krieger?

venzerfetzender Höhepunkt – schneidet sich mit einer Kreissäge den Daumen ab.

Was sich bei Meindl so liest: „Der Daumen scheint nur noch aus Sentimentalität an der Hand zu hängen, deren Mitglied er fünfunddreißig Jahre lang war.“

Die Autorin schickt ihre Zwillingsschwestern aber auch auf Erkundungstour in die südchinesische Provinz Guangdong, wo ein staatseigener Baukonzern Hallstatt neu aufgebaut hat. Hallstatt unter Palmen: auch etwas, was man nicht gesehen haben muss.

So unspektakulär die Story dahinplätschert, wachsen einem die Figuren doch ans Herz. Einnehmend ist auch der trocken-pragmatische Humor der Autorin. „Die Männer sehen im Schlaf nur deswegen so entwaffnend und schutzlos wie Welpen aus, damit wir sie nicht einfach derschlagen“, lässt Meindl die Tischlerin Doris beim Betrachten des schlafenden Gatten räsonieren.

Am Ende des Romans gelingt Dominika Meindl noch einmal ein eleganter erzähltheoretischer Dreh, der das vorher Erzählte in neuem Licht erscheinen lässt. Nachdem man das Buch zugeklappt hat, ist man sich sicher: Einen weiteren Hallstatt-Roman würde man nicht mehr verkra en. Aber den Meindl’schen – den hat man gern gelesen.

GÜNTER KAINDLSTORFER

Andrea Grill verlegt einen albanischen Mythos in die Zukun und scha ff t damit eine beklemmende Dystopie

Manche Autorinnen arbeiten sich an einem einzigen Lebensthema ab, wie etwa Herta Müller. Andere bestehen anscheinend aus multiplen Persönlichkeiten, wie die 1975 in Bad Ischl geborene Autorin und leidenscha liche Biologin Andrea Grill, die Romane, Lyrik, Kinderbücher und Sachbücher verfasst.

Sie lebte und studierte in Salzburg, Thessaloniki, Sardinien und Tirana und ist heute in Wien beheimatet, sie schrieb über Schmetterlinge, erklärte Kindern die Evolution und wandelte Mozarts „Hochzeit des Figaro“ in einen feministischen Roman um. Nebenbei übersetzt sie aus dem Albanischen, eine weitere Passion der Autorin, die zum Ausgangspunkt nicht nur für ihren Roman „tränen lachen“ (2008) wurde, sondern auch für ihren neuen, bereits fün en.

Sein erschreckender Titel lautet „Perfekte Menschen“. Man denkt an Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ von 1932, liegt damit gar nicht so falsch und beginnt zu hoffen, dass Grills Werk nicht ebenfalls einmal als luzide Vorhersage eines neuen Faschismus gelesen werden wird.

„Der Held dieser Geschichte erinnert an die mythische Figur des Ballaban Bandera“, beginnt das schmal gesetzte, nur 160 Seiten dicke Buch. „Er kam Mitte des 15. Jahrhunderts in Mat im heutigen Albanien zur

Welt, als Sohn von Helena und Milosh, die ihn taufen ließen und christlich erzogen.“

Ballaban wurde als Kind für die Elitetruppe der Janitscharen ausgebildet, eine gängige Praxis der ottomanischen Sultane. In seiner Heimat Albanien gilt er jedoch als Verräter, weil er später gegen seinen eigenen Bruder kämp e. Grill streicht von seinem Namen ein l und zeigt ihn als Kind, „das einem zerstörerischen System zum Opfer fällt“.

Ihre Neuinterpretation des Mythos ist angesiedelt in einer unbestimmten Zukun nach dem Jahr 2049. In einem vereinigten Europa, in dem Ländergrenzen und kulturelle Eigenheiten überwunden sind, steht die Sicherheit an erster Stelle. Der Einzelne hat unendliche Wahlmöglichkeiten, „nur nicht: ohne Technik auszukommen“.

Flüsse wurden unter die Erde verlegt, um den Ertrinkungstod zu verhindern und Verdunstung zu minimieren. Ansteckungen mit Viren und Bakterien gehören weitgehend der Vergangenheit an. Wissenscha ler sind „vorrangig damit befasst, Katastrophen vorauszusagen und abzuwenden“. Grundlagenforschung wird indessen nicht mehr gefördert. Die Erderwärmung schreitet voran.

Wie alle Kinder wird auch Balaban mit Roboter-Spielkameraden und handyartigen Geräten namens Frieelys erzogen, oder vielmehr ruhiggestellt. Hier schreibt niemand

mehr, außer Balabans Mutter, die sich aber beeilt, ihrem Sohn zu erklären, dass diese Tätigkeit sich als ineffizient erwiesen habe. Im Verlauf der Handlung wird zumindest diese Aussage widerlegt. Balaban übersteht die „schöne neue Welt“ des Ausbildungsbzw. Umerziehungslagers auch deswegen, weil er eine eigene Schri erfindet und sich so seiner selbst vergewissert.

Die Indoktrination in dem Camp besteht zunächst aus einem Einlullen in Komfort und Unterhaltung. Der Kontakt mit der Natur, von der sowieso nur noch Reste vorhanden sind, ist nicht vorgesehen. Wenn das Gefühl entstanden ist, nicht mehr wegzuwollen, bekommen die Jungen wieder ein Frieely. „Nur ohne Vergangenheit und Zukun wurde man ein vollkommener Krieger“, so lautet die Devise. „Nur wer das Leben nicht liebte, war ein perfekter Mensch.“

Die Befürchtung, dass Grills Umwandlung einer Legende in eine Dystopie an Überfrachtung kranken könnte, erweist sich als unbegründet. Mit „Perfekte Menschen“ legt sie einen schlanken, zeitlos wirkenden Thriller vor, den man mit angehaltenem Atem liest, gerade weil einem daraus so vieles bekannt vorkommt.

Ein kleines Meisterwerk, das alle eingangs erwähnten Leidenscha en dieser vielseitig begabten Autorin vereint. KIRSTIN BREITENFELLNER

8 FALTER 12/24 LITERATUR
Dominika Meindl: Selbe Stadt, anderer Planet. Picus, 208 S., € 22,– Andrea Grill: Perfekte Menschen. Leykam, 164 S., € 24,50

Meditieren zwei Punks in Venedig

Besetzte Häuser und das Gfre mit der Herkun sfamilie: Stephan Roiss gibt in seinem Roman „Lauter“

Die Bedeutung von ersten Sätzen für Romane wird bisweilen übertrieben. Es zählt schon auch, was danach kommt. Und doch ist das mal ein großartiger Einstieg: „So lange hatte ich über den Begriff der Seele gelacht, bis in meiner Hand die Hand meiner toten Mutter lag, noch nicht kalt, doch schon zu kühl.“

Leons Mu er ist nicht mehr. Sein Vater lebt zwar noch, ist für ihn aber gestorben, als er die Familie sitzen ließ. Der Oberösterreicher Stephan Roiss erzählt in „Lauter“ von einem etwa 30-Jährigen zwischen Wut über seine Umgebung und Wundenlecken. Denn Leon fühlt sich auch schuldig. Als die Mutter stirbt, kehrt er um ein Eitzerl zu spät aus Kuba zurück, um sich noch von ihr verabschieden zu können: „Wir hatten sie allein gelassen, Vater schon vor vielen Jahren und ich gerade dann, als es darauf angekommen wäre.“

Das ist nun kein Stoff, der in irgendeiner Form neu wäre. Was Roiss aus dieser Konstellation macht, erweist sich jedoch als so kurzweilig wie originell und packend. Einnehmend ist zunächst das Tempo der Erzählung. Wenn es in Romanen um Themen wie das Gfrett mit der Herkun sfamilie oder seelisches Leid geht, wird es o episch und auch sehr gemächlich, um nicht zu sagen: fad.

„Lauter“ hingegen gibt gut Stoff, was auch am geschilderten Milieu liegt. Leon wurde sozialisiert in besetzten Häusern und alternativen Kulturzentren. Er hat in Punk- und Noisebands gespielt und ist immer noch musikalisch aktiv. Gern reist er als NoBudget-Tourist durch die halbe Welt.

Geld spielt keine große Rolle. Das bisschen, das er zum Leben braucht, verdient er als Musikredakteur bei einem freien Radiosender. Miete be-

zahlt er keine, weil er für einen Punkkollegen von einst, der jetzt in Venedig auf Buddhist macht, ein altes Bauernhäuschen hütet.

Es herrscht in diesem Roman kein Mangel an leicht bis mittelschwer schrägen Figuren mit Lebensläufen etwas abseits der gesellscha lichen Norm. Eine Bandkollegin von Leon etwa beschä igt sich in ihrer Arbeit als Künstlerin obsessiv mit Dübeln: „Vio erklärte mir, warum sie Dübel so geil fand. Der Dübel an sich sei polysexuell, eindringend und umhüllend zugleich, für die Wand ein Phallus, für die Schraube eine Vagina.“

Anton wiederum ist vor seinem Nazi-Vater geflohen und hat mit seiner kleinen Schwester jahrelang auf der Straße gelebt. Eines Tages wurde er vom Punk zum Sinnsuchenden und schließlich Buddhist. In seinem Haus hat sich Leon nun verschanzt.

Mit viel Mühe lockt ihn seine Band wieder aus dem Haus und zu einem Konzert. Die fulminante, trunkene Nacht beschließt Leon mit ein wenig Freilu -Masturbation unterm Sternenhimmel zu beenden – da ertastet er etwas Seltsames. Die Diagnose folgt kurz darauf: Hodenkrebs.

Nun hält ihn nichts mehr in seinem Versteck. Er besucht Anton in Venedig, wo ihn dieser in einem extremen einwöchigen Meditationsmarathon zu einem neuen Menschen machen möchte. Alles soll er loswerden:

„Deine Lebensangst, Leon. Die große Kränkung. Den kindlichen Trotz. Deine Gewissensbisse. Deine Mutter. Jetzt geht es erst richtig los!“

Leon ist das schon zu nahe an der Erleuchtung. Er reißt sich los, trampt durch Italien. Der Plot kulminiert auf der sizilianischen Vulkaninsel Stromboli. Dort soll ein Konzert vor gewaltiger Naturkulisse steigen.

»Das ist knochentrocken komisch und oft richtig brutal, und wenn man sich dann auf diese Mischung eingestellt hat, wird man auf dem linken Fuß von einer zarten Wehmut umgeschmissen.«

gut Stoff

Die Musikalität der Prosa von Stephan Roiss ist beachtlich. Seine Sätze geben einen schnellen Rhythmus vor. Auch der ständige Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblick hat einen eigenen Groove. Außergewöhnlich ist, wie gekonnt er mit Lautstärke spielt, leise Passagen und Krach abmischt.

In „Lauter“ tobt der Lärm der Welt, von Konzertbühnen und in Leons Innerem. Die Stille muss dieser erst aushalten lernen. Und vor allem sollte er endlich mit seinem Vater reden.

Eine Rückkehr zu den unbeschwerten Momenten der Kindheit, als die Familie noch ganz war, ist unmöglich. Aber Leon versucht es verzweifelt: „Ich ahmte das Kind nach, das ich einst gewesen war: legte mich auf den Schlagbaum, suchte Futterkrippen auf und leckte an den Salzsteinen, kostete die Sonnenblumenkerne aus den Vogelhäusern, ließ Schneebälle gegen die Rinden klatschen. Vielleicht war ich gar nicht gewachsen, vielleicht waren die Dinge geschrump .“

„Lauter“ ist voll von solchen Bildern, Beobachtungen und Beschreibungen, die zum Innehalten einladen. Kurz nur, dann ergibt man sich wieder dem Sog der Erzählung. Roiss stand 2020 mit seinem Debüt „Triceratops“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein zweiter Roman löst das damals gegebene Versprechen ein.

LITERATUR FALTER 12/24 9
TOXISCHE POMMES 208 Seiten. Gebunden und als E-Book zsolnay.at Foto: © Muhassad Al-Ani
Stephan Roiss: Lauter. Jung und Jung, 240 S., € 23,–
ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Metaphysische Verzückung

„Als ich noch unsterblich war“: Christoph Ransmayrs Erzählungen werfen einen begeisterten und kritischen Blick auf die Welt

Am Anfang war das Wort, aber ganz am Anfang die Buchstabensuppe. Darüber besteht zumindest im Falle des sich an seine Kindheit erinnernden Ich-Erzählers Gewissheit. Klar wie Brühe schimmert aus dem „S“ die Schlange hervor, mithin lassen sich mit den Zeichenketten sogar Soldatenund Elfenvölker gründen.

„Es liegt an dir“, sagt man dem Protagonisten, „du hast mit dem einen Löffel voll Buchstaben dein Leben, die Welt in der Hand“. Nur eines wird ihm erst nach dem Tod seiner Mutter bewusst, nämlich dass „bei allem Glanz des Zaubers der Verwandlung von etwas in Sprache, in Schri , der ungeheuerliche und unfaßbare […] verlorene Rest doch – das Schweigen war.“

Diese Stille birgt wohl das, was in Christoph Ransmayrs Werken seit jeher als der spirituelle Überschuss gelten darf. In seinen aktuellen, in dem Band „Als ich noch unsterblich war“ versammelten Erzählungen ist er omnipräsent, insbesondere als Erbe einer Romantik, die in der Literatur symbolisch jene religiösen Tempel wiederauferstehen ließ, von denen in der Realität längst nur noch Ruinen übrig geblieben waren.

Was hier bildlich gemeint ist, trifft der 1954 in Wels geborene Autor auf einer Reise nach Sri Lanka in konkreter Weise an. Nach Jahrhundertfluten und Stammeskriegen liegt an der Ostküste sowohl ein Heilig-

tum als auch ein Kino in Trümmern. Wenn einmal die Rekonstruktion beginnen sollte, stellt sich die Frage: Welchem Bauwerk kommt nun die Priorität zu?

Beide Orte, weiß ein örtlicher Mönch, dienen als „Zuflucht vor der brennenden Wirklichkeit“. Dennoch schätzt er die Chancen für das Filmhaus höher ein, da seine Erlöser völlig aus Licht bestünden. Um eine Transzendenzerfahrung geht es ebenso in einem Text über eine Reise zur bei Hongkong gelegenen Joss House Bay.

Dass man vom Schiff aus die brennenden Opfergaben zu Ehren der Göttin Tin Hau bestaunen kann, die einst viele Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben soll, versetzt den Erzähler in geradezu metaphysische Verzückung. Im Glauben, in diesem Augenblick auch von der Himmelsmacht bewacht zu sein, kommen ihm Zitate aus dem Langgedicht „Der Untergang der Titanic“ von Hans Magnus Enzensberger in den Sinn.

Seit seinem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984) über die Payer-Weyprecht-Expedition gilt Ransmayr als der deutschsprachige Reiseschri steller schlechthin. Immer ist sein Blick zugewandt, voller Respekt und Bewunderung für das Andere.

Während die westlichen Gesellschaften sich über die Migrationsfrage und der Angst vor Überfremdung zu zerreißen dro-

Konrad, der perfekte Hetero

Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war.

hen, zeigt der Autor stets die Bereicherung im Kontakt mit Menschen unterschiedlichster Kulturen auf. Die Schönheit der Begegnungen ist dabei nie bloß Theorie, sondern Resultat gelebter Praxis.

In seiner Literatur manifestiert sich die Idee einer Friedensordnung auf Basis eines emphatischen Verstehenwollens. Dies schließt nicht aus, dass er aber auch dezidiert Kritik an politischen Heucheleien übt. So etwa in der Kurzprosa „Mädchen im gelben Kleid“: Aus einer Tour zu afrikanischen Berggorillas entwickelt sich eine scharfe Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit. Europa „hat die Rechnungen für seine durch Jahrhunderte unternommenen Raubzüge quer über alle Kontinente dieser Erde nie bezahlt“, betont der Erzähler und macht im Anblick eines wasserschleppenden Mädchens eine Beobachtung zur globalen, sozialen Ungleichheit: Für Hotelkonzerne werden Leitungen verlegt, derweil muss sich die Bevölkerung mit schmutzigen Pfützen arrangieren.

Gemein haben diese Anklagen mit der Weitherzigkeit der anderen Erzählungen eine Passion, die keine faulen Kompromisse kennt. Ransmayr zeigt sich auf der Höhe seines Denkens und Schaffens. Er wird wohl noch so manch weiteren metaphorischen und echten Berg besteigen.

Der Wiener Autor Moritz Franz Beichl untersucht in „Männer“, welche absurden Rollenbilder in unseren Köpfen herumgeistern

Der Vater ist gestorben, zwei ungleiche Brüder müssen sich um die Hinterlassenscha kümmern. Sie treffen sich, um gemeinsam die Grabrede zu verfassen. Aber schon simple Gesten wie das Servieren eines Kaffees setzen im Kopf des jüngeren Bruders, der die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, ein Klischeefeuerwerk in Gang.

Das liest sich so: „Du stellst mir eine Tasse schwarzen Kaffee hin, den du aus deiner Nespresso Maschine gedrückt hast, ein Gerät, das eigentlich gar nicht in deine perfekte Welt passt. Du bist Besitzer eines Grills auf der Terrasse, der so viel gekostet hat wie ein Auto. Eines Grills, den du via Bluetooth mit dem Handy verbinden kannst, damit man ganz genau weiß, wann das Steak richtig medium rare ist, aber echt medium rare, so wie medium rare sein soll.“

Ein schwuler Mann, der Balletttänzer geworden ist, denkt an seine Kindheit zurück, an den überforderten, distanzierten Vater, nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, an sein Coming-out – und an seine Beziehung zu seinem älteren heterosexuellen Bruder Konrad. Dieser Roman ist ein Erinnerungsbuch.

Konrad scheint alles leicht gefallen zu sein scheint: Mit elf wurde er als der kleine Kronprinz Rudolph im Erfolgsmusical „Elisabeth“ in Wien besetzt. Mit 18 wurde

er österreichischer Bundesmeister im Billard. Jetzt ist er erfolgreicher Anwalt, hat Frau und ein Kind, das natürlich getau wurde. Ist Konrad ein angepasster Spießer?

„Männer“ ist die Geschichte einer Annäherung, mit dem Clou, dass ausgerechnet der schwule Bruder seine Vorurteile relativieren muss. Konrad ist der perfekte Hetero, aber ist er wirklich so empathielos wie der Erzähler es immer darstellt? Sieht dieser seinen Bruder vielleicht zu einseitig?

Ra ffi niert doppelbödig geht es um veraltete Rollenbilder, die sich in Köpfen festsetzen, obwohl die Realität ganz anders aussieht. Schließlich hat Konrad über den Tod des Vaters bereits geweint und kann offen über seine Gefühle sprechen. Der Erzähler hingegen tut sich schwer mit Tränen. Beichl arbeitet auch als Theaterregisseur. Man merkt seinem Roman an, dass er ein Talent für pointierte Szenen hat. Er versteht es, ernste Themen in unterhaltsame Form zu gießen. Da trifft der Erzähler seinen Bruder zufällig in einem Programmkino, in dem ausgerechnet die queere Lovestory „Call Me by Your Name“ (2018) läu . Während alle vom traurigen Ende betroffen sind, ist der Erzähler nur wütend: „Denn dafür sind wir Schwulen da: Wir sind zum Ansehen und Unterhalten da! Unser Leid wird ästhetisiert und fetischisiert. Unerfüllte Liebe unter Männern ist Poesie.“

Bereits in seinem Romandebüt „Die Abschaffung der Wochentage“ (2022) gelang Beichl eine spannende Gratwanderung. Schonungslos obsessiv, aber auch leichtfüßig ironisch erzählte er die Geschichte eines jungen Mannes zwischen Depressionen und queerer Lebenslust, Psychiatrie und Rotwein-Rausch.

Alltag und Exzess sind zentrale Themen Beichls, ebenso wie nicht genormte Lebensentwürfe. Der Autor führt vor Augen, wie schwer es uns die Gesellscha macht, eigene Wege zu finden, was Selbstidentität und Sexualität betrifft. Auch in „Männer“ thematisiert der Erzähler, wie sehr Mainstream-Schönheitsstandards das queere Begehren prägen.

Mit 14 sei er magersüchtig gewesen, mit 18 habe er sich dann bei McFit Muskeln zugelegt, um einem perfekten schwulen Männerbild zu entsprechen. Tunten habe er damals abgelehnt. Beichl hinterfragt dieses gepanzerte Männerbild.

Die Sexdates seiner Erzählerfigur mit „TOP1979“ sind sehr zart und lustig. Und sympathisch realistisch: „TOP1979 hat nicht den größten Penis der Welt, was mich nicht stört, denn er geht sehr gut mit ihm um. [...] Ich wundere mich darüber, wie liebevoll dieser Mann zu mir sein kann, der überhaupt nicht verliebt in mich ist.“

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KARIN CERNY
S. Fischer, 224 S., € 24,70 Moritz Franz Beichl: Männer. Residenz, 160 S., € 22,–

Das Geld und die Frage nach dem Eigentlichen

Ein Getriebener und Spieler namens Bruno van Gelderen ist der Held von Ulrich Peltzers Roman „Der Ernst des Lebens“

Karl Marx hielt das Kapital für ein „scheues Reh“, also für etwas Fluchtbereites. Ängstlich entzieht es sich den Blicken und sucht rasch das Weite, wenn es erschreckt wird. Ulrich Peltzers Ich-Erzähler Bruno van Gelderen folgt etwa 150 Jahre nach Marx einer anderen Maxime.

Er hat gelernt, dass es in der Welt allzu viel „einsames Kapital“ gibt, das nach Anschluss und einer Aufgabe sucht: „Reich ihm freundlich die Hand, und es folgt dir willig.“ Man muss es nur mit Renditeversprechungen hervorlocken, und schon läu es brav hinterher. Das ist die Sichtweise von Spekulanten, für die der Sinn des Geldes in dessen fortgesetzter Vermehrung liegt.

Zu einem Zocker wird auch Bruno van Gelderen, dessen Name auf die Herkun von einem Bauernhof an der deutsch-niederländischen Grenze verweist, der aber auch programmatisch zu lesen ist. Ums Geld dreht sich bei ihm alles.

Nach dem Roman „Das bessere Leben“, mit dem er 2015 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, macht der Berliner Schri steller Ulrich Peltzer erneut die Finanzwelt zum Gegenstand –nicht unbedingt deshalb, weil er sich für ausgetü elte Anlagestrategien interessieren würde, sondern weil Kapital die Macht besitzt, Lebensläufe entscheidend zu beeinflussen.

Van Gelderen fügt sich passgenau in Peltzers literarischen Kosmos, der das linksalternative Berlin seit Anfang der 80er-Jahre umfasst. Er ist ein Autor, der sich stets fürs Gesellscha liche und für die Geschichte der Linken interessiert hat.

Peltzer weiß jedoch, dass das Politische sich nicht unbedingt daraus ergibt, dass man über Politik oder über Revolte und Revolutionen schreibt, sondern aus der Frage nach dem, was das Leben ausmacht. Es ist die Suche nach dem „Ernst des Lebens“, die dem neuen Roman den Titel gibt. Seine Helden sind Einzelgänger, Beobachter am Rand der Gesellscha

Ulrich Peltzer: Der Ernst des Lebens. S. Fischer, 302 S., € 24,70

Das gilt auch für Bruno, der zwar durchaus von Beziehungen zu Frauen berichtet, aber grundsätzlich nichts am Alleinsein auszusetzen hat. Überhaupt ist er eher bedürfnislos, materiell ebenso wie transzendental. Religion interessiert ihn nicht, Liebe hält er für eine Illusion und Heimat für einen „seltsamen Begriff, mit dem ich nichts anfangen kann“.

Geld ist nicht sein Ziel, sondern eher ein Mittel, um in Bewegung zu geraten. Heimatlosigkeit – der ältere Bruder hat den Bauernhof der Eltern übernommen und in einen florierenden Bio-Betrieb umgewandelt – ist die Voraussetzung seines Absturzes und seines Aufstiegs, von dem er ziemlich ungeordnet erzählt.

Warum und wem er sich mitteilt, erklärt er nicht. Bruno redet einfach drauflos, obwohl es nicht seine Sache ist, „ohne Anlass in der eigenen Vergangenheit rumzurühren“. Seine Erinnerung ist so lücken- wie sprungha . „Manchmal fällt einem wieder etwas ein, und man versucht, sich zurechtzufinden. Was war vorher? Was nachher? An welcher Stelle im Leben […] wie auf einer Skala, die mit der Geburt beginnt. Wie ist das alles vor sich gegangen? Wie ist es miteinander verbunden? Was fehlt?“

Man kann diese Passage als poetisches Prinzip verstehen. Ohne Kontinuität und chronologische Ordnung setzt sich die Lebensgeschichte aus Bruchstücken zusammen, wie sie sich in der Erinnerung einstellen.

Van Gelderen ist im Gefängnis gelandet, das erfährt man schon früh. Doch erst allmählich wird klar, warum. In den 1990ern kam er als Student nach Berlin, brach das Politologiestudium bald ab, um in einer Konzertagentur erstes Geld zu verdienen und sich in die Historikerin Julia zu verlieben.

Beides nimmt kein gutes Ende. Bruno verfällt immer mehr einer drogengestützten Spielsucht. Schließlich ist er so heruntergekommen, dass er die eigene Freundin bestiehlt, weil er Geld braucht, um es

in Spielautomaten zu versenken. Im Delirium begeht er dann auch zwei lächerliche, dumme Raubüberfälle.

Eine andere, entgegengesetzte Geschichte ereignet sich nach den 30 Monaten Knast, in denen er qua Gefängnisbibliothek immerhin zum Leser und Lyrikfreund wurde. Sie handelt von dem schwerreichen Georgier Guram Kobiashvili, den Bruno im Fußballstadion als Mäzen eines unterklassigen Vereins kennenlernt. Der Georgier macht ihn zum „Chief Financial Officer“ seiner dubiosen Anlagevermittlungsagentur.

Peltzer lässt seinen Ich-Erzähler Absturz und Aufstieg ineinander verschachtelt erzählen. Ums Zocken und ums Geld geht es in beiden Strängen, auch wenn Bruno sich im Grunde nicht dafür interessiert. Vielleicht taugt der ehemalige Spieler ja deshalb zum Finanzakrobaten, weil jede Anlageform ein Spiel ist. Es versteht sich, dass Kobiashvilis Geschä e zwar legal, aber nicht ganz astrein sind. Sein Business basiert auf der Erkenntnis, dass Gier und Selbstzufriedenheit der Kunden verlässliche Größen sind.

Die Frage nach dem Eigentlichen im Leben, die den Erzähler antreibt, ist damit nicht beantwortet. Er gesteht, nicht zu wissen, „was richtig und was falsch ist, was ein Unglück und was ein Leben wäre, bei dem man sich nicht ständig fragt, ob man’s so haben will, falls man überhaupt wählen kann“.

Bruno van Gelderen bleibt ein Getriebener, der weniger handelt als geschehen lässt, der aber das Glück hat, sich in der Unübersichtlichkeit des Daseins irgendwie einzurichten und im Lauf der Jahre an Gelassenheit dazugewinnt.

Vorangestellt hat Peltzer all dem ein Motto des spanischen Philosophen Baltasar Gracián, wonach es gilt, das Glück loszulassen, während man gewinnt: „Ein schöner Rückzug ist ebenso viel wert wie ein kühner Angriff.“ Davon handelt dieser vertrackte Roman über einen Spieler, der vergeblich nach dem Ernst und Sinn des Lebens sucht. JÖRG MAGENAU

LITERATUR FALTER 12/24 11
Roman Diogenes
Emanuel Bergmann Tahara
Königin
Karthago Roman Diogenes Roman Diogenes
Irene Vallejo Elyssa
von
Diogenes Highlights für Ihre Frühlingslektüre
Ingrid Noll Gruß aus der Küche
Suter
Martin
Allmen und Herr Weynfeldt

Die Geschichte einer ganz großen Liebe

Jan Kone ff ke bearbeitet das Leben des Autors Joseph Roth literarisch – mit einer Frau als Hauptfigur

I m September wäre der österreichische Schri steller und Journalist Joseph Roth 130 Jahre alt geworden. Mit Werken wie „Radetzkymarsch“ und „Hiob“ zählt er zu den renommiertesten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Der deutsche Autor Jan Kone e gratuliert mit seinem neuen Roman „Im Schatten zweier Sommer“ und dichtet ihm eine Freundin namens Fanny Fischler an.

Nach seiner eigenen Familiensaga, deren Abschluss „Sonntagskind“ bildet, hat Kone e, geboren 1960 in Darmstadt, nun wieder ein persönlicher Zugang zu einer Geschichte geführt. Durch Zufall erfuhr er, dass er im selben Haus in der Wiener Rembrandtstraße einzog wie der Student Roth ungefähr hundert Jahre zuvor.

Das regte seine Fantasie so sehr an, dass er die Figur Fanny Fischler samt Geschichte erfand. „Im Schatten zweier Sommer“ ist kein Roman, der allein literaturgeschichtlich Interessierte und Roth-Fans begeistern wird. Kone e erzählt in einer eindringlichen Sprache die Geschichte einer ganz großen Liebe: „Es war das Unabgegoltene, das sie am Leben hielt, eine sperrangelweite offene Sehnsucht, die sich nie hatte austreiben lassen.“

Die Gliederung ist scheinbar simpel, der dahinterstehende Ansatz höchst komplex. Der Erzähler des Romans – nicht Koneff-

ke – erfährt durch Tonbandkassetten und ein Tagebuch von der Liebesgeschichte. Die Beziehung von Roth und Fischler gliedert sich primär in zwei Sommer der Jahre 1914 und 1938.

Ihr Nachlass funktioniert in diesem Zusammenhang wie ein großer Fundus: Der Erzähler findet darin alles, was er selbst braucht, um seinem Publikum die Geschichte einer dramatischen Jugendliebe zu schildern.

Roth kommt nicht rein positiv rüber. Der Student und Lyriker wird von Unsicherheit, Kontrollzwängen und einer damit einhergehenden Eifersucht geplagt. Auf die Frage, warum die Jugendliebe zerbrach, antwortet er kryptisch: „Das Naturgesetz, das zwischen Liebenden waltet, besonders den jungen, die romantisch veranlagt sind. Es regelt die Annahmen und Ahnungen der heimlichen Regungen des anderen, die –ausnahmslos – falsch sind.“

Der reale Joseph Roth war ein Außenseiter, rastlos, lebte fast sein Leben lang in Pensionen, Hotels, bei Freunden oder als Untermieter. Das hat er mit Kleist, Hölderlin und Nietzsche gemeinsam. Stefan Zweig bezeichnet diese Wanderer unter den Künstlern als „Vaganten in der Welt“.

Diese Ruhelosigkeit grei Kone e auf und macht sie zum Leitmotiv seines Romans. Roth kommt nie an. Er wandert von

Bett zu Bett. Manchmal teilt er es mit jemand. Am Ende wird er seinem exzessiven Lebensstil erliegen.

Als Fischler ihm 1938 in Paris wieder begegnet, ist er bereits ein Gespenst. Der Alkohol setzt seinem Körper zu, doch sein Geist braucht den Stoff. Vielleicht ist das der Kunst höchstselbst geschuldet, womöglich auch dem Verlauf der Weltgeschichte. Roth sagt über seinen Gefährten, den Alkohol: „Was er verhindert, das ist nur mein unmittelbarer Tod … Ich werde tot umfallen, und zwar auf der Stelle tot umfallen, wenn man mir keinen Schnaps mehr zu trinken gibt …“

Fanny versucht noch, den Freund und Liebhaber zu retten, doch gelingt es ihr nicht. Im Mai 1939 verstirbt Roth. Damit verstummt eine der außergewöhnlichsten literarischen Stimmen des 20. Jahrhunderts.

Jan Kone e hätte auch eine Biografie schreiben können, nachdem er von Roths einstiger Wohnadresse erfuhr. Die Form des Romans jedoch bietet ihm die Möglichkeit, freier mit ihm als Figur zu arbeiten – und ihm eine starke Frau zur Seite zu stellen, die ihn richtiggehend überstrahlt.

Mit „Im Schatten zweier Sommer“ hat Koneffeke eine grandios weibliche Geschichte um ein literarisches Schwergewicht des letzten Jahrhunderts gebaut.

Ein selbstunsicheres Geschöpf blickt zurück

Die Punk-Oral-History „Verschwende deine Jugend“ hat ihn einst bekannt gemacht. Nun erzählt Jürgen Teipel von sich selbst

Die Geschichte von Punk und New Wave in Deutschland hat knapp vor der Jahrtausendwende kaum jemanden interessiert. Pophistoriker, Kunstkennerinnen mit etwas weiterem Horizont und Subkulturnostalgiker, okay, aber sonst?

Mit etwas Glück fand man die alten Platten damals noch billig in Second-HandLäden und auf Flohmärkten. Die Toten Hosen waren längst Rockstars geworden, die Einstürzenden Neubauten Liebkinder der Hochkultur. Andere hatte es in die Clubkultur verschlagen; in den Film, ans Theater, in die bildende Kunst. Manche waren am bürgerlichen Leben gescheitert, andere tot. Thematisiert wurde all das allenfalls in nischigen Internetforen.

Kurz nach der Jahrtausendwende war plötzlich alles anders: Jürgen Teipel veröffenlichte das Buch „Verschwende deine Jugend“, eine Oral-History-Erzählung von Protagonistinnen und Protagonisten der schnellen Jahre ab 1976. Das bei Suhrkamp verlegte Buch geriet zum Bestseller, Bands reformierten sich, Ausstellungen wurden gemacht, Kinofilme gedreht, Platten neu aufgelegt.

„Verschwende deine Jugend“ setzte einer Jugendkultur ein Denkmal, die für weit mehr stand als Musik, Style, Ästhetik und ein rebellisches „Nein“. Punk war, auch in Deutschland, eine Epochenwende und ein großer Möglichmacher. Teipel gelang es,

diese Geschichte ungemein fesselnd zu erzählen und auch für Nachgeborene aufzubereiten. Man musste das Werk von Bands wie Malaria!, Mittagspause, Deutsch-Amerikanische Freundscha , Abwärts, Male oder S.Y.P.H. daher gar nicht kennen, um von diesem Buch, dieser Zeitreise mitgerissen zu werden. Vielstimmig erklangen hier unzählige kleine und eine große Heldengeschichte(n), wenn auch nicht immer mit heroischem Ende.

Über den Autor selbst wusste man nicht viel. Jahrgang 1961, einst selbst Punk-Fanzinemacher und Szeneprotagonist, später Journalist. Und dann eben: Buchautor und selbst Held, als Punk-Dokumentarist. Nach „Verschwende deine Jugend“ sollte Teipel weitere Bücher veröffentlichen, über Techno und DJ-Culture oder die Interaktion von Mensch und Tier.

Sein Opus magnum ha e er 2001 „Doku-Roman“ genannt; nun treibt er mit dem Begriff Roman erneut Schindluder. Denn Teipels neues Buch „Aber ich kann fliegen“ mag zwar mit viel gutem Willen als Autofiktion durchgehen; de facto ist es aber das therapieliterarische Dokument eines über weitere Strecken alles andere als glücklichen Lebens. Des Lebens von Jürgen Teipel. Als da waren: schwierige Kindheit; das stete Gefühl der Fremdheit weit über die Jugend hinaus; psychische Probleme bis hin

zum stationären Klinikaufenthalt; Unsicherheit in Sachen Sexualität und Begehren; eine Sprachlosigkeit, die das soziale Miteinander erschwert, von Beziehungen ganz zu schweigen; Schuldgefühle für den Tod der ersten Freundin, die mit 16 bei einem Reitunfall stirbt; Family-Issues nicht zu knapp.

All das erzählt Teipel ungeschützt und teils schmerzha direkt, allerdings auch ein wenig unaufgeräumt, streckenweise fast redundant larmoyant und sprachlich nicht immer ganz sauber. Hier eine Wortwiederholung, da eine unnötige Langatmigkeit, dort eine kleine Holprigkeit. Dann aber sind da wieder starke, bedrückende Sätze. „Ich war ein selbstunsicheres Geschöpf“ etwa, ganz kurz und schmerzvoll.

Oder schlicht rührende Geschichten wie jene vom Verleger Ernst Brücher (1925–2006), der früh Potenzial im Autor Jürgen Teipel sah und ihm durch selbstlose finanzielle Zuwendungen erst die Arbeit an „Verschwende deine Jugend“ ermöglichte. Ihr letztes gemeinsames Essen vergeigte der Punk-Chronist dann, einer zufälligen Frauenbekanntscha wegen.

Das esoterisch angehauchte Ende ist versöhnlich, der Weg dorthin quälend. „Aber ich kann fliegen“ ist ein wichtiges Buch –allerdings weniger für die Leserin, den Leser als vielmehr für Jürgen Teipel. GERHARD STÖGER

12 FALTER 12/24 LITERATUR
Jan Kone ff ke: Im Scha en zweier Sommer. Galiani Berlin, 304 S., € 24,70 Jürgen Teipel: Aber ich kann fliegen. Schö ffl ing & Co., 224 S., € 25,50

Was Mütter nicht schreiben dürfen

Zwischen Wochenbe depression und Scha ff enskrise: Die Lyrikerin Olga Ravn legt in dem Buch „Meine Arbeit“ alles off en

Mit dem Kind kommt die Angst. Die Angst, der Verantwortung nicht gerecht zu werden. Die Angst, nicht genug zu lieben. Die Angst vor der Lage der Welt. Die Angst, von nun an als Autorin zu versagen. Ist es möglich, gleichzeitig Mutter und Schristellerin zu sein?

Die Dänin Olga Ravn setzt sich in „Meine Arbeit“ bedingungslos ehrlich mit den Auswirkungen der Geburt ihres Sohnes auseinander. Sie fällt in eine schlimme postnatale Depression, inklusive Panikattacken und Selbstmordgedanken, die sie in ihrem Buch offenlegt. Gleichzeitig ist dieses aber auch ein Künstlerinnenroman, der das Schreiben literarisch brillant auf mehreren Ebenen thematisiert.

Wie der Titel schon suggeriert, wird hier alles als Arbeit bezeichnet: die Schwangerscha , die Geburt, das Stillen, das Wickeln, das Schreiben und die Kunst. Alledem wird häufig abgesprochen, richtige Arbeit zu sein. Und auch die Autorin selbst zweifelt ihre eigene Arbeitsfähigkeit immer wieder an.

Bekanntheit erlangte Ravn in ihrem Heimatland zunächst als Lyrikerin. Schon in ihrem Debütroman „Die Angestellten“ befasste sie sich dann mit dem Themenkomplex Arbeit. Humanoide und Menschen reisen darin auf einem Raumschiff durchs All und erfüllen einen Au rag. Mit der Zeit stellen sie fest, dass ein Leben, das sich allein der Produktion widmet, nicht glücklich machen kann.

Während „Die Angestellten“ aus hunderten Zeugenaussagen besteht, mischt Ravn in „Meine Arbeit“ die Formen: Tagebuch-Passagen treffen auf Gedichte, Essays auf Szenisches, Erzählungen auf Briefe einer Unbekannten. Zwischendurch findet sich Fragmentarisches, manchmal ein Patientinnenblatt.

2020 ist der Roman auf Dänisch erschienen. Nun kommt er in der ausgezeichneten Übersetzung von Alexander Sitzmann und Clara Sondermann auf Deutsch heraus. Die literarische Collage besteht aus vielen alternativen Anfängen, Mittelteilen und Enden. Im Spiel mit den Formen schwingt die permanente Unsicherheit der Schristellerin mit, ob sie ihre Kunst noch kann.

Nach der Geburt ist sie „wie besessen davon, ein normales Buch zu schreiben“. Aber da ist auch das Kind, das seine eigenen Zeiteinheiten hat. Als sie im Schreiben am glücklichsten ist, schwingt immer die Angst mit, ihr Sohn könnte aufwachen und den Flow unterbrechen. Davon zeugt auch die fragmentarische Struktur des Romans. Ravn erzählt die Geschichte aus zwei Perspektiven: Es gibt ein Ich und Anna. Anna ist Ravns Alter Ego, von der sie in der dritten Person schreibt. Alles, was die Autorin selbst nicht mitteilen kann, sagt sie als Anna. Manchmal wechseln die Perspektiven innerhalb weniger Sätze.

Die namenlose Ich-Erzählerin beschreibt an einer Stelle, wie sie immer mehr Seiten findet, die sie kurz nach der Geburt verfasst hat, an die sie sich aber nicht mehr erinnern kann: „Wäre da nicht meine eigene Handschri , ich hätte glauben können, das alles stamme von einer Fremden.“

Anna ist Schri stellerin, ihr Freund Aksel Dramatiker. Sie leben in Kopenhagen. Kurz nach der Geburt ziehen sie für eine Weile nach Stockholm, wo er herkommt. „Alles war vor der Geburt geplant worden, sie waren davon ausgegangen, die kommenden zwölf Monate planen zu können.“ Doch

Ravn gelingt es, die Ambivalenz der Elternscha prägnant einzufangen.

Anna will das Kind loswerden und möchte dennoch immer mit dem Kind sein

der Ortswechsel und die Einsamkeit im anderen Land verstärken Annas Angstzustände sowie ihre Sehnsucht nach der Küchenschublade mit den Messern.

Entblößend beschreibt Ravn die Beziehungsdynamiken, die ein gemeinsames Kind mit sich bringt. Das Paar hatte den Plan, den Sohn gleichberechtigt aufzuziehen. Doch in Anna wächst mit der Zeit die Erkenntnis, dass sie niemals gleichberechtigt sein könnten: „Tief in ihrem Inneren hat Anna auch das Gefühl, Aksel nicht verlassen zu können, weil sie ihn liebt. Aber diese Liebe steht im Schatten des Kindes, der Geburt und der Schwangerscha , die Anna verstehen lassen hat, dass Männer und Frauen nicht gleich sind.“

Besonders unangenehm sind die Szenen, in denen Aksel sie alleine hinausschickt, weil er meint, es würde ihr guttun. Oder wenn er versucht, dem Stillen zuvorzukommen, indem er das Kind zu sich nimmt, um es zu füttern: „Aksel glaubt, dass Stillen eine freie Entscheidung ist. Genau wie das Befolgen eines Plans. Aber dass ihre Brüste alle drei Stunden hart werden wie Stein, ist keine freie Entscheidung.“

Ravn gelingt es, die Ambivalenz der Elternscha prägnant einzufangen. Anna will das Kind loswerden und möchte dennoch immer mit dem Kind sein. Um schreiben zu können, muss sie sich für ein paar Stunden von ihrem Sohn trennen. Im Kaffeehaus versucht sie ihrer künstlerischen Arbeit nachzugehen, dort kreisen die

Gedanken aber um den Kleinen. Wieder daheim, denkt sie nostalgisch an das Leben vor der Schwangerscha zurück.

Kümmern oder Kunst? Seit ein paar Jahren findet die Auseinandersetzung mit Elternscha immer mehr Eingang in die Literatur. Das Künstlerinnenkollektiv Care/Rage beschä igt sich mit der Vereinbarung von CareArbeit und Autorinnenscha . Bücher von Julia Weber, Antonia Baum oder Kate Zambreno gehen sehr persönlich auf die Konflikte zwischen Sorgearbeit und Kunst ein.

Sheila Heti fragt sich in „Mutterscha “, ob nicht die Autorinnenscha eine Alternative zum Elternsein darstellt. Auch Ravn bezieht sich in „Meine Arbeit“ in essayistischen Passagen auf andere schreibende Mütter, allerdings haben die meisten von ihnen lange vor der dänischen Autorin gelebt.

Allen voran Mary Shelley, die „Frankenstein“-Erfinderin, die mehrere Kinder bekam, von denen aber nur eines das Erwachsenenleben erreichte. Ein wichtiges Referenzwerk ist auch Hiromi Itōs Langpoem, in dem die japanische Dichterin von einer Frau erzählt, die ihr Kind tötet, nachdem es sie in die Brustwarze gebissen hat.

Die Britin Rachel Cusk beschrieb schon 2001 in ihrem Memoir „Lebenswerk“ (im Original: „A Life’s Work: On Becoming a Mother“) den Spagat zwischen Mutter- und Autorinnenscha . Dass sich Ravn mit keinem Wort auf Cusk bezieht, verblüfft dann doch. Die beiden Bücher weisen in ihrer radikalen Auseinandersetzung mit dem Thema große Parallelen auf.

Wie subjektiv ist das alles nun? Total und überhaupt nicht. Ravn stellt das Wickeln und das Stillen in einen gesellscha spolitischen Zusammenhang und bleibt dabei sprachlich immer messerscharf. Sie findet Worte für ihre Zweifel und erzählt gleichzeitig eine große Liebesgeschichte zwischen Eltern und Kind. All das ist ihre Arbeit. Ein wichtiges Werk.

SARA SCHAUSBERGER

Olga Ravn: Meine Arbeit. Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann und Clara Sondermann. März, 459 S., € 30,–

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Die Kunst des Furzens

„Doktor Garin“: Wie der Russe Vladimir Sorokin vom spröden Autor zum prophetischen Schri steller der Apokalypse wurde

In seinen Büchern wird gefurzt, gevögelt und mit Atomraketen herumgefuchtelt.

Vladimir Sorokin, 1955 in der Nähe von Moskau geboren, eilt der Ruf des Enfant terrible der russischen Literatur voraus. Tatsächlich hat der Absolvent des Moskauer Erdölinstitutes, der in der späten Breschnew-Zeit als Grafiker arbeitete, mit sehr spröden experimentellen Texten begonnen.

Schlechte Lu auf hohem Niveau: Seine frühe Beschreibung von Furzblasen, die in der Badewanne aufsteigen, wurden geadelt, als der Kunsttheoretiker Boris Groys in Zeiten der Perestrojka den Markennamen „Moskauer Konzeptualismus“ in Umlauf brachte. Sorokins frühes Meisterwerk „Schlange“ war eine sarkastische Hymne auf den real gewordenen Absurdismus des spätsowjetischen Alltags beim Schlangestehen vor einem Geschä und eine Feier minimalistischer Literatur zugleich.

Sorokin erfand sich seitdem mit jedem Buch auch stilistisch neu. Als er mit dem Roman „Himmelblauspeck“ seinen radikalen Schreibwandel endgültig vollführte und literarischer Utopismus mit allem, was der russischen Kultur heilig gewesen war, in einen sarkastisch-wilden Taumel versetzte, fand das auch beim großen Publikum Anklang. Die Postmoderne hatte Einzug gehalten.

Frühere Weggefährten aus dem literarischen Underground warfen Sorokin ob der Verarschung von Säuleinheiligen der Intelligenzija wie Dostojewskij oder der Dichterin Anna Achmatowa Renegatentum und künstlerischen Verrat vor. Sein Spiel mit russischen Mythen und Klischees beförderte auch seine internationale Karriere.

Auf Sorokins Entmythologisierung deutscher Gedenkkultur in „Ein Monat in Dachau“ folgte jedoch germanisches Naserümpfen. Zugleich formierte sich in Russland der Protest der linientreuen Putin-Jugend gegen seine Dekonstruktion von Stalin und allen sonstigen denkbaren Sowjetheiligtümern des Totalitarismus.

Geradezu sorokin-like wurden dessen Bücher in Moskaus Stadtzentrum in einer monumentalen Klomuschel dem Orkus zugeführt. Der staatliche Aktionismus war bezeichnend für den Geist der frühen PutinJahre, als der Ex-KGBler an einem Tag ein Denkmal für die Oper des Stalinismus eröffnete und am nächsten Tag ein anderes für ehemalige Folterknechte.

Zum Popstar der russischen Literatur und zum Propheten russischer, immer autoritärer werdender Verhältnisse avancierte Vladimir Sorokin 2004 mit dem Kurzroman „Der Tag des Oprotschniks“. Er erzählte darin stellenweise wie einst Tolstoj; seine Beschreibung eines machtgeilen Herrscha sklüngels um einen Fast-Monarchen, der sich von ominösen sibirischen Wahrsagerinnen beraten ließ und obskure Rituale pflegte, entstellte die Welt unter Putin zur Kenntlichkeit. Angeblich pflegt auch der Herr des Kreml in Rentierblut Bäder zu nehmen.

Russlands Herrschaftsgefüge habe sich seit dem 16. Jahrhundert und Iwan dem Schrecklichen bis in die Gegenwart nicht verändert, wird Sorokin seit geraumer Zeit nicht müde, in Interviews und Texten darzulegen.

Es war, als kehrte er zum fast beschaulichen Stil von Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ zurück, als er 2010 in seinem Roman „Der Schneesturm“ den Landarzt Doktor Garin auf Dienstreise in einem sibirischen Unwetter sich verirren und scheinbar umkommen ließ. In seinem jüngsten auf Deutsch erschienenen Roman „Doktor Garin“ erlebt der Doktor seine Auferstehung.

Der entfernte Verwandte von Ka as Landarzt hat sich seinerzeit nur die Füße abgefroren und bewegt sich mittlerweile auf Titanprothesen. Berührt die Krankenschwester Mascha beim Liebesspiel dessen Prothesen, erzeugt das eine hellglitzernden Ton.

Wir befinden uns in dystopischer Zukun : Der Dritte Weltkrieg ist schon lange vorbei, das frühere Russland beinahe verschwunden. An dessen Stelle sind Gebilde wie Kasachstan oder die Altai-Republik getreten, die sich ständig gegenseitig bekriegen.

Garins leitet das Sanatorium „Altai-Zedern“. Einst prominente Politiker haben sich in das hügelige Grenzgebiet nördlich der Mongolei zurückgezogen und ergehen sich in angeregter Unterhaltung über Weltpolitik. Ihre Namen: Donald, Wladimir, Silvio, Justin, Angela, Boris, usw. Einzig der eher wortkarge Wladimir gibt im ganzen Buch nichts als den Satz „Eto ne ja – Ich war’s nicht“ von sich.

Abgesehen vom merkwürdigen Aussehen der Insassen des Sanatoriums – sie

bestehen nur aus riesigen Ärschen und monumentalen Mündern samt winzigen Händchen – sowie vom gelegentlichen Einsatz eines Elektroschockers zur therapeutischen Behandlung wirkt alles wie auf einem zentralasiatischen Zauberberg. Donald und Justin ergötzen sich an der „Art of Farting“.

Die Wendung zur Katastrophe erfolgt abrupt. Abermals haben die Kasachen eine Atombombe gezündet (Wladimir schreit sofort: „Ich war’s nicht!“), Flucht ist angesagt. Die Evakuierung erfolgt mithilfe monumentaler Roboter mit dem klingenden Namen „Majakowski“. Jeweils ein Politiker wird huckepack genommen und unter der Leitung des Doktors beginnt eine Reise durch dichtes Waldgebiet Richtung Oberlauf des Flusses Ob.

„Doktor Garin“ ist ein Abenteuerroman im klassischen Sinn, ein schrilles Roadmovie, in dem weder Psychologie noch genaue Figurenzeichnung von Belang sind. Die Politiker-Patienten agieren als reine Sprachmasken. Geht eine Figur wie Boris (der einstige russische Präsident Jelzin) unterwegs verloren, hat das keinerlei Auswirkung auf die weiteren Ereignisse. Die wie in einem Stationendrama aufgefädelten Begegnungen sind umso skurriler.

In einer Anarcho-Kommune erlöst Doktor Garin die große Mutter der Anarchie, deren reale Größe die einer Barbie-Puppe ist, von ihrer Verstopfung. Eine Gruppe von Herstellern steinerner Uhren und verwahrloste Gestalten, die mittels Drohnen ihre psychedelischen „Kegel“ und „Pyramiden“ verschicken, sind nur einige Figuren dieses apokalyptischen Pandämoniums.

Als Garin auf Einladung eines Chinesen eine Shopping-Mall in Barnaul besucht, kommt Mascha, die Geliebte des Doktors, ums Leben. Er wiederum landet in einem Konzentrationslager, das von geklonten Supersoldaten betrieben wird. Am Schluss des Buches wartet indes ein Happy End, auf das der Autor selbst, der zwei Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine das Land verließ, noch warten muss.

In Berlin, wo er nun lebt, erreichte Sorokin kürzlich eine Anzeige der russischen Behörden, die dem Schri seller LGTB-Propaganda und Kinderpornografie vorwerfen. Das bezieht sich allerdings schon auf sein jüngstes, noch nicht übersetztes Buch.

14 FALTER 12/24 LITERATUR
ERICH KLEIN
ILLUSTRATION:
Vladimir Sorokin: Doktor Garin. Aus dem Russischen von Dorothea Tro enberg. Kiepenheuer & Witsch, 592 S., € 26,80
SCHORSCH FEIERFEIL

Zwei stolpern durchs 20. Jahrhundert

„Die Welt und alles, was sie enthält“: Aleksandar Hemon legt einen großen Roman zum Thema Flucht und Entwurzelung vor

Seit jeher benutzt Aleksandar Hemon sein eigenes Leben als literarisches Material. Sein Werk besteht aus lauter kaum verschleierten Ich-Geschichten, in denen er seinen abenteuerlichen Lebensstoff immer wieder variiert, anders organisiert und um seine Hauptthemen herum neu gruppiert: Heimat- und Identitätsverlust, Entwurzelung und Migration.

Anders in seinem jüngsten Roman mit dem grandiosen und gänzlich unironischen Titel „Die Welt und alles, was sie enthält“: Der Autor hat hier den unverkennbaren Ehrgeiz, erstmals weit über den Horizont seiner Erfahrungen hinauszugehen. Er hat ein Meisterwerk im Visier, nichts Geringeres als das, legt die Hand auf die ganze Welt und auf die Groß-Umwälzungen des 20. Jahrhunderts – die beiden Weltkriege und die kommunistischen Revolutionen in Russland und China.

Hemon ist 1964 in der Vielvölkerstadt Sarajevo geboren, lebt seit dem BosnienKrieg 1992 in den USA und empfindet seine Migration als Zäsur, die sein Leben zweiteilt. In wechselnden Ausformungen umkreist er in seinen Romanen und Erzählungen seine zwei Leben.

Hemon trauert um seinen Kindheits- und Sehnsuchtsort, das verlorene VorkriegsSarajevo seiner Jugendzeit als bosnischer Jungautor. Und er erzählt von seinem großen Lebensbruch, dem Sprach- und Kulturwechsel ins Amerikanische als Asylsucher, der das Ziel hat, ein amerikanischer Schri steller zu werden. Das ist ihm auf phänomenale Weise gelungen.

Seit 1995 schreibt er seine Bücher auf Englisch – in einem derart raffinierten und farbenreichen Idiom, dass die Kritik ihn seit langem mit Vladimir Nabokov vergleicht. Mit „Lazarus“ (2009) gelang ihm der internationale Durchbruch. Der Roman ist eine historische Spurensuche nach dem jungen Einwanderer Lazarus Averbuch, der vor den Pogromen in Osteuropa nach Amerika floh und 1908 in Chicago aus Fremdenhass ermordet wurde. Für Hemon wird er zum Urbild des Migranten, der wie ein wiederauferstandener Untoter durch die Welt geht und nirgends heimisch ist.

Alle Figuren in Hemons Büchern sind entwurzelte Migranten, Sprach- und Kulturwechsler wie er selbst, nirgends zugehörige Transit-Reisende in einer Welt in

Der Autor hat hier den unverkennbaren Ehrgeiz, erstmals weit über den Horizont seiner Erfahrungen hinauszugehen

Bewegung. Das Thema Migration hat er in allen Facetten durchdekliniert, als tragischen Identitätsverlust ebenso wie als tragikomisches Überlebensgestrampel im Zufluchtsland.

Seine Erfahrungen als Zuwanderer mit dickem Akzent und dünner Brie asche hat er literarisch verarbeitet – von den bizarren Aushilfsjobs der Anfangszeit (in „Nowhere Man“) bis hin zu seinen absurden Erlebnissen als angehender Drehbuchautor. Sein Roman „Zombie Wars“ ist eine schrille Persiflage auf amerikanische Trivialmythen. In Horror-Trash-Fantasien von Untoten sieht Hemon Ausgeburten der Angst vor dem Fremden, dem Anderen, das als bedrohlich dämonisiert wird.

All dies ist in seinen neuen Roman eingegangen. Hemon lässt das lebenspralle, vielsprachige, multiethnische und multikulturelle Sarajevo der vorletzten Jahrhundertwende wieder auferstehen. Der entwurzelte Romanheld Rafael Pinto wird ihm sein Leben lang sehnsuchtsvoll nachtrauern im Zweifel, ob sein Heimatort überhaupt noch existiert. Der Autor widmet seinen Roman den „Flüchtenden dieser Welt“ und macht zwei exemplarische davon aus Sarajevo –Pinto und seinen Gefährten Osman – zu seinen Protagonisten.

Aleksandar Hemon: Die Welt und alles, was sie enthält. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Claassen, 396 S., € 26,80

Er spannt seinen Erzählbogen über 35 Jahre, vom Tag des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo und dem Ausbruch des Ersten bis nach Ende des Zweiten Weltkriegs, das Pinto in Shanghai erlebt, der Stadt, in der Flüchtlinge und Staatenlose aus aller Welt gestrandet sind. Der Roman ist aus der Sicht seiner heimatvertriebenen Antihelden erzählt, machtlosen Opfern, die von globalen Großereignissen, die sie weder durchschauen noch beeinflussen können, durch die Welt gescheucht werden.

Die beiden erleben den Untergang dreier Imperien, des Habsburgerreiches, des russischen und des chinesischen Reiches samt Bürgerkriegen sowie den Anfang vom Ende des Kolonialzeitalters in Fernost. Sie stolpern durch wildfremde Gegenden und irren durch das vergessene Hinterland der Weltgeschichte, inklusive der chinesischen Wüste Taklamakan, einzig im Bestreben, durch Flucht das nackte Leben zu retten.

Als Form wählt Hemon eine Mischung aus Schelmenroman und historischem Ro-

man und schickt seine pikaresken Helden Pinto und Osman erst in die Schlachten des Ersten Weltkriegs und danach quer durch zwei Kontinente und die gesamte eurasische Landmasse bis an die Küste des Ostchinesischen Meeres. Sie haben keine Pässe, sind staatenlos und nirgends zugehörig, schutzlos auf sich allein und den eigenen Mutterwitz gestellt.

Rafael Pinto ist Hemons Perspektivfigur: Apotheker in Sarajevo, sephardischer Jude, talmud-geschulter Poet, homosexuell, opium-abhängig. Sein Idiom ist eine Mischsprache aus Serbisch, Deutsch, Jiddisch und Spanjol, der Sprache der aus Spanien vertriebenen Sepharden. Hemon durchsprenkelt den ganzen Roman mit Zitaten, Liedern und Märchen in diesem speziellen Esperanto, ohne sie immer zu übersetzen. Sie verleihen dem Buch sein besonderes, fremdartiges Aroma.

Als Sanitätssoldat in der österreichischen Armee trifft Pinto den einfachen Soldaten Osman aus Sarajevo, einen attraktiven, lebensklugen Muslim und begnadeten Geschichtenerzähler. Die beiden verlieben sich augenblicklich ineinander.

Ihre lebenslange Liebesgeschichte hält den ausfransenden Roman zusammen. Osman geht im innerasiatischen Taschkent verloren, ohne ganz zu verschwinden. Seine geisterha e, warnende, aufmunternde Stimme lebt im Bewusstsein Pintos fort, begleitet, berät und beschützt ihn auf seiner weiteren Odyssee. Immer mit dabei: die kleine Adoptivtochter Rahela, die vielleicht Osmans leibliche Tochter ist, unterwegs beiläufig gezeugt mit einem jüdischen Mädchen.

Die inzwischen erwachsene Rahela ist es, die am Ende den völlig heruntergekommenen Pinto aus den Opiumhöhlen im Ghetto Shanghais rettet und ihn auf ein Schiff heimwärts verfrachtet, ohne dass er sein Traumziel Sarajevo jemals erreichen wird.

Eigentlich ist dieser Roman ein Unding: Er erzählt den Krieg als Schelmenroman nach dem Muster von Grimmelshausens „Simplicissimus“, wählt jedoch den Tonfall eines bösen Märchens, in das er sein fantastisches, tragisches Liebespaar einspinnt. Aleksandar Hemon muss seine gesamte verführerische Kunstfertigkeit aufwenden, damit der Leser die Unglaubwürdigkeiten dieser Plotkonstruktion ausblendet. SIGRID LÖFFLER

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„Die Welt is numma so, Huck“

In „James“ erzählt Percival Evere eine Geschichte Schwarzer Selbstermächtigung auf der Folie von „Huckleberry Finn“

I n den USA ist Percival Everett, Jahrgang 1956, längst eine arrivierte literarische Größe; im deutschen Sprachraum hat seine Entdeckung erst vor zwei Jahren mit der Veröffentlichung von „Erschütterung“ begonnen. Seitdem bringt der Hanser Verlag jede Saison ein Buch des Autors heraus. Nach der bitterbösen Rache-Groteske „Die Bäume“ (2023) ist nun Everetts jüngster Roman an der Reihe.

Wie die beiden davor übersetzten Werke stellt auch „James“ eine Auseinandersetzung mit rassifizierter Wahrnehmung und Gewalt dar. Das Besondere oder die Chuzpe daran: Der Autor nutzt dabei just jenen Roman als Vorlage, den Ernest Hemingway einmal als die Initialzündung der modernen amerikanischen Literatur bezeichnet hat, um diesen gleichsam zu überschreiben – Mark Twains „Huckleberry Finn“ (1884).

Der schlichte Titel ist Programm: „James“ erzählt die Geschichte des schwarzen Sklaven Jim, der bei Twain nach einem bescheuert umständlichen Plan von Tom Sawyer befreit wird, noch einmal, und zwar aus dessen Perspektive, nicht jener seines jugendlichen Freundes Huck. Und es ist die Geschichte einer Selbstfindung und -ermächtigung: „Heißt einer von euch Nigger Jim?“, fragt der Sheriff den entflohenen Sklaven. Der antwortet: „,Ich bin James.‘ ,James was?‘ ,Einfach nur James.‘“

Während Tom Sawyer, diese aufgekratzte Nervensäge, gleich auf den ersten Seiten verloren geht, bedient sich Everett in Sachen Plot und Personal bei Twain nach Gutdünken. Auch in „James“ flüchtet Huck vor seinem gewalttätigen Vater, auch hier wird die Fahrt auf dem Mississippi zu einem abenteuerlichen Stationendrama, das für den entlaufenen Sklaven nicht nur wegen Unwetter, Hochwasser und Schlangenbissen lebensbedrohlich ist.

Buchstäblich als „Running Gag“ dieser Escape Story dient der Umstand, dass sich James ständig verleugnen muss, um den klischeeha en Vorstellungen der weißen Herrenmenschen zu entsprechen. Noch bevor er verdächtigt wird, Huck, der seine Ermordung vortäuscht, getötet zu haben, erteilt er seinen Kindern Benimm- und Sprachunterricht: Blickkontakt mit Weißen vermeiden, Themen nie direkt ansprechen, es nie besser wissen als diese.

Wenn also Mrs. Holiday drauf und dran ist, die brennende Pfanne mit Wasser zu löschen, sagt man ihr nicht, dass sie das Falsche tut. „Möchten Sie, dass ich eine Schaufel Sand hole?“, fragt Lizzie und wird von ihrem Vater darauf hingewiesen, dass das zwar der richtige Ansatz sei, sie es aber nicht „übersetzt“ habe: „Sie nickte. ,Herrmhimmel, Ma’am, so’ich vlleich ne Schaufel Sand ranschaffm?‘“

„Als Ehefrau optima, Sir“

Diesem etwas gar breit ausgewalzten Schmäh hat der Autor dann auch noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt, indem er James im Traum mit Voltaire und John Locke disputieren lässt, deren Werke sich der aus der Bibliothek seines Besitzers „entlehnt“ hat.

In seinem Bemühen, das ganze Spektrum des Rassismus zwischen roher Gewalt und pseudohumanistischem Paternalismus exemplarisch vorzuführen und dann auch noch das Phänomen des „Passing“ durchzuspielen – der hellhäutige Protagonist wird im Rahmen einer Minstrel Show schwarz geschminkt, um als Weißer durchzugehen, der versucht, einen Schwarzen zu imitieren –, erinnert der Roman an das Prinzip „Malen nach Zahlen“.

Die Botscha ist angekommen, der Plot freilich vernachlässigt worden. Etwas hölzern klappert die von Bedeutungsschwere beladene und von Zufallsdramaturgie angetriebene Handlung voran. Die Übersetzung aber, die noch einen Tag vor dem englischen Original auf den Markt kam, klingt stellenweise wie Selbstparodie oder eine KI, die einen schlechten Tag hatte: „Ich befand mich wieder auf dem Missouri-Ufer des Flusses, wo der entlaufende Sklave Jim bekannt und erkennbar war und von etlichen Personen mit üblen Absichten unter Hochdruck gesucht wurde.“

KLAUS NÜCHTERN

In ihrem historischen Roman „Zuleika“ erzählt Bernardine Evaristo in Versform von der Liebe zur Macht

Zuleika lebt als Einwandererkind im London des Römischen Reichs um 211 nach Christus. Der Vater hat sich hochgearbeitet. Nun verkau er in seinen Läden alles – Wein, Schuhe, Grün- wie Werkzeug. Bei der ersten Gelegenheit geht auch die Tochter an den Höchstbietenden: „Zuleika sehr oboediens. Kein bisschen problemata, als Ehefrau optima, Sir.“

Den reichen Patrizier Lucius Aurelius Felix akzeptiert der Vater natürlich als Schwiegersohn. Die erst el ährige Zukeika muss also lernen, sich zu benehmen: „Eben noch barfuß Hüp ästchen gespielt, // plötzlich vier Fuß hoch in der Sän e, Hauptsache, // die rosa Strümpfe werden nicht dreckig.“ So beginnt der nun übersetzte Roman „Zuleika“ (im Original: „The Emperor’s Babe“, 2002), den Bernardine Evaristo in Versen verfasst hat.

Die britische Schri stellerin gewann 2019 als erste schwarze Frau den Booker Prize und damit den wichtigsten britischen Literaturpreis, der mit umgerechnet rund 57.000 Euro dotiert ist. Mit ihrem Roman „Girl, Woman, Other“ setzte sie sich gegenüber Werken von Salman Rushdie und Elif Shafak durch, sie teilte sich die Auszeichnung mit Margaret Atwood („The Testaments“).

Den massiven Patrizier als Mann! So kommt es nun. Zuleika zieht in seinen Pa-

last ein und damit sind die Regeln gleich klar: Er bestimmt, sie hat zu folgen. Dabei gibt es Boni, die das Mädchen sich erarbeiten kann. So ist beispielsweise ein Besuch der Leibmasseurin Cornelia „der Preis für einen Blowjob“.

Zuleika lernt schnell, wie sie funktionieren muss, um zu bekommen, was sie will. Sie merkt jedoch auch, welche Macht ihrer eigenen Person mittlerweile innewohnt. Schließlich steht sie als Hausherrin in der Hierarchie direkt unter Felix. Das zeigt sich vor allem im Umgang mit den Sklavinnen Valeria und Aemilia: „Libertas bekommt ihr, wenn ich tot bin, // das wisst ihr beide sehr genau.“

Ihr sexuelles Potenzial steigt mit jedem Jahr. Denn ihr Körper rei und zieht die Blicke der mächtigsten Männer auf sich. Schließlich sogar jene von Kaiser Septimius Severus.

Obwohl der Roman in Verse gegliedert ist und damit einer strengen Form unterliegt, wirkt vieles willkürlich. So fehlen etwa Reim und Rhythmus. Doch passt das perfekt zum Inhalt, denn Zuleikas ganze Geschichte ist fremdbestimmt.

Die Ansagen den Sklavinnen gegenüber zeugen somit nicht von einem schlechten Charakter, sondern von der Sogwirkung der Macht sowie von Hilflosigkeit: „Ich war der Mensch, zu dem mich diese Welt gemacht

hatte, und sie ebenso. // Doch was ich weiter würde, // war mir nicht mehr so klar.“ Evaristo spielt ihre Figuren als Mittäter gegeneinander aus. Jeder gegen jeden, so der Ansatz. Frauen konkurrieren um Männer, Männer um Macht. Männer besitzen Frauen, Frauen als Hausherrinnen ihre Sklavinnen. Die Regeln wirken wie Naturgesetze und sind doch menschengemacht, können daher verändert werden.

Kaiser Severus ist schön, stark und noch viel mächtiger als Felix. Vor allem jedoch mag er Zuleika wirklich. Als sie eine Aff äre beginnen, verliebt sie sich sofort in ihn und vergisst alle Vorsichtsmaßnahmen, die an Orten voller Intrigen nötig sind. Doch sosehr sie Severus’ Gegenwart sowie die Distanz zu Felix genießt, muss sich Zuleika doch bald eine Frage stellen: Lohnt es sich, dafür zu sterben?

In dieser Kurzfassung klingt das nun nach einem deprimierenden Stoff. Doch das ist „Zuleika“ nicht – und trotz der lyrischen Form auch kein anspruchsvoller, anstrengender Text.

Der Roman bietet trotz seiner thematischen Schwere ein einziges Lesevergnügen – und ja, das muss eine Autorin erst schaffen. Evaristo packt Theorie, Ästhetik und Empathie so in einen Text, als wäre alles ganz leicht.

CHRISTINA VETTORAZZI

16 FALTER 12/24 LITERATUR
Percival Evere : James. Aus dem Engl. von Nikolaus Stingl. Hanser, 330 S., € 26,80 Bernardine Evaristo: Zuleika. Aus dem Engl. von Tanja Handels. Tropen, 264 S., € 25,70

Kein Entkommen für Kate

Die US-Autorin Joy Williams kommt endlich im deutschsprachigen Raum an. Der frühe Roman „In der Gnade“ ist intensive Kost

Die Schri stellerin Joy Williams musste fast 80 Jahre alt werden, bis ihre Bücher ins Deutsche übersetzt wurden. Dabei gilt sie in den USA schon lange als hochbedeutende Autorin und kann mit den besten Referenzen aufwarten: Raymond Carver, Lauren Groff, Bret Easton Ellis und Don DeLillo zählten zu ihren bekennenden Fans.

Im vergangenen Jahr war es dann endlich soweit, dass ein Band mit „Stories“ aus den Jahren zwischen 1972 und 2004 eine erste Vorstellung vermittelte, welch bedeutendes Werk hier zu entdecken ist. Ihre frühen Geschichten zeigen Verwandtscha mit Carver oder Richard Yates (mit beiden hat sie in Iowa studiert), mit der Zeit aber hat sie sich von allen Konventionen realistischen Erzählens freigeschrieben.

Da stromert eine Horde Kinder eine ganze Nacht lang durch einen Zug, der wie eine fantastische Stadt eingerichtet ist, die Mütter verurteilter Mörder schließen sich zu einem Verein zusammen und ein seltsames Pärchen wuchtet einen verrosteten Oldtimer ins Wohnzimmer, nur weil da gerade noch Platz ist. Und immer wieder wird ordentlich getrunken, was den Abschied von der Wirklichkeit beschleunigt.

Vermischen sich da Traumbilder mit der Wirklichkeit? Die Grenzen zwischen der Innenund Außenwelt der Figuren jedenfalls werden porös. Die surrealen Bildlandscha en, die sich nun entfalten, könnten auch die Seelenwelten der Figuren sein. O ist das eine morbide Gegend mit verfallenen Häusern, bevölkert von Menschen, deren Leben sich in einer unau altsamen Abwärtsspirale bewegen. Und schon in den frühen Erzählungen geht es um die Zerstörung der Natur, für Joy Williams ein Lebensthema.

Nach ihrem Studium zog sie nach Florida, wo sie noch heute lebt. Auf den meisten Fotos, die von ihr kursieren, hat sie ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. In Fragen der Kommunikation gilt sie als eigenwillig, einen E-Mail-Account hält sie, so wird erzählt, für verzichtbar.

Ihr Werk umfasst neben Erzählungen und Essays bis dato fünf Romane. Der älteste, „State of Grace“ aus dem Jahr 1973, ist nun als „In der Gnade“ auf Deutsch erschienen. Das klingt nach religiöser Erbauung. Und tatsächlich wurde Kate, die Hauptfigur, in eine evangelikale Familie hineingeboren.

Der Vater ist ein Prediger, man erfährt nie so recht, welcher Kirche er angehört, vielleicht verkündet er die frohe Botscha auch als One-Man-Show. Groß kann seine Zuhörerscha nicht sein, denn er lebt auf einer kleinen Insel vor der Küste Neuenglands. Von der Familie ist nicht mehr viel übrig, die Schwester ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, die Mutter stirbt mit einem ungeborenen Kind.

Kate ist ihrem Vater ausgeliefert, der sie mit alttestamentarischer Strenge erzieht, die er als Liebe deklariert. Heute hätte sich aus dieser Konstellation vermutlich eine Missbrauchsgeschichte entwickelt.

Dass Williams über Andeutungen nicht hinausgeht, hat eher nichts mit Tabus vergangener Zeiten zu tun: Gerade das Zweideutige, Unscharfe macht ihre erzählerische Kunst aus.

»Kate ist ihrem Vater ausgeliefert, der sie mit alttestamentarischer Strenge erzieht, die er als Liebe deklariert

Kate flieht weit weg, ins sonnige Florida. Sie kellnert, hat gleichgültigen Sex, besucht ein College und findet Unterschlupf in einem Haus, von dem nie so recht klar wird, ob das nun ein Kloster ist oder ein Wohnheim für Studentinnen. Irgendwann zieht sie zu Grady, der in einem heruntergekommenen Wohnwagen lebt, mitten in der Natur, nicht weit vom Meer.

Es ist heiß, die Lu feucht, überall wuchert üppige Vegetation. Die Welt kann also auch ein Paradies sein. Die beiden verbindet eine tiefe, glückliche Liebe. Kate wird schwanger, sie heiraten – und Grady kommt bei einem Autounfall ums Leben. Mit ihrem Baby kehrt sie zurück zu ihrem Vater nach Neuengland. Es gibt eben kein Entkommen.

So schlicht von der ersten bis zur letzten Katastrophe erzählt Williams Kates Leben aber gerade nicht. Vielmehr setzt sie deren Biografie aus vielen Einzelszenen zusammen, die nur grob einer Chronologie folgen. Erzählerisches Zentrum ist Gradys Wohnwagen, dort erinnert sie sich an ihre Kindheit und die Flucht nach Florida. Immer wieder wechselt die Erzählperspektive. Bibelzitate gemahnen Kate auch in der Ferne an ihre Herkun

Man kann sich diese Erzählweise als eine Mischung aus Erinnern und Träumen vorstellen, als ein kunstvoll ungeordnetes Arrangement von Episoden und Bildern. An den stärksten Stellen des Romans, der

VLADIMIR VERTLIB

DIE HEIMREISE

352 Seiten

Joy Williams: In der Gnade. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, 335 S., €

sonst eher nicht zu identifikatorischer Lektüre einlädt, glaubt man sich in Kate hineinversetzt, zutiefst vertraut mit ihren Gefühlen und Ängsten.

Solche Distanzlosigkeit wirkt beklemmend genug. Williams steigert diesen Effekt noch einmal, wenn sie sehr direkt und drastisch Schmutz, Körpersekrete und alle möglichen Formen des Verfalls vors innere Auge führt.

Das mögen mache Leser als Zumutung empfinden. Williams schont sich aber auch selbst nicht. Denn Kates Leben ist gar nicht so weit von ihrem eigenen entfernt. Sie wuchs in einer Kleinstadt in Massachusetts als Einzelkind auf, ihr Vater war Prediger. Auch ihr wurde Florida zum Zufluchtsort, hier begann sie zu schreiben.

Könnte gut sein, dass die Autorin am Beginn ihrer Karriere mit diesem Buch sich selbst erforscht hat. Am Ende ist ihre Geschichte glücklicher verlaufen als die ihrer Hauptfigur. Wahrscheinlich war es für Williams überlebenswichtig, der Enge eines evangelikalen Elternhauses zu entkommen.

Kate ist das nicht gelungen. Ihr Vater hat es sicher der Gnade Gottes zugeschrieben, dass seine verlorene Tochter wieder nachhause zurückgekehrt ist. Kate mag Gnade anders verstehen: als ein Leben, das sie nicht frei, sondern nur abhängig von der Gnade anderer führen kann.

TOBIAS HEYL

Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN 978 3 7017 1783 5

„Dieses Buch konnte ich kaum aus den Händen legen. Lina auf ihrer Reise zum sterbenden Vater von Kasachstan nach Leningrad zu begleiten, war ein echtes Abenteuer. (…) Herrlich und unbedingt lesenswert!“

Sabine Fehr-Ogiermann, Buchhandlung Lehmanns Heidelberg

TAUNO VAHTER

DIE 11 FLUCHTEN DES MADIS JEFFERSON

256 Seiten, Hardcover ISBN 978 3 7017 1781 1

„Es ist die Geschichte eines freien Menschen, der (...) das ideologische Zeitalter zu überleben versucht, in diesem antitotalitären Schelmenroman. Es ist ein Lesevergnügen! Ein absoluter Lesetipp!“

Marko Martin, DEUTSCHLANDFUNK KULTUR

residenzverlag.com

LITERATUR FALTER 12/24 17
24,70

FALTER 12/24

Eine bekannte Schri stellerin aus Italien, ein weltberühmter Autor aus Kolumbien. Ein Debüt, das noch zu voller Statur wachsen muss, und ein Alterswerk, dem die literarische Knochendichte ausgeht. Was die Bücher eint: Sie handeln von sexueller Neugier, heimlich und im Sommer.

Die 1936 im toskanischen Fiesole geborene Dacia Maraini war erst Anfang zwanzig, als sie ihren ersten Roman „Tage im August“ schrieb. Der in neuer Übersetzung wiederaufgelegte Roman spielt im faschistischen Italien des Jahres 1943 und ist aus der Sicht eines Mädchens geschrieben, das den Sommer bei seinem Vater verbringt.

Nur schnell weg hier. Blindlings stürmen Anna und ihr kleiner Bruder Giovanni die Stiegen der Klosterschule hinunter, um dem Internat und den Nonnen für einige Wochen zu entfliehen. Ihr Vater holt die beiden Halbwaisen für die Ferien mit dem Motorrad ab.

Bald wird deutlich, dass die Kinder „Murmuri“, wie ihn seine Tochter o beim Nachnamen nennt, kaum kennen. „Eure zweite Mama wartet zu Hause auf euch“, verkündet der Vater unvermittelt, nachdem er den Kindern ein Eis spendiert hat. Woran die „erste Mama“ gestorben ist, lässt der Roman offen – wissen es denn die Kinder selbst?

„Entfremdet“ ist ein Attribut, mit dem die Hauptfigur in Marainis 1962 publizierten Erstling von der Kritik beschrieben wurde. Der italienische Titel „La vacanza“ heißt übersetzt „Der Urlaub“, aber es schwingt auch „vacante“, also „unbesetzt“, mit. Die Autorin zeigt die innere Leere einer Teenagerin, die Erfüllung sucht, indem sie der Geilheit der Männer nachgibt. Mal zieht sie sich in einer Strandkabine für den Nachbarssohn aus, der vor ihr onaniert, mal für einen zudringlichen Herrn in dessen Wohnung. Diese Szenen galten vor 60 Jahren – zumal aus der Feder einer jungen Schri stellerin – als provokant. Sie waren die ersten Fingerübungen einer Feministin, die später die weibliche Perspektive auf Vergewaltigung, Prostitution oder lesbische Liebe starkmachte.

„Tage im August“ ist kein Entwicklungsroman. Annas seelisches Vakuum erscheint weniger als Hürde der Adoleszenz denn als Wirkung eines katholischfaschistischen Milieus, das ständig verschweigt, unterdrückt und heuchelt. Der Lärm von Militärlastern und Jagdbombern wirkt in dem römischen Badeort als Drohkulisse. Und die Erwachsenen klingen wenig überzeugend, wenn sie auf Mussolini, die Deutschen und Vaterlandsliebe schwören.

„Die Welt ist das Inferno“, warnt eine der Nonnen die Kinder vor dem irdischen Treiben außerhalb des Internats. So schonungslos, wie Maraini die Frauen mit Schleier beschreibt, scheint bei ihr selbst die ehemalige Klosterschülerin durch. Anstatt als Quell mütterlicher Obsorge erlebt Anna die Schwestern als zudringlich und körperlich abstoßend; auch Religiosität ist kein Zufluchtsort.

Wie in einem Strudel bringt Maraini die Verwirrung ihrer Protagonistin zum Ausdruck: „Beim Rauchen stellte ich mit Erstaunen fest, dass ich den Eindruck hatte, als sei es gar nicht ich, die dieses zusammengeklebte Papier zwischen die Zähne steckte, sondern jemand anderes und ich würde nur zusehen. Ich war erstaunt, dass ich erstaunt war. Mein anderes Ich

Salz auf der Haut von Anna und Ana

Verbotene Sinnlichkeit: Der erste Roman von Dacia Maraini und Gabriel García Márquez’ letztes Buch widmen sich weiblicher Lust

Dacia Maraini: Tage im August.

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio, 240 S., € 25,–

verschwand wieder. War das wirklich ich gewesen?“

Sie raucht die dargereichte Zigarette, fühlt sich ihrem Gegenüber aber genauso wenig zugehörig wie dem geschlossenen Kosmos des Internats und der Welt ihres Vaters.

Dennoch zieht der Roman nicht hinunter, die spiralförmige Bewegung führt wieder nach oben. Die Alliierten kämpfen sich gerade Richtung Rom vor und vielleicht trifft Anna ja nächsten August im Strandbad Savona jemanden, mit dem sie das Potenzial von Erotik kennenlernen kann. An weiblicher Lust mangelt es nicht in dem Kurzroman „Wir sehen uns im August“ von Gabriel García Márquez. Zehn Jahre nach dem Tod des Nobelpreisträgers haben seine Söhne diese „bisher unveröffentlichte Neuentdeckung“ verlegt.

Ihr demenzkranker Vater wollte dieses Buch ob mangelnder Qualität vernichten, heißt es im Vorwort. Dass sich die Söhne nicht daran gehalten haben, liegt wohl auch an Márquez’ Lektor, der im Nachwort einiges an Mitarbeit nahelegt – vor und nach dem Ableben des 87-Jährigen.

Wieder entführt der Autor in die tropisch-sinnlichen Gefilde seiner südamerikanischen Heimat. Die Lehrerin Ana Magdalena Bach fährt jeden August auf eine Insel, um dort auf das Grab ihrer Mutter einen Strauß Gladiolen zu legen. Weil die Anreise so weit ist, bleibt sie über Nacht in einem Hotel.

Lebendig schildert Márquez das Ankommen in der Lagune, die Vorbereitungen im Hotel, die Fahrt zum Friedhof und die Gedanken, die dieses jährlich wiederholte Ritual begleiten. Aber dann passiert es: Unter dem Einfluss von Gin mit Eis und Soda und der Melodie eines Boleros reißt sich Ana Magdalena einen feschen Gringo auf. Durch das Abenteuer mit dem „vortrefflichen Liebhaber“ wird die Mittvierzigerin offenbar all dessen gewahr, was sie bisher ausgeblendet hat. Schließlich ging sie als Jungfrau in eine harmonische und auch im Bett erfüllende Ehe.

Jetzt kehrt allerdings Unrast ein. Wegen der Schuldgefühle und aufgrund der 20 Dollar, die der Amerikaner der schönen Einheimischen hinterlassen hat. Vielleicht ist es auch die Midlife-Crisis, die Márquez’ selbstbewusste Hauptfigur zu weiteren sommerlichen One-Night-Stands treibt. Die Atmosphäre inmitten von Urlaubern, mit Tanz und karibischer Musik, scheint wie angetan dazu, sich gehen zu lassen.

Würde man den Verfasser von „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ auch in diesem Romänchen erkennen, wenn sein Name nicht am Cover stünde? Wohl eher nicht. Bei einer Blindverlesung käme wohl der Tipp „Márquez-Epigone“ heraus.

Gabríel García Márquez: Wir sehen uns im August.

Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kiepenheuer & Witsch, 144 S., € 24,50

Das liegt weniger an der Sprache – originelle Beschreibungen und Formulierungen gibt es genug – als an der mangelnden Dichte der Handlung und an Erzählsträngen mit Sackgassen. Was wird etwa aus der lebenslustigen Tochter, die partout ins Kloster will? Und warum geht der perfekte, von den Eskapaden nichts mitbekommende Ehemann immer mehr auf Distanz?

Mit einem überraschenden Ende fängt das Buch die Leserin, der die Senores zusehends unattraktiver erscheinen, wieder ein. „Wir sehen uns im August“ ist so leicht wie der Geschmack von Meersalz auf der Haut. Nicht mehr und nicht weniger. NICOLE SCHEYERER

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LITERATUR
ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Die Vermutungen von Buchenwald

In „Tanz des Verrats“ fegt Mathias Enard über das verheerte Parke der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Der französische Schri steller Mathias Enard steht längst außerhalb des Schattens einer Annie Ernaux oder eines Michel Houellebecq. Seine Romane – mit „Kompass“ über einen Wiener Musikwissenscha ler gewann er den Prix Goncourt 2015 – sind unterhaltsame und gleichzeitig herausfordernde Ereignisse. „Zone“ (2008) etwa erzählt auf 500 Seiten ohne Punkt die Innensicht eines Kämpfers aus dem Jugoslawienkrieg.

Zuletzt erschien auf Deutsch der im Original 2003 veröffentlichte Roman „Der perfekte Schuss“ aus dem Blickwinkel eines Heckenschützen. Das formalästhetisch anspruchsvolle Werk „Das Jahresbankett der Totengräber“ (2021) wiederum lässt einen Anthropologie-Doktoranden zum Bauern werden und spielt auf komisch-groteske Weise sämtliche Todesarten durch.

Seinen Themenbereichen bleibt der 1972 im westfranzösischen Niort geborene Enard auch in „Tanz des Verrats“ (wieder toll übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller) treu: Wissenscha – diesmal die höhere Mathematik –, Geschichte, Krieg und Gewalt, BRD und DDR, aber auch Liebe, Poesie und Hoffnung stecken den Rahmen ab.

Es geht um Deutschland im 20. Jahrhundert. Enard, der in Berlin lebte, erzählt eine grandios-abgründige Geschichte über den so genialen wie erfundenen Mathematiker

und Kommunisten Paul Heudeber und dessen Frau Maja, die ihm zu Ehren eine wissenscha liche Konferenz organisiert.

Just am 11. September 2001 findet die Veranstaltung auf einem Ausflugsdampfer auf der Havel bei Potsdam statt, wodurch der „schwimmende Kongress“ bald aus den Fugen gerät und statt ehrerbietiger Vorträge unerwartete Geheimnisse an die Oberfläche schwappen. Mit dabei ist auch Irina, die Tochter von Paul und Maja.

In distanziert-analytischer Rede berichtet die Historikerin, deren Forschungsgebiet die Geschichte der Mathematik ist, von ihren außergewöhnlichen Eltern: „Er eine berühmte und gefeierte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Ostdeutschland, sie eine Politikerin des Westens, immer der Spionage für den Feind verdächtig.“

Majas Träume einer sozialistischen Utopie in der DDR zerschellen mit dem Volksaufstand von 1953. Sie kehrt in den Westen zurück, um an der Seite von Willy Brandt ihre steile Politkarriere fortzuführen. Doch ihr Mann, der „antifaschistische Mathematiker“, bleibt in der DDR, setzt auf eine akademische Karriere in Ostberlin.

Paul war zwischen 1940 und 1945 im KZ Buchenwald inha iert und verfasste inmitten der „extremen Gewalt des Konzentrationslagers“ sein wissenscha liches Hauptwerk „Die Vermutungen von Bu-

Mathias Enard: Tanz des Verrats. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser, 256 S., € 25,70

Die Wehwehchen eines Hypochonders

chenwald“. Neben mathematischen Beweisen enthält es auch Gedichte.

Die Au ebung des Gegensatzes von Wissenscha und Literatur ist bei Enard zentral. Sein unzeitgemäßer Anspruch ist, umfassend gebildet, ja ein Universalgelehrter zu sein. Inmitten von Gewalt und Krieg sucht er das Verbindende, Humanistische.

Dass der Autor seinen genialen Mathematiker im KZ Buchenwald, das nur einen Steinwurf von der Goethe- und Schillerstadt Weimar entfernt liegt, foltern und dichten lässt, zeugt von dem Misstrauen, das er der Geschichte gegenüber hegt. Wo Geistesgröße entsteht, dort kann auch Geist vernichtet werden.

Als wären jede Menge Namen und Daten, Anspielungen und Assoziationen, mathematische Erklärungen und altpersische Gedichte nicht genug, gibt es in „Tanz des Verrats“ noch eine weitere Ebene. In einem gänzlich anderen Erzählstrang, mit dem das Buch auch beginnt, begegnen wir einem namenlosen Deserteur. Der Soldat trifft auf eine junge, vom Krieg gezeichnete Frau mit Esel.

Mit welcher Dringlichkeit und poetischer Kra Enard hier Flucht vor dem Krieg, Schändung und Mord, Alleinsein und Natur schildert, ist gleichermaßen abscheulich wie faszinierend. Dennoch: Am Ende gibt es Hoffnung.

In „Das Schachbre “ berichtet Jean-Philippe Toussaint heiter-melancholisch vom Älterwerden und Erinnern

Der monumentale Eingangssatz lautet:

„Ich habe das Alter erwartet, ich finde mich im Lockdown wieder.“ Der Beginn von Jean-Philippe Toussaints neuem Buch „Das Schachbrett“ klingt im französischen Original wuchtiger, nimmt er dort doch die Gestalt eines Alexandriners an, der jambischen Versform in der klassischen Tragödie etwa eines Racine. Der Satz bildet den ersten von 64 Abschnitten, die das Werk einem Schachbrett gleich gliedern.

Wer nun vermutet, einen weiteren dieser Covid-Romane vor sich zu haben, irrt. Wohl behandelt Toussaint die Pandemie. Die Situation der Ein- bzw. Abgeschlossenheit ist für ihn aber schon Gegenstand seiner Reflexionen, seit er 1985 den Debütroman „Das Badezimmer“ veröffentlichte.

Das Altern und Probleme mit einer Übersetzungsarbeit beschä igen ihn mindestens ebenso intensiv. Es geht um Stefan Zweigs „Schachnovelle“. Als Amateurspieler und Zuschauer bei Großereignissen behandelt sie ein ihm vertrautes Terrain. So wird die lebenslange, in unterschiedlicher Intensität gepflegte Beziehung zu diesem Denksport zum Leitfaden der Erinnerung.

Vorbilder sind ihm neben Marcel Proust auch Nabokov und Georges Perec, beide Schachliebhaber. Von Letzteren übernimmt Toussaint als gestalterisches Prinzip des Buches die Problemstellung der „Poly-

graphie des Springers“. Es geht darum, wie man diese Figur so bewegt, dass sie alle Felder des Schachbretts einmal besetzt, ohne zweimal auf demselben zu landen.

Bestechend elegant beschreibt er sein literarisches Vorhaben: „Ich wollte, dass dieses Buch ein weitgreifendes Nachdenken über die Literatur wird und dass es gleichzeitig über das Entstehen dieses Buches erzählt, seine eigene Genese beschreibt, sein Reifen und Voranschreiten, und dass es das in Echtzeit erzählt.“

Toussaint erörtert die Bedingungen für das Erinnern, Schreiben und Übersetzen auf eine Weise, die man im klassischen Sinn transzendental nennen könnte. So anspruchsvoll sein Programm erscheint, so leichtfüßig zieht er es durch.

Er geht zurück bis in die früheste Kindheit und reflektiert auch Erinnerungen aus zweiter Hand: Man hat ihm erzählt, dass er – im Allgemeinen ein fröhlicher Säugling – für zwei Tage in eine seltsame Apathie verfallen sei.

Nun überlegt er, ob er damals schon mit dem Phänomen des Gedächtnisses konfrontiert wurde und der Melancholie begegnete. Freilich blitzt hier Selbstironie durch. Diese nonchalante Haltung dem eigenen Ich gegenüber trägt zum Lesevergnügen bei.

Einen fast schelmischen Blick wir Toussaint auf die großbürgerliche Atmosphäre

Jean-Philippe Toussaint:

Das Schachbre Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 256 S., € 24,70

des Elternhauses in Brüssel. Differenziert und einfühlsam wird der Autoritätskonflikt mit dem Vater, einem Starjournalisten, ausgetragen („Im Schach schlage mich nicht, aber ja, werde ein größerer Autor“, legt der Sohn ihm in den Mund).

Mit der Figur des litauischen Großvaters, ehemaliger zaristischer Offizier, evoziert er den letzten Nachhall der russischen Emigrantenszene in Paris. Auch an den Wehwehchen eines Hypochonders in den Sechzigern und seinen Marotten lässt er den Leser teilhaben, etwa wenn er sich rühmt, seinem Augenarzt gegenüber Knieschmerzen, die ihn auch plagen, nicht zu erwähnen. Wenn es zu persönlich werden könnte, bricht er jedoch ab.

Gewinnend ehrlich schildert er den Ehrgeiz, sich beim Übersetzen eines Werkes im Text persönlich bemerkbar zu machen. Das wird Joachim Unseld, der Toussaints Bücher verlegt und diese seit 20 Jahren kongenial übersetzt, amüsiert haben. Immerhin wurde auch ihm bei der Übertragung von „Das Badezimmer“ ein gewisser Hang zur Originalität attestiert.

Trotz aller Ironie und all seinem Sarkasmus herrscht hier ein fast Tschechow’sches Gleichgewicht zwischen Humor, melancholischem Ernst und tieferer Bedeutung. Dieser dichte Text zieht in seinen Bann.

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Der größte Berserker unter den Verwandten

Niederländisches Trio: Die Romane von Gijs Wilbrink , Wytske Versteeg und Gerbrand Bakker sind voller Abenteuer

Die Niederländer wollen raus, wie es scheint. Raus aus den vier Wänden und den Diskussionen über die eigene Befindlichkeit und hinein in jene Welten, wo wirkliche Abenteuer warten. Um dann wieder heimzukehren und die Exotik direkt vor der Haustüre zu entdecken. Sie unternehmen literarische Reisen voller Drastik und mit hintersinniger Poesie.

Heuer sind sie zu Gast auf der Leipziger Buchmesse. Unter jenen Autoren, die sich besonders exponieren, ist Gijs Wilbrink mit seinem Roman „Tiere“. Der Stall, in dem sie als wertlose Kreaturen gequält werden, steht im Osten Hollands, etwas außerhalb einer Siedlung. Von hier aus terrorisiert Familie Keller die Dor ewohner und hält sie in einer Geiselha des Schreckens fest.

Isa wird in den „SchauerClan“ hineingeboren. Die Mutter ist eine vom Schicksal gebrochene Frau, der Vater der „Kettenhund“ seiner Onkel, emotionale Dickhäuter ohne Mitleid und Gewissen.

Mit 18 ist Isa gerade dabei, die Fesseln ihrer Herkun zu sprengen, als sie ein Anruf erreicht: Ihr Vater sei verschwunden. Weit, so meint man, könne er nicht gekommen sein, ein kra loser Mann mit Beinprothese. Und so stürzt Isa, selbst in den Fängen von Alkohol und Drogen gestrandet, neuerlich in den unheilsamen Familienkosmos ab.

Wilbrinks Roman breitet ein paar wenige Tage im Leben der jungen Frau vor uns aus. Mit jeder Stunde gerät Isa tiefer hinein in einen Strudel abgründiger Geheimnisse („Och Gott, nun erbarm dich doch mal“). Bis zu jener Nacht, da sie den größten Berserker unter den Verwandten in die Hölle schickt.

Gijs Wilbrink, in seiner Heimat auch als Musiker und Podcaster geschätzt, lässt seinen Erstling mit erzählerischer Wucht in eine bizarr-wahrha ige Familien- und Dorfgeschichte hineinrasen. Er porträtiert Isas Identitätsfindung aus mehreren Perspektiven, die leichthändig ineinander verzahnt sind, und wir uns ein wildes, ungebändigtes Stück Literatur vor die Füße.

Der Roman begeistert mit seiner präzisen und zugleich ungestüm überbordenden Sprache, die Ruth Löbner souverän ins Deutsche übertragen hat: ein Findling, grob, ungeschliffen und doch zart. Es ist gar nicht so leicht, sich im Schatten von Gijs Wilbrink zu behaupten, der den niederländischen Bücherfrühling wohl dominieren wird.

Wytske Versteeg versucht es dennoch. Ihr Roman über „Die goldene Stunde“, eine Konfrontation mit der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik, präsentiert sich als poetisch überhöhtes, fein ziseliertes Kunstwerk voller Bilder und Metaphern. Eines gleich vorweg: Diese Form der Über-

ästhetisierung tut dem Thema nicht unbedingt gut.

Das Haus, in dem Ahmad gewohnt hat, ist vom Krieg zerstört. Nichts mehr da, von seiner früheren Existenz, allein der Schlüssel: „Ich habe noch immer unseren Hausschlüssel in der Hosentasche. Einen Schlüssel, dessen Schloss längst verloren ist.“ Um sich zu beruhigen, presst er die Finger gegen dessen scharf gezackten Bart: Heimweh und Schmerz.

Ahmad ist eine von drei sehr unterschiedlich geprägten und sozialisierten Figuren, deren Biografien Wytske Versteeg miteinander verschränkt. Das Trio führt vor, wie wenig wir letztlich wissen über Recht, Unrecht und den Graubereich dazwischen. Alle drei sind auf der Flucht, vor sich oder der Verfolgung.

Gerade erst in den Niederlanden angekommen, trägt Ahmad schwer an seinen Erinnerungen: an die Repressionen in einem Staat, der demokratische Bewegungen mit Füßen tritt, die gefährliche Passage über das Mittelmeer und das Warten in Lagern, wo er unter inhumanen Bedingungen um eine Aufenthaltserlaubnis in der Fremde bangt.

Er trifft auf die sozial engagierte Mari und wird zum Ziel ihrer zwangha en Ambitionen, ihm unter die Arme zu greifen. Sie bietet ihm einem Platz in ihrer Wohnung und die Wärme ihres Bettes, löchert ihn aber auch mit Fragen nach seinen traumatischen Erfahrungen, die sich nicht einfach in Erzählungen fassen und auflösen lassen.

Als Ahmad schließlich abhaut, ist Mari derart irritiert über das ZurückgestoßenWerden, dass sie sich aufmacht, die Heimat des verschwundenen Geliebten kennenzulernen. Dort begegnet sie Tarik, einem Soldaten und ehemaligen Aufseher in einem gefürchteten Gefängnis für politische Hä linge.

Er hat sich in eine Grenzregion in den Bergen zurückgezogen, gepeinigt von seinen Albträumen von Folterungen und Gewaltexzessen. Tarik wird zu Maris Guide und bringt ihr Ahmads Notizen, eine Art Abschiedsgeschenk, näher.

Wer ist Täter, wer Opfer? Und wie viel Schuld laden jene auf sich, die sich in ihren Rollen als Altruisten eingerichtet haben, weil sie glauben, an der Rettung eines Menschen oder gleich der ganzen Menschheit teilhaben zu können? Derlei spannende und auch heikle Sujets umkreist der Band, den Christiane Burkhardt stimmig ins Deutsche übertragen hat, aus mehreren Blickwinkeln.

„Vermutlich sollte ich dir dankbar sein“, wie es Ahmad ausdrückt, „aber es gibt keine Dankbarkeit ohne Hass.“ Wytske Versteeg hat sich einer klaren Order verschrieben, man spürt es schnell. Das Anprangern jener Arroganz, mit der wir uns fremde Erfahrungen anzueignen suchen, die Meere

Gijs Wilbrink: Tiere. Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner. Ullstein, 448 S., € 25,70

Wytske Versteeg: Die goldene Stunde. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Wagenbach, 240 S., € 26,80

Gerbrand Bakker: Der Sohn des Friseurs. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp, 285 S., € 25,70

und Ozeane von uns entfernt liegen, wird jedoch zu einer literarisch ziemlich forcierten Mission.

Verglichen mit den Büchern seiner um etliches jüngeren Kollegenscha wirkt Gerbrand Bakkers neuer Roman so abgeklärt wie das Werk eines alten Meisters. 2023 wurde dem 62-Jährigen der Orden von Oranien-Nassau für seine Verdienste um Gesellscha und Gemeinwesen verliehen. Auszeichnungen wie diese scheinen ihn wenig zu beeindrucken, er zieht unbeirrt auf seinem Weg weiter.

Gut zehn Jahre lang hat er Essays und autobiografische Bücher veröffentlicht, aber keinen Roman, zum Bedauern von Verlag und Fans. Nun zeigt er sich in „Der Sohn des Friseurs“ in Hochform, sein Übersetzer Andreas Ecke steht ihm virtuos zur Seite.

Simon ist einer jener unauff älligen Helden, wie Bakker sie seit jeher favorisiert: Mitte 40, Friseur wie seine Vorfahren, in sich gekehrt. Simon in Kurzform: „Schneiden und rasieren, essen und trinken, schwimmen. Toter, unbekannter Vater, leicht hysterische Mutter. Nie einen festen Freund gehabt.“

Der Ton, in dem Bakker die Handlung vor uns ausrollt, ist ähnlich reduziert wie der Alltag seiner Romanfigur. Erst als ihn seine Mutter bittet, sie für ein paar Wochen in die öffentliche Badeanstalt zu begleiten, wo sie eine Gruppe geistig behinderter Jugendlicher betreut, gerät sein sorgfältig durchgetaktetes Leben aus den Fugen. Er verliebt sich in einen der Burschen und bemerkt, wie ihn das Begehren emotional aus der Bahn wir . Zugleich gibt er dem Drängen eines Kunden nach, der sich als Schristeller auf der Jagd nach einem passenden Stoff entpuppt. Das Verschwinden von Simons Vater, dessen Überreste nach einem Flugzeugunglück auf Teneriffa nie identifiziert wurden, inspiriert ihn.

Seine Fragen zu Details treffen den Sohn ins Mark. Er stellt eigene Nachforschungen an und dringt ins Herz der Familiengeheimnisse vor. Bakkers Roman, der lakonisch daherkommt und in seinem Erzählduktus kaum je über die Stränge schlägt, entwickelt eine subversive Dramatik.

Er führt uns ordentlich aufs Glatteis. Was ist Realität und was Fiktion? Wer war tatsächlich an Bord der Maschine? Und wer ist untergetaucht in einem vollends anderen Dasein? Bakker hält manches in Schwebe, unangestrengt und mit großer Leichtigkeit.

Das Nachdenken über die Magie des Schreibens ist der Basso continuo eines Romans, der auf ein furioses Finale zuläu . „Darauf kann man sich immer berufen“, wie es einmal wie nebenher heißt: „Es wird nichts gesagt. Alles ist Fantasie.“ Womit wirklich alles gesagt wäre.

SUSANNE SCHABER

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Die Geschichte eines eitlen Feiglings

Tolle Neuübersetzung eines Meisterwerks: In „Treibgut“ von Julien Green erklingt der Schwanengesang des Bürgertums

Begraben ist der Jahrhundertschri steller Julien Green, zusammen mit seinem Adoptivsohn Jean-Éric, in der Stadtpfarrkirche St. Egid in Klagenfurt – weil er sich mit dem Pfarrer so gut verstand. Geboren 1900 in Paris als Sohn amerikanischer Eltern, gestorben 1998 ebendort, blieb er zeitlebens US-Staatsbürger und schrieb auf Französisch.

Er diente im Ersten Weltkrieg als Sanitäter in der Army, studierte in Virginia, ging zurück nach Paris und dann in die USA ins Exil. Obwohl zum katholischen Glauben übergetreten, mit dem er schwere Konflikte ausfocht, lebte Green offen homosexuell.

Für eine Pilgerfahrt zur Kärntner Gru gibt es zuallererst künstlerische Gründe. Unter den 19 Romanen zum Beispiel „Adrienne Mesurat“ (1927) über ein Frauenschicksal in der Provinz, ein Mädchen verstrickt im Liebeswahn, das den despotischen Vater tötet, ohne durch die Tat Befreiung zu erfahren. Für Walter Benjamin war es „eines der allerbesten Bücher des Jahrhunderts“, es lasse uns „in den Schnürboden der Leidenscha hineinsehen und zeigt das simple, zackige Räderwerk: Einsamkeit, Furcht, Hass, Liebe“.

Ähnliches ließe sich über „Treibgut“ (1932) sagen, ein anderes Meisterwerk, das Wolfgang Matz mit zurückhaltender Eleganz neu übersetzt hat. Allerdings scheint ein Teil des Räderwerks hier kunstvoll verdeckt. Es ist die Geschichte eines eitlen Mannes, der eines Tages erkennt, dass er ein Feigling ist.

Philippe lebt mit seiner Frau Henriette und deren Schwester Éliane als Privatier in einer standesgemäßen Wohnung in Paris. „Das Leben hatte ihn reich gemacht, einigermaßen intelligent, schön, und nun dachte es nicht mehr an ihn.“ Er „überschritt die dreißig mit der glatten und leeren Physiognomie einer Statue“. Bis er auf einem seiner abendlichen Spaziergänge an der Seine den Hilfeschrei einer Frau ignoriert, die von einem Mann bedroht wird.

Philippe – das wird er sich später eingestehen – hat Angst. Etwas packt ihn an der Kehle: „Zunächst das Grauen vor dem Sterben, dann das Grauen vor sich selbst.“ Im Spiegel, in dem er sich täglich nackt und bekleidet ausführlich betrachtet, überprü er, ob man ihm den charakterlichen Makel schon ansieht, und ist dann doch wieder geblendet in einer „Sekunde der Freude“: „Sein Anzug stand ihm wunderbar. Noch nie hatte er sich so gut gefallen.“

Nicht allein Philippes Selbstwahrnehmung funktioniert in mannigfachen Variationen über sein

Spiegelbild, auch die seiner Mitbewohnerinnen: Éliane, mit über dreißig ein „altes Mädchen“, verblasst neben ihrer strahlend schönen jüngeren Schwester, die allein ausgeht und zu viel Aspirin nimmt. Sie langweilt sich mit Philippe, während Éliane ihren Schwager heimlich liebt. Nach elf Jahren hat er ihr Geheimnis durchschaut, hält dies aber vor ihr geheim. Seine Ehe empfindet er als Unglück, beginnend mit seinem Versagen in der Hochzeitsnacht. Sein Sohn ist ihm lange fremd, auf ergreifende Weise kommen sich die beiden näher. Mit staunenswerter Akribie beschreibt Green die Kippbewegungen zwischen Liebe und Verachtung, Disziplin und Leidenscha

Dabei hat er keinen Plan, lässt sich selbst vom Gang der Dinge überraschen. Treibgut sind alle Beteiligten, mehrmals wird die „unsichtbare Mauer, die alle Menschen umgibt“, durch Geständnisse und Aktionen eingerissen, ohne dass sich die längste Zeit an der platonischen Ménage-à-trois etwas ändert: „Mit der Geduld von Ameisen, die auf den Ruinen ihres verwüsteten Baus arbeiten, errichteten sie von neuem eine fiktive Ordnung.“

In seinem hochspannenden und gehaltvollen Nachwort scheint der Übersetzer fast ein wenig überrascht, dass sich der topografisch präzise wie stimmungsvolle Großstadtroman eines überflüssigen Menschen unter Heranziehung von Greens Tagebüchern auch anders lesen lassen könnte denn als Schwanengesang des Bürgertums: nämlich als uneingestandene Selbsterkenntnis eines Homosexuellen.

Dabei ist die Homosexualität als Subtext angelegt: Nicht nur in Philippes Selbstverliebtheit und Körperkult, in zwielichtigen Streifzügen und seinem erotischen Desinteresse an den Frauen seines Haushalts, sondern auch im Erschrecken über seine „unmännlichen“ Züge, fehlenden Mut und fehlende Manneskra in der Stunde der Wahrheit, zu der ihn das „herrische und jähe Verlangen eines keuschen Mannes“ getrieben hat.

Julien Green wurde von seinem Freund Robert de Saint Jean davon abgehalten, hier deutlicher zu werden. Wohl nicht zufällig aber hat er Philippes Sohn Robert genannt.

Sanftes Plädoyer für harten Umweltschutz

Mit Mi eln des Sprachspiels macht Volha Hapeyeva sich Gedanken über die Zukun des Planeten

Gleich zu Anfang spricht die Erzählerin, von der wir bald erfahren werden, dass sie den Ausbruch eines japanischen Vulkans vor 50 Jahren erforscht, von ihrer Erschöpfung. Diese sei noch nicht zu Müdigkeit geworden. Das sei etwas anderes, „der Endpunkt, die unumkehrbare Tatsache, dass Freude selbst als Wort zu existieren aufgehört hat“. Auch für müde gewordene Menschen gebe es zwar noch hin und wieder Grund und Anlässe zur Freude. Aber das Wort selbst habe seinen Sinn verloren, es sei „zu einfach, zu banal und zu langweilig“.

Volha Hapeyevas Roman „Samota“ fängt mit einer Erschöpfung an, die sich im weiteren Fortgang zur Müdigkeit auswächst. Es ist ein Roman ohne Freude, aber deshalb kein freudloser. Statt Trübsal findet man in ihm eine Menge komischer, surrealer und sonst wie erfrischender Momente.

»Die Lyrikerin und Linguistin Hapayeva weiß auch als Prosaschreiberin genau, was sie von der Sprache will

kreuzt dabei eine befreundete Tierethikerin namens Helga-Maria ihre Wege. Man darf sie sich als eine Aktivistin vorstellen, die in ihren Vorträgen etwa für die „Entwicklung eines Empathieserums“ für Menschen plädiert.

Das Thema Tiere und Empathie wird dann in einem parallelen Handlungsstrang aufgenommen, worin sich, unklar, wann und wo, ein möblierter Herr namens Sebastian dem sinistren Wolfsjäger Mészáros gegenübersieht, und zwar im Haus des Herrn Zikade, den einst eine zarte, aber unglückliche Liebesgeschichte mit der besagten HelgaMaria verband.

Nacherzählt mag die Kombination aus ernsten ethischen Anliegen und einer willentlich konfusen Handlung verstörend wirken. Aber das heißt wohl nur, dass der Roman gedanklich und sprachlich zu dicht gewoben ist, als dass er sich unschädlich in Einzelteile zerlegen ließe. Das Disparate der Stimmen und Figuren fügt sich unter Hapeyevas lyrisch-linguistischer Inspiration zu einem stimmigen Ganzen. Man muss nur die Bereitscha au ringen, sich ihrem eigensinnigen Sprachspiel anzuvertrauen.

Julien Green: Treibgut. Aus dem Französischen von Wolfgang Matz. Hanser, 400 S., € 28,80

Das Müde, das Hapeyevas Erzählerin einleitend ins Gespräch bringt, ist nicht etwa lebensmüde, eher ist es menschenmüde. Aber vielleicht kann ja aus dieser Menschenmüdigkeit etwas Gutes entstehen.

Die Lyrikerin und Linguistin Hapayeva weiß auch als Prosaschreiberin genau, was sie von der Sprache will. „Das Hotel gähnte mit dem offenen Mund der Eingangshalle“, solche frischen Bild-Einfälle finden sich bei ihr fast auf jeder Seite. Man kann ihren Roman mit poetischem Gewinn lesen, auch wenn die Handlung weithin undurchsichtig bleibt.

Die Handlung? Ist das auch so ein langweilig gewordenes Wort wie „Freude“? Man wird ihr jedenfalls nicht gerecht, wenn man sie nachzuerzählen versucht. Es geht hauptsächlich um Vulkane und Tiere, vor allem um Tierpopulationen und deren systematische Dezimierung durch den Menschen.

Die Vulkanologin im Roman beschä igt sich auch mit den Auswirkungen von Vulkanausbrüchen auf Katzen und Hunde. Gelegentlich

Es o ff enbart auch eindeutige politische Botscha en. Auf experimentelle Kunst um der Kunst willen läu der Roman der belarussischen Autorin nicht hinaus. Auf eine san e, träumerische Art ist „Samota“ ein Plädoyer für radikalen Umweltschutz. Die Tierpopulationsdezimierer, die ihren Kongress zeitgleich im Vulkanologenhotel abhalten, werden als Superfaschisten vorgeführt, sie sind Anwälte der „urewigen Ordnung“ und der „Subordination“ alles Lebendigen unter die Herrscha des Menschen.

Was würde nun helfen in einer Lage, in der vom Menschen die Lösung seiner selbst verursachten Probleme kaum noch zu erwarten ist? Das Empathieserum, das die Tierethikerin Helga-Maria als bestes „Mittel gegen Konflikte und Kriege“ empfiehlt?

Man weiß nicht, ob allein der pharmakologische Weg noch offen ist. Aber vielleicht ist poetische Empathie, wie Hapeyeva sie praktiziert und fordert, ein erster Schritt.

Volha Hapeyeva: Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber. Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann und Ma hias Göritz. Droschl, 192 S., € 25,–

LITERATUR FALTER 12/24 21

Wie findet man Freunde? Wie kommt man mit ihnen

Wie sucht man aus der Flut der neuen Bilderbücher die besten aus? Das scheint beinahe unmöglich. Hier ein Strauß an besonders schönen Büchern zu den Themen Freundscha , der Macht der Wörter, der Suche nach einer Riesenqualle und dem Leben von Käfern

REZENSIONEN:

Ein Kind findet einen Faden, dessen Ende nicht absehbar ist. „Nanu, ist dieser Faden lang! Was ich mit dem wohl machen kann?“ Munter gereimt startet dieses einfach geknüp e, originelle Bilderbuch, in dessen Mittelpunkt ein rotes Fadengewirr steht.

Das als Strichmanderl gezeichnete Kind beginnt dieses zu erkunden. Es zieht am Faden und versucht, ihn zu einem Knäuel aufzuwickeln. Aber der Faden leistet Widerstand. Bald steckt das Kind selbst fest in einem Durcheinander. Die Interaktion zwischen Kind und Faden dramatisiert sich, als das Kind dem Dilemma mit einer Schere beikommen will. Denn der Faden erweist sich plötzlich als höchst lebendig. Ist er gar ein Monster?

Illustratorin Ann Cathrin Raab und Autorin Mareike Postel erweisen sich als perfekte Ergänzung und überzeugen durch eine pfiffige Simplizität, die die Fantasie anregt. Auf der Homepage des Verlags gibt es dafür Kreativmaterial zum Weiterzeichnen im Gratis-Download. Mit diesem kann dann jedes Kind und jeder, der gerne Kind geblieben wäre, neue Wesen entstehen lassen.

Mareike Postel, Ann Cathrin Raab: Fadenwirrwarr.

Kunstansti er, 40 S., € 20,60 (ab 3)

Was man so finden kann! Oscar gräbt beim „täglichen Löcherbuddeln“ eine alte Truhe aus, in der sich allerhand Wörter befinden. Als er eins davon – das Wort „quietschgelb“ – wegwir , entdeckt er ihre Macht. Denn sofort stürmt ein Igel in dieser Farbe aus dem Busch. Oscar probiert es noch einmal mit dem Wort „haarig“ und einer Eiche. Das Ergebnis wirkt natürlich abstrus. Aber gerade deswegen kann er nicht mehr au ören. Wörter – hier sind es Adjektive – können Dinge verwandeln! Dann ist die Kiste plötzlich leer und Oscar macht sich auf die Suche nach Nachschub. Die in diesem erstaunlichen Bilderbuch durchexerzierten Metamorphosen überraschen und werden immer fantasievoller. „Schattenversunken“, „waldbodenweich“, „vogelfrech“. Eine gute Vorlage zum Weitermachen.

Das Fadengewirr scheint bedrohlich, aber dahinter versteckt sich ein freundliches Wesen

NordSüd, 48 S., € 17,50 (ab 6)

Hubert wacht morgens auf und ist – kein Ka a’scher Käfer, sondern – „huch!“ –ein Buch. Obwohl Hubert so aussieht wie immer, „liest“ er sich als Buch. Mit diesem witzigen Gedankenexperiment treibt dieses Bilderbuch seinen Schabernack. Hubert findet sich ziemlich vielseitig, aber seinen Einband viel zu dick. Die munteren Reime und Wortspielereien, nach denen sich Hubert etwa nicht verstecken kann, weil er ein offenes Buch ist, oder dass er versucht, sich einen Reim auf sich zu machen, finden eine Entsprechung in ironisch-liebevollen Zeichnungen. Zum Schluss gelangt Hubert zu der lapidaren Erkenntnis, dass das Leben sich nicht abschreiben lässt. Nicht nur für die Leseratten unter den Kindern geeignet, sondern vermutlich noch viel mehr für BuchAficionados im Erwachsenenalter.

Kai Lü ner, Wiebke Rauers: Huch, ein Buch! Coppenrath, 40 S., € 15,50 (ab 6)

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Rebecca Gugger, Simon Röthlisberger: Der Wortschatz.
KIRSTIN BREITENFELLNER

aus? Was, wenn man sie verliert?

Petr Horácek:

Ein bester Freund für Bär. Von Hacht, 32 S., € 16,50 (ab 4)

Wenn jemand einem dabei hil , einen Freund zu finden, und das ein bisschen länger dauert, scheint es nur logisch, dass die beiden in der Zwischenzeit selbst Freunde geworden sind. Diese so einfache wie herzerwärmende Geschichte wurde im Bilderbuch bereits mehrmals durchexerziert, aber das scheint bei universellen Stoffen auch wenig überraschend. Der Zauber liegt dann in den Unterschieden der jeweiligen Interpretation.

Mathias Jeschkes „Peter Pum sucht einen Freund“ (2007) wartete mit herrlich anarchischen Illustrationen von Eva Muggenthaler auf. In der Version des tschechischen Illustrators Petr Horácek überzeugen die in Wachsmalkreide gemalten und mit zarten Collagen verfeinerten farbenfrohen und sympathischen Bilder.

Der rote Bär assistiert dem schwarzen gewissenha bei der Suche in einem Wald, und als dieser schon aufgeben will, finden sie die Lösung: sprich zueinander.

Bei drei Freunden droht schnell die Situation, dass einer ausgeschlossen wird. Das Wiesel kommt nachhause und findet sich in einer unerfreulichen Lage. „Der Dachs ist mein Freund“, sagt es zum Bären, der sich diesen zum Spielen gekapert hat. Jedenfalls der Meinung des Wiesels zufolge. „Du darfst nicht mit ihm spielen“, meint es kategorisch und lässt sich vom Bären auch nicht auf den nächsten Tag vertrösten.

Aber auch bei dem Spiel zu dritt, das sie nun starten, kommt es zu Streitereien. Der Bär will bei Vatermutterkind partout nicht ins Bett geschickt werden. Oder zumindest als Rache dafür „einen riesigen Saustall“ machen. Er wir dem Wiesel vor, immer bestimmen zu wollen. „Nie hältst du dich an die Spielregeln“, kontert das Wiesel. Ein Wort gibt das andere: Vorwurf und Gegenvorwurf, Forderung und Verweigerung. Kinder und ihre Eltern kennen diese Art von Streit und haben hier genau deswegen einiges zu schmunzeln.

Der Mistkäfer rollt eine große Kugel aus Kacke

Hugo ist ein Mistkäfer, und die gibt es auf der ganzen Welt!

Erzählende Sachbücher liegen im Trend. Hier findet man des Ö eren im vorderen Teil des Buchs die Erzählung, die dann am Schluss mit Sachinfos ergänzt wird, wie auch hier, bei der slowakischen Illustratorin und Autorin Simona Smatana. Hugo, der Mistkäfer, rollt eine große Kugel aus Kacke, „von unterschiedlichsten Tieren wohlgemerkt“. Aber er will noch mehr, obwohl er jetzt mit der Form seiner Kotsammlungen nicht mehr zufrieden ist. Schließlich beginnt es zu regnen, und Hugo erkennt, dass es nicht darauf ankommt, wie viele Mistkugeln er besitzt, sondern darum, Freunde zu finden. Im Infoteil am Ende des Buchs erfährt man, dass es Mistkäfer auf allen Kontinenten gibt und es mindestens eins Jahr dauert, bis aus einem Ei ein Käfer wird. Dazu gibt es ein Rezept für Schoko-Mistkugeln!

Simona Smatana: Hugo, der Mistkäfer. Leykam, 40 S.,€ 17,50 (ab 4)

Wenn man etwas nicht sieht, bedeutet es nicht, dass es nicht da ist. Diesen Beweis tritt Chloe Savage anhand einer Riesenqualle in einem traumha schön illustrierten Bilderbuch an. Dr. Morley ist Wissenscha lerin und begibt sich mit einer Expedition per Schiff zum Nordpol, um eine arktische Riesenqualle zu suchen.

Netterweise sieht man das Schiff im Aufriss, sodass man gut erkennen kann, was in den jeweiligen Stockwerken – von der Küche bis zum Labor – alles stattfindet. Und weil sie das Schiff in der ganzen Ansicht, auch unter Wasser, gezeigt bekommen, können die jungen Leserinnen und Leser auch entdecken, was Dr. Morley und ihr Team nicht wahrnehmen: Die Riesenqualle, die sie so fieberha suchen, ist schon die ganze Zeit mit von der Partie. Mal versteckt sie sich hinter einem Eisberg, dann wieder direkt unter einem Rettungsboot oder dem Schiff. Ein nettes Sinnbild für die wissenscha liche Forschung.

Axels bester Freund Bosse ist von Norwegen nach Australien gezogen. Das macht Axel traurig, und deswegen fallen ihm noch mehr Dinge ein, die er verloren hat: acht Milchzähne, ein Taschenmesser, seinen Hamster Kakao, seine Oma. Seinen Opa besucht er im Altersheim, aber der wird auch schon vergesslich.

Stian Hole gehört unter den Kinderbuchautoren und -illustratoren zu den Melancholikern und Philosophen. Seine vielfach ausgezeichnete, berückend illustrierte Serie über den Jungen Garman (auf Deutsch 2009–12) gehört in jede Bibliothek.

Für dieses Buch hat er „nur“ die Illustrationen geliefert, aber Dinge, die verschwinden, waren von jeher Teil seines Kosmos. So ergeben die detailreichen, realistischen und gleichzeitig verspielten Illustrationen und die Geschichte von Kim Fupz Aakeson ein stimmiges Ganzes. Zum Glück gibt es diesmal auch jemanden, der au aucht: ein neuer Nachbarsjunge namens Sven.

Käferfrau Karli hat alle Füße voll zu tun!

In Café Käfer triff t sich die ganze Käferfamilie

Das Café Käfer ist aus Baumrinden zusammengeklebt und kaum größer als ein Champignon. Hier treffen sich Tausendfüßler, Kartoffelkäfer, Hirschkäfer und andere Käfer, um eisgekühlte Baumsä e zu trinken. Chefin Karli ist froh, sechs Beine zu haben: zwei zum Bedienen, zwei zum Zubereiten der Getränke und zwei zum Tanzen. Die Probleme beginnen, als nebenan ein Menschenhaus gebaut wird. „Wir müssen jetzt alle zusammenhelfen“, sagt Karli. „Sonst gibt es am Ende nur noch Menschenhäuser und keine Insekten mehr.“ Die Käfer lassen sich dadurch aber nicht davon abhalten, eine große Party zu feiern und dazu auch noch Bienen, Läuse und Ameisen einzuladen. Zum Schluss gibt Infos zu jedem Tier und den beiden Künstlerinnen. Ein gelungener Mix aus Story und Information.

Marie Gamillscheg, Anna Süßbauer: Café Käfer.

Leykam, 64 S., € 20,50 (ab 5)

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Jörg Mühle: Morgen bestimme ich! Moritz, 32 S., € 14,40 (ab 4) Kim Fupz Aakeson, Stian Hole: Dinge, die verschwinden. Hanser, 32 S., € 16,50 (ab 6) Chloe Savage: Auf der Suche nach der geheimnisvollen Riesenqualle. Sauerländer, 32 S., € 15,50 (ab 5)

Da muss es doch ein Kraut dagegen geben

Eine Zauberin verzweifelt an fadem Mann und guter Tochter

Frau Schmitt hatte „keine Lust, Fizzi zu gestehen, dass sie ihren Mann in einen Lederkoffer verzaubert und unter dem Garderobenspiegel abgestellt hatte“. Aber er war selber schuld. „Hexe“ hatte er sie genannt. Sie, die Zauberin, spezialisiert auf Erdbeben, Überschwemmungen und lange Warteschlangen vor der Supermarktkasse. „Hexen sind dumm!“, hatte sie gerufen. „Haben nichts Besseres zu tun, als Lebkuchenhäuschen zu bauen und kleine Jungs aufzufressen!“ Und mit der Tochter war’s genauso ein Kreuz. Dass die gar nichts von ihr hatte! Sich null für ihren Beruf interessierte und immer nur gut sein wollte! Als sie dann aber ihren Koffervater – oder Vaterkoffer? – zurückverwandeln will, schickt die Mutter sie in die verzauberte Zwischenwelt.

Paul Maar ist einer der beliebtesten deutschen Kinderbuchautoren und bekannt für seinen schrägen Humor. „Die Tochter der Zauberin“ ist ein Gemeinscha swerk mit seinem Enkel Hannes. Der setzte mit Witz all die Wesen ins Bild, die Fizzi und ihr Vater treffen: die Brüder Fuchs, den Sägenager, Frau Mahme.

Die Schildkröte merkt gleich, dass Fizzi „ein Zauberkrä chen“ hat. Das Buch lebt vom Humor und von den Dialogen. Als Fizzi dem Fuchs ihren Vater vorstellt, sagt der: „Ich verstehe. ... Menschen haben also einen Koffer zum Vater. Und eure Mütter? Lass mich raten: Rucksäcke?“ Dabei kann man Frau Schmitt die Verzauberung ihres Manns nicht ganz verdenken: Er ist wirklich eine Nervensäge.

Paul Maar: Die Tochter der Zauberin. Oetinger, 96 S., € 15,50 (ab 8)

Wien von oben, unten und durch Jahrhunderte

Eine Sage gab Anstoß zu dieser Jagd durch Zeit und Raum

Kennst du ein Geheimnis? Wenn du mir versprichst, dass du es niemandem erzählst, dann verrate ich dir eines. … Du darfst es aber niemandem sagen, schwörst du es? Ohne Hexenzeichen hinter deinem Rücken?“

Der Brunnen nämlich, in dem Basileus und seine Mama wohnen, der ist nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihr Versteck. Ein böser Zauberer sucht nämlich die Mama. Die ist eine Kröte, der Papa des kleinen Basilisken ist ein Hahn. Leider kann er nie vorbeikommen, sitzt er doch auf der Spitze des Kirchturms, glänzt golden und muss sich drehen. „Dreh du dich einmal den ganzen Tag, dann sagst du auch, du hast viel zu tun.“ Basileus ist aber glücklich da unten im gemütlichen Brunnen – bis zu dem Tag, an dem seine Mama verschwindet.

Den Anstoß zu dieser Geschichte gab eine Sage: Ein Bäckerbursche soll sich am 26. Juni 1212 beim Anblick eines grässlichen BasiliskenMischwesens zu Tode erschrocken haben. Daran erinnert noch heute das Basiliskenhaus in der Schönlaterngasse und inspirierte die Wiener

Fremdenführerin und Schauspielerin Gudrun Tielsch zu dieser Geschichte. Basileus lernt bei seiner Suche den Herrn Teufel kennen, mit ihm fliegt er durch Raum und Zeit. Per Riesenrad geht’s zurück durch die Jahrhunderte. Ziel: das Jahr 1590, hat Basileus doch auf einem Gemälde von Arcimboldo aus jenem Jahr seine Mama entdeckt. Ihn erwarten nicht nur eine, sondern sogar zwei Überraschungen – und die Leser viel Fantasie, Witz und Tempo. GP

Gudrun Tielsch:

Der kleine Basilisk. Tyrolia, 192 S., € 18,– (ab 8)

Virginia Woolf lässt grüßen

Die kämpferische Elli will endlich ein Zimmer für sich allein

Elli, neun, stellt ihrer Mutter ein Ultimatum. Sie wünscht sich zum Geburtstag ein eigenes Zimmer: „Sonst muss ich leider dramatische Konsequenzen ziehen.“ Ihre alleinerziehende Mutter würde ihr den Wunsch auch gern erfüllen, aber es geht sich halt nicht aus. So muss Elli ihr Zimmer weiterhin mit ihren zwei Brüdern teilen: mit dem fünfjährigen Otto und mit Willi, 14, der ewig im Bad steht und seine Kraushaare glättet und gelt. Blöde Jungs rufen ihm im Bus schon mal „Achtung, Schwarzfahrer“ hinterher – wegen seiner Hautfarbe.

Manches gemahnt an Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“: Elli braucht das Zimmer vor allem, weil sie Schri stellerin werden möchte und Ruhe braucht zum Denken und Schreiben. Und in der Wohnanlage sind die kämpferische Elli und ihre beste Freundin Nursemin die Checkerinnen.

Die große Stärke des Buchs: Es zeichnet ein realistisches Bild heutigen (Familien-)Lebens. Jedes Kind hat seinen eigenen Papa, die Mutter, von Beruf Bahnschaffnerin, ist sehr liebevoll, weiß aber nicht immer ge-

nau, wo ihre Kinder gerade au ältig sind. Da muss schon mal Elli nach dem Rechten sehen und Klein-Otto heimholen. Das Personal aus dem Wohnblock hat zudem diverse Migrationshintergründe, zugleich kursieren ausländerfeindliche Sprüche. Die türkischstämmige Nursemin wiederum kämp mit ihrem überfürsorglichen Papa. Die beiden haben also genug zu tun – und nebenbei tut sich eine ungeahnte Alternative zum eigenen Zimmer auf. GP

Frauke Angel: Ein Zimmer für mich allein. Jungbrunnen, 144 S., € 17,– (ab 9)

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GERLINDE PÖLSLER
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Gestern und heute sind nicht zu trennen

Stolpersteine stehen am Beginn von Cornelia Franz´ Roman

Der Titel dieses vielschichtigen Jugendromans glänzt. Doch seine „goldenen Steine“ sind trügerisch. Als Kind hatte sich Yara vorgestellt, dass die quadratischen Einlassungen im Gehsteig vor ihrem Haus ein Schatz seien, und sogar versucht, sie auszugraben. Mittlerweile weiß sie, dass sie aus Messing bestehen, Stolpersteine heißen und an entsetzliche Ereignisse erinnern: die Deportation und Ermordung von ehemaligen Bewohnern des Hauses, darunter das Mädchen Ella, das zwei Jahre jünger war als Yara jetzt, als es alles verlor. Auch sein Leben, am 15. Mai 1942 in einem Ort namens Chelmno.

Die 13-jährige Yara steckt in einer schwierigen Lebensphase. Ihre Mutter, eine Archäologin, geht beruflich für ein Jahr nach Frankreich. Aber steckt dahinter auch eine Ehekrise? Yara ist sich nicht sicher, weil sie gleichzeitig mit ihrem Vater in eine kleinere Wohnung in einer ärmeren Gegend Hamburgs ziehen muss. Und damit wird sie nicht nur Ellas ehemaliges Haus, sondern auch ihre Nachbarin, die alte Frau Winter, die Ella noch kannte, nicht mehr sehen.

Doch mit dem Umzug bekommt Yaras Leben Drive. Sie lernt nämlich zwei Jungs kennen, den großmäuligen Leon und den zurückhaltenden Niko, Sohn von russischen Juden, der mit dieser Identität bislang wenig am Hut hatte. Jedenfalls nicht, bis er Leon und Yara kennenlernt.

Am Anfang der Handlung steht ein unbedachter Bubenstreich: Leon reißt auf einem Schulausflug nach Frankfurt an dessen unübersichtlichem Hauptbahnhof einem Mann ein Käppi vom Kopf und setzt es sich auf, ohne zu wissen, was es bedeutet. Zurück in Hamburg wird er von zwei Kahlrasierten als Jude beschimp und zusammengeschlagen.

Auf den ersten Blick scheint dieser Plot ein wenig konstruiert, aber diesen Anfangsverdacht vergisst man im Lauf der Geschichte vollständig. Cornelia Franz gelingt es nämlich, damit eine Handlung anzustoßen, der nichts Künstliches mehr anhaftet, weil sie an jeder Stelle psychologisch gut motiviert wird, mühelos die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüp und daneben auch die ganz normalen Probleme heutiger Jugendlicher mitzuerzählen vermag.

Niko muss sich von einer erdrückenden Mutterbeziehung frei machen und dabei mit Beschimpfungen wie „Scheißrusse“ leben, Letzteres eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine. Und Leon leidet darunter, dass seine wohlhabenden Eltern kaum Zeit für ihn haben.

Auch in ihrem letzten Jugendroman „Swing high. Tanzen gegen den Sturm“ (2022) über jugendliche Jazzfans während der Nazizeit

gab Franz’ Heimatstadt Hamburg die Kulisse einer bewegenden Geschichte ab, die ein Stück deutscher Geschichte beleuchtete. „Goldene Steine“ spielt in einer Gegenwart, die von genau dieser Vergangenheit immer noch und immer wieder eingeholt wird.

So finden die drei Freunde etwa heraus, dass das „Familienunternehmen“ von Leons Eltern früher Stern Moden hieß. Auch hier gibt ein „goldener Stein“ den Anstoß. „In Yara

In die Freiheit gelangt man auch unterirdisch

Flucht aus der DDR: Maja Nielsen über eine wahre Geschichte

W ie gehen Jugendliche damit um, in einem Regime zu leben, bei dem es keine Meinungsfreiheit gibt und auf unliebsame Äußerungen der Verlust des Studienplatzes oder gar Gefängnis drohen? Diese Frage ist nicht neu und dennoch brandaktuell. Die Flucht aus der DDR wurde schon mehrmals zum Sujet für Filme oder Romane. Maja Nielsens Version für Jugendliche nimmt sich einer wahren Geschichte unmittelbar nach dem Mauerbau im Jahr 1961 an. Das macht den gut erzählten Roman noch glaubwürdiger.

sich einer Gruppe an, die Tunnel in den Osten gräbt. Ein Abenteuer und gleichzeitig ein spannend aufgearbeitetes Stück Geschichte, zu dem die Autorin auch eine Chronik und ein Glossar liefert.

Anders als viele andere Fluchtgeschichten geht diese gut aus. Aber es gibt trotzdem einen Toten. „In dieser verdammten Geschichte gibt es keine Helden, nur Opfer. Auf beiden Seiten. Im Westen wie im Osten.“ KB

Gestern erst hatte sie mitbekommen, dass die Stolpersteine auch gesehen wurden

„YARA“ BEI CORNELIA FRANZ

wirbelten die Gedanken. Gestern erst hatte sie mitbekommen, dass die Stolpersteine gesehen wurden. Und jetzt hörte sie, dass ihr bester Freund durch einen Stein über etwas aus der Vergangenheit gestolpert war.“

Mühelos hält die Autorin ihre zahlreichen Fäden in der Hand. Die Suche von Yara, Niko und Leon nach den beiden Neonazis, die Leon verprügelt haben, gerät zum Krimi. Zum Schluss büxen die drei heimlich nach Frankfurt aus, um das Käppi zurückzugeben. Trotz Konflikten festigt sich dabei auch ihre Freundscha , und die Heranwachsenden machen einen Reifeprozess durch. Bei ihrer Rückkehr erkennt die alte Frau Winter, die im Sterben liegt, dass beide Jungs in Yara verliebt sind. Aber die Autorin überlässt es der Fantasie der Leserinnen und Leser, welchen Yara wählen wird.

KIRSTIN BREITENFELLNER

Nachdem sein Freund Lampe durch ein Missverständnis inhaftiert wird, flüchtet der 19-jährige Achim mit einem gefälschten Pass von Ostberlin in den Westen. Seine Schwester und ihre Freundin wollen nachkommen.

Nur bei seiner Beinahe-Freundin Chris scheint nicht sicher, auf welcher Seite sie steht. Dann wird Chris gezwungen, als Informantin für die Stasi zu arbeiten.

Bald wird es unmöglich, mit falschen Dokumenten auszureisen. Aber Achim gibt nicht auf. Er schließt

Maja Nielsen: Der Tunnelbauer.

Gerstenberg, 188 S., € 14,40 (ab 13)

JUGENDBÜCHER FALTER 12/24 25
222 S., € 14,40 (ab 13)
Cornelia Franz: Goldene Steine.
Carlsen,
»
jeunesse.at VORVERKAUFS-RABATTE SAISONPASS JUGEND HAT VORRANG SAISON 24  |  25

52 Wochen:

Chroniken aus Kiew und Sankt Petersburg

Ukraine: Nora Krug zeigt in ihrer viel beachteten Graphic Novel, wie eine ukrainische Journalistin und ein russischer Künstler das erste Jahr nach Putins Überfall erlebten

WÜRDIGUNG:

ERICH KLEIN

Kunst und Krieg, das war immer schon ein heikles Thema. Die Klärung der Frage, wer spricht, aus welcher Perspektive über Mord und Gewalt geschrieben oder gemalt wird, ist dabei von nicht geringer Bedeutung. So klar der Zweck aller Arten von Agitprop sein mag, auf welche Quellen sich zum Beispiel Paul Celan bezog, als er 25-jährig seine berühmte „Todesfuge“ über den Holocaust schrieb, ist bis heute nicht vollständig geklärt.

Dementsprechend vorsichtig und ausführlich sind auch die Anmerkungen der deutsch-amerikanischen Künstlerin Nora Krug, Professorin für Buchillustration in New York, in ihrer Einleitung zu „Im Krieg. Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg“. Die „visuelle Journalistin“, wie sich Krug selbst bezeichnet, bat unmittelbar nach dem Überfall von Wladimir Putins Armee auf die Ukraine am 22. Februar 2022 eine ukrainische Journalistin, mit der sie vage bekannt war, und einen russischen Künstler, ihre persönlichen Erlebnisse und Eindrücke festzuhalten. Aus den im Lauf eines Jahres verfertigten Notizen der beiden anonymisierten Protagonistinnen K. und D. über ihre persönlichen Erfahrungen aus mehr oder weniger großer Entfernung zu unmittelbaren Kriegsgeschehnissen entstand eine Graphic Novel, die den Krieg allen von diesem nicht direkt Betroffenen näher bringen soll.

Nora Krugs erste Illustration zum Bericht der ukrainischen Journalistin K. ist das abgeschnittene Bild einer Frau, die einen Vorhang zur Seite zieht: Vor dem Fenster ist ein offenbar abgeschossenes Flugzeug zu sehen, das brennt. „Als ich erfuhr, dass in Kiew der Krieg ausgebrochen war, nahm ich zuallererst ein Bad“, schreibt die ukrainische Journalistin in ihrem ersten Eintrag: Sie habe eine Zeitlang nicht gewusst, wie ihr geschehe, dann sei ihr aber klar geworden, „dass dies das Ende von Putins Russland ist“.

Auf diesen Trommelwirbel gemischter Gefühle folgt die Flucht mit zwei Kindern aus Kiew nach Lwiw, wo K. überfüllte Züge mit Flüchtlingen Richtung Westen und Züge mit Panzern Richtung Osten beobachtet. Das erinnert sie an jene Züge, die im Zweiten Weltkrieg Juden ins Konzentrationslager transportierten: „Ein wenig später deportierten dieselben Züge Menschen aus Lwiw in den Gulag, denn viele von ihnen wurden beschuldigt, Kollaborateure zu sein.“ Ob das dichte Geschichtsnarrativ über die Westukraine im 20. Jahrhundert eine „authentische“ Momentaufnahme von der Flucht darstellt, sei dahingestellt; die ge-

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ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

schichtsträchtig stilisierte Form der Erzählung legt eher das Gegenteil nahe.

Die Geschichte des russischen Counterparts auf der gegenüberliegenden Buchseite ist vordergründig weniger dramatisch: Hände, die Rotweingläser halten, im Hintergrund ein aufgeklappter Laptop. Der Petersburger Künstler D. schreibt: „Schrecklich. Die schlimmsten Tage meines Lebens. Putin richtet mein Land zugrunde. Ich fürchte, viele Leute stehen noch zu ihm. Ich trinke Wein mit meiner Frau und wir sprechen übers Auswandern.“

Die Woche für Woche im Lauf eines Jahres festgehaltenen bruchstückha en Berichte fügen sich dann, wie Nora Krug ausführlich erläutert, zu einer disparaten und zugleich kohärenten Erzählung, um „ein differenziertes und emotionales Verständnis dessen zu finden, wonach die meisten Historiker, Journalisten und Autoren suchen: Wahrheit“. Wie das Leben im Ausnahmezustand des Kriegs so spielt, besteht diese Wahrheit allerdings aus einer Kette von zufälligen Ereignissen. Worin der intellektuelle oder künstlerische Mehrwert der Graphic Novel gegenüber normalen journalistischen Berichten oder Fotoreportagen aus dem Krieg liegen soll, erschließt sich jedenfalls nicht ganz. „Im Krieg“ stellt eher ein sehr gekonntes Lehrstück in Sachen Erzählung über die Schrecken des Krieges dar und ist allein schon deshalb bedenkensund lesenswert.

In der vierten Woche trifft die ukrainische Journalistin mit ihren Kindern in Dänemark ein, allerdings quält sie dort bald das schlechte Gewissen, nicht weiter ihrem Beruf als Kriegsberichterstatterin nachzukommen. In der sechsten Woche kehrt sie in die Ukraine zurück, erfährt von den russischen Massakern in Butscha und Irpin und hält ihren Hass auf die Russen fest, der sich in ihrem Fall mit Selbsthass vermischt. K. berichtet von den Disputen zwischen je-

Als ich erfuhr, dass in Kiew der Krieg ausgebrochen war, nahm ich zuallererst ein Bad

DIE UKRAINISCHE JOURNALISTIN K.

nen Ukrainern, die im Land blieben, und jenen, die die Flucht vorzogen und gelegentlich aus Europa zurückkehren. Sie erinnert sich an frühere Erfahrungen als Journalistin, die seinerzeit von beiden Seiten der Konfliktparteien im Donbas berichtete, und stellt schließlich die Frage nach ihrer eigenen Identität: Im Alter von 13 mit der Mutter, einer „jüdischen Russin“, aus dem russischen Wolgograd auf die Krim übersiedelt, studierte K. später in Moskau, arbeitete dort bei großen Tageszeitungen und erhielt erst 2015 die ukrainische Staatsbürgerscha . „Ich selbst habe mich auch nie als Russin betrachtet.“ Sie fährt mit einem Filmteam an die Fronten im Norden und Süden der Ukraine, ist zunehmend erschöp und hat vor allem Sehnsucht nach ihren Kindern in Dänemark. Erst im fortgeschrittenen ersten Kriegsjahr erhält auch ihr Mann, ebenfalls Journalist und im wehrfähigen Alter, eine Genehmigung für eine Reise nach New York.

Nora Krug: Im Krieg. Penguin, 128 S., € 28,80

Um es vorwegzunehmen: Die Reaktion auf Nora Krugs „Im Krieg“ fiel in der Ukraine nicht ohne massive Kritik aus: „Das Buch enthält Fehler und zeugt von mangelndem Verständnis der Zusammenhänge.“ Der dabei vielleicht wichtigste Kritikpunkt: Krugs ukrainische Journalistin K. sei schon zwei Jahre vor Kriegsbeginn nach Dänemark emigriert und unterscheide sich deshalb ganz wesentlich von der Masse jener Flüchtlinge, die die Ukraine nach den ersten Bombardements durch die Russen ohne Ziel und Plan verlassen mussten.

Nora Krug weist in der Einleitung des Buches mehrfach darauf hin, dass es ihr um die vielfachen „Ambivalenzen“ in den Biografien ihrer Protagonistinnen gehe und um „den krassen Gegensatz zwischen den zwei Erzählungen“, die dieser Krieg hervorbrachte. Dennoch bleibt die Erzählung des Petersburger Künstlers D. eher farblos: Da er als Einziger in der Familie einen Reisepass be-

sitzt und nur er bedroht ist, zum russischen Militär eingezogen zu werden, überlegt er vor allem die Möglichkeiten, Russland zu verlassen. An der finnischen Grenze wird er abgewiesen, mehrere Versuche, über das benachbarte Lettland eine Aufenthaltsgenehmigung in der EU zu erhalten, schlagen fehl.

D. beschreibt die Propagandaflut, die über Russland hereinbricht, und wie er seinen Kindern die Wahrheit dieses Krieges, der in Petersburg praktisch unbemerkt bleibt, erklären könne. Schockiert ist er über die Propagandasprüche des angesehenen Direktors der Ermitage, einem der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt, wonach Russland mit dieser „Spezialoperation“ den Lauf der Weltgeschichte verändere.

Als ihm endlich die Flucht nach Frankreich gelingt, stellt D. wie sein ukrainischer Counterpart die Frage nach der kulturellen Identität und definiert sich als „sibirisch, jüdisch“. Auch er leidet unter der Trennung von der Familie, träumt vom Tod Putins als einziger Rettung und erklärt am Ende: „Der Krieg hat auch gezeigt, dass man seine Regierung in keiner Weise beeinflussen kann. Das ist furchtbar, aber es ist eine Tatsache.“

„Im Krieg“ ist ein anspruchsvolles und zugleich in sich widersprüchliches Buch, trotz Krugs Erklärung, keinen „Raum der Aussöhnung zu schaffen oder die russischen und die ukrainischen Erfahrungen gleichzusetzen“. Ob dieses Vorhaben gelang, müssen die Leserinnen und Leser für sich entscheiden. An der Aufgabe, angemessen mit dem Russland-Ukraine-Krieg umzugehen, ist erst kürzlich der Wiener Festwochen-Zampano Milo Rau ebenso peinlich gescheitert wie US-Präsident Joe Biden, der die Witwe des ermordeten russischen Dissidenten Alexej Navalny neben die ukrainische Präsidentengattin setzen wollte – dabei galt Navalny in der Ukraine vielen als Vertreter eines russischen Nationalismus. F

„Je länger der Krieg dauert, desto trotziger werden viele Russen“

Sabine Adler, langjährige Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunk, beginnt ihren Großessay mit dem Hinweis, Russland habe es Journalisten immer schon schwer gemacht, über das Land unabhängig zu berichten. Seit Putins Amtsantritt werden ausländische Journalisten wieder gegängelt, unabhängige russische Medien wurden mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine endgültig zum Schweigen gebracht. Genau diesen Krieg nimmt die Autorin zum Anlass, über Russlands Zukun nachzudenken.

Kein einfaches Unterfangen, gibt es doch keinerlei gültige Umfragen dazu, was die Russen über den Krieg denken. Das o mals von Politologen ins Spiel gebrachte Drittel, das für diesen Krieg eintritt, neben einem Drittel an Kriegsgegnern und ebenso vielen Indifferenten, könne nur als Richtwert dienen. Also startet die russlanderfahrene Journalistin ihre private Umfrage unter jungen Russen und erschrickt: „Je länger der Krieg dauert, desto trotziger klingen viele Russen, wenn man sie nach ihrer Meinung zum Feldzug gegen das Nachbarland fragt. Tenor: Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es sei ein verrückter Fehler gewesen, den Krieg anzufangen, aber jetzt müsse man ihn gewinnen, sonst würden

Sabine Adler: Was wird aus Russland? Ch. Links, 336 S., € 22,70

die Russen den Kummer der Besiegten erleiden.“ Adler hält wenig von der These, Putin wolle die einstige Sowjetunion wiederherstellen, eher diene der Krieg der Aufrechterhaltung seines autoritären Regimes.

In gut lesbaren Mikroessays analysiert sie den Au au des zentralistischen russischen Staates, der eigentlich eine Föderation sein sollte, und wie es nach den Chaosjahren der russischen Unabhängigkeit zur Wiederkehr jenes „bodenständigen“ Nationalismus kam, der heute das Land beherrscht. Besonderes Augenmerk legt Adler auf die mafiöse Grundstruktur des russischen Staates, die sich mit Putin etablierte. Dessen Hauptakteure beschreibt sie in Einzelporträts – von den Oligarchenbrüdern Rotenberg bis zu Wladislaw Surkow, dem Spindoktor des Ukrainekriegs.

Den interessantesten Teil widmet die Journalistin dem russischen Imperialismus und der Frage des möglichen Zerfalls des größten Flächenstaats der Erde. Dass Russland ein Kolonialreich darstellte, wusste schon Lenin; da es keine „überseeischen“ Kolonien besaß, wurde es aber kaum als solches wahrgenommen. Die unablässige Abfolge kleinerer Kriege seit dem Zerfall der UdSSR hätte die Welt eines Besse-

ren belehren können: In der kürzlich wieder ins Blickfeld geratenen moldawischen Separatistenregion Transnistrien gab es schon 1991 blutige Auseinandersetzungen, in letzter Zeit rumorte es in Teilrepubliken wie Dagestan oder Baschkortostan. „Würde Putin den Krieg in der Ukraine gewinnen und dieser Sieg mit einer territorialen Einverleibung des ukrainischen Staates einhergehen, wäre das Land die erste Kolonie, die Russland im 21. Jahrhundert erobert.“ Adler beschreibt auch Russlands gestiegenes Interesse an 17 afrikanischen Ländern, die Präsenz russischer Söldner und deren Involvierung etwa in den Diamantenhandel. Ein wenig zu kurz kommt die im Buchtitel angekündigte Selbstzerstörung Russlands in ökonomischer Hinsicht. Gazprom und der Internetkonzern Yandex waren unabhängig von Putin zu respektablen internationalen Playern geworden, bevor ihnen der Krieg mehr oder weniger den Garaus machte. Last but not least brachte Putins Krieg Russlands Selbstverständnis als „europäische“ Kultur in schwere Bedrängnis. Adler: „Und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Es sei denn, das Putin-Regime wird massiv bekämp . Von innen und von außen.“ ERICH KLEIN

SACHBUCH FALTER 42/23 27
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Wenn sich zwei streiten

Kultur: In „Von Juden lernen“ zieht Mirna Funk ihre persönlichen Lehren aus der jüdischen Ideengeschichte

Mirna Funk streitet viel. Ob Nahostkonflikt, Sexualität oder Sozialstaat – die deutsch-jüdische Autorin und Journalistin hat jede Menge Meinungen und eckt o an. Warum macht ihr der Streit solchen Spaß?

In ihrem Buch „Von Juden lernen“ erklärt sich die 43-Jährige nun selbst. Nach zwei Romanen, einem Sachbuch über Feminismus und einem Kinderbuch ist es ihr fün es Buch. Acht Theorien der jüdischen Ideengeschichte arbeitet sie darin auf und stellt einen Bezug zur Gegenwart her. Oder genau genommen: zu ihrer Gegenwart.

Mit intimen Anekdoten, um die Theorien verständlicher zu machen, geizt Funk nämlich nicht. Wenn sie die Rolle von Sexualität erklärt, die im Judentum anders als im Christentum nicht als von Sünde beha et gesehen wird, sondern als wichtiger Bestandteil einer guten Beziehung, erfährt man auch von einer ihrer Onlinedating-Bekanntscha en: Der Mann, ebenfalls Jude, hatte eine Rückenpartie, so muskulös, wie sie „normalerweise nur Olympiaschwimmer haben“, und geht nach einer beinah schlaflosen Liebesnacht („während er an meinem Nacken herumknabberte, verlor ich zeitweise das Bewusstsein“) im Handstand durch die Wohnung.

Man erfährt, dass der Mann im Judentum die Pflicht hat, die Frau sexuell zu befriedigen. In der Bibel wird das hebräische

Wort für (er)kennen, „yada“, auch für den Sexualakt verwendet – es geht also um den Dialog. „Niemand kann wissen, welche Fantasien und Bedürfnisse ich habe“, schreibt Funk: „Ich muss diese kommunizieren.“

Funks Plauderton klingt zwar streckenweise etwas berufsjugendlich (da wird zum „Dinner“ geladen, „Money“ benötigt, der Wasserdruck als „nicht bombe“ kritisiert), liest sich aber zügig. Neben der Theologie von nackenknabbernden Sexmaschinen erklärt Funk das Prinzip von „Tikkum Olam“, dem Verbessern der Welt, ebenso wie die Rolle der Frau. Geschickt stellt die studierte Philosophin dabei den Bezug zur westlichen Ideengeschichte von Hegel bis Kant her, ohne besserwisserisch daherzukommen.

Sie führt aus, warum die üble Nachrede im Judentum verpönt ist; als Anschauungsbeispiel dienen Online-Shitstorms, deren Zielscheibe sie gelegentlich wird. Zuletzt geschah das in den Wochen nach den Anschlägen vom 7. Oktober: Versorgt sie auf Instagram ihre 42.000 Follower normalerweise mit einer unterhaltsamen Mischung aus jüdisch-deutschen Debattenbeiträgen, Bikinifotos, Nagellackwerbung und israelischen Nachrichten, so postete sie nun vermehrt über Antisemitismus und ihre Unterstützung für die israelische Armee.

Weil Funk nur einen jüdischen Vater hat, gilt sie nach religiösen Gesetzen nicht als

Mirna Funk: Von Juden lernen. dtv, 160 S., € 18,50

Von Köln bis Odessa und Jerusalem

Jüdin – und führte deshalb im September 2021 die sogenannte Statusanerkennung durch, also den Übertritt zum Judentum. Dabei beschä igte sie sich intensiver mit jüdischen Ideen. „Dieses Buch ist Teil meiner Reise“, schreibt sie. Und das spürt man – vor allem dann, wenn ihre Schlussfolgerungen nicht ganz nachvollziehbar sind.

Im Kapitel über „Zedaka“, das sich als „Gerechtigkeit“ oder „Wohltätigkeit“ übersetzen lässt, erklärt Funk, die höchste Stufe der Wohltätigkeit sei die Hilfe zur Selbsthilfe, kurz: Bildung statt Almosen. So weit, so verständlich. Als Negativbeispiel nennt sie allerdings die österreichische Millionenerbin Marlene Engelhorn, die sich nur über ihr Erbe „beschweren“ würde, „anstatt in der gesamten Republik Privatschulen für Kinder aus prekären Verhältnissen zu eröffnen“. Allerdings setzt sich Engelhorn für eine höhere Besteuerung von Vermögen ein: Hil das nicht auch dem Schulwesen?

Vielleicht lässt die Autorin hier ja absichtlich eine Lücke. Man bekommt nämlich Lust, mit ihr zu diskutieren. Gegen Ende erklärt sie, wie der Streit („machloket“) richtig geht: Wichtig sei das „Aushalten gegensätzlicher Positionen“ und das Ende von Dichotomien sowie der „Obsession, immer und überall moralisch überlegen sein zu wollen“. Das klingt nach einem Streit, der Spaß macht.

Geschichte: Glaube und Ghe o, Mystik und Zionismus – Peter Schäfer erzählt von 2000 Jahren jüdischem Leben in Europa

Aschkenas“ bedeutet Norden: So bezeichneten die Aschkenasen, also die seit dem Mittelalter in Europa ansässigen Juden, ihren Lebensraum in Deutschland. Ihnen widmet Peter Schäfer, der in Köln, Berlin und Princeton lehrte und am Ende der wissenscha lichen Karriere bis 2019 das Jüdische Museum in Berlin leitete, sein Opus magnum. Wie alle bisherigen Werke zeichnet es sich durch klare Sprache, Differenziertheit und kreative Kombinatorik aus.

Das Grundanliegen des Werks „Das aschkenasische Judentum“ ist es, die Vielgestaltigkeit des Judentums von der Antike bis zur Neuzeit hervorzuheben. Ihm geht Schäfer in filigranen Detailstudien und weiten Assoziationsbögen nach. Den Kern bildet die Geschichte der deutschen Juden von der karolingischen Zeit (ab dem 9. Jahrhundert) bis zur Shoah, abschließende Betrachtungen reichen bis in die Gegenwart Israels und zur Diaspora.

Um die Mentalität und geistige Tradition der vor allem im Rheinland siedelnden Juden des Hochmittelalters zu begreifen, holt Schäfer weit aus, bis zu theologischen Formationsprozessen im Alten Testament. Auch setzt er sich mit der geistigen Welt der klassischen Antike in den römischen Kolonien auseinander. Dabei baut er aufsehenerregende Gedankengänge früherer Werke ein: So war der Monotheismus nicht von

Anfang an im Glauben festgeschrieben. Sogar die christliche Trinitätslehre hinterließ in neueren theologischen Strömungen des 3. Jahrhunderts Spuren.

Das Zentrum der Aschkenasen waren Köln und die drei Gemeinden von Mainz, Speyer und Worms. Ab dem 11. Jahrhundert entwickelte sich hier ein reges jüdisches Leben, geistig wie wirtscha lich. Im prekären Gleichgewicht von weltlicher (kaiserlicher, kommunaler) und kirchlicher Macht folgten in raschem Wechsel Blütezeiten und Katastrophen.

Ins kollektive Gedächtnis brannten sich die Pogrome während der Kreuzzüge ein, vor allem jener von 1096: Als Au akt des Kriegs gegen den Islam wurden zunächst die einheimischen Andersgläubigen verfolgt. In der großen Pestepidemie um 1350 mussten Juden als Sündenböcke herhalten und wurden als „Brunnenvergi er“ verleumdet. Eindrucksvoll die Regenerationsfähigkeit, mit der sie die von Gewinnsucht und Aberglauben angefachten Vernichtungswellen überwanden. Peter Schäfer legt Wert darauf, nicht in die, wie er es nennt, „tränenreiche Geschichte“ zu verfallen, die das Opfersein in den Mittelpunkt stellt, er betont vielmehr die kulturellen Leistungen als Reaktion darauf.

Aber bei allem Widerstand: Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Juden über Prag

Peter Schäfer: Das aschkenasische Judentum. Herkun , Blüte, Weg nach Osten. C.H. Beck, 560 S., € 40,10

und Wien mehr und mehr in den Raum zwischen Warschau und Odessa verdrängt. Dort nahm ihre Kultur ein anderes Gesicht an, das des Chassidismus, der ländlicher und von ausgeprägter Frömmigkeit war. Die Schilderung dieser mystischen Strömungen im 19. Jahrhundert bildet eines der faszinierendsten Kapitel des Buches – auch weil deren Einflüsse im heutigen Alltag von Israel bis New York spürbar sind. Sekten bildeten sich heraus, neben dem strikt geregelten täglichen Leben stand esoterisches Feiern, geprägt von Tanz und Gesang. Bis heute treten die Führer solcher Gemeinden als Autoritäten auf.

In Osteuropa wiederum wurden die Juden als mit der Obrigkeit verbundene Kolonisatoren wahrgenommen, was zu immer häufigerer und he igerer Verfolgung führte. Aus dieser Bedrohung erwuchsen weltliche Befreiungsansätze: Während die im 19. Jahrhundert in deutschen Städten wieder angesiedelten Juden sich der bürgerlichen Au lärung anschlossen und dadurch Assimilierung eintrat, fand im Osten neben einem jüdischen Sozialismus der Zionismus seine Anhänger. Diese sahen in Palästina (der ursprünglichen Heimat, einem Raum, zu dem die Beziehung nie ganz abgebrochen war) die einzige Möglichkeit einer gesicherten Zukun . Eine Illusion?

28 FALTER 12/24 SACHBUCH

Kant in Häppchen

Philosophie: Der Autor Daniel Kehlmann und der Philosoph Omri Boehm holen den alten Großmeister in die Gegenwart

Bevor er ein gefeierter Schri steller wurde, hatte Daniel Kehlmann nach dem abgeschlossenen Philosophiestudium eine Dissertation über das Erhabene bei Immanuel Kant begonnen. Die nie fertig wurde, weil ihm sein erster Roman dazwischenkam. Omri Boehm lehrt und forscht als Associate Professor für Philosophie an der renommierten New Yorker New School for Social Research. Der deutsch-israelische Philosoph hat mit seinem Werk „Radikaler Universalismus“ Kants humanistische Ethik neu interpretiert und wurde dafür mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Für Kehlmann hat er Kant damit wiederbelebt: „Der Philosoph, dem ich durch Omri Boehms Vermittlung begegnete, war kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewunden trockener Sätze, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb.“ Zwei Tage lang sprachen die beiden darau in über Kant, Kehlmann auf Deutsch, Boehm auf Englisch. Aus den Aufzeichnungen dieses Dialogs (und der Übersetzung von Boehms Worten ins Deutsche) ist dieses Buch entstanden. Nein: Der Dialog ist das Buch; nachbearbeitet, verdichtet, ein wenig geschliffen wohl, aber ansonsten eins zu eins ein Dialog, in Schri gesetzt wie ein Theaterstück.

Es treten auf: fast alle Themen, um die es Kant ging, in den Hauptrollen die ethischen Antworten auf die Frage „Was soll ich tun?“. Boehm und Kehlmann beginnen mit der Auseinandersetzung zwischen Natur und Freiheit, gehen ihren Weg durch Kants Gedankenuniversum über die Begriffe von Gott und Person bis zur Frage, was Denken sei.

Weiter geht’s zur Kritik der reinen Vernun und deren Vorgeschichte, Kants Auseinandersetzung mit dem Empirismus des David Hume. Hier stellen sie die interessante Frage, ob Kant sein Hauptwerk verfasst habe, um die Gedanken der Au lä-

rung vor der reinen Lehre des englischen Empirikers zu schützen, vor allem vor Humes Negation jedweder Kausalität.

Der Abschnitt, in dem die beiden über Erkenntnistheorie sprechen, bringt denen, die Kants Kategorien schon einmal verstanden haben, eine angenehme Wiederholungsstunde. Für jene, die noch nicht die notwendige Muße hatten, über „synthetische Urteile a priori“ nachzudenken, ist es die Gelegenheit, dies hier in kürzerer Zeit und mit kürzeren Sätzen als im Original zu tun. Nach einem Akt über des Großmeisters schönste Fragen zur Ästhetik landet der Dialog samt Leser wieder bei der Ethik.

Wir erfahren, warum der berühmte „kategorische Imperativ“ – Kants Anspruch, dass jede Handlung einer Maxime folgen müsse, die ohne Ausnahme für alle gelten könne –, auch für himmlische Wesen und die „denkenden Ozeane“ aus Stanislaw Lems phantastischem Roman „Solaris“ gelten muss. Kniffliger wird es bei der Frage, ob man aus Menschenliebe lügen dürfe – die wohl alle Humanisten mit Ja beantworten, sobald es um das Verstecken eines Unschuldigen vor den Schergen eines totalitären Regimes geht. Doch Kant denkt anders –kategorisch. Der Grundsatz, die Wahrheit zu sagen, sei das Fundament der Vernun Die Vorstellung, dass Menschen überlegen, wann sie eine Verpflichtung zur Wahrheit hätten, würde Kant als ein Untergraben der Vernun und damit des menschlichen Miteinanders sehen. Zwischendurch darf es auch mal um die schri stellerische Kompetenz des als komplex geltenden Kant gehen – wie Kehlmann meint: „Zu Beginn konnte er noch gut schreiben. Dann hatte er Wichtigeres im Sinn als Stil.“

Die beiden Autoren bilden mit dem großen Philosophen ein Dreieck – wie mit einem fernen Punkt am Sternenhimmel, den Kant so o betrachtete und bewunderte. Immer wieder dürfen auch andere Philosophen wie David Hume, Friedrich Nietzsche oder Martin Heidegger diesen dritten,

MUS NALIS JOUR

Omri Boehm und Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant. Propyläen, 352 S., € 26,80

fernen Standpunkt einnehmen. Gelegentlich stehen auch Schri steller im Fokus: Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski lassen grüßen. Und manchmal erinnern sich die Autoren kleiner Dramen der Philosophiegeschichte: etwa, wenn die alten Freunde Friedrich Heinrich Jacobi und Gotthold Ephraim Lessing über die Gottesvorstellungen von Gottfried-Wilhelm Leibniz und Baruch de Spinoza streiten.

Das erfüllt die Lektüre mit Leben und macht sie weit mitreißender als viele Regalmeter von Werken, die über Kant dozieren; manche mögen sogar meinen, lebendiger als die Originale des großen Immanuel. Andererseits bleibt in diesem Konstrukt kein Eckpunkt mehr für die Leser:innen. Wären diese bei klassischer Wissensvermittlung der dritte Punkt des Dreiecks – gegenüber dem Autor und dem Thema –, ist der Leser hier Zuschauer eines Trialogs. Doch in diesem Zuschauen liegt ein eigener Reiz, ähnlich jenem, den Kant selbst in seinen Betrachtungen des „dynamisch Erhabenen“ in der „Kritik der Urteilskra “ beschrieben hat. Dort bringt er das Beispiel eines Beobachters, der auf einer Klippe sitzend ein Schiff auf dem stürmischen Meer beobachtet. Das Meer ist naturgemäß um ein Vielfaches stärker als das Schiff. „Dabei empfindet dieser Zuschauer ein Gefühl der Erhabenheit“, meint Kehlmann. „Kant sagt ausdrücklich […], dass man Zuschauer sein muss, um diese Erhabenheit zu empfinden. Wer auf dem Schiff ist, empfindet sie nicht.“ Ob man Letzteres als Leser vielleicht doch spannender fände, bleibt Geschmackssache.

„Der bestirnte Himmel über mir“ bietet Philosophiegeschichte im Kaleidoskop, doch in klarem Zusammenhang zu den Thesen Kants und zu sehr gegenwärtigen ethischen Fragen. Boehm und Kehlmann gelingt eine Auseinandersetzung mit einem der größten Denker, die zugleich lebendig und erhaben wirkt – und bei manch aktueller Frage sogar aufregend.

ANDREAS KREMLA

SO FUNKTIONIERT ÖSTERREICHS MEDIENWELT

Harald Fidler

Über Mechanismen, Machtspiele und die Zukunft der Medien

232 Seiten, € 24,90

SACHBUCH FALTER 12/24 29
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„Es schläft sich nicht gut im Anthropozän“

Natur: Der Soziologe Nikolaj Schultz über das Lebensgefühl in der Klimakrise: „wie eine Spinne, die andere fängt und frisst“

Er gilt als große Hoffnung der Soziologie, und über sein Erstlingswerk sagte der Philosoph Slavoj Žižek: „Wenn uns ein Buch zum dringend notwendigen ökologischen Engagement mobilisieren kann, dann dieses.“ Nikolaj Schultz, 34, gebürtiger Däne, stürmte nach Paris, nachdem er die Werke des Soziologen und Philosophen Bruno Latour gelesen hatte, der sich schon lange mit dem Klimawandel befasste: Sie hatten ihn elektrisiert. Die beiden freundeten sich an, Latour schrieb sogar sein letztes Buch kurz vor seinem Tod im Herbst 2022 zusammen mit seinem jungen Compagnon: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum.“ Die Frankfurter Rundschau nannte es „Ein Manifest für die ,Letzte Generation‘“. Die These: So wie einst die Arbeiterklasse sozialen Fortschritt erkämpfte, so müsse nun eine ökologische Klasse die Führung übernehmen.

In Schultz’ Solo-Werk „Landkrank“ beschreibt der Autor mit den strubbeligen Haaren das Lebensgefühl jener Menschen, denen bewusst ist, dass wir mit der Klimakrise gerade in eine neue Epoche eintreten und dass zumindest jeder im Wohlstand lebende Mensch sie befeuert, ob er will oder nicht. Bewusst liefert Schultz in seinem literarischen Essay keine Klimadaten, solche füllen seiner Meinung nach schon genug Papier. Er setzt konsequent auf das Ich.

Zu Beginn wälzt Schultz’ Alter Ego sich schlaflos in seiner Pariser Wohnung: Eine Hitzewelle drückt auf die Stadt. Doch womit er sich auch helfen will, überall flüstert ihm entgegen: Du selbst bist das Problem. „Der Ventilator, ohne den ich nicht schlafen kann, treibt meinen Energieverbrauch massiv in die Höhe und sorgt für noch mehr CO2 in der Atmosphäre [...] Die Abkühlung meines Körpers hat ihren Preis – den wahrscheinlich zuerst und am he igsten jemand anderes zahlen wird, am ehesten irgendwo im globalen Süden.“ Auch als er seinen Koffer packt, um der Einladung eines Freundes auf die Insel Porquerolles zu folgen und für

Nikolaj Schultz: Landkrank. Suhrkamp, 122 S., € 15,50

kurze Zeit allem zu entfliehen, blicken ihm nur Vorwürfe entgegen. Für jedes T-Shirt seien 2700 Liter Wasser draufgegangen, für die Jeans noch mehr. Es komme ihm vor, als „existierte ich von anderen und ernährte mich wie eine Spinne im Netz, indem ich die anderen finge und fräße“.

Nun segelt er also übers Meer, Wasser, so weit er schaut. Die inneren Stimmen geben aber weiter keine Ruhe. Ein halbes Jahrhundert kreuzt das Boot der Familie schon über den Ozean, erzählt der Freund, und schon rattert es in Schultzens Kopf: In dieser Zeit verlor das Mittelmeer die Häl e seiner Säugetierpopulation und ein Drittel seiner Fischarten. Die Bootsfahrten gaben auch den Anstoß zum Buchtitel: „Landkrank“ nennt man den Zustand, wenn jemand nach einiger Zeit auf dem Wasser wieder festen Boden unter den Füßen hat, doch dieser zu schwanken scheint. Am Sandstrand, denkt der Autor, makellos und weit weg von allem, wird er sich endlich entspannen.

Doch auch daraus wird nichts. Gleich fragt ihn eine alte Frau, ob er bitte weggehen könne. Sie wohne schon ihr ganzes Leben auf der Insel, doch finde sie wegen der vielen Touristen keinen Platz mehr.

Es gibt also keinen Fluchtpunkt mehr auf dieser Erde, wohin man auch rennt, die Umweltkrise ist schon da. Im Gegenteil: Die Reise verschär die Schuldgefühle des Autors. Tankschiffe bringen Trinkwasser auf die Insel, weil das immer wieder knapp wird. Ein Insulaner, den Schultz kennenlernt – Laurent –, zeigt ihm den meistbesuchten Strand: Plage d’argent, Silberstrand, den die Einheimischen allerdings nur noch „Staphylokokkenstrand“ nennen, wegen der zur Hochsaison gefährlich hohen Bakterienkonzentration. Schultz kommt an einer Schlange von Touristen vorbei, die auf die Fähre warten. „Wie ich sind sie für einen Augenblick geflohen, und nun müssen sie heimkehren, doch ihre Fußabdrücke werden von Dauer sein. […] Selbst nach ihrer Abfahrt hat die Insel ihr Gewicht zu tragen.“

Und was jetzt, Herr Schultz?

Auch in diesem Essay grei der Autor Ideen aus dem Buch über die ökologische Klasse auf: etwa, dass das Bild vom autonomen Individuum in Scherben liegt. Auch sieht er in den Inselbewohnern eine mögliche neue („geosoziale“) Klasse. Deren Basis liege „nicht in ihrer ökonomischen, sondern ihrer territorialen Stellung. Das führt zu ungewöhnlichen Allianzen.“ Laurent und die alte Frau „mögen jeweils einen ganz unterschiedlichen ökonomischen Status haben, […] doch hinsichtlich der territorialen Zugehörigkeit sind sie Verbündete.“

Manches bleibt vage: Wie hängen geosoziale und ökologische Klasse zusammen? Wer gehört wozu? Die alte Insulanerin zählt Schultz zur neuen geosozialen Klasse, zur eigenen Großmutter heißt es dagegen: „Individuell ist auch sie Opfer einer planetarischen Metastase. Kollektiv gebe ich ihr und ihrer Generation die Schuld daran.“ Aber ist es so einfach? Viele aus der Nachkriegsgeneration verursach(t)en dank bescheidenem Lebensstil wohl viel weniger Emissionen, als manche von Schultz’ Altersgenossen dies heute tun. Und was ist mit der Elterngeneration? Auch was die neuen Klassen nun tun sollen, bleibt offen.

Dennoch ist „Landkrank“ anregender Lesestoff: Beschreibt es doch ein Lebensgefühl, das immer mehr Menschen spüren und das wohl noch vor zehn Jahren kaum existierte. Und dies in einer poetischen Sprache, die die schwere Kost (v)erträglich macht. Vielleicht braucht es auch einfach einmal das Innehalten, die Trauer über das Verschwundene und Verschwindende. Die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die das Vorwort beisteuert, schreibt: „Man kann ,Landkrank‘ als ein trauriges Buch lesen, aber ich finde es radikal hoffnungsvoll. Dort, in der Dunkelheit, [...], dort werden wir ehrlich. […] Und von dort aus, von der echten Dunkelheit aus, kann es nur heller werden. Was für ein Versprechen.“ GERLINDE PÖLSLER

30 FALTER 12/24 SACHBUCH
ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Das wa engewaltigste Land des Westens

USA: Romanautor Paul Auster hat einen Essay über die Wa ff enverliebtheit seiner Landsleute geschrieben

Das Bild des Grauens zeigt eine Wiese in Oregon mit drei Bäumen. Das Umpqua Community College, das darauf stand, wurde abgerissen, nachdem ein Student zehn Menschen erschossen hatte. Bilder der Leere wechseln mit Texten über Kugeln und deren blutige Folgen. Paul Auster, einer der größten Gegenwartsautoren der USA, schreibt über den Schusswaffengebrauch der Amerikaner. Spencer Ostrander hat die Orte fotografiert, an denen diese Blutbäder angerichtet haben – nachdem alle Spuren beseitigt sind. Der junge Fotograf scheint die Vorliebe des alten Autors für einfache, eindringliche Bilder zu teilen. Einen ganzen Bildband hat er über den Times Square im Regen fotografiert. Auch mit Auster selbst hat er schon zuvor gearbeitet („Long Live King Kobe: Following the Murder of Tyler Kobe Nichols“ über einen jungen Mann, der an einem Heiligen Abend auf der Straße niedergestochen wurde).

Über nordamerikanische Sitten und Gebräuche hat Auster in seinen Romanen schon o geschrieben. Deren Leser finden hier erstaunlich viel autobiografischen Hintergrund zu wiederkehrenden Themen wie Baseball, Basketball und anwesend-abwesenden Vätern. Über Waffen äußerte er sich in seinem belletristischen Werk bisher selten. Nun betrachtet er das heiße Thema essayistisch von allen Seiten. Er erinnert sich an ein Erlebnis in seiner Jugend beim Tontaubenschießen und an nahezu euphorische Emotionen: „Dieses Gefühl, mit etwas oder jemand weit Entferntem verbunden zu sein, einen Ball werfen oder eine Kugel abfeuern und ins Schwarze treffen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen […]“.

Dysphorisch stimmen die Zahlen und Fakten, die er gesammelt hat: Das Risiko eines US-Amerikaners, angeschossen zu werden, liege 25-mal höher als in anderen „hoch entwickelt genannten“ Ländern. Über 100 Menschen werden in diesem Land, das über mehr Schusswaffen als Einwohner:innen verfügt, an einem durchschnittlichen Tag erschossen. Das sind in etwa gleich viele, wie durch Autounfälle ums Leben kommen, laut Auster kein zufälliger Zusammenhang: „Autos und Schusswaffen sind die zwei tragenden Säulen unseres nationalen Mythos, denn Auto und Schusswaffe stehen für Freiheit und individuelle Selbstermächtigung.“

In diesem großen Essay stellt Paul Auster nicht nur die gegenwärtige Realität in den USA dar, sondern auch deren Entwicklung zum „gewalttätigsten Land der westlichen Welt“: von der Selbstverteidigung der ers-

ten Siedler über die Gemetzel an der indigenen Bevölkerung und die mit vielen Waffen erkämp e Unabhängigkeit bis zum Höhenflug der NRA, der National Rifle Association. Bei dieser Erklärung des „Woher?“ erstaunt er mit historischen Querverbindungen: So seien die amerikanischen Polizeieinheiten aus den „Sklavenstreifen“, die entflohene Leibeigene brutal zurückholten, entstanden. Die in manchen Bundesstaaten mit wehenden Konföderiertenflaggen gepflegte Südstaatenglorifizierung vergleicht Auster mit offen zur Schau getragener Nazi-Nostalgie. Noch überraschender wird es beim „Wohin?“: Die Sammlung schockierender statistischer Superlative; die herzzerreißenden Einzelschicksale wie jenes der Überlebenden eines Massakers in Las Vegas, die im Jahr darauf gezielt vom nächsten Amokläufer niedergemetzelt wurden; die höchst kritischen Betrachtungen über seine Landsleute – all das scheint darauf hinzusteuern, dass Auster ein Schusswaffenverbot fordert. Doch dann plädiert er für wenig restriktive Regulative, um nicht den historischen Fehler der Prohibition zu wiederholen und das Verbotene noch attraktiver zu machen. Der Schlüssel zu einer friedlicheren Zukun sei die Auseinandersetzung der US-Amerikaner mit ihrer Geschichte, also der Bewältigung einer gewalttätigen Vergangenheit.

Und dazwischen schweigen immer wieder seitenlang Ostranders Schwarzweißbilder leerer Plätze, an denen Menschen mit Schüssen mitten aus dem Leben gerissen wurden.

Durch all die harten Fakten schimmert die vielleicht größte Stärke des gelassen mit ruhiger Hand schreibenden Autors: sein Einfühlungsvermögen. Stets versucht er zu verstehen. Zu erklären. Zu belegen, was hier im Inneren geschehen sein könnte, bevor die Katastrophe im Außen geschah – etwa mit Zitaten aus den Briefen des Mörders am Umpqua College. In einer Zusammenschau schockierender Zahlen, großer historischer Zusammenhänge, kleiner eigener Erlebnisse und berührender Bilder gelingt es Auster und Ostrander, ein überwältigendes Thema mental handhabbar zu machen. ANDREAS KREMLA

Paul Auster: Bloodbath Nation. Mit Fotos von Spencer Ostrander. Rowohlt, 192 S., € 26,80

Werkzeug, Gefährtin –oder Beherrscherin?

Technologie: Wir müssen nicht fürchten, als Menschen abgescha ff t zu werden, beruhigen zwei Forscherinnen

Künstliche Intelligenz ist allgegenwärtig: zur Personalisierung von Suchmaschinen und Gesichtserkennung, zur Steuerung von Robotern, Verbesserung von Klimamodellen und für medizinische Diagnostik. Laien verwenden sie einfach; abstrakte Diskurse über eine eventuell überlegene Denkfähigkeit „intelligenter“ Maschinen und deren damit einhergehende Möglichkeit, Macht über Menschen zu erlangen, beschä igen sie wenig.

Zumindest war das bis Ende 2022 so: Da ging das System namens ChatGPT wie ein Gespenst um die Welt und zwang auch das Laienpublikum, sich Fragen zu stellen wie: Können Maschinen nicht nur besser rechnen und Daten auswerten, sondern auch besser „denken“ als Menschen?

»Die neuen KI-Systeme werden zu Dampfmaschinen des Geistes

Können sie irgendwann gar, so wie menschliches Bewusstsein, wirklich „intelligent“ und kreativ sein?

Erstmals ist KI für jeden verfügbar, und „alles verändert sich überall und auf einmal“, so Miriam Meckel und Léa Steinacker. Beide sind weder Technikerinnen noch Philosophinnen, sondern befassen sich praktisch wie theoretisch mit den möglichen Folgen der KI für Leben und Selbstverständnis des Einzelnen. Meckel, ehemalige Chefredakteurin der Wirtscha swoche, ist Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Steinacker ist Sozialwissenscha lerin und Unternehmerin. Das Buch der beiden eignet sich für ein Publikum, das sich wenig für technische Grundlagen interessiert oder für Reflexionen darüber, was KI uns über das Denken lehren kann, das jedoch verstehen will, welche Chancen und Gefahren die Durchdringung unserer Kultur mit KI mit sich bringt.

ChatGPT vermag sekundenschnell Texte nahezu beliebiger Art und Thematik so zu produzieren, dass sie erstaunlich menschlich, originell oder stilistisch gekonnt klingen: Beispielsweise kann das Tool ein im Stil Shakespeares gehaltenes Gedicht über das Dilemma der Digitalisierung schreiben. Einen Entwurf für eine Unternehmensstrategie bringt es

ebenso zuwege wie Kalauer oder Antworten auf philosophische Fragen. Systeme wie ChatGPT, die die Funktionsweise neuronaler Netzwerke imitieren, sind in Grenzen lernfähig: Sie werden nicht programmiert, sondern „trainiert“, indem sie meist selbstständig in riesigen Datenmassen Regeln (bzw. Wahrscheinlichkeiten) der Verknüpfung von Worten (oder sonstigen Daten) finden. Das reproduziert naturgemäß Stereotype und Klischees. Und weil solche Systeme (noch) nicht zwischen Fiktion und Fakten unterscheiden können und auch keine moralischen Bedenken kennen, ist entscheidend, welche Daten zum Trainieren eingespeist werden. Dass die meisten dies nicht offenlegen, ist daher Gegenstand juristischer und politischer Auseinandersetzungen. Darüber informiert das Buch wünschenswert leserfreundlich.

Die Neigung des Menschen, „intelligente“, ja sogar dialogfähige Maschinen wie seinesgleichen zu behandeln, ist für die Autorinnen lediglich ein psychologisches Problem. Ginge es nach ihnen, wäre KI nie mehr als ein komfortsteigerndes Werkzeug: „Jenseits von Untergangsszenarien und Techno-Utopien muss es stets darum gehen, den Menschen durch künstliche Intelligenz zu unterstützen, zu bestärken und besser zu machen, nicht aber sukzessive durch KI zu ersetzen. Wir haben zu Beginn argumentiert, dass ‚angereicherte Intelligenz‘ oder ‚maschinelle Nützlichkeit‘ bessere Begriffe wären für eine Technologie, die letztlich ein Werkzeug ist.“

Das ist allerdings keine Hypothese, sondern ein frommer Wunsch, der die erkenntnistheoretische Dimension einfach ausblendet. Wenn die Autorinnen am Ende ihr erhofftes Szenario der Zukun mit KI skizzieren, ist diese denn auch so banal wie ein Werbefilm: KI-Roboter sind nützliche Helfer im Haushalt. KI hat Energieund Rohstoffprobleme gelöst, sodass man unbelastet von ökologischen Bedenken um die Welt fliegen kann. KI macht, dass man, ohne aus dem Haus zu gehen, virtuell neue Kleider austesten kann. Kurz: Das Buch formuliert weniger eine Zukun sutopie, als dass es den Konsumismus von heute träumt, der sich dank KI ungehemmt steigern lässt.

Miriam Meckel, Léa Steinacker: Alles überall auf einmal. Rowohlt, 400 S., € 26,80

SACHBUCH FALTER 12/24 31

Seid verschlungen, Millionen

NS-Zeit: „Todeswalzer“ widmet sich dem Sommer 1944, als das blutigste Kapitel des Zweiten Weltkriegs begann

Der letzte Kriegssommer 1944 ist heuer 80 Jahre her. Es ist der Sommer, in dem die 15-jährige Anne Frank nach zweieinhalb Jahren in einem Hinterhausversteck in der Amsterdamer Prinsengracht verraten und von der SS ins KZ Bergen-Belsen verschleppt wird. Im selben Sommer kehrt der französische Pilot Antoine de Saint-Exupéry nicht mehr von einem Au lärungsflug zurück, und der junge Alfred Andersch, Obersoldat in der deutschen Infanterie, wir während des deutschen Rückzugs seinen Karabiner in ein süditalienisches Getreidefeld und desertiert mit dem Ziel US-Kriegsgefangenscha . Der 17-jährige jüdische Vollwaise Hans Rosenthal, der zum TV-Showmaster der Bundesrepublik werden sollte, betrachtet nachts aus seinem Versteck in einer Berliner Kleingartensiedlung die Kondensstreifen der alliierten Bomber, die Richtung Stadtzentrum über ihn hinwegziehen, als „Lichtzeichen aus einer besseren Welt“.

Während im Sommer 1944 in Paris schon die Befreiung begonnen hat, werden bis zum Ende der NSDiktatur im Mai 1945 noch mehr Menschen sterben als in allen fünf Kriegsjahren davor. In diesen Monaten wendet sich der von Deutschland entfachte Weltkrieg an drei Fronten in Form alliierter Bomben, Invasionen und Schlachten endgültig gegen seinen Ausgangspunkt zurück. Das Nazi-Regime reagiert, indem es den „totalen Krieg“ und einen letzten, irren „Todeswalzer“ ausru . „Todeswalzer“, so auch der Titel von Christian Bommarius’ meisterlichem Buch-Kaleidoskop über diesen großen, abschließenden Veitstanz des Zweiten Weltkriegs. In komplexem Rhythmus wechselt der Berliner Publizist, Jurist und Erzähler darin die Schauplätze und die erzählenden Personen und fügt Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen zu einem multiperspektivischen (Zeit-) Historienbild zusammen, dessen „Gleichzeitigkeit des Mordens und der Lebensfreude“ einen beim Lesen zunehmend mitnimmt.

Über die letzten zehn Kriegsmonate ist schon sehr viel geschrieben worden. Was an Bommarius’ Buch so beeindruckt, ist die Neuverwebung all dessen – der Dokumente und Tagebucheintragungen, der Reden- und Briefauszüge, der Gerichtsprotokolle, Propaganda- und Widerstandsstimmen, der Zeitzeugen- und Zeitungsberichte – zu einem mitreißenden Strudel an Kriegserleben. Bommarius erzählt buchstäblich hunderte Geschichten und tut das in solcher Plastizität, dass einem die Lu wegbleibt angesichts der Eskalation des Grauens und der Verdichtung von Ausnahmezuständen allerorten.

Denn im Sommer 1944 befiehlt Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels als neuer „Generalbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“, sofort alle Krä e der deutschen Gesellscha – alt und jung, tauglich oder nicht – für den Fronteinsatz und die Kriegsindustrie freizusetzen. Deutschland wir alles, was es noch hat, in den Dreifrontenkrieg gegen die Alliierten.

Die deutschen Schlachtniederlagen sind vernichtend, der Krieg ist schon seit einiger Zeit für alle sichtbar verloren. Doch umso lauter tobt die Propagandaschlacht der Nazis, umso wütender dreht sich die deutsche Mordmaschinerie gegen Partisanen, Zivilbevölkerung, Zwangsarbeiter und KZ-Deportierte.

Bommarius hat ein ganz besonderes Sensorium für die euphemistische, pathetische Sprache der NaziDiktatur und entlarvt sie, wo er nur kann. Wenn es in einem Befehl von SS-Reichsführer Heinrich Himmler heißt, es sei „für uns SS-Männer eine freudige Ehrenpflicht, dass wir auf dem Obersalzberg die Lu schutzräume erstellen dürfen“, höhnt Bommarius, dass die SS „die Erfüllung der freudigen Ehrenpflicht im Wesentlichen Fremdarbeitern überlassen“ habe. Und wenn Hitler im Sommer ’44 in großem Stil an den Fronten Generäle und Offiziere austauscht, um die vor der Kriegskatastrophe warnenden Stimmen unter ihnen nicht ans eigene Ohr dringen zu lassen, kommentiert Bommarius das so: „Die Ursache der desolaten Lage hat Hitler wie stets sofort erkannt: die Unfähigkeit der Generäle.“

Der entlarvte Diktator auf seinen verblendeten Irrwegen, der doch noch Millionen in den Untergang schickt: Während der Lektüre von Bommarius’ „Todeswalzer“ fährt einem der Schrecken dieser unfassbaren Wirklichkeit so richtig in die Glieder. Denn der Sommer 1944 war vor allem eines: der Au akt zu einem Massensterben, bevor Nazi-Deutschland endlich kapitulieren wird. Bommarius: „Und bis zur Einsicht der Deutschen, dass der Untergang der Diktatur und das Ende des Krieges der Beginn ihrer Befreiung war, werden noch Jahrzehnte vergehen.“

Kunstsinnige Kaufleute und Dürers Selfie

Geschichte: Ulinka Rublack legt eine meisterha e Studie über Kunst, Kommerz und Konsum zu Zeiten Dürers vor

Wie entstehen Moden, Geschmäcker, der Sinn für Kunst und „das Schöne“? Ästhetische Vorlieben fallen nicht vom Himmel, sie sind ein Produkt historischer Prozesse, sagt die Historikerin Ulinka Rublack. Als Ausgangspunkt dient ihr Dürers Heller-Altar (entstanden um 1509, verbrannt 1724). In diesem Bild von Marias Himmelfahrt platziert sich Dürer selbst mitten in die biblische Landscha : wohlfrisiert und modisch einwandfrei. So setzt sich der Künstler selbstbewusst ein Denkmal, während er den Sti er des Altarbildes, den Frankfurter Kaufmann Jakob Heller, nur als blasse Randfigur zeigt.

Das Verhältnis von Kunst und Kommerz ist aber wesentlich komplexer, wie Rublacks Buch „Dürer im Zeitalter der Wunder“ zeigt. Dieser gedruckte Ziegel enthält drei Bücher in einem. Das erste handelt vom zunehmend zerrütteten Verhältnis zwi-

»

Künstler verhielten sich mehr wie Kaufleute und Kaufleute mehr wie Kunstschaff ende

schen Dürer (das Bild wird teurer!) und seinem Au raggeber Heller (wann ist es endlich fertig?); das zweite vom Augsburger Kaufmann Hans Fugger und seinem „Kunden“ Wilhelm V., der das Herzogtum Bayern durch seine Vorliebe für schöne Dinge in den Bankrott trieb. Im dritten geht es um den Augsburger Kunsthändler Philipp Hainhofer, der hohe Herren in halb Europa mit Luxusgütern versorgte, darunter Wilhelms Sohn und Nachfolger Maximilian I., der 1614 Dürers Frankfurter Tafelbild für seine Kunstsammlung ergatterte, womit sich der Kreis schließt.

als provinziell und unoriginell verschrienen deutschen Renaissance. Im Zeitraum von 1500 bis zum Dreißigjährigen Krieg entstand erstmals ein europäischer Markt für Kunst. Die deutschen Reichsstädte und Höfe waren in stetem Austausch mit Norditalien, aber auch mit Antwerpen und Amsterdam. Luxusgüter aus Amerika und Asien waren der letzte Schrei.

Reiche Bürger und Fürsten wurden zu leidenscha lichen Sammlern, Wunderkammern und Gemäldegalerien entstanden als Orte exklusiver Geselligkeit. So waren Kunst und Handel auch engstens mit der Politik verwoben. Gerade im religiös tief gespaltenen Deutschen Reich erlaubte das feingeistige Gespräch, das gemeinsame Betrachten eines Dürer oder Cranach überkonfessionelle Kontakte. Hainhofer handelte nicht nur mit exquisiten Objekten, sondern auch mit politischen Neuigkeiten, agierte als Vermittler und Spion. „Die Kunstliebhaber stilisierten sich zu tugendha en Eliten, die die Klu zwischen Protestanten und Katholiken überbrückten“, so Rublack.

Christian Bommarius:

Todeswalzer.

Der Sommer 1944. dtv, 316 S., € 26,80

Dank dieser drei Fallstudien und dem geschickt gewählten Personal –Künstler, Kaufleute und Herrscher, aber auch Humanisten und Handwerker – kann Rublack fragen, wie innovative Kunst und neue Konsumgewohnheiten entstehen. Ihre überzeugend herausgearbeitete These: Kunst und Kommerz sind eng verzahnt und treiben einander voran. Künstler wie Dürer mussten lernen, geschä stüchtig zu sein, während Kaufleute wie Fugger und Hainhofer großen Kunstsinn bewiesen. Rublacks Buch ist auch eine Rehabilitation der

Das Buch liest sich trotz der komplexen Thematik flüssig. Rublack hat einen ganz eigenen Stil: unaufgeregt, präzise, gelehrt und doch unprätentiös. Sie liefert psychologisch einfühlsame Porträts ihrer Protagonisten, vor allem aber gelingt es ihr, die zahlreichen Kunst- und Konsumgegenstände so anschaulich zu beschreiben, dass die Lektüre selbst zum Genuss wird. Als da wären: Tapeten aus Leder, eingefärbte Vogelfedern auf Hüten, künstliche Zöpfe, Seidenstrümpfe, Rosenparfüms, Eisbärenfelle und „indianische“ Hölzer. Wunderwurzeln aus der neuen Welt, Trüffel, Spargel, Kakao und zuckerhaltige Konfekte verfeinerten die europäische Küche und Apotheke. Auch wie Dürer seine Farben mischte oder Hainhofer Miniaturbauernhöfe samt winzigem Federvieh bastelte, schildert Rublack sinnfällig. Es zirkulierten also nicht nur die wertvollen Objekte selbst, sondern auch das Wissen um deren Herstellung: ein zentraler Mechanismus kultureller Innovation und der Startschuss für die sich entwickelnde Warenwelt. Über 70 exquisite Farbabbildungen zeigt das Buch obendrauf.

Ulinka Rublack: D ü rer im Zeitalter der Wunder. Kunst und Gesellscha an der Schwelle zur globalen Welt. Kle -Co a, 640 S.,

32 FALTER 12/24 SACHBUCH
43,20

Und wenn sich die Geschichte doch wiederholt?

Zweiter Weltkrieg: Daniel Finkelstein erzählt vom Überleben seiner Familie während der Terrorregimes von Hitler und Stalin

Der renommierte britische Journalist

Daniel Finkelstein, Kommentator für The Jewish Chronicle und The Times, deren Chefredakteur er viele Jahre war, hielt an seinem 50. Geburtstag vor der versammelten Familie eine optimistische Rede. Seine Eltern und Großeltern hätten alles verloren und in einem fremden Land und einer fremden Sprache neu anfangen müssen. Dagegen seien er selbst, seine Geschwister und Nachkommen gefeit, meinte er damals, vor gut zehn Jahren.

Heute, gesteht Finkelstein, sei seine diesbezügliche Gewissheit „etwas angekratzt“. Und genau das stellt den Grund dar, dass er sich entschlossen hat, von der Verfolgung und dem Überleben seiner Familienmitglieder während des Stalinismus und der Naziherrscha zu erzählen.

In Großbritannien bereits im Juni 2023 erschienen, hat „Hitler, Stalin, meine Eltern & ich“ mit dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten im Oktober 2023 und dessen Folgen noch mehr an Aktualität gewonnen.

Finkelstein hat viel historische Recherchearbeit auf sich genommen. Aber auch das Archiv der Familie gab stupende Dokumente und Zeugnisse her. Mit Gefühl für Dramaturgie und einer gehörigen Portion Lakonie hat er mit diesem 500-Seiten-Wälzer ein eminentes Zeitdokument geschaffen, das sich liest wie ein Roman und dabei tief zu Herzen geht.

Er beginnt seine Geschichte mit seinem Großvater mütterlicherseits, dem Publizisten Alfred Wiener (1885–1965). Dessen umfangreiche und einzigartige Dokumentation von Nazi-Schri tum, die heute so genannte Wiener Library, diente den Alliierten im Informationskrieg gegen Hitler. Und trug noch in den 1960ern zur Verha ung und Verurteilung etwa von Adolf Eichmann und Josef Mengele bei, dem „Arzt, Folterer und Mörder von Auschwitz“. Niemand wusste, wie Letzterer „eigentlich aussah. Die Library hatte ein Bild.“

Früher als andere hatte Wiener die „heraufdämmernde Katastrophe“ des Antisemitismus erkannt und begonnen, Dokumente zu sammeln. In einem aufsehenerregenden, aber letztlich erfolglosen Prozess in Bern im Jahr 1934 konnte er beweisen, dass die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ eine Fälschung waren – bekanntlich kursieren sie heute noch und sind in der arabischen Welt, aber auch bei westlichen Verschwörungstheoretikern populär.

1934 zog die Familie, aus Deutschland ausgebürgert, nach Amsterdam. Alfred Wiener hielt sich gerade in London auf, als seine Frau und die drei Töchter im Juni 1943 in das niederländische NS-Konzentrationslager Westerbork und im Jänner 1944 nach Bergen-Belsen deportiert wurden. Letzteres bedeutete einen Hoffnungsschimmer, denn Grete Wiener und ihre Töchter kamen mit (gefälschten) paraguayischen Pässen für den sogenannten „Palästina-Austausch“ gegen deutsche Staatsbürger infrage, der von Bergen-Belsen aus organisiert wurde.

Das kaum mehr Erwartete, Unwahrscheinliche geschah ein qualvolles Jahr später. Im Jänner 1945 konnte Grete mit Eva, Ruth und Mirjam, der späteren Mutter von Daniel Finkelstein, in die Schweiz ausreisen. Grete starb direkt nach dem Grenzübertritt an Erschöpfung – eine der vielen Stellen in Finkelsteins Familienbiografie, die man nie mehr vergessen wird.

Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Großeltern und Eltern ineinander verschränkt, mit den jeweiligen Kapitelüberschri en „Mum“ und „Dad“ versehen. Hier soll der Übersichtlichkeit wegen darauf verzichtet werden.

Die Familie seines Vaters stammte aus dem damals polnischen Lwów, das heute zur Ukraine gehört. Dolu Finkelstein, Inhaber des größten Eisen- und Stahlkonzerns der Region und bekannt als „Eisenkönig von Lwów“, und seine Frau Lusia hegten „exakt dieselbe Hoffnung wie Alfred und Grete“, fasst der Autor zusam-

REISEN FERN RAD

»Was meinen Eltern widerfahren ist, wird mir nicht so leicht widerfahren. Auch nicht meinen Kindern. Aber könnte es passieren? Ja. Auf jeden Fall

men. „Sie glaubten, dass die entstehende Identität der aufstrebenden modernen Nation mit ihrer Identität als Juden vereinbar sei, dass Jüdischsein und modernes Polen zusammengehörten.“

Spätestens mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, der Polen zwischen Deutschland und der Sowjetunion au eilte, war diese Überzeugung widerlegt. „Mein Vater wurde bald Opfer eines der größten Verbrechen in diesem Krieg, Stalins Versuch, durch Ermordung der Elite und Versprengung der gesamten Staatsführung die polnische Nation auszulöschen.“ Wie im Falle von Großvater Alfred Wiener und seiner NS-Dokumentation kann der Autor auch hier ein weniger bekanntes Kapitel der Geschichte miterzählen, das mit dem Massaker von Katyn im Frühjahr 1940 begann, bei dem 22.000 polnische Kriegsgefangene, überwiegend Reserveoffiziere, erschossen wurden.

Daniel Finkelstein: Hitler, Stalin, meine Eltern & ich. Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte. Ho ffmann und Campe, 513 S., € 28,80

Dolu Finkelstein wurde verha et und in einen Gulag am Rande des Polarkreises deportiert. Sein Sohn Ludwik und seine Frau Lusia (die als Kind die „Freie Schule“ in der Wiener Albertgasse besucht hatte) kämpften in einer Sowchose in Kasachstan ums Überleben. Nach ihrer unverhofften Wiedervereinigung konnten sie gemeinsam in den Iran ausreisen. Bis Kriegsende diente Dolu in der unter britischem Kommando kämpfenden polnischen Armee, das Tor zur späteren britischen Staatsbürgerscha der Familie.

Eine „bemerkenswerte Fügung aus Beziehungen, Zufällen, Erfindungsreichtum und Wagemut“ habe seine Eltern vor Terror und Krieg gerettet, resümiert der Autor. Nach dem Krieg wurde auch in dieser Familie lange nicht über KZ und Gulag gesprochen. Mirjam und Ludwik lebten in Hendon bei London und rührten sich „praktisch nicht mehr von der Stelle. 54 sehr glückliche Jahre waren sie verheiratet, bis mein Vater 2011 starb.“

KIRSTIN BREITENFELLNER

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Hexen: „Die perfekte Feindin“

Frauen: Marion Gibson rollt in 13 Prozessen die Geschichte der Hexenverfolgung auf – von Innsbruck um 1480 bis heute

Als Heinrich Kramer im August 1485 in Innsbruck ankam, hatte er eine Mission: Bereits in Ravensburg hatte sich der Inquisitor einen Namen als Hexenjäger gemacht, nun wollte er einen Schauprozess führen. In Ravensburg hatte er Anna von Mindelheim und Agnes Baderin als Hexen angeklagt. Heinrich ging davon aus, „dass weibliche Hexen Männer hassten und sie kastrieren wollten. Es war eine lächerliche Hypothese, die nur in einer männerdominierten Gesellscha entstehen konnte, doch so bizarr Heinrichs besondere Form des Dämonenglaubens auch war – Anna und Agnes wurden ihretwegen bei lebendigem Leib verbrannt.“ In Innsbruck war bald ein neues Opfer auserkoren: Helena Scheuberin, religiös gebildet, wohlhabend und selbstbewusst. Sie hatte Krammer einen „schnöden Mönch“ genannt und gehofft, dass ihn „das fallend Übel ereile“. Dazu kamen noch Anschuldigungen wegen Promiskuität und Zauberei – fertig war die Anklage wegen Hexerei.

„Was ist eine Hexe?“, fragt Marion Gibson in ihrem Buch „Hexen. Eine Weltgeschichte in 13 Prozessen“. Wenn jemand diese Frage beantworten kann, dann ist es Gibson, Professorin für Renaissance und magische Literaturen an der Universität von Exeter (UK). Immerhin hat sie bereits neun Bücher über Hexen geschrieben, ihr neues ist nun auf Deutsch erschienen. Sie zeigt darin anhand konkreter Prozesse, wie Frauenfeindlichkeit, Aberglaube und Machtmissbrauch zur Verfolgung, Folterung und Ermordung vermeintlicher Hexen führten. Und wie heute immer noch Hexen angeklagt werden.

Ihre Erzählungen reichen von den Anfängen in Innsbruck über den bekannten Hexenprozess in Salem, der den Au akt zu einer Reihe von Verha ungen in Neuengland bildete, bis zu weniger bekannten Prozessen wie jenen der Hexen in Vardø, am nördlichen Rand Skandinaviens. Gibson zeigt zudem, dass Hexenverfolgungen auch in der Gegenwart noch stattfinden: Im südlichen Afrika werden Frauen und Kinder in

Hexenlager gesteckt. Hunderte werden jedes Jahr in Indonesien und Südamerika, in Teilen Indiens und Afrikas sowie im Nahen Osten in formellen oder informellen Hexenprozessen getötet. Und jener Mann, der kürzlich in Wien mutmaßlich drei Sexarbeiterinnen ermordet haben soll, erklärte, er sei von einer Flüchtlingshelferin verhext worden, später habe ihm Gott selbst das Massaker aufgetragen, um sündha e Sexualität und Pornografie zu bekämpfen.

Gibsons Ziel ist es, die Prozesse aus der Perspektive der großteils weiblichen Opfer zu erzählen, sie beim Namen zu nennen. Die Innsbruckerin Helena Scheuberin ist nur eine von ihnen und sie ist die Ausnahme: Weil sie über Geld und Bildung verfügte, stellte sie mit Hilfe eines Anwalts Kramers Methoden infrage und konnte sich und die anderen Angeklagten retten.

Doch Kramer war nicht zu stoppen: Er

Der Weltenlauf als Gameshow

Marion Gibson: Hexen. Eine Weltgeschichte in 13 Prozessen vom Mi elalter bis heute. Au au, 524 S., € 28,80

verfasste den berüchtigten „Hexenhammer“. Machwerke wie dieses trugen die Dämonologie in die Welt hinaus. Zu dieser Zeit waren Hexen „die Verkörperung von allem Bösen, sie waren die perfekte Feindin“. Die Zahl der Hexenprozesse explodierte. Und so wurde auch Geillis Duncan und Agnes „Anny“ Sampson um 1590 der Prozess gemacht. Sie waren als Heilerinnen bekannt, als das Gerücht die Runde machte, sie seien Hexen und hätten Stürme auf See herau eschworen, um die Heirat des schottischen Königs zu vereiteln. Während der Folter „wurde ,ihr Kopf mit einem Seil verformt‘. Es wurde um ihre Schläfen gewickelt und unter höllischen Schmerzen immer fester verdrillt. Anny war eine starke Frau. Sie hielt eine Stunde aus, ohne zu gestehen, doch als schließlich auch ihre Genitalien untersucht wurden und man angeblich ein Teufelsmal fand, brach ihr Widerstand in sich zusammen.“ Anny wurde erwürgt und auf den Scheiterhaufen geworfen. Was eine Hexe ist, wird im Verlauf des Buches immer klarer: Sie ist meist weiblich, o arm, steht am Rande der Gesellscha oder ist sonst irgendwie zu auff ällig.

Umso befremdlicher schien es, als Donald Trump sich als Opfer einer Hexenjagd bezeichnete. Als weißer, mächtiger, wohlhabender Mann entspreche man nicht dem Profil der Hexe, so die Autorin. Auch seine Gegnerin vor Gericht, Pornodarstellerin Stormy Daniels, sprach von Hexenjagd und bezeichnete sich selbst stolz als Hexe: weibliche Macht, ungezügelte Sexualität, politisch subversive Ansichten – laut Gibson sind die Ängste der mittelalterlichen Geistlichen eben zu Freiheiten geworden, die viele Menschen schätzen. Für Daniels ist ihre Arbeit als Hexe in Form von Tarot-Lesungen zudem ein „boomendes Geschä “. Gibson mahnt zum Schluss zur Wachsamkeit, wenn Menschen dämonisiert und verachtet werden: „Denken Sie darüber nach, ob diese Person jemand sein könnte, der wie eine ,Hexe‘ zu Unrecht bezichtigt wird.“

Graphic Novel: Yuval Noah Harari erklärt mit Lady Empire, Captain Dollar und Ms. Clash, wer die Geschichte vorantreibt

Wer zieht die Fäden der Geschichte? Das fragt die fiktive Gameshow „Evolution“. In der Jury sitzt der Bestsellerautor Yuval Noah Harari selbst. Sein in beinahe 50 Sprachen übersetztes Sachbuch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (2013) bildet die Basis für diese empfehlenswerte Graphic Novel, die er gemeinsam mit dem Texter David Vandermeulen und dem Zeichner Daniel Casanave gestaltet hat.

„Das Spiel der Welten“ reiht sich als dritter Band in die (gezeichnete) SapiensSerie ein: „Der Aufstieg“ erzählt von den Neandertalern und „Die Falle“ dreht sich um den Weizen und das Sessha werden. Nun heißt es also: Wer wird zum „Master of History“ gekürt? Der tollpatschige Mr.

Zufall und sein Hund, der wohl nach Murphy´s Law benannt ist? Die Boxerin Ms. Clash, die für den ewigen Kampf konkurrierender Kulturen spricht, oder Ms. Achterbahn, die die Geschichte kontrollieren will, indem sie die Zyklen orchestriert?

Gute Chancen hat Lady Empire, die vor mehr als 4000 Jahren in Mesopotamien König Sargon inspirierte, von einem Imperium zu träumen. Der überhebliche Captain Dollar ist überzeugt, Geld sei das einzige menschliche System, dem man trauen könne. Für Skyman ist alles eine Frage der Religion. Die Faktencheck-Box und Liveschaltungen, die wie Zeitreisen funktionieren, sollen Klarheit bringen.

Yuval

Harari: Das Spiel der Welten. C.H.Beck, 280 S., € 28,80

Die witzige und kurzweilige Comic-Adaption destilliert die Vorlage gelungen in kleinere und größere Erzählstränge. Das Format wendet sich an eine jüngere Zielgruppe und serviert zu den geschichtsphilosophischen Lektionen gleich passende Grafiken etwa zur Verbreitung der lateinischen Sprache oder Dschingis Khans Mongolenreich. Harari berücksichtigt verschiedene Wissenscha sdisziplinen – um die globalisierte Gegenwart zu verstehen, braucht es diesen weitwinkeligen Blick auch. Außerdem betont der Cartoon, wie wichtig Toleranz und unau örliche Neugier sind – und erinnert dabei zeitweise an Asterix und die Feuersteins.

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Noah
JULIANE
FISCHER
ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Zweibeinige Riesenbirne

Musik: Zum Bruckner-Jubiläum 2024 widmet Florian Sedmak dem genialen Landei eine topografisch-anekdotische Hommage

Alles an diesem Buch ist auf kauzige Weise originell: der Titel „Dickschädels Reisen“; das Schwarzweiß-Cover, das als einzigen Farbklecks eine dottergelber Goldhaube auf Anton Bruckners kahlem Haupt zeigt; dann das – beinah – Mehrbreit-als-hoch-Quartformat des Buchs, das angenehm schwer wie eine gut gefüllte Pralinenschachtel in der Hand liegt; schließlich die vielen QR-Codes im Inneren, die nach fast jedem Kapitel ein Bruckner-Hörerlebnis erlauben, sowie die grafischen Elemente, die aus stilisierten Goldhauben, aus Linien und Ortspunkten nach und nach ein Kartennetz des von Bruckner durchstrei en, durchlittenen, durchzechten, aber vor allem durchspielten und -komponierten Oberösterreich entstehen lassen.

Wunderbar! Dazu Buchautor Florian Sedmak, der sich dem verhaltensoriginellen „Klanggiganten“ Anton Bruckner mit Witz, Kenntnisreichtum sowie Sinn fürs Tragikomische nähert. Sedmak ist einer jener Schreibenden, deren Stil per se ein Lesevergnügen darstellt, sodass man ihm auch in jedes andere Gebiet als das weite Bruckner(Seelen-)Land gefolgt wäre. Dass es nun aber um Bruckner geht, ist umso erfreulicher, als der oberösterreichische Komponist seinem oberösterreichischen Beschreiber –Sedmak stammt aus Bad Ischl und lebt in Vorchdorf – eine überreiche Fundgrube darstellt. Und was für eine! „Er lernte, studier-

te und übte fanatisch, saß Stunde um Stunde an seinen Kompositionen, trank Kaffee wie andere Wasser, verschlang gigantische Portionen, ließ sich des Abends mit bis zu dreizehn kleinen Bieren volllaufen, betete im Akkord, machte jungen und sehr jungen Frauen fast wahllos Heiratsanträge und zählte, was sich nur zählen ließ.“

So kommt es auch, dass Sedmak Bruckner als Menschen beschreibt, „den man nicht zwingend mögen muss, aber nur schwerlich uninteressant finden kann“. Das wird in den folgenden gut 40 Kapiteln untermauert und bringt Schwung in die Bruckner-Exegese, für die ja – just im Jahr seines 200. Geburtstags – gilt, was Sedmak über Bruckners Aufenthalte in Sti Kremsmünster notiert: „alles bekannt, alles erforscht, alles tausendmal erzählt“.

Gewiss, aber nicht so vergnüglich wie in Sedmaks kursorischem Streifzug durch die 37 Orte, mit denen Bruckner verbunden war – von Linz und Sankt Florian über Steyr, Bad Goisern und Gmunden bis zu Tillysburg oder Bad Kreuzen. In Letzterem ließ sich ein „durch maßlosen Lebenswandel und exzessives Arbeiten“ zerrütteter Bruckner in der „Kaltwasser- und Nervenheilanstalt“ gegen Wahnvorstellungen behandeln.

„Halb Mostschädel, halb Weltbürger“: Die „zweibeinige Riesenbirne“ (so eine zeitgenössische Beschreibung Bruckners)

Die Lust an der Kostümierung

Florian Sedmak: Dickschädels Reisen. Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner. Anton Pustet, 272 S., € 25,–

kam vom Land, „das er und das ihn nie verließ“, wie Norbert Trawöger, künstlerischer Direktor des Bruckner-Orchesters Linz, im Vorwort vermerkt. Auch wenn er als Orgelvirtuose in England, Frankreich und Deutschland wie ein Rockstar gefeiert wurde und Jahrzehnte in Wien verbrachte. Sedmak widmet sich mit tiefer Empathie dem Landei Bruckner, ob als Sängerknabe in Sankt Florian oder als Orgelstürmer in unzähligen Kirchen. In Linz forscht Sedmak kühn nach mentalen Bezugspunkten zwischen Bruckner und Hitler (Wagner-Verehrung, Sängerknaben-Vergangenheit, schwieriges Verhältnis zu Frauen). In Ansfelden erstellt er Bruckner ein Geburtshoroskop „im Zeichen der Jungfrau“ (das im doppelten Wortsinn zugetroffen haben dür e), er zeigt Bruckner in Windhaag und Kronsdorf als Lehrer, Bauer und Tanzgeiger, in Wirtshäusern als Vielfraß und Bierzecher, in Micheldorf als Zwangsneurotiker mit gleich mehreren ausgewachsenen Obsessionen (Mexiko, Hinrichtungen, Hochgebirgsgipfel) und als Sommerfrischler in Bad Goisern und Bad Ischl.

Schön und ergreifend ist das. Durch „Dickschädels Reisen“ wird einem die zerrissene Figur Anton Bruckners fast grei ar lebendig und mit ihr seine Zeit und Herkun slandscha : Oberösterreich im 19. Jahrhundert. JULIA KOSPACH

Literatur: Eine neue Hofmannsthal-Biografie fordert eine Wiederentdeckung des „Jedermann“-Erscha ff ers

Um das Image war und ist es schon des längeren ziemlich schlecht bestellt. Es ist zwar nicht gelungen, die „Jedermann“Aufführungen am Salzburger Domplatz zu einem Ende zu bringen, aber so manche Kritiker im imaginären „Verein zur Abwehr der Überschätzung des Autors Hugo von Hofmannsthal“ (© Hans Weigel) fragten und fragen, ob er denn nicht längst als snobistischer Manierist, Kriegsphilosoph der zerfallenden Monarchie oder als „konservativer Revolutionär“ (nach 1918) erledigt sei. Vom ramponierten Ruf lässt sich die sehr umfangreiche Biografie, zum 150. Geburtstag des berühmten österreichischen Schri stellers erschienen, nicht beeindrucken. Sie hält krä ig dagegen, will zur Re-Lektüre animieren und Hofmannsthal als vielleicht interessantesten und auf alle Fälle vielseitigsten Autor des Wiener Fin de Siécle etablieren. Elsbeth Dangel-Pelloquin und Alexander Honold, beide von der Germanistik der Universität Basel, haben jahrelange Arbeit investiert. Die Bedingungen waren günstig, denn seit 2022 liegen die 40 Bände der „Sämtlichen Werke. Kritische Ausgabe“ vor, und die mittlerweile fast 60 Briefwechsel sind eine Fundgrube, die viele, viele Facetten der Lebensstationen und des Schaffensprozesses preisgeben.

Unglaublich, was frühere Generationen an Eindrücken, Meinungen und Informa-

tionen alles zu Papier brachten. Hofmannsthal war ein Meister der Niederschri en, allein die Briefe an seine Eltern sind ein eindrucksvolles Dokument einer Sozialisation, die alle Stimmungen und körperlichen Verfasstheiten en detail wichtig nahm. Wenn diese Bulletins nicht kontinuierlich eintrafen, war sogleich Feuer am Dach, woran uns die Biografie mit Genuss Anteil nehmen lässt. Noch beim 28-jährigen Sohn erkundigte sich die besorgte Mutter, wer ihm denn die Fingernägel schneide.

In der Familie wurde schon früh geprobt, was sich als Schlüsselwort für das Werk erweisen sollte: die gesteigerte Beobachtung der „Nerven“ als Voraussetzung dichterischer Produktivität. Die Familienpathologie wirkte als „Betriebscapital“, so Hofmannsthals Selbsteinschätzung. Sein spektakuläres Frühwerk mit Gedichten, Dramen und Essays (darunter der berühmte Chandos-Brief) begeisterte Kritik und Publikum.

Das frühreife Wunderkind durcheilte ein immenses Leseprogramm und hatte schon als Zehnjähriger eine dezidierte Meinung zu Shakespeare-Aufführungen am Burgtheater. Er wurde bestaunt, weil er bereits als Jugendlicher mit der antiken, französischen und italienischen Literatur bestens vertraut schien und sich mit Leichtigkeit in verschiedene Epochen versetzen konnte. Unter den

bekannten Wiener Literaten war er derjenige, der seine Stoffe nicht aus seinen Lebens-, sondern aus seinen Lektüreerfahrungen schöp e.

Amüsant ist es zu erfahren, dass Hofmannsthal gleichzeitig sein Leben lang, vielfach grundlos, von Geldsorgen gequält wurde. Ein „Constitutionsfehler“, wie er selbst erklärte, aus der Familiengeschichte zu verstehen. Die besseren Verdienstmöglichkeiten waren sicherlich ein Antrieb, dass er sich nach der Jahrhundertwende nach Deutschland orientierte.

Weniger bekannt ist, dass Hofmannsthal zuerst erfolgreich mit Max Reinhardt bei insgesamt 17 Stücken („Elektra“, „Ödipus“-Varianten) zusammenarbeitete, ehe die glanzvolle Kooperation mit Richard Strauss („Der Rosenkavalier“, „Arabella“, „Ariadne auf Naxos“) begann.

Den Autoren liegt besonders daran zu zeigen, wie flexibel Hofmannsthal agierte, in wie vielen Revieren er tätig sein konnte und wie er sich für die politisch wie literarisch ganz anders gestimmte Literatur der 1920er-Jahre einsetzte: Er verfasste etwa den Prolog für Bert Brechts „Baal“.

Die Biografie bietet sicherlich einen neuen, erfrischenden Blick, aber die Debatte um die aktuelle Relevanz des Autors kann sie nicht aus der Welt schaffen. ALFRED

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PFOSER
Elsbeth Dangel Pelloquin/ Alexander Honold: Grenzenlose Verwandlung. Hugo von Hofmannsthal. S. Fischer, 896 S., € 59,70

Vom „Revolver“, der immer geladen ist

Sexualität: Gabrielle Blair fordert von Männern mehr Verantwortung dafür ein, wo sie ihr Sperma deponieren

Sie ist preisgekrönte LifestyleBloggerin, Bestsellerautorin und sechsfache Mutter. Die amerikanische Mormonin Gabrielle Blair bezeichnet sich als Demokratin und ist „pro choice“, tritt also für das Recht auf Schwangerscha sabbrüche ein. Damit distanziert sie sich von sogenannten „Trad(itional) Wives“, die mit Babybildern, Brotrezepten und Bibelzitaten Tiktok-Fame erlangen und mit der Radikalisierung junger Frauen im Dienste der nationalistischen Rechten verbunden werden.

Die Autorin lebt in der Normandie. Die Renovierung ihres Herrenhauses aus dem 16. Jahrhundert dokumentiert sie für ihre zahlreichen Follower in den sozialen Medien, wo sie als „Design Mom“ populär ist. Während ihr erstes Buch eine Stilfibel für das Leben mit Kindern war, geht es diesmal um Grundsätzliches: Sexualität, Verhütung, Schwangerschaften und Schwangerscha sabbrüche.

Blair fordert, dass Verhütung Männersache werden muss. Dafür hat sie 28 Argumente für Diskussionen (nicht nur) am Stammtisch gesammelt, darunter „Männer sind fünfzigmal fruchtbarer als Frauen“ und „Spermien leben bis zu fünf Tage“. Jedes Argument untermauert sie mit Fakten und Zahlen und manchmal ebenso drastischen wie schiefen Vergleichen (in denen Hundekot und volle Harnblasen eine Rolle spielen). Ihr direkter Ton dür e auch Strategie sein. Die Autorin spitzt bewusst zu, und das hat seinen Wert, schließlich geht es ihr um einen radikalen Perspektivenwechsel.

Auch konkrete Forderungen an die Politik schlägt Blair vor. Viele stammen aus dem Katalog der Frauen(gesundheits)bewegung. Allen voran: sexuelle Bildung an Schulen und einfacher Zugang zu kostenfreien Verhütungsmitteln.

Schade, dass sie von den feministischen Aktivistinnen und Wissenscha lerinnen nicht auch die zeitgemäße Sichtweise übernommen hat, dass die Eizelle der Frau und die Samenzelle des Mannes bei einer Zeugung verschmelzen. So wimmelt es im Buch von aggressiven, ja „gefährlichen“ Samenzellen, die auf eine hilflos abwartende Eizelle losstürmen, um sie zu befruchten.

Die Autorin reproduziert damit Seite für Seite die Stereotypen des aktiv Männlichen und des passiv Weiblichen. In Argument 16, „Männer in die Verantwortung zu nehmen, macht Frauen nicht zu Opfern“, erklärt sie allerdings ausdrücklich, dass sie Frauen nicht als schwach zeigen oder ihre Handlungskompetenz infrage stellen will.

Da Frauen aber schon längst Verantwortung tragen, sei es nun an der Zeit, den Scheinwerfer auf die Männer zu richten. Zumal: „Ihr Revolver hat immer eine Kugel im Lauf.“ 24.208 fruchtbare Tage errechnet Blair für einen Mann nach 80 Jahren Lebenszeit, 480 für eine Frau.

Dazu kommt für die Autorin, dass Männer steuern können, wann und wohin sie „ihr Sperma platzieren“. Als mögliche Orte schlägt sie vor: auf den Bauch oder in die Hand der Partnerin, in ein Taschentuch, eine Socke, eine Zimmerpflanze. „Oder aber sie platzieren ihre Spermien in der Vagina ihrer Sexualpartnerin und setzen sie so dem schwerwiegenden Risiko einer ungewollten Schwangerscha aus.“

Um das verantwortungsvoll zu vermeiden, priorisiert die Autorin zwei Lösungen: Kondome und Vasektomie, also die Sterilisation von Männern. Beides sei einfach, günstig, verlässlich und von geringeren Nebenwirkungen begleitet als Verhütungsmittel für Frauen. Damit seien sie auch die pragmatische Lösung, um die Anzahl von Schwangerscha sabbrüchen zu senken.

Die Bereitscha , diese Kontrazeptiva für Männer anzuwenden und zu unterstützen, ist für Blair der Prüfstein: Geht es den konservativen Männern und reaktionären Politikern und Richtern tatsächlich um weniger Abtreibungen? Oder doch um die Kontrolle von Frauen?

Einige Puzzlesteine des 21. Jahrhunderts

Kulturwissenscha ler mit Chuzpe: Der neue Essayband von Diedrich Diederichsen ist eine Materialschlacht

Ein Werk von Gewicht: 1128

Gramm bringt es auf die Waage, ein paar Seiten mehr (1136) umfasst es. Man wird es eher nicht in die UBahn, auch nicht ins Freibad mitnehmen. Als physisches Objekt schreit die jüngste Essaysammlung des deutschen Kulturwissenscha lers und Theoretikers Diedrich Diederichsen förmlich: Bedeutung! Ohrensessel! Hier wird Geschichte geschrieben!

Der Titel aber setzt dem Ganzen die Krone auf. „Das 21. Jahrhundert“ hat Diederichsen, der seit 2006 an der Akademie der bildenden Künste in Wien unterrichtet, sein Buch genannt. Man darf sich fragen: Ist das Hybris oder charmante Chupze? Vermutlich beides.

Die Erklärung liefert er im Vorwort. „Die Idee, schon gegen Ende des ersten Viertels eines Jahrhunderts dessen Geschichte vorzulegen, ist in ihrem Größenwahn von Carl Einstein inspiriert, der seine Kunst des 20. Jahrhunderts [...] schon 1926 veröffentlichte“, legt Diederichsen dar.

Seine Methode besteht darin, dem Leser aus dem vorliegenden Material der ersten gut 20 Jahre des Jahrhunderts vorstellbar zu machen, „wie es weitergehen könnte“. Doch keine Angst: Er mutiert dafür nicht zum Matthias Horx der Kulturwissenscha

Blättert man ein wenig durch das Buch, das wegen seiner Dichte an Themen, Thesen, Behauptungen, schwer zu durchdringenden, sehr klugen, bisweilen aber auch einfach schönen Sätze und Beobachtungen unmöglich von vorne bis hinten durchzulesen ist, sondern besser nach dem Lust- oder Zufallsprinzip in Häppchenform zu konsumieren, so ist man bald geneigt, die Latte ein wenig tiefer zu legen.

Gabrielle Blair: Verantwortungsvoll ejakulieren. 28 Gründe, warum Verhütung Männersache werden muss.

Ullstein, 208 S., € 19,60

Der Mann hat vielleicht auch nur die Festplatte abgegrast und seine eigenen Lieblingstexte seit 2000 zu ein paar großen Blöcken zusammengefasst – fertig. Als da wären: „Ästhetische Theorie“. „Serien und Erzählungen“. „Demokratie“. „Die Deutschen und die Anderen“. Oder „Gender und Sex“. Es geht um Theater, Kunst, Filme, ja sogar um die Oper und natürlich um Popmusik; aber niemals nur um ein Stück, ein Album oder eine Ausstellung für sich.

Diederichsen hat in seinen frühen Jahren eine Popkritik etabliert, die über die rein ästhetische Bewertung von Musik hinausgeht. Er betrachtet alles immer auch durch die Brille der Soziologie, Philosophie, Literaturwissenscha , Kunstgeschichte, Cultural Studies – und nicht zuletzt aus der Perspektive des überzeugten Linken.

„Wir lieben dich, aber deine Bücher verstehen wir nicht“, sang einst die Band Saalschutz über seine Arbeit. Diederichsen ist ein unfassbar gescheiter und belesener Mensch, dem es in der Tat o nicht so gut gelingt, sich verständlich zu machen. Es scheint ihm sogar relativ wurscht zu sein, ob seine Gedanken auch für andere nachvollziehbar sind und Menschen ohne Studienabschluss es bis zum Ende eines Satzes schaffen.

Manche Textpassagen wirken wie Selbstgespräche. Nichts gegen diese Form der Kommunikation, immerhin handelt es sich um Unterhaltungen mit einem intelligenten Widerpart. Doch im Ernst: Wer einen Ziegel von derartigem Gewicht – ob nun von einem Augenzwinkern begleitet oder nicht – herausbringt, sollte mehr an die armen Leser denken, die immerhin knapp 60 Euro dafür hingelegt haben.

Dieses Buch ist eine Zumutung. Allerdings eine schöne. Manchmal möchte man es in die Ecke schmeißen. Dann wieder finden sich Stellen, in denen der Autor mit wirklich originellen Beobachtungen und großartigen Gesellscha sanalysen verblüfft. Hudeln ist bei der Lektüre der völlig falsche Ansatz. Lieber im mehr als 20 Seiten starken Registerteil nach einer Person suchen, die einen interessiert, und die Lektüre an dieser Stelle aufnehmen. Um „Das 21. Jahrhundert“ als Ganzes zu erfassen, bleiben immerhin noch 76 Jahre Lesezeit.

Diedrich

Diederichsen: Das 21. Jahrhundert. Kiepenheuer & Witsch, 1136 S.,€ 59,70

36 FALTER 12/24 SACHBUCH
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Ein guter Ersatz für fade Noir-Serien

Risikoforschung: Jakob Thomä nimmt uns mit zu den größten Gefahren der Gegenwart

Woche für Woche erleben wir in Mitteleuropa mit, dass nicht nur der Klimawandel, sondern auch überwunden geglaubte Eroberungskriege wieder reale Bedrohungen sind. Der 1989 in Berlin geborene und in London lehrende Ökonom Jakob Thomä beschreibt in seinem neuen Buch sogar 26 ernstzunehmende Gefahrenherde. Laut ihm sind das neben „Planetoiden-Einschlägen“ und „Quantenrechnern“ auch der sogenannte „X-Faktor“ sowie die „Zombieapokalypse“.

X-Faktor? Darunter versteht Thomä Bedrohungen unserer Zivilisation, deren Ursachen wir noch gar nicht kennen. Ein illustratives Beispiel dafür wäre, dass wir eine gigantische Unterwasserzivilisation wie im US-amerikanischen Science-Fiction-Actionfilm „Black Panther: Wakanda Forever“ entdecken, die aufgrund der Störung wütend auf uns wird und gleich die gesamte Menschheit vernichtet. Existieren könnte irgendwo auch ein roter „Selbstzerstörungsknopf“, von dem wir nichts ahnen und den wir eines Tages versehentlich drücken.

Über die anderen aufgeführten Risiken hingegen lässt sich sachbezogen nachdenken. Thomä listet sie alphabetisch auf, wodurch das Buch gleich mit der „Atombombe“ beginnt. Die von ihr ausgehende Gefahr lässt sich in einem Satz formulieren: „Die schier unbegrenzte Energie, die bei der

Jakob Thomä: Das kleine Buch der großen Risiken. Kle -Co a, 224 S., € 22,70

Eine Welt aus Beige

Spaltung oder Fusion von Atomen nutzbar gemacht werden kann, löst entweder eine unkontrollierbare Kettenreaktion aus, die unseren Planeten zerstört, oder wird für eine Waffe genutzt, die Zivilisationen auslöscht.“ Panikmache erscheint dem Autor dennoch unangebracht. Regionale Einsätze von Atomwaffen schließt er nicht aus, aber „nach dem derzeitigen Wissensstand in der Physik“, argumentiert er, „ist eine von Menschenhand ausgelöste, unkontrollierbare Kettenreaktion, die sich auf die ganze Welt auswirkt, faktisch unmöglich“.

Wirklich beruhigend ist das nicht. Bei den meisten Problemfeldern, die Thomä luzid durchdiskutiert, kann man seine Risikoabschätzung aber gut nachvollziehen, denn über Sachverhalte wie Cyberrisken, Genmanipulation, Geoengineering, Klimawandel, künstliche Intelligenz oder Vulkane wird auch in vielen Medien regelmäßig berichtet. Gemeinhin weniger offensichtlich dür en dagegen die im Buch abgehandelten Themen „Du“ oder „Matrix“ sein.

Mit dem „Du“ spricht er gesellscha liche Risiken an, die aus dem bösartigen Verstand Einzelner erwachsen. Beispiele dafür sind Amokläufe mit leicht erwerbbaren Waffen wie in den USA. „Untätigkeit“ bezüglich der Regulierung von Waffenkäufen, so die Botscha des Autors, kann selbst zur „Massenvernichtungswaffe“ werden.

„Matrix“ wiederum bezieht sich auf den gleichnamigen Film, in dem die Simulation von Bewusstsein abgehandelt wird. Dabei beschä igt Jakob Thomä nicht, ob wir in einer Simulation leben, sondern vielmehr, „dass wir auf eine Welt zusteuern, in der wir Zeit für unser in der Realität gelebtes Leben eintauschen gegen die Zeit für die Simulation der Realität eines anderen“.

Der alphabetisch letzte Eintrag in diesem originell konzipierten Buch ist der eingangs erwähnten „Zombieapokalypse“ gewidmet. Gemeint sind damit Wesen wie der besonders raffinierte kalifornische Saugwurm.

Als Parasit sucht der sich eine Wasserschnecke als ersten Wirt aus und legt in ihr seine Eier ab. Aus diesen schlüpfen Larven, die die Schnecke befallen und in eine zombieähnliche Brutstätte verwandeln. Sie sieht aus wie eine Schnecke und benimmt sich auch so, sorgt jedoch wie eine lebendige Tote für den Saugwurm-Nachwuchs. Wird sie von einer Zahnkarpfe gefressen, genannt „Killifisch“, die wiederum von einem Vogel gefangen wird, finden die jungen Saugwürmer dank dessen Ausscheidungen zurück ins Meer. Eine letzte der vielen erstaunlichen Kausalketten in diesem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Buch, das sich wie ein Krimi liest.

ANDRÉ BEHR

Architektur: Wohnbau-Forscherin Bernade e Krejs widmet sich den perfekt vermarkteten Interieurs auf Instagram

Erin Vogelpohl aus Dallas, Texas, dekoriert die Seifenspender im Gästebadezimmer mit Schleifchen, sie arrangiert eine gefühlt dreistellige Anzahl von weißen und beigefarbenen Pölstern auf weißen und beigefarbenen Sitzmöbeln. Dann gönnt sie sich „a moment of relaxation“: Foto mit hochgelegten Füßen. Vogelpohl dokumentiert all dies auf ihrem Instagram-Kanal @ mytexashouse, eine Million Follower schauen ihr dabei zu. Auch sich selbst inszeniert die Mutter von drei Kindern im Feed und in der Story, stets passend zur Wohnungseinrichtung gestylt. Die Influencerin ist creator und Produkt zugleich. Dank der lukrativen Kooperation mit Walmart ist sie erfolgreiche Unternehmerin, so erfolgreich, dass das Haus, das ihr als Motiv dient, so o umdekoriert werden muss, dass es inzwischen gar nicht mehr bewohnbar ist. Sie und ihre Familie wohnen woanders, das bisherige Heim ist zum reinen Bühnenbild geworden.

Der Account @mytexashouse ist ein Beispiel, wie der private Innenraum zum öffentlich inszenierten und vermarkteten Schauplatz des Wohnens geworden ist. Eine Welt des perfekten Beige, der Marie Kondos und der Selbstoptimierung. Bernadette Krejs, die an der TU Wien im Fachbereich Wohnbau und Entwerfen lehrt und forscht, hat sich in ihrer Dissertation diesem Thema gewidmet, jetzt ist diese in Buchform er-

Bernade e Krejs: Instagram-Wohnen. Transcript, 354 S.,

schienen. Krejs ist nicht nur Expertin für Wohnbau, sondern auch Mitglied des feministischen Architekturkollektivs claiming*spaces und inszenierte letztes Jahr mit Max Utech unter dem Titel „Palace of Unlearning: Glitching Mies“ eine QueeringPerformance in einer der Ikonen der Moderne, dem Barcelona-Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe.

Einen feministisch grundierten kritischen Blick auf Hegemonien bringt sie auch in ihre Analyse von Instagram mit, doch zunächst steckt sie – schließlich handelt es sich um eine Forschungsarbeit – das Untersuchungsfeld weit ab. Die Geschichte der Architektur war schließlich schon immer eng mit der Repräsentation durch Bilder verknüp , und bereits Le Corbusier und Mies van der Rohe setzten Fotografie und Zeichnung gezielt ein, um für ihre Ideen zu werben. Heute sind es die immergleichen Renderings von glücklichen, meist weißen Kernfamilien zwischen meist weißen Fassaden, die die Bildwelt des Wiener Wohnbaus dominieren. Parallel dazu verläu die Tradition von massenwirksamen Zeitschriften wie Schöner Wohnen oder den IKEAKatalogen, die das jeweilige ideal, wer wie zu wohnen habe, unter die Leute brachten. Instagram bringt zwar die Algorithmen als neue Regeln ins Spiel, doch funktioniert es ganz ähnlich. Krejs nennt die vorherrschende Bildästhetik „Instagramism“,

sie zeigt sich in den weltweit identischen Interieurs von Airbnb-Wohnungen und im klinisch reinen Weiß-Beige von @mytexashouse und vielen anderen.

Ist dies ein Problem? Ja, so die Autorin, denn hier würden o konservative Wohn- und Rollenbilder reproduziert, und alles außerhalb der Wohnung – Stadt, Quartier, Nachbarn – bleibe komplett ausgeblendet. Lässt sich etwas dagegen ausrichten? Krejs zeigt einige Beispiele (darunter auch eigene) für andere Wohn-Bilder, die ermutigend subversiv sind und andere Haltungen symbolisieren: etwa die psychedelisch anmutenden bonbonbunten Architekturwelten des Accounts @abnormal_story. Im abschließenden Urteil, was die Chancen auf einen Sieg des privat-politischen „Wohnens als Widerstand“ betrifft, bleibt die Autorin aber realistisch: „Das Unterfangen, mehr Sichtbarkeit für gegenhegemoniale Bildwelten auf den großen Plattformen zu erzeugen, erscheint (fast) aussichtslos.“ Die Revolution mag auf dem Feld der Algorithmen nicht erfolgreich sein, doch ist „Instagram-Wohnen“ eine bei aller Wissenschalichkeit gut lesbare Handreichung für eine digital literacy, die dabei hil , die verführerischen Bilder und die dahinterliegenden Interessen richtig zu lesen. Das ist vielleicht schon die halbe (Wohn-)Miete.

MAIK

SACHBUCH FALTER 12/24 37
NOVOTNY
€ 39,–

Nur / für Textur / hegte sie / Sympathie …

Bei den Kochbüchern des Frühjahrs setzen sich Trends fort: ethno, vegetarisch, schnell. Aber es gibt auch Verblüff endes

Die Mühe des Klassifizierens verschiedener Kochbuchtrends fällt jedes Mal leichter. Erstens, die Großmeisterköche und ihre Monografien sind verschwunden. An ihre Stelle treten Blogger oder Kochpublizisten. Zweitens, der Ethnotrend zeigt zunehmend mehr fast nur noch in zwei Richtungen: asiatisch und mediterran. Angenehme Ausnahmen immer erwünscht. Drittens, an Veganem und Gesundem fehlt es nie, mitunter auch mit missionarischen Zügen. Viertens muss alles immer schneller gehen. Fün ens gibt es immer noch Unverbesserliche, sprich richtig altmodische Kochbücher, die man sich im Antiquariat besorgt oder im eigenen Regal findet. Wie man ein ordentliches Reisfleisch macht, erfährt man im alten Ruhm noch immer besser als im neuesten Blog.

Zu meinen liebsten Kochpublizisten zählt Hans Gerlach. Er ist Spitzenkoch und dem Publikum des Süddeutsche Zeitung Magazins seit Jahrzehnten wohlvertraut. Stets anregend, niemals sklavisch vorschreibend, lehrt er den spielerischen Umgang mit Lebensmitteln. Sich selbst bezeichnet er als „neugierig“. Der Titel seines neuen Buchs Probier doch mal, zusammengestellt aus SZ-Kolumnen, regt nicht nur zum Kosten, sondern auch zum neugierigen Ausführen an. Kochen ist wie Liebe, das Immergleiche wird immer neu verwandelt. Nebenbei lernt man, Miso selbst zu machen und das dann in ein schnelles Kartoffelgericht mit Zitronensa und Burrata einzubringen – da jubelt der Bobo, aber das Resultat ist nicht überkandidelt, bloß fein. Wie Gerlachs Kimchi-Varianten oder seine Makrelensauce als Ersatz-Thunfischsauce beim Vitello tonnato. Liest man Gerlach, möchte man gleich in die Küche gehen.

Ich gebe zu, ich bin ein Mann von gestandenem Vorurteil, das in mir sogleich grollend erwacht, wenn es den ostentativ vorgereckten Ziegenbart von Joshua Weissman erblickt und dazu noch liest, er sei New York Times-Bestsellerautor und habe auf seinen Plattformen 20 Millionen Follower. Jedoch sind Vorurteile bekanntlich dazu da, überwunden zu werden. Irgendwie erinnerte mich Weissman an einen Lieblingsautor, Jeffrey Steingarten („Der Mann, der alles isst“). Die Obsession, herauszufinden, wie etwas gemacht wird, kombiniert mit einer ziemlich pointierten Kunst, es zu beschreiben, das zeichnet auch unseren Goatee-Träger aus. Textur über Geschmack heißt sein Buch. Textur

Sissi Chen: Einfach Chinesisch. DuMont, 192 S., € 30,–

Uyen Luu: Vietnameasy vegetarisch. Dorling Kindersley, 224 S., € 27,80

meint so etwas wie „Mundgefühl“ oder auch Konsistenz. „Es gibt Haupttypen von Texturen und ihre Subtypen. Knusprig oder crunchy zum Beispiel wäre ein Haupttyp. Ein Subtyp von knusprig wäre etwa krümelig oder körnig. Krümelig ist für mich eine leichtere, fast lu ige Form von Crunch, ohne dieses harte brechende Knacken und Krachen.“ Sechs Grundtypen unterscheidet Weissman: Knusprig (crunchy), bissfest (chewey), lu ig (aerated), cremig (creamy), flüssig (fluid) und fettig (fatty). Dazu kommen modernistische Rezepte, die man gerne einmal probiert, von Chewy Fudge Brownies (bissfest) über die 51-Stunden-Focaccia (lu ig) bis zum Texas Toast Smashburger (fettig). Textur ersetzt nicht den Geschmack, aber sie geht ihm optisch und haptisch voraus. Gute Sache, auch, dass Weissman flockig schreibt, was in Helmut Ertls Übersetzung nicht flöten geht. Spitze fotografiert ist es auch noch.

Bei Forough & Sahar Sodoudi fließt die Liebe. Zwei persische Naturwissenscha lerinnen (Klima und Nachhaltigkeit), in Berlin geboren, in Teheran aufgewachsen, mittlerweile längst wieder in Berlin, gründeten ein Food-Lab, Dr. & Dr., und schrieben dieses Buch: Hier fließt die Liebe ist nicht nur ein Buchtitel. „Es ist die Überschri unserer persönlichen Geschichte, in der wir es gewagt haben, unseren Herzen zu folgen. Es ist die Botscha , die wir über Teller hinweg in die Welt tragen. Und es ist ein Symbol für Female Empowerment, Sisterhood und wahrha ige Leidenscha “, erklären sie. Ein Buch mit schönen Blicken in ein schönes Land mit schrecklicher Regierung und einer zu entdeckenden Küche. Ich betrachte den Berberitzenbusch vor dem Haus seitdem mit anderen Augen.

Foodbloggerin Sissi Chen emigrierte mit Mutter nach Wien, lebt mittlerweile in Berlin: Hier zur Küchenpragmatikerin erzogen, Backhendl mit Teigtascherln seien zuhause normal gewesen (doesn’t sound normal to me, aber ok). Küchenpragmatisch heißt zu akzeptieren, dass aus Kulturmischungen neues Authentisches entstehen kann, die krosse Ente, aus deutschen Zutaten entstanden, wird mittlerweile auch gern in China genossen. Chens Einfach chinesisch bringt viele Nudelgerichte, alles sehr unkompliziert, also pragmatisch und praktikabel.

Uyen Luu ist naturgemäß ebenfalls Bloggerin (muss man das noch erwähnen?).

Jina Jung: Koreanische Küche. Dorling Kindersley, 220 S., € 27,80

Ali Güngörmus: Mediterran Express. Dorling Kindersley, 224 S., € 25,70

Hans Gerlach: Probier doch mal. Brandstä er, 208 S., € 30,–

Joshua Weissman: Textur über Geschmack. Dorling Kindersley, 264 S., € 27,80

Forough und Sahar Sodoudi: Hier fließt die Liebe. Brandstä er, 224 S., € 35,–

Sam & Sam Clark: Sol. Dorling Kindersley, 320 S., € 30,80

Sie leitet einen vietnamesischen DinnerClub und gibt Kochkurse in London, wo sie aufwuchs, nachdem ihre Familie in den 1980er-Jahren aus Vietnam floh. Da haben wir gleich drei Kriterien in einem: asiatisch, schnell und vegetarisch. Und dazu wirkt Vietnameasy vegetarisch animierend appetitlich ...

Den Beruf von Jina Jung haben Sie schon erraten, ehe ich ihren Namen herschreiben kann; die Koreanerin lebt und kocht und bloggt seit 2010 in Frankreich. Ihr Kochbuch Koreanische Küche wirkt besonders sachlich und hat einfache, aber einfach überzeugende Rezepte: Jede Menge Kimchi und die Zitronenlimonade, wie ich sie in meinem koreanischen Restaurant mag.

Ali Güngörmüs, TV-Spitzenkoch mit türkischen Wurzeln, legt mit Mediterran Express ein sauberes Buch vor, das für seine Rezepte titelgetreu kaum mehr als je 30 Minuten braucht; bei guter Planung und Vorratshaltung, auch dazu gibt es Tipps. Das Mediterrane schließt die orientalische Seite nicht aus, vernachlässigt dafür die spanische ein wenig.

Dem spanischen Defizit hil dafür Sol ab, ein ebenso einfaches mediterranes Kochbuch, aber mit Schwerpunkt auf Spanien, wie das Lokal Moro, das das Autorenpaar Sam und Sam Clark in London betreibt. Tapas satt! Und, weil Spanien gegenüber, mit Blicken in die arabische Küche (Labneh-Gerichte). Ohne falsche Scheu vor Krä igem, ja, um in Weissman-Diktion zu bleiben, Fettigem. Fett ist bekanntlich Geschmacksträger!

Veganuary ist eine weltweit agierende, gemeinnützige Organisation mit 2,5 Millionen Anhängern. Sie will Menschen von den Vorteilen veganen Lifestyles überzeugen, und das Kochbuch Veganuary. Das o ffizielle Kochbuch mit seinen leichten und gesunden Rezepten soll dabei helfen. Wird alles offengelegt, ist also okay.

Manon Lagrève sagt im Titel von Voilà! Einfach französisch backen ebenfalls so gut wie alles. Die Französin lebt in London und gewann TV-Backwettbewerbe. Sie setzt nichts voraus und hat keine falsche Scheu vor Fertigprodukten (Blätterteig), also genügt sie dem Anspruch „anspruchslos“. Fast immer, denn ein paar kleine Kunststücke hält sie schon für uns bereit (ProfiteroleTürme ...). Aber als Abschluss jedes Menüs ist ein Gebäck aus diesem Buch gewiss nicht verkehrt.

ARMIN THURNHER

Veganuary: Das o ffi zielle Kochbuch. Dorling Kindersley, 240 S., € 25,70

Manon Lagrève: Voilà! Einfach französisch backen. Knesebeck, 192 S., € 28,80

38 FALTER 12/23 SACHBUCH

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In Mauer | Gesslgasse 8A

Frick EKZ Riverside | Breitenfurter Straße 372

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Riegler | Kirchengasse 26, 2460 Bruck an der Leitha

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Rosenkranz | Els 127, 3613 Els

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Spazierer | Budweiser Straße 3a, 3940 Schrems

Stark Buch | Bahnhofstr. 5, 3950 Gmünd

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Bücher & Mehr | Klosterstraße 12, 4020 Linz

In der Freien Waldorfschule | Waltherstraße 17, 4020 Linz

Neugebauer | Landstraße 1, 4020 Linz

Thalia | Landstraße 41, 4020 Linz

Buchhandlung Auhof | Altenbergerstraße 40, 4045 Linz-Auhof

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Wurzinger | Hauptplatz 7, 4240 Freistadt

Obereder | Markt 23, 4273 Unterweißenbach

Ennsthaler | Stadtplatz 26, 4400 Steyr

Hartlauer | Stadtplatz 6, 4400 Steyr

Michael Lenk | Vogelweiderplatz 8, 4600 Wels

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Thalia | Schmidtgasse 27, 4600 Wels

Schachinger | Untere Stadtplatz 20, 4780 Schärding

Kochlibri | Theaterg. 16, 4810 Gmunden

Thalia | Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl

Michael Neudorfer | Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck

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Bücherwurm | Bahnhofstraße20, 4910 Ried

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Thalia | Europastraße 1, 5020 Salzburg

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Wagner’sche | Museumstraße 4, 6020 Innsbruck

Tyrolia | Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck

Tyrolia | DEZ Einkaufszentrum, 6020 Innsbruck

Riepenhausen | Langer Graben 1, 6060 Hall in Tirol

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Zangerl | Salzburger Straße 12, 6300 Wörgl

Lippott | Unterer Stadtplatz 25, 6330

Kufstein

Tyrolia | Rathausstraße 1, 6460 Imst

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Vorarlberg

Ananas | Marktplatz 10, 6850 Dornbirn

Brunner | Marktstraße 33, 6850 Dornbirn

Rapunzel | Bahnhofstraße 12, 6850 Dornbirn

Brunner | Rathausstraße 2, 6900 Bregenz

Ländlebuch | Strabonstraße 2a, 6900 Bregenz

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Burgenland s’Lesekistl | Obere Hauptstraße 2, 7122 Gols

Pokorny | Schulgasse 9, 7400 Oberwart

Wagner | Grazer Str. 22, 7551 Stegersbach

Steiermark

Bücherstube | Prokopigasse 16, 8010 Graz

ÖH Unibuchladen | Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz

Morawa Moser | Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz

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Morawa | Lazarettgürtel 55, 8025 Graz

Morawa | Shopping Center Seiersberg, Top 2/2/12, 8055 Seiersberg

Plautz | Sparkassenplatz 2, 8200 Gleisdorf

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Morawa | Hauptplatz 8, 8330 Feldbach

Morawa | Hauptplatz 6, 8530

Deutschlandsberg

Morawa | Mittergasse 18, 8600 Bruck/ Muhr

Mayr | Kurort 50, 8623 Aflenz

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Buch + Boot | Altausse 11, 8992 Altaussee

Kärnten

Heyn Johannes | Kramergasse 2, 9020 Klagenfurt

Morawa Kärntner Buchhandlung | Wiesbadener Straße 5, 9020 Klagenfurt Besold | Hauptpl. 14, 9300 St. Veit/Glan

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Morawa Kärntner Buchhandlung | 8.-Mai-Platz 3, 9500 Villach

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FALTER 12/24 39

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Bisher zu Gast im Buchpodcast:

Hubert Achleitner

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Bettina Baláka

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Barbara Kadletz

Daniel Kehlmann

Gertraud Klemm

Florian Klenk

Doris Knecht

Gabriele Kögl

Wlada Kolosowa

Ste ffen Kopetzky

Martin Kordic

Jacqueline Kornmüller

Ute Krause

Daniela Krien

Susanne Kristek

Jarka Kubsova

Felix Kucher

Rolf Lappert

Raimund Löw

Kristof Magnusson

Lilly Maier

Dominika Meindl

Eva Menasse

Felix Mitterer

Margit Mössmer

Terézia Mora Bernhard

Moshammer

Philipp Oehmke

Tanja Paar

Susann Pásztor

Jürgen Pettinger

Khuê Phąm

Silvia Pistotnig

Ursula Poznanski

Teresa Präauer

Felicitas Prokopetz

Doron Rabinovici

Julya Rabinowich

Edgar Rai

Tanja Raich

Lena Raubaum

Eva Reisinger

Andreas Schäfer

David Schalko

Elke Schmitter

Sabine Scholl

Jasmin Schreiber

Claudia Schumacher

Johanna Sebauer

Robert Seethaler

Nicole Seifert

Stefan Slupetzky

Heinrich Steinfest

Dirk Stermann

Judith Taschler

Caroline Wahl

Daniel Wisser

Iris Wolff

Die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb im Gespräch mit Autorinnen und Autoren über das Lesen, das Schreiben und das Leben an sich.

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