FALTER
Nr. 11a/21
Bücher-Frühling 2021 79 Bücher auf 48 Seiten
ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
Belletristik: Identitätspolitik, Race & Gender +++ Trend Autofiktion: Geschichte der eigenen Familie und Jugend +++ 10 Seiten mit Büchern aus heimischem Anbau +++ Literatur aus Belarus, Bosnien, Dagestan, Nordmazedonien +++ Kinderbuch: Fantasie und Realität vom Bilder- bis zum Jugendbuch Sachbuch: Das Gegenteil von Kontrolle ist Hingabe +++ Die Pest und die Geschichte der Medizin +++ Lieferketten und Pflanzenrechte +++ Sardinen und Schwalben
Falter Zeitschrift en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2792/2021
D I E W E LT D A N A C H Bernd Marin
Wie kann Leb en, A rb eit und Wohlfahr t nach der akuten Gesundheitsund Wir tschaftskrise nachhaltig erneuer t werden? 140 Seiten, € 12,–
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NACH COR ONA
E DI TOR IALS & IN HALT Klaus Nüchtern ist für die schöne Literatur zuständig
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Kirstin Breitenfellner betreut das Sachbuch und das Kinderbuch
Belletristik
Sachbücher
Race & Gender, die Top Topics der derzeit heiß diskutierten „Identitätspolitik“, finden ihren Niederschlag auch in der Belletristik. Ansonsten bleibt „Autofiction“ der bestimmende Trend, zum Beispiel bei: Ljuba Arnautović, Volha Hapeyeva ,Christian Kracht oder Ulrich Peltzer
Nach einem vom Begriff der Kontrolle dominierten Jahr lenken wir die Aufmerksamkeit auf deren Gegenteil: die Hingabe. Weitere kontroverse Sachbuchthemen: kolonialer Kunstraub und dessen Rückgabe, die Geschichte der Seuchen – und die Rettung der Böden. Denn der Frühling kommt!
LITER ATUR
KINDERBUCH
AUFMACHER Bernardine Evaristo, Sharon Dodua Otoo und Mithu Sanyal setzen sich in ihren Büchern mit den Themen Race & Gender auseinander, Sigrid Löffler hat sie gelesen ......
Bilderbuch Hasen, Wallrasse, Katzen und das Märchen vom Grünkäppchen .... 26 Kinderbuch Prinzessinnen und Lümmel aus der letzten Bank ......................... 28 Jugendbuch Halbstarke und die Schwierigkeiten familiärer Kommunikation ..... 29
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MAN SPRICHT DEUTSCH „Komplett Gänsehaut“ von Sophie Passmann ........................... 6 Ulrich Peltzer blickt in „Das bist du“ auf die 1980er-Jahre zurück 7 Christian Kracht knüpft mit „Eurotrash“ an sein Debüt an, Jochen Schmidt will für immer 14 bleiben ................................. 8 Pockenepidemie 1962: „Monschau“ von Steffen Kopetzky ........ 9 Noch mehr deutsche Geschichte: Axel Ruoffs „Irrblock“ ........... 10 AUS HEIMISCHEM ANBAU ........................................................ Biopolitik in der Provinz: „Morituri“ von Olga Flor .................... 10 „Gegenstimme“, Romandebüt des Dramatikers Thomas Arzt .... 11 Ljuba Arnautović schreibt ihre Familien-Trilogie fort, Kirstin Breitenfellner hat die Autorin besucht ....................... 12–13 Silvia Pistotnig und Carolina Schutti gewinnen dem Thema Krankheit neue Facetten ab ............................................. 14 Daniela Strigl über Essays von Franz Schuh .......................... 15 „Sonderlinge“ von Franz Michael Felder (1839–1869) ........... 16 „Mein Leben sieht genau so aus wie ich“: Eine Anthologie versammelt Schriftstellerinnen der Zwischenkriegszeit ................. 17 „Wir bleiben noch“, der neue Romane von Daniel Wisser ......... 18 Daniel Kehlmann kommuniziert mit künstlicher Intelligenz; Poetry-Slammerin Mieze Medusa würdigt Ottakring ................. 19 UND DAS GIBT’S AUCH NOCH Der isländische Schriftsteller Mikael Torfason schreibt Autofiktion und lebt derzeit in Wien. Ein Porträt ......................... 20 François Garde hat eine historische Romanbiografie geschrieben; das Russland Putins nimmt Alissa Ganijewa aufs Korn ............. 21 Volha Hapeyeva erinnert sich an ihre Kindheit in Belarus; Rumena Bužarovska hat eine Art „Männerbuch“ geschrieben 22 Ein tolles Romandebüt der Bosnierin Lana Bastašić .................. 23 Tomasz Jedrowski schreibt über schwule Liebe in Polen; „In der Ferne“ ist ein Neo-Western von Hernan Diaz ................ 24 Charlie Kaufman ist in seinem Debütroman genau so überkandidelt wie als Drehbuchautor und Regisseur ........................................ 25
SACHBUCH Lebenskunst Hingabe ist das Gegenteil von Kontrolle und besitzt auch eine politische Dimension ................................................. 30 Physik Neues aus der Welt der Quanten .................................... 32 Lebenskunst Was bedeutet Heimat? ........................................ 33 Kulturgeschichte Die oberen Greiforgane und die Literatur ........ 33 Psychologie Was bedeuten Einsamkeit und Wir-Gefühle in Pandemiezeiten ...................................................................... 34 Medienkritik Wie manipulativ sind Halbwahrheiten? ............... 35 Literaturtheorie Ein Loblied auf die Kunst des Übersetzens ...... 35 Philosophie Rosa Luxemburg und Hannah Arendt, die Aktivistin und die Philosophin, im Doppelporträt ............................................ 36 Philosophie Ein Lexikon zeigt, dass es in den letzten 2400 Jahren gar nicht so wenige Philosophinnen gab .................................... 36 Kunstraub Letzte Beweise für kolonialen Kunstraub und ein Plädoyer für die Rückgabe von Raubkunst .................................. 37 Geschichte Wie reagierten die damaligen Herrschenden auf die Herausforderungen der Pest? .................................................... 38 Geschichte Im 19. Jahrhundert konnte die Medizin zahlreiche Errungenschaften feiern ........................................................... 39 Epochenporträt Die Romantik kritisierte den Rationalismus und suchte die Nähe zur Natur ......................................................... 40 Biografie Goethe war als Naturforscher nicht bloß ein Dilettant . 40 Geschichte Die Geschichte des Westens ist christlich dominiert . 41 Wirtschaft Wie funktionieren die globalen Lieferketten? ........... 42 Wirtschaft & Ökologie Rettet den Boden! ............................. 43 Biologie Eine Deklaration der Pfanzenrechte ............................ 44 Ökologie Stoppt die Verbauung in Suburbia! ............................ 44 Meeresbiologie Alles über Sardinen und andere Meerestiere ... 45 Biologie Es wird Frühling und die Schwalben kommen zurück! ... 45 Kochen Kochbuchtrends auf dem Prüfstand ............................. 46
SO SCH REI BT WIEN
L I T E R AT U R F Ü H R E R WIEN Viola Rosa Semper
Illustrationen Schorsch Feierfeil ist Illustrator, Grafiker und Animationsfilmemacher. Er lebt und arbeitet in Wien, wo er seine Leidenschaft für Grant und Schmäh gut aufgehoben weiß. Dem FALTER ist er seit vielen Jahren zeichnerisch eng verbunden. Zudem ist er stolzer Besitzer einer eigenen Homepage: www.schorschfeierfeil.com
E in Führer durch die L iteraturgeschichte der St adt: vo m M ittelalter bis hin zur jungen Po etr y-Slam-Szene. 256 Se i te n, € 24, 90
I M PR E S S U M Falter 11a/21 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Klaus Nüchtern Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl, Andreas Rosenthal; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh, Rainer Sigl; Geschäftsführung: Siegmar Schlager; Anzeigenleitung: Sigrid Johler Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar Bücher-Frühling ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.
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LITER ATUR
arf man Identitätspolitik komisch finden? Darf man Gender Studies, Postkolonialismus, Feminismus und all die anderen angesagten und umkämpften Diskurse von heute bespötteln und über die Nöte von People of Colour ironische Romane schreiben, ohne sich völlig unmöglich zu machen? Man darf – sofern man selbst betroffen ist, über Humor und cleveren Witz verfügt und als akademisch gebildete Woman of Colour ein gelungenes Beispiel für weibliche Selbstermächtigung unter widrigen Umständen der Diskriminierung verkörpert. Insofern ist für drei neu erschienene Romanfiktionen deren biografische Beglaubigung nicht unerheblich: Gerade weil die Autorinnen – zwei Britinnen und eine Deutsche – Nicht-Weiße sind und aus eigenem Erleben kennen, worüber sie sich lustig machen, dürfen sie sich das souveräne literarische Spiel mit diesen Themen erlauben. Auf ihre Art sind alle drei Autorinnen Selfmade-Vorzeigefrauen mit eindrucksvoller Erfolgsbiografie. Bernardine Evaristo, 1959 in London geboren, ist die Tochter einer weißen Engländerin und eines Nigerianers und Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University in London. Mit „Mädchen, Frau etc.“, ihrem bereits achten Roman, ist ihr mit 61 Jahren der internationale Durchbruch gelungen – als erste schwarze Schriftstellerin wurde sie 2019 mit dem Booker Prize ausgezeichnet.
Gender, Race et cetera
Auch Sharon Dodua Otoo, Jahrgang 1972,
ROMANRUNDGANG:
ist Londonerin. Ihre Eltern sind aus dem westafrikanischen Ghana zugewandert. Sie studierte German Studies an der Londoner Universität, schloss mit einem Summa-cum-laude-B.A.-Diplom ab und lebt seit 2006 mit ihren vier Söhnen in Berlin, als Publizistin und Aktivistin. 2016 gewann sie mit einem auf Deutsch geschriebenen Text in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. „Adas Raum“, gleichfalls auf Deutsch geschrieben, ist ihr erster Roman. Mithu Sanyal, Jahrgang 1971 und Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, ist Kulturhistorikerin und
Zwei deutsche und ein britischer Roman verhandeln die brennenden identitätspolitischen Fragen auf ebenso kluge wie gewitzte Weise
SIGRID LÖFFLER
ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
promovierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einer Doktorarbeit über die Kulturgeschichte des weiblichen Genitals. Sie arbeitet als Journalistin, Kritikerin, Hörspiel- und Sachbuch-Autorin. „Identitti“ ist ihr erster Roman. Im Grunde drehen sich alle drei Romane um ein und dieselbe scheinbar unschuldige Frage, auf die, weil sie ihnen immerfort gestellt wird, die nicht-weißen Heldinnen stets schon gereizt lauern: „Where do you come from?“ Für die indisch-polnische Heldin von Mithu
Sanyals Roman, eine gebürtige Düsseldorferin, die unter den Pseudonymen „MixedRace Wonder-Woman“ und „Identitti“ ein streitbares Blog betreibt, enthält diese Frage bereits eine klare Definition von People of Colour: „PoCs, das sind die Menschen, die gefragt werden: Wo kommst du her?“ Dahinter steht natürlich die ganze verworrene Debatte über Herkunft, Heimat, Zugehörigkeit, Diversität, Inklusion oder Ausgrenzung, Fremd- und Selbstzuschreibung, sprich: der gesamte Komplex heutiger Identitätspolitik, in den sich Wissenschaft, Medien, Politik und Öffentlichkeit seit Jahren verbeißen, samt dogmatischen Verhärtungen, rassistischen Entgleisungen, postkolonialen und Gender-bewussten Empfindlichkeiten. Erfreulicherweise gelingt es den drei Autorinnen, ihr Thema ernst zu nehmen und es zugleich spielerisch zu beleben, indem sie es von jeder akademischen Schwergängigkeit befreien und die einschlägigen wissenschaftlichen und politischen Diskurse in muntere Narrative überführen. Die Romane lesen sich schwerelos und unterhaltsam, ohne dabei ihren Ehrgeiz zu verleugnen, dem Romanformat ein paar neue experimentelle Facetten abzugewinnen. Beispielsweise Bernardine Evaristo. Ihr Roman betritt gleich zweifach literarisches Neuland: inhaltlich und von der literarischen Form her. „Mädchen, Frau etc.“ ist bewusst als programmatisch Schwarzes Buch angelegt – „Schwarz“ großgeschrieben –, um damit nicht-weißen Frauen mit af-
LITER ATUR
rikanischen oder karibischen Wurzeln eine Stimme zu geben, die im heutigen Großbritannien leben und darum kämpfen, sich zu behaupten, ja, überhaupt wahrgenommen zu werden. Evaristos Heldinnen sind zwölf schwarze
Frauen im Alter zwischen 19 und 93 Jahren. Sie alle sind Kinder migrantischer Eltern aus den ehemaligen britischen Kolonien. In der britischen Mehrheitsgesellschaft sind sie von vornherein Außenseiterinnen und werden als Fremde ausgegrenzt. Doch sie nehmen ihre strukturelle Benachteiligung nicht widerspruchslos hin, sondern erkämpfen sich ihre Anerkennung und ihren Platz in der Gesellschaft. Sie verkörpern verschiedene Generationen und unterscheiden sich in Hinblick auf ihre soziale Herkunft, auf Bildungsniveau und Berufsstand, Religion und politische Überzeugung, vor allem auch auf die sexuelle Orientierung. Etliche der Frauen sind lesbisch, eine ist eine nicht-binäre Person mit fluider Gender-Identität, andere sind Mütter oder Großmütter, die in Klein- oder Großfamilien leben, in urbanen Milieus oder in der ruralen Provinz Englands. Zwischen Bankerin und Bäuerin, Supermarkt-Kassiererin und Putzfrau, Lehrerin, Bloggerin und Theatermacherin ist alles dabei. Manch kämpferische Feministin findet sich darunter. Alle Formen von Diversität werden nicht bloß dargestellt, sondern gefeiert und lustvoll ausgemalt, gelegentlich auch mit sanfter Ironie bespöttelt. So lässig und cool der Erzählton, so scharf und präzise der Blick auf das jeweilige soziale Biotop, in dem sich die Protagonistinnen tummeln. Evaristo verknüpft deren Lebensgeschichten auf vielfältige Art. Es gibt allerlei problematische Mutter-Tochter-Beziehungen und komplexe Lebenspartnerschaften, teils hetero-, teils homosexuell. Wie die Figuren miteinander zusammenhängen und deren oft überraschende Beziehungen untereinander, das erschließt sich dem Leser erst allmählich und macht den besonderen Reiz dieses polyphonen Episodenromans aus. Der Roman hat zwar keine Handlung, aber eine bezwingend originelle Form. Er
Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen, 510 S., € 25,95
ist als Rondo angelegt: Das letzte Kapitel führt zum ersten zurück und schließt damit den Kreis. Und er ist nicht in traditionellen grammatischen Sätzen geschrieben, sondern einzig durch Absätze und Zeilenbruch gegliedert. Die einzelnen Abschnitte kommen völlig ohne Punkt aus, mit Ausnahme eines Schlusspunkts am Ende des jeweiligen Kapitels. Der Zeilenbruch erinnert zwar optisch an die Gedichtform, aber die Sprache des Romans ist alles andere als lyrisch: Es herrscht ein quecksilbriger prosaischer Erzählton, salopp und ungeniert und durchsprenkelt mit allerlei flotten modischen Slogans und Diskursformeln von heute. Tanja Handels übersetzt das gewandt und erweist sich als sattelfest in vielerlei zeitgeistigen Jargons. Das Erfrischende an Evaristos Roman: Er glaubt an die Möglichkeit von Veränderung, sogar in Brexit-Großbritannien. Auch die Briten, sowohl Bio-Engländer wie Zuwanderer, sind schließlich ein Mischmasch vielfältiger Herkünfte, und die Zukunft heißt ohnehin Diversität. Mithu Sanyals Romanheldin Identitti ist ge-
Sharon Dodua Otoo: Adas Raum. Roman. S. Fischer, 320 S., € 22,90
Mithu Sanyal: Identitti. Roman. Hanser, 432 S., € 22,90
nauso wenig auf den Kopf und auf den Mund gefallen wie Evaristos schwarzes Dutzend. Für den Plot ihres Düsseldorfer Campus-Romans musste die Autorin ihre Fantasie gar nicht erst strapazieren, den Grundeinfall lieferte ihr das reale Leben frei Haus. Sie musste bloß den Fall der weißen Kulturwissenschaftlerin Rachel Dolezal, die sich als Afro-Amerikanerin ausgab und nach dem Auffliegen ihres Betrugs mit Schande von der Washington University verjagt wurde, ins heutige deutsche Universitätsmilieu transferieren. Sanyals Identitti ist nicht nur meinungsstarke Bloggerin, sondern auch Studentin: Sie vergöttert ihre charismatische indische Professorin Saraswati, eine bekennende Person of Colour, für die an der Heinrich-Heine-Universität eigens ein Lehrstuhl für Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie eingerichtet wurde. Als auffliegt, dass Saraswati in Wahrheit eine Weiße ist und Sarah Vera Thielmann heißt, bricht
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ein Shitstorm los. Doch anders als Rachel Dolezal übersteht ihn Frau Thielmann mit Chuzpe und guten Nerven. Mehr noch – und das ist eine von vielen boshaften Pointen des Romans –, die falsche Saraswati macht danach in Oxford brillante Karriere, im Fach Whiteness Studies. Mithu Sanyal treibt mit der Verwirrung aller Konzepte von Blackfacing, White Supremacy und Race ihren unendlichen Spaß. Sie fährt Achterbahn mit allen postkolonialen Theorien und Axiomen des Identitätsdiskurses und erfindet einen täuschend echten Shitstorm, gemixt aus realen und fiktiven Stimmen. Ihr Roman ist unverschämt – und unverschämt gut. Verglichen mit dem unverfrorenen Klamauk
Sanyals hält es Sharon Dodua Otoo eher mit heiterem Ernst. Ihr Roman „Adas Raum“ hat sich Beträchtliches vorgenommen. Am Beispiel von vier Frauen namens Ada – zwei Weißen, zwei Schwarzen – aus sechs Jahrhunderten werden die Mühen weiblicher Selbstermächtigung angesichts kolonialherrlicher, rassistischer oder auch nur patriarchalischer Dominanz weißer Männer vorgeführt und mit der solidarischen Welt der Schwestern, Mütter und weiblichen Vorfahren konfrontiert. Eine der vier Adas ist historisch: Lord Byrons Tochter, die Mathematikerin und erste Programmiererin Ada Lovelace. Das Dingsymbol, das die vier Adas über Zeiten und Kontinente hinweg miteinander verbindet, ist ein Perlenarmband aus Ghana, ein Fruchtbarkeitssymbol aus matriarchalem Ur-Besitz, und die Erzählerstimme, die die disparaten Episoden des Romans zusammenhalten soll, ist zugleich seine ehrgeizigste und problematischste Erfindung: Es spricht abwechselnd ein Reisigbesen, ein Türklopfer, ein Bordellzimmer im KZ Mittelbau-Dora und eine göttliche Brise, also der Weltgeist persönlich. „Adas Raum“ hat einen weit längeren und tieferen Atem als die amüsanten Schnappatmungsromane von Evaristo und Sanyal. Das dürfte dem Erstling Otoos wohl auch seine literarische Haltbarkeit sichern. F
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LITER ATUR
Vom harten Leben in der Altbauwohnung Die Milieubeschau, die Sophie Passmann in „Komplett Gänsehaut“ leistet, bleibt bloß bornierte Stilkritik
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Die Welt da draußen, Politik und Klimakrise handelt Passmann bloß als Schaulauf der biederen Correctness ab
Passmanns Königsdisziplin ist die in Social-
Media-tauglicher Häppchengröße servierte Stil- und Haltungskritik. Die literarische Langstrecke ist nicht ihr Kanal, zumindest vorerst noch nicht. Ihre Sätze ziehen sich über Seiten, ohne Punkt und fast ohne Beistrich, gedruckte Version eines Raps, einer Art Wutrede auf ihr Milieu und dessen „maximale Kohortenlangweiligkeit“. Aber sie wiederholen sich eben und bald einmal langweilen sie auch. Dem Wohnzimmer als Ort der Selbstund Fremddarstellung, in dem man sich keine Blöße geben will, begegnet man in „Komplett Gänsehaut“ immer wieder als Kulisse und Inszenierung. Wie überhaupt fast alles im Leben von Passmanns Protagonistin und deren Freunden so aussieht,
Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut. Kiepenheuer & Witsch, 192 S., € 19,60
als wäre es mehr für Instagram kuratiert als aus den ureigensten Bedürfnissen entsprungen. Die Gespräche, die Kleidung, die Speisen, die Lokale – alles ist gewollt, auf beängstigende Art und Weise gleichförmig und gesellschaftspolitisch brav und korrekt zugleich. Eine privilegierte Generation von Bildungs-
bürgerkindern Ende 20, die meint, jetzt so richtig erwachsen zu sein, weil man sich eine schöne Altbauwohnung mit Parkett in einem gentrifizierten Bezirk genommen hat und bald eine Familie zu gründen gedenkt, kreist um sich selbst und die eigenen NichtProbleme. „Die Wohnung“, „Die Straße“ und „Die Stadt“ ziehen die Kapitelüberschriften einen recht engen Radius – topografisch und gedanklich sowieso. Die Welt da draußen? Politik? Klimakrise? Das Darüber-Reden am Abend, bei Einladungen, wo selber gekocht und guter italienischer Rotwein getrunken wird, wird von Passmann als weiterer Schaulauf der biederen Correctness abgehandelt. So etwas wie Leidenschaft kommt allenfalls beim Thema Feminismus auf, aber weil Leidenschaft offensichtlich peinlich ist, muss sie gleich wieder ironisch gebrochen werden: „Natürlich sind wir Feministinnen, wir sind nur ein bisschen reicher als die, die den Feminismus erfunden haben, und das bedeutet ja erst mal nur, dass wir einsehen, dass die Welt gemein zu uns ist, nicht so gemein wie zu anderen, aber wir sind ja nicht Feministinnen geworden, um uns für die anderen zu interessieren. Überhaupt übertragen wir diese Denkfigur auf jedes, wirklich jedes Problem, meine Freunde und ich, wir denken, wir wären wirklich die Ersten, die diese Feststellung hinter sich gebracht haben: Das System als solches bedingt immer die bestehenden Umstände.“ Passmanns Hauptfigur, die nicht zuletzt dank des „Wir“-Tons im Roman schwer von der Autorin zu trennen ist, kann sich ernsthaft darüber auslassen, wie schrecklich es
Auf den Spuren eines der unglaublichsten Naturereignisse
Die abenteuerlichen Reisen der Tiere „Wissenschaftlich fundiert und leicht wie ein Flügelschlag geschrieben.“ Il Sole 24 Ore
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doch ist, ihr Elternhaus in einer deutschen Kleinstadt zu besuchen und darüber nachdenken zu müssen, was sie mit dem ganzen Wohlstand, den sie später einmal erben wird, anfangen soll. „Ich fahre selten in die Stadt, aus der ich komme, in das Haus, in dem ich groß geworden bin, weil ich es nicht ertrage, mir den ganzen Krempel anzuschauen, den ich irgendwann erben muss.“ Erben, das klingt für sie eben auch nach „viel Arbeit, nach viel Papierkram, nach Terminen beim Notar, nach steuerrechtlichen Fragen, außerdem sind dann natürlich die Eltern tot, das ist ja auch nie wirklich schön, das kann ja keiner wollen“. Das ist natürlich borniert und nervig gleichermaßen, und je länger man in „Komplett Gänsehaut“ liest, desto mehr ärgert man sich über diese westdeutsche Mittelstandsselbstzufriedenheit, die die Autorin – in Ettenheim in Baden aufgewachsen, von Köln gerade nach Berlin gezogen – zwar scharfsinnig und selbstironisch seziert, aber dabei trotzdem nie über den RezensionsAnsatz hinauskommt. Wenn sie dann zum dritten Mal darüber rä-
soniert, wie bezeichnend es doch sei, dass sie und ihre Freunde beim Ausgehen keine normale Pizza mehr bestellen können, weil in ihrem Stadtteil „vor ein paar Jahren Arschlöcher angefangen haben, jedes Mal, wenn jemand Pizza gegessen hat, zu erwähnen, dass das ursprünglich mal ein Arme-Leute-Essen war“ und dann „dieselben Arschlöcher ein paar Jahre später Pizzerien eröffnet haben, in denen man Ziegenkäse, Rote Bete und Honig auf Pizza schmeißt, zur Not auch geröstete Pinienkerne“ oder solche mit „steirischem Bergkäse und karamellisierten Walnüssen, Hauptsache, arme Leute können es sich nicht mehr leisten“, dann fragt man sich schon, welches Leiden da so wortreich beschworen wird. Echt jetzt? BARBAR A TÓTH
ISBN 978-3-85256- 830-0 · Gebunden mit zahlreichen Karten und Abb. 206 S. · € 22,– · Erhältlich ab 23. März 2021 · Auch als E-Book
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ä? Was soll das alles? Wer sind die Leute? Wieso ist sie immer so schlecht gelaunt, im Wohnzimmer sollte man Bücher nach vierundvierzig Seiten zuklappen dürfen und nie wieder weiterlesen wollen, man kann sich dann sehr heimlich fragen, was mit dem eigenen Herzen falsch läuft, dass man da wirklich gar nichts fühlt. Aber nur heimlich. In Wohnzimmern will niemand scheitern.“ Das schreibt Sophie Passmann auf Seite 48 ihres neuen Buches „Komplett Gänsehaut“ – und sie hat recht, denn es trifft auch auf ihren neuen Roman zu. Sophie Passmann, 27, ist Autorin, Radiomoderatorin und Satirikerin. Ihr Talent, alles und jeden pointiert zu kommentieren, bewies die mittlerweile zum intellektuellen It-Girl Avancierte im Rahmen von Poetry-Slams. Sie versorgt ihre 223.000 Fans auf Instagram und 161.000 auf Twitter mit scharfsinnigen, selbstironischen und wirklich witzigen Sinnsprüchen; sie ist die gern gebuchte „junge Frau“ in Talkshows, wo sie älteren, weißen Herren erklärt, wie die Digital Natives so ticken („Alte weiße Männer: Ein Schlichtungsversuch“ lautete der Titel ihres zweiten Buches).
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LITER ATUR
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Porträt des Künstlers als junger Mann Ulrich Peltzer nimmt die eigene Studentenzeit zum Anlass, die eigene Identität zu rekonstruieren: „Das bist du“
zähler von heute aus zu dem, der er einmal war. Er ist also doppelt vorhanden: einmal als Erzählerstimme in der Gegenwart, die die Bruchstücke der Vergangenheit sortiert, vor allem aber als dieses in der Vergangenheit versunkene Du. Müßig also, die Frage nach dem autobiografischen Gehalt zu stellen. Ja, so oder so ähnlich könnte es tatsächlich gewesen sein. Peltzer war wie sein namenloser Ich-Erzähler in den frühen 1980er-Jahren Student der Psychologie in West-Berlin. Auch seine Diplomarbeit über „Aspekte der Formierung bürgerlicher Individualität in der höfischen Gesellschaft“ kommt vor. Dem Roman liegt ja im Grunde dieselbe Fragestellung zugrunde: Wie bildet sich Individualität heraus, und was ist das überhaupt, dieses seltsame, schillernde, ungreifbare „Ich“? So gibt es im gleich gebliebenen Erkenntnisinteresse also doch eine direkte Verbindung zwischen dem Du von einst und dem Ich von jetzt. Doch zunächst und vor allem geht es darum, die damalige Epoche zwischen Punk und Pop, sehr vielen Drogen, Kneipenbesuchen und einer drängenden Lust an der Theorie, an Kino, Literatur und Musik zum Klingen zu bringen. Das gelingt Peltzer durch hohes Tempo, eine fragmentierte, filmische Erzählweise und das Aufbrechen der Chronologie. Die Erinnerungen stellen sich als Scherben ein: beliebig und scharfkantig. So entsteht ein Soundtrack der frühen 1980er-Jahre oder, wie Peltzer das nennt, ein „Gewebe des Lebens“. Eindrucksvoll macht er deutlich, dass das „Ich“ kein geschlossener Kokon ist, sondern dass auch das dazugehört, wovon es umgeben wird, was es aufnimmt, hört, liest und bedenkt. Ob Ian Dury oder Joe Jackson, Dylan oder die Doors, ob Bücher von Handke, Pavese, Rolf Dieter Brinkmann oder T.S. Eliot, ob Klaus Theweleits „Männerphantasien“ oder der „AntiÖdipus“, dem der Erzähler in einer Lesegruppe zu Leibe rückt: All das ist nicht einfach nur Hintergrund oder Begleitmusik einer Biografie, sondern zentrale Erfahrungen dessen, der da zu sich sagt: „Das bist du“.
Individualität gewinnt der Erzähler erst im Schreiben. Der Wunsch, sein Dasein in Sprache zu verwandeln, rettet ihn aus seiner mäandernden Unbestimmtheit. „Das bist du“ ist das Porträt des Künstlers als junger Mann. So wie er das Kino als einen Ort der Befreiung und der Erkenntnis erlebt – er arbeitet, und auch das ist autobiografisch, als Kartenverkäufer in einem Kreuzberger Programmkino –, so erlebt er auch sein Schreiben als Aufbruch oder gar als „Offenbarung dessen, was ein Mensch sei“. Um nichts Geringeres geht es ihm.
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Pelzer bringt die 1980er-Jahre zwischen Punk und Pop, sehr vielen Drogen und einer drängenden Lust an der Theorie durch hohes Tempo und filmische Erzählweise zum Klingen
Die kleine Frage „Was war ich – und warum so?“ mündet in die größere, immer wieder neu und nur individuell beantwortbare: „Was ist der Mensch?“ Peltzer betrachtet die Vergangenheit kalt
und nüchtern und doch nicht ohne romantisches Sentiment. Er erinnert sich einer Zeit, in der es zwar auch in West-Berlin durchaus eine Zukunft gab, in der es aber üblich war, sich nicht darum zu kümmern. Das Leben war in einer gekonnten Aufsparung auf ewige Gegenwart ausgerichtet und insofern sorgenfrei – auch wenn man kein Geld hatte. Peltzers raffinierte Volte besteht jedoch darin, aus dieser undefinierten Zukunft heraus zu erzählen. Dieser Punkt, von dem aus der Erzähler sich erinnert, bleibt unbestimmt. Wir wissen nicht, was aus dem jungen Mann von damals inzwischen geworden ist. Wir dürfen jedoch vermuten, dass er zu einem erfahrenen Schriftsteller herangereift ist. Wie sonst könnte er so präzise all das Unerfüllte, das Schöne, das übrig gebliebene Hoffnungspotenzial der damaligen Zeit herausarbeiten. JÖRG MAGENAU
Selbst die Liebesgeschichte mit einer
Frau namens Leonore, die dem Roman über all diese Einzelheiten hinaus ein Handlungsgerüst gibt, ist durchaus typisch: in ihrer Sehnsucht nach dem großen Glück und einer dann doch irgendwie bürgerlichen Liebesgemeinschaft ebenso wie in ihrem Scheitern und dem nicht zu bewältigenden Schmerz.
VISIO NÄRE REI SEN
H OT E L PA R A D I S O Matthias Dusini
Mit der B ahn zu 13 b esonderen O r ten in Mitteleuropa. E in Reiseführer. Ulrich Peltzer: Das bist du. Roman. S. Fischer, 288 S., € 22,90
256 Seiten, € 29,90
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Titel klingt das Staunen über die I„Dasmeigene, fern gerückte Existenz an: bist du“. So spricht der Ich-Er-
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Hey, du kannst für immer 14 sein! In „Ich weiß noch, wie King Kong starb“ feiert Jochen Schmidt in liebenswerten Kurztexten trotzig das Nichterwachsenwerden an kennt diese Typen: FamilienväM ter über 40, die mit dem Longboard übers Straßenpflaster rollen, samstags alte
Band-T-Shirts auftragen und überglücklich sind, wenn eine verblichene Zeitschrift der eigenen Jugend wieder aufgelegt wird (YPS mit Gimmick!). Herzensgute Kindsköpfe, deren nie endende Adoleszenz meistens von einem nachsichtigen Umfeld pragmatischer Frauen aufgefangen wird. Auf den ersten Blick fällt auch der durchaus nahe am Autor gebaute Erzähler in Jochen Schmidts Textsammlung „Ich weiß noch, wie King Kong starb“ in diese Kategorie. Er pflegt seine alte Spielzeugsammlung, geht mit gleichgesinnten 50-Jährigen auf den Bolzplatz und beneidet den eigenen Sohn ums Kindsein. Wie beim stolzen Ostalgiker Schmidt üblich, sind die eigenen Erinnerungen vor allem durch das Aufwachsen in der DDR geprägt, etwa die Erlebnisse in systemkritischen katholischen Jugendgruppen, deren „freundliche Zugewandtheit“ treffend beschrieben wird.
Als „Florilegium“ sind diese Textminiaturen ausgewiesen, eine in Vergessenheit geratene Gattung literarischer Blütensammlungen. Ihre erratische Collagenhaftigkeit wird hier durch Zeichnungen, zwischen altväterlich und kindisch oszillierende illustrierte Witze sowie Schwarzweißfotos von Reisemitbringseln betont. Die Texte selbst tragen so schöne Titel wie „Hypnotiseure in Soest“
und lassen Schmidts jahrelange Lesebühnen-Erfahrung durchscheinen. Sie wirken wie locker hingeworfen, sind aber gut geölte Maschinchen, die darüber hinaus ein rampensauhaftes Gespür für hammermäßige Schlusspointen verraten. Sie sind sehr oft sehr lustig und – der Rezensent hat es selbst getestet – ideal zum Vorlesen geeignet. Nur manchmal schrammen sie etwas hart an der Grenze zur „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“-Stand-upRoutine entlang – etwa wenn der Erzähler seiner Freundin nicht zuhört, weil er gerade darüber nachdenken muss, „wer die letzten fünf Trainer des HSV waren“.
te gewidmet sind: zum einen Iwan Gontscharows „Oblomow“, für dessen tiefenentspannte Lebenshaltung Schmidt eine überzeugende Verteidigungsrede hält, zum anderen Marcel Proust. Hatte er in seinem 2009 als Buch veröffent-
Weil Schmidt aber seinen Beruf ernst nimmt
und einiges an Selbstreflexion in seine Texte einfließen lässt, ist dieses Florilegium mehr als nur Comedy. Mit kindlicher Sprachverliebtheit greift er Begriffe wie „Schnürnecessaire“ und „Toi-et-moi-Ring“ auf, die er in der Trash-TV-Sendung „Bares für Rares“ aufgeschnappt hat: „Ich freue mich immer, neue Wörter kennenzulernen, denn man kann sie einfach benutzen, ohne dafür zu bezahlen.“ Den etwas ernsthafteren Gegenpol zu solchen Beobachtungen bildet das Schriftstellerdasein, mit dem sich Schmidt immer wieder auseinandersetzt. Was ist das eigentlich für ein Beruf ? Wie, wo und womit schreibt man? Als Leitsterne dienen ihm hier zwei Figuren, denen längere Tex-
Jochen Schmidt: Ich weiß noch, wie King Kong starb. Ein Florilegium. C.H. Beck, 239 S., € 22,90
lichten Proust-Blog die tägliche Lektüre des Mammutwerks „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommentiert, widmet Schmidt sich hier dem Alltag des Autors selbst, dessen Neurosen er mit solidarischem Mitgefühl nacherzählt. Er beneidet den bakteriophoben Franzosen aber nicht nur um dessen Apparat zum Desinfizieren von Briefen, sondern hat ein professionelles Interesse an diesem: „An anderen Autoren interessiert mich, wie sie ihr Leben organisiert haben, um arbeiten zu können, denn das ist eines der wichtigsten Talente, über das man verfügen muss.“ Erwachsene sind seriöse Leute, die seriöse Jobs haben. Der Schriftstellerberuf, suggeriert Schmidt mit beharrlichem Trotz, ist ein Gegenwurf, der helfen soll, die eigene Kindheit wenigstens schreibend in die Gegenwart zu retten. Auch wenn sie einem dann wieder aus den Fingern gleitet: „Jeder Tag treibt mich tiefer ins Exil meines Erwachsenseins, mit dem ich nichts anfangen kann, für das ich von der Natur nicht vorgesehen bin, das ich als lästiges Nachspiel der verlorenen Kindheit empfinde.“ MAIK NOVOTN Y
Mama Kracht ist ein Kracher Mit „Eurotrash“ knüpft Christian Kracht an sein Debüt „Faserland“ an und betreibt ein lustvolles Spiel mit Fakten und Fiktionen m Jahr 1995 debütierte der Schweizer Christian Kracht, damals 28, mit dem IRoman „Faserland“. Er schickt seinen jun-
gen Helden auf eine Deutschlandreise und brachte einen neuen Ton in die deutschsprachige Literatur: nicht cool, sondern teilnahmslos und voller Ennui. Hier war er, der gnadenlos oberflächliche Bret Easton Ellis für unsere Breiten. Ein gutes Vierteljahrhundert später verfasst sein amerikanischer Bruder im Geiste immer noch Aufgüsse seiner frühen Romane. Kracht indes ist schon mit seinem zweiten Roman „1999“ aus der Schublade der Popliteratur ausgestiegen. Mit faszinierend-verstörenden Romanen gelang es ihm in der Folge, ein Geheimnis zu kultivieren – und zu bewahren. Manche halten Kracht für einen der letzten Ästheten, andere für einen Zyniker oder einen Rechten auf den Spuren Ernst Jüngers. Den Autor selbst scheint all das wenig zu kümmern. Die Ankündigung einer Fortsetzung von „Fa-
serland“ sorgte allerdings für Verwunderung. Ging es bei Kracht nicht immer nur vorwärts? War nicht Nostalgie der Feind? Und hat er es notwendig, sich auf sein erfolgreiches Debüt zu beziehen? Immerhin war auch sein letzter Roman, „Imperium“, ein Bestseller und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Nach der Lektüre des neuen Romans beschleicht einen das Gefühl, dass es dem Verfasser ein dringendes Anliegen war, dieses Buch zu schreiben. „Eurotrash“ ist Krachts persönlichstes Werk. Was nicht heißen soll, dass die Sache einfach wäre, denn der Autor führt den Leser in ein Spiegelkabinett der Identitäten und treibt mit Fakten und Fiktion sein lustvoll-perfides Spiel. Kracht nutzt den Erstling als Startrampe. Der Held ist älter geworden, weiser wirkt er nur bedingt. Aber wer ist hier überhaupt wer? Auf der ersten Seite behauptet Christian, der Ich-Erzähler von „Eurotrash“, er habe vor 25 Jahren das Buch „Faserland“ geschrieben. Von kleinen Unstimmigkeiten abgesehen deckt sich sehr vieles mit dem, was von Krachts Familiengeschichte bekannt ist. Vater Kracht (1921–2011), er hieß ebenfalls Christian, stiegt nach dem Krieg aus einfachen Verhältnissen zur rechten Hand des Verlegers Axel Springer auf und brachte es zu einem beträchtlichen Vermögen, das auch ausgestellt und etwa in sündhaft teure Möbel investiert wurde. In dieser Sphäre wuchs Christian Junior auf, umgeben von David Niven und anderen Vertretern der Reichen und Schönen. Die erste Hälfte des Romans ist eine bittere, vielleicht ein wenig selbstgerechte Abrechnung mit der eigenen Familie. Der Vater wird als kulturloser Parvenü gezeichnet;
der Großvater als bis zum letzten Atemzug strammer Nazi, der sich nur in seiner SMKammer entspannen konnte, bevorzugt mit isländischen Au-pair-Mädchen. Die zweite Hauptrolle in „Eurotrash“ spielt
Christian Kracht: Eurotrash. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 224 S., € 22,70
Christians Mutter. Mit über 80 dämmert sie, von Weißwein, Wodka und Medikamenten ordentlich sediert, ihrem Ende entgegen. Doch als der Sohn sie zu einem letzten Ausflug überredet, entpuppt sie sich als geistig höchst fit und schlagkräftig. Sie haut ihn raus, als es beim Besuch einer naziverseuchten Öko-Kommune brenzlig wird. Und sie liest ihm auch mal ordentlich die Leviten. Die Witzchen und Selbstzitate im Buch sind etwas mau. Christian wird mit Daniel Kehlmann verwechselt – der am Buchrücken, wie auch Peter Handke, freundliche Worte beisteuert – und erinnert sich an betrunkene Ausfälle seines jüngeren Ichs. Ja, eh. Aber die Familiengeschichte, ob nun erflunkert oder wahr, geht einem nahe. Der Erzähler durchläuft dabei eine extreme Entwicklung von der Selbstgerechtigkeit hin zur Selbstgeißelung. Gegen Ende gesteht er, im Grunde so wie sein Vater ein Angeber zu sein: „Der große Unterschied war dabei, dass mein Vater tatsächlich Geld gehabt hatte, ich aber keinen Funken Intellekt.“ SEBASTIAN FASTHUBER
LITER ATUR
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Nazis, Pocken, Moussaka Eine historische Pockenepidemie bildet den Hintergrund von Steffen Kopetzkys Roman „Monschau“
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ie unter den Zwängen und Regeln einer Pandemie die Stärken und Schwächen einer Gesellschaft, aber auch kollektive Ängste und Hoffnungen überdeutlich sichtbar werden, zählt zu den überraschenden Erfahrungen der vergangenen zwölf Monate. Es spricht ja zum Beispiel einiges dafür, dass die weltweit vernetzte Wirtschaft und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen die Verbreitung jenes Virus erst ermöglicht haben, das nun die Kluft zwischen armen und reichen Ländern, zwischen sozialen Gewinnern und Verlierern noch weiter vertieft hat: was wiederum Ängste vor einem ökonomischen Kollaps oder Hoffnungen auf eine beschleunigte Transformation in Richtung nachhaltiger Wirtschaft beflügelt. Und weil wir alle so ratlos sind, wollen wir plötzlich wissen, wie Gesellschaften in der Vergangenhheit mit Pandemien umgegangen sind. Bereits 2018 hat die britische Journalistin Laura Spinney ein Buch über die Spanische Grippe veröffentlicht, das zwei Jahre später zum Bestseller avancierte. Dieser verzögerte Erfolg verdankte sich wohl weniger einem jäh erwachten Interesse an der Geschichte der Medizin als vielmehr der Neugierde auf die Veränderungen, die eine pandemische Krise auslöst. 1918 ging nicht nur der Erste Weltkrieg zu Ende, das Jahr steht auch für den Beginn einer gründlichen Modernisierung des Gesundheitswesens und der Hygiene.
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Alt-Nazis machen vom Hochsitz herab Jagd auf Dermatologen, aber über den Abgründen schwebt das Liebespaar und die Musik von John Coltrane
Von dieser Figur aus entfernt sich Kopetzky im-
1962 brachen in Monschau, einem idyllischen
Städtchen an der deutsch-belgischen Grenze, die Pocken aus. In einem Nachbarort stellt die Firma Otto Junker bis heute Industrieöfen her, die schon damals ein Exportschlager waren. Und so schleppte ein Monteur bei seiner Rückkehr von einem Auftrag in Indien das Virus ein, und was dann passierte, kommt uns in einigen Details ziemlich bekannt vor. Belgien riegelte die Grenze ab, Politiker und Unternehmer, aber auch Teile der Be-
völkerung redeten die Gefahr herunter, die Gesundheitsbehörden waren von der Situation überfordert. Erst nachdem aus Düsseldorf der renommierte Dermatologe Günter Stüttgen eingetroffen war, wurde der systematische Kampf gegen die drohende Epidemie aufgenommen. Nach vier Monaten konnten die letzten Patienten entlassen werden, insgesamt waren 37 Menschen erkrankt und ein Todesfall zu beklagen. Stüttgen kannte die Gegend um Monschau gut, denn dort hatte er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein Feldlazarett geleitet und dieses noch vor der Kapitulation den amerikanischen Truppen übergeben. Dafür war er in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Diese Geschichte erzählt Steffen Kopetzky in seinem Roman „Propaganda“ (2019), den er jetzt, wohl aus aktuellem Anlass, fortgeschrieben hat. In „Monschau“ kehrt Stüttgen zurück als der Arzt, der das Schlimmste verhindert hat, unterstützt von seinem griechischen Assistenzarzt Niko Spyridakis, für den es, unter anderem Namen, ebenfalls ein historisches Vorbild gibt.
Steffen Kopetzky: Monschau. Roman. Rowohlt Berlin, 355 S., € 22,70
mer weiter von der den historisch verbürgten Fakten. In einer Betriebswohnung des Ofenwerks einquartiert, verliebt sich der junge Arzt in die hübsche Firmenerbin Vera, die im gleichen Haus wohnt. Sie ist aus Paris gekommen, wo sie Journalismus studiert. In ihrer alten Heimat wittert sie die Chance, mit einer Geschichte über die Pocken in Monschau einen Coup zu landen. Ja, das riecht nach Kolportage, und Kopetzky lässt in dieser Hinsicht wirklich nichts anbrennen. Weil Veras Eltern früh gestorben sind, werden die Rither-Werke von einem Geschäftsführer geleitet, der aus Bayern kommt und also immer eine Flasche Augustiner in Griffweite hat. Vor der Kapitulation hat er Geschäfte mit Robert Ley gemacht, dem Leiter der NS-Arbeitsfront, jetzt versucht er, die Firma mit einem in-
ternationalen Konsortium zu verschmelzen, noch bevor Vera ihre Ansprüche durchsetzen kann. Doch da kommt ihm Grünwald in die Quere, ein halbseidener Reporter der einstmals sehr erfolgreichen Illustrierten Quick, der wohl nicht zufällig genauso heißt wie ein ebenso halbseidener Münchner Villenvorort und der nach Monschau nicht nur wegen der Pocken, sondern auch wegen der Ley-Connection gereist ist. Ferner tritt ein Alt-Nazi auf, der von einem Hochsitz aus Jagd auf Professor Stüttgen macht, den er noch immer für einen Verräter hält. Und auch die jungen Menschen aus den benachbarten Dörfern haben wenig gelernt, seit sie von den Nationalsozialisten befreit worden sind. Gleich den Pusteln einer Pockeninfektion
bricht die Vergangenheit hervor. Aber über diesen Abgründen schweben Vera und Niko, die John Coltrane hören und über Simone de Beauvoir reden. Vera wird die RitherWerke in eine Stiftung überführen und in der letzten Szene mit Niko bei dessen Mutter auf Kreta Moussaka essen. In der Quick wäre eine solche Geschichte sicher nicht schlecht angekommen und es macht das Raffinement dieses Romans aus, dass er sich bis in den Erzählton seiner Zeit perfekt anverwandelt. Das Wirtschaftswunder lässt Krieg und Diktatur vergessen, unangefochten beherrschen Patriarchen Wirtschaft und Politik. Das funktioniert nur, weil sich alle an unverbrüchliche Gebote des Schweigens halten. Menschen wie Günter Stüttgen, Vera Rither und Niko Spyridakis freilich setzen sich darüber hinweg. Sie retten den Monschauern buchstäblich das Leben – und ihre Zukunft. Im Mikrokosmos des Eifelstädtchens führt Kopetzky vor, wie eine Epidemie sichtbar macht, was eine Gesellschaft zu lange nicht sehen wollte – eine Lektion, die auch uns noch eine ganze Weile beschäftigen wird. TOBIAS HE YL
Czernin Verlag
Die alte Johanna Renate Welsh Die grandiose Fortsetzung des Jugendbuchklassikers »Johanna« 192 Seiten Hardcover mit SU Euro 20,–
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Der Kopf von Rosa Luxemburg
Junges Blut für Bio-Einheimische
Axel Ruoffs Roman „Irrblock“ verbindet deutsche Kolonialund NS-Geschichte zu einer irrlichternden Allegorie
Olga Flors Roman „Morituri“ handelt von Biopolitik in Zeiten massiver Migration, von Landliebe und globaler Provinz
ermann Troll, Hilfsgärtner in eiH nem Berliner Museum, das sich auf die Ausstellung einer dubiosen
lebrig rot leuchten die Tentakel des Sonnentaus auf dem K Cover von Olga Flors neuem Buch.
Sammlung von Schädeln, Büsten und sonstigen kopfförmigen Artefakte spezialisiert hat, ist ein seltsam vergeistigte Außenseiter. Troll, der in einer nicht begründeten Antipathie gegenüber den wenigen anderen Mitarbeitern des „Kopfmuseums“ verharrt, fristet seine Arbeitstage damit, in einem Holzverschlag auf dem Museumsgelände, einen riesigen Gesteinsbrocken – den titelgebenden „Irrblock“ – von Flechten zu befreien. Die Flechten wachsen auf unerklärliche Weise so schnell, dass diese Arbeit Troll zu einem Sisyphus jenseits antiker Tragik macht. Das Zurechtschneiden der Flechte scheint bei diesem geradezu libidinös besetzt zu sein, ein Umstand, der auch dessen Lebensgefährtin Unbehagen bereitet: „Seiner Lebensgefährtin Ariana sei die Flechte unerträglich, nach der er so penetrant rieche und schmecke, dass für sie eine Nähe in irgendeiner Form schließlich ausgeschlossen sei, sie habe keine Lust mehr, mit so einem Flechtenuntier über Umwege geschlechtlich zu verkehren, denn er gleiche einem stinkenden Ableger dieser Pilzbraut, an der er sich aufgeile.“ Ob die Arbeit an der Flechte eine al-
legorische Übersetzung der Libido in mäandernde Satzkonstruktionen ist, über diese und ähnliche Fragen kann man sich bei der Lektüre von „Irrblock“ über hunderte Seiten den Kopf zerbrechen. Denn insgesamt ist der aus München gebürtige und in Berlin lebende Autor an einer Verrätselung und Anreicherung mit literarischen Bezügen der langen Satzperioden mehr interessiert als an einem wie auch immer gearteten Erzählen. Seine Inspiration bezieht er dabei aus aktuellen Diskursen über die Kolonialgeschichte musealer Objekte, er verarbeitet offenbar aufwendig recherchiertes historisches Material und allerlei botanisches Wissen.
In weiterer Folge treten in „Irrblock“ die Mutter des Hilfsgärtners und dessen Großvater auf, der schon früh der NSDAP beitrat und diesem Umstand seine Karriere als Professor für Veterinärmedizin verdankte. Anhand dieser Figur und dem entsprechenden Handlungsstrang, der immer wieder mit Büchners „Woyzeck“ verschnitten wird, legt Ruoff eine Geschichte von Täterschaft, Kriegsgefangenschaft und Bombentraumata aus dem Luftkrieg frei, die auf Hermann Troll und seiner an Mundfäule leidenden und mittlerweile im Altersheim lebenden Mutter Irene lasten. Das „Kopfmuseum“, so erfährt man
spät im Text, der zu Beginn eher unfreiwillig als reflektiert an Thomas Bernhards „Alte Meister“ erinnert und in späteren Teilen Franz Kafkas „Der Jäger Gracchus“ als Schablone benutzt, befindet sich im Gebäude des ehemaligen Frauengefängnisses in der Berliner Barnimstraße. Rosa Luxemburg, die 1907 und 1915 dort inhaftiert war, betritt als untote „Jägerin Gracchus“ das „Kopfmuseum“ und wird zur späten Hauptfigur von „Irrblock“. Der Gesteinsbrocken ist nämlich selbst ein irgendwann aus der Erde aufgetauchter, vergrößerter Kopf einer Rosa-Luxemburg-Gedenkbüste, die 1950 im Frauengefängnis ausgestellt wurde und in die Gegenwart Hermann Trolls als Objekt seltsam anmutender Verehrung eindringt. Ruoffs Versuch, mit „Irrblock“ eine allegorische Dekonstruktion des Albdrucks der Geschichte zu leisten, betreibt großen Aufwand, ist aber steril und langatmig geraten. FLORIAN BAR AN Y
Axel Ruoff: Irrblock. Roman. Bibliothek der Provinz, 375 S., € 28,–
Die Antagonistin zu Depro-Max gibt „Gummistiefel“, eine superzynische Texterin für Politiker und Kapitalisten. Ihr Name leitet sich wohl von dem Umstand ab, dass sie durch einen Sumpf aus Machtgier und Reichtum watet. Gegen sie wirkt die bestechliche Bürgermeisterin fast schon gemütlich-rustikal. Wiegt die Korruption der Sprache für die Schriftstellerin mehr als alles andere? „Morituri“ steckt voller Anspielungen auf die heimische Politik, etwa wenn ein „strahlender Jungpolitiker“ auf einem „Bilderbuchpapierberg“
Komm mit auf eine Reise, die dich sprachlos, euphorisch, betroffen – und vor allem: voller Staunen – zurücklassen wird.
Brigit Strawbridge Howard Dancing with Bees Meine Reise zurück zur Natur € 22,90 | 368 Seiten, gebunden Erscheinungstermin: 19.03.2021
Loewenzahn Verlag 106x50.indd 1
Die fleischfressende Pflanze wächst in Mooren und ist vom Aussterben bedroht. Insofern passt sie hervorragend zu den Bewohnern der Ortschaft Niedermoor, wo die bissige Dystopie „Morituri“ spielt. Gefinkelte Naturmetaphern durchziehen den achten Roman der Grazer Autorin. Wenn Pflanzen, Landschaft oder Tiere vorkommen, geht es freilich nie um die „echte“ Bio-Natur, sondern stets um die schon zivilisatorisch kategorisierte, zurechtgestutzte und ausgebeutete Umwelt – und wenn es sich nur um einen Wassertropfen handelt, der als Spiegel für das dumme Treiben der Menschen herhalten muss. Zu den „Todgeweihten“, wie der lateinische Titel übersetzt heißt, zählen eine gute Handvoll Charaktere, deren Situation und deren Anschauungen in kurzen Kapiteln geschildert werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie früher oder später mit dem Good Life Center in Kontakt kommen. Diese Klinik bietet eine vermeintlich lebensverlängernde Therapie an, soll in Wahrheit aber nur zum Zweck der Geldwäsche und der korrupten Bereicherung auf die grüne Wiese gestellt werden. Maximilian ist der größte Loser in Flors Parade von Antiheldinnen und -helden, und gerade ihm räumt sie den meisten Platz ein. Der geschiedene Architekt, Hühnerhalter und Imker ist noch am wenigsten von allen auf den eigenen Vorteil aus. Und doch wird gerade er – wohl aus Einsamkeit und Neugierde – zum Blutsauger im buchstäblichen Sinne. Immer wieder zweifelt Maximilian an der Sinnhaftigkeit seines Umzugs aufs Land. Aber eigentlich gibt es „das Land“ ja gar nicht mehr, denn schließlich sei die Folge der Globalisierung, „dass ÜBERALL die Provinz herrsche, globale Provinz, dass man ihr daher auch nicht entkommen könne, dass man hier nur ein bisschen deutlicher spürte, dass die Einöde im Kopf war und man sie stets mit sich schleppte“.
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vom Grenzschutz schwärmt. Oder wenn die Bürgermeisterin „beim Anblick des Präsidenten einen Akutorgasmus erleidet“ und einen Hofknicks macht. Bisweilen lässt sich die Erzählerin von ihren Assoziationen aber so sehr mitreißen, dass man vom Stakkato der Sprachfiguren aus der Bahn geworfen wird. Auf Seite 120 taucht schließlich der „At-
tentäter“ auf, der den Romanfiguren 80 Seiten später den Garaus machen wird. Sein Weltbild ist so hasserfüllt, frauenfeindlich, xeno- und homophob, wie es nur sein kann. „Wir wollen keine Gleichberechtigung, wir wollen Rache!“, erklärt auch die Redenschreiberin im Romanfinale.
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Der im Ort Niedermoor spielende Roman steckt voller Anspielungen auf die heimische Politik – etwa wenn ein „strahlender Jungpolitiker“ vom Grenzschutz schwärmt
Wiewohl das patriarchalische Geschlechterverhältnis regelmäßig in Jelinek’scher Manier dekonstruiert wird, bleiben sich Männer und Frauen in „Morituri“ nichts schuldig. So virtuos, so bekannt. Ein neuer Raum tut sich in Flors streckenweise zäher Abarbeitung von Klischees im Rahmen einer experimentelle Verjüngungskur des Good Life Center auf. Bei dieser wird der weiße Maximilian zwecks Altershemmung an den Blutkreislauf des jüngeren, schwarzen Maurice angeschlossen. „Ich profitiere von der Aneignung fremder Körperzellen“, beschreibt der Weiße seine parasitäre Position gegenüber dem Schwarzen. Gleichzeitig bringt ihn der dubiose Biotransfer seinem Gegenüber auf eine so sensibel-intime Weise näher, dass er sich am Ende die philosophische Frage stellt: „Bin ich der Held meiner eigenen Körpergeschichte?“ NICOLE SCHE YERER
Olga Flor: Morituri. Roman. Jung und Jung, 210 S., € 22,–
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Ein Sonntag auf dem Lande Der „Anschluss“ in der oberösterreichischen Provinz: das Romandebüt des Dramatikers Thomas Arzt
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Der Held des Romans ist einer der wenigen, die gegen den „Anschluss“ stimmten. Vorbild ist der Großonkel des Autors
Der 38-jährige Thomas Arzt ist bisher fast
ausschließlich als Dramatiker in Erscheinung getreten. Entdeckt wurde er bei einer Schreibwerkstatt im Wiener Schauspielhaus, wo vor zehn Jahren auch sein erstes Drama „Grillenparz“ erfolgreich uraufgeführt wurde. Inzwischen ist seine Werkliste auf 14 Stücke angewachsen, mit „Die Gegenstimme“ legt Arzt nun seinen ersten Roman vor. Und obwohl sich darin kaum Dialoge finden, merkt man dem Buch an, dass sein Autor gelernter Dramatiker ist. Die Struktur erinnert allerdings mehr an einen Film als an ein Stück; der Roman ist aus kurzen, oft sehr bildstarken Szenen montiert, auch Rückblenden und Kamerafahrten hat der Leser vor Augen.
Thomas Arzt: Die Gegenstimme. Roman. Residenz, 190 S., € 20,–
Am Ende bedankt sich Arzt bei verschiedenen Personen für die „Mitarbeit an der Recherche“ – der einzige Hinweis im Buch darauf, dass dieses auf wahren Begebenheiten basiert. In Interviews hat der Autor bestätigt, dass das Vorbild für die Hauptfigur sein Großonkel war, der tatsächlich Karl Bleimfeldner hieß. Über dessen Motive habe man in der Familie aber wenig gewusst. Im Roman stellt Arzt die Gegenstimme weniger als politischen denn als persönlichen Akt des Widerstands gegen dar: „Du stimmst nicht gegen irgendeine Politik da draußen oder da oben. Du stimmst einzig und allein gegen dein Daheim.“ Geschrieben ist das Buch in einer syntaktisch an den lokalen Dialekt angelehnten Kunstsprache. Nachnamen werden prinzipiell vor die Vornamen gestellt, in den ohnedies meist knappen Sätzen fehlen schon mal Verben oder ganze Satzteile: „Geht der Bleimfeldner Karl, es ist nach zwei am Nachmittag, und er geht jetzt den Waldweg hinauf, Richtung Bauern, wo er früher immer seinen Most. Der Karl, der schon lang nicht mehr beim Bauern und auch keinen Most, in der Stadt schmeckt einem der Most nur halb so gut, er hat einen gewaltigen Durst.“ Der Stil verleiht dem Roman einen archaischen, aus der Zeit gefallenen Charakter; etwas gekünstelt wirkt er aber schon auch. Die Handlung läuft innerhalb von 24 Stunden und auf nur 190 Seiten ab. Auf derartig engem Raum tritt eine ganze Menge an Figuren auf, die dann meist auch nur eine oder zwei Szenen haben. Die Tochter des Bürgermeisters ist eine schneidige Nazisse, die ein Hitler-Bild am Busen trägt und die jungen Naziburschen sexy findet, die Hakenkreuze auf Wände schmieren und in die Felder brennen. Der bei der Gemeinde beschäftigte Dorftrottel sagt immer noch „Grüß Gott“ statt „Heil Hitler“, was ihm aber nachgesehen wird, weil er halt „anders“ ist. Der Förster geht in den Wald, um zur Feier des Tages die „Führer-
»Der Franz ist ein Wunder!« Er weiß so viel und »bringt das mit einer solchen Leichtigkeit, Anmut und einem solchen Witz vor, wie eben manchmal wohlbeleibte Menschen tanzen können.« ELFRIEDE JELINEK 336 Seiten. Gebunden. zsolnay.at
eiche“ zu schlägern. Der Gendarm gilt bei der Behörde schon als „indifferenter Beamter“, weil er noch immer nicht bei der Partei ist. Der polternde „Preuß“ führt beim Dorfwirten das große Wort. Karls tiefkatholischer Schwester gefällt es insgeheim schon auch, wenn ihr beim Kellnerieren die Männer nachschauen. Karls jüngerer Bruder stiehlt aus der Geheimlade der elterlichen Trafik pornografische Hefte und verhökert sie an honorige Kunden. Der Herr Abt wollte eigentlich die Abstimmung schwänzen, hat sich dann aber doch nicht getraut. Das Spannungsmoment bildet eine Verfol-
gungsjagd, die sich durch den Roman zieht. Nachdem er mit „nein“ gestimmt hat und bei einer Mostjause einen Familienstreit angezettelt hat, ist Karl in den Wald gelaufen und hat sich dort versteckt; bald ist ihm ein von der Bürgermeistertochter angeführter, bewaffneter Suchtrupp auf der Spur. Karls Vater will diesem zuvorkommen und bittet die Frau des Gemeindearztes, ihn mit dem Auto in den Wald zu chauffieren. Die Szenen mit dem ungleichen Paar gehören zu den schönsten des Buchs: auf dem Beifahrersitz der etwas derangierte Vater, der auch heute wieder zu viel getrunken, am Steuer die Frau Doktor, die sich schon für das Abendessen hübsch gemacht hat. Die Stöckelschuhe hat sie ausgezogen, um auf den Pedalen nicht auszurutschen, sie fährt gut und schnell. Und obwohl der Vater aus panischer Angst um seinen Sohn für so etwas eigentlich keinen Kopf haben sollte, fällt ihm jetzt auf, was für eine schöne Frau da neben ihm sitzt. In solchen Momenten gelingt es Arzt, in seinen typenhaft gezeichneten Figuren schlagartig überraschende Facetten aufblitzen zu lassen. Das gilt auch für den entscheidenden Moment, in dem Karl in der Wahlkabine seine Gegenstimme abgibt. Da bemerkt er auf einmal, dass er sich vor lauter Aufregung in die Hose gemacht hat. WOLFGANG K R ALICEK
Foto: © L & P
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uerst einmarschieren und dann abstimmen lassen, ob’s eh recht war: Die Volksabstimmung, mit der sich die Nationalsozialisten am 10. April 1938 den vier Wochen davor erfolgten „Anschluss“ Österreichs bestätigen ließen, war ein Musterbeispiel für politischen Zynismus. 99,73 Prozent der Wahlberechtigten haben mit „ja“ gestimmt, und wahrscheinlich mussten für dieses fast schon peinlich eindeutige Ergebnis nicht einmal die Zahlen manipuliert werden. Das Wahlgeheimnis war praktisch aufgehoben; schon wer sein Kreuz diskret in der Wahlkabine machen wollte, galt als verdächtig. Nur sehr wenige hatten unter diesen Umständen den Mut, „nein“ zu sagen. Einer davon ist der Bleimfeldner Karl, Held des Romans „Die Gegenstimme“ von Thomas Arzt. Der junge Mann, der in Innsbruck Geschichte studiert, ist für die Volksabstimmung zurück in seine oberösterreichische Heimat gekommen. Der Ort der Handlung bleibt ungenannt, ist aber unschwer als Schlierbach zu identifizieren, jene Gemeinde im Traunviertel, aus der der Autor stammt; wie sein Romanheld hat auch er das dortige Stiftsgymnasium besucht.
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Die Kinder des Roten Wien Mit „Junischnee“ legt Ljuba Arnautović den zweiten Roman zur bewegten Geschichte ihrer Familie vor
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ie Geschichte der eigenen Familie hat schon immer trefflichen Stoff für große Literatur abgegeben. Manche Autorinnen und Autoren haben sie geflissentlich umschifft, andere haben sich ein Leben lang an ihr abgearbeitet. Zu Letzteren gehört die 1954 geborene Ljuba Arnautović. Jahre benötigte sie, um sich dieses Stoffs anzunehmen und ihn zu sortieren, ehe sie 2018 mit ihrem späten Debüt „Im Verborgenen“ an die Öffentlichkeit trat. Die Protagonistin des keine 200 Seiten starken, lapidar erzählten Romans ist Arnautovićs Großmutter väterlicherseits. Die verschlossene, willensstarke Eva versteckt 1944 in ihrer Dienstwohnung in der Kanzlei des Oberkirchenrats der evangelischen Kirchengemeinde Juden und verliebt sich in einen von ihnen. Zehn Jahre zuvor hatte sie im Februaraufstand von 1934 auf der Seite der Kommunisten gekämpft. Im Rückblick auf Evas Leben entfaltet „Im Verborgenen“ ein lebendiges Bild des Schmelztiegels Wien im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. In ihm mischen sich slawische Zuwanderer, Juden, Muslime und Angehörige der ländlichen Bevölkerung und bringen so eine lebendige, vielfältige Kultur hervor. Erzählt wird auch die Geschichte des Roten Wien, dessen glühende Anhängerin Eva und ihr Lebensgefährte Karl Kafka sind; wobei das Schicksal ihrer Kinder Slavko und Karli am meisten zu Herzen geht. Der soeben erschienene Folgeband „Junischnee“ setzt im Jahr 1927 im südrussischen Kursk ein. „Anastasia hat keine Augenbrauen. Und mit 32 Jahren noch keinen Ehemann“, stellt Arnautović mit lapidaren Sätzen ihre Großmutter mütterlicherseits als eine der Protagonistinnen vor. Ljuba Arnautović, selbst in Kursk geboren, be-
Heute scheint Ljuba Arnautović mit ihrer Vergangenheit im Reinen zu sein, wirkt auf fröhliche Weise gelassen
wohnt eine helle Wohnung in dem vorbildlich renovierten Lobmeyrhof in Ottakring, der um 1900 von Kaiser Franz Joseph anlässlich dessen 50. Thronjubiläums gestif-
Viel Raum für Empathie und Widersprüche: Der historische Familienroman „Junischnee“ die keinerlei Komfort bieten. Wir schreiben das Jahr 1927. Anastasia hat keine Augenbrauen, aber seherische Fähigkeiten, zumindest glauben das die Nachbarinnen, die sich gerne Rat von ihr holen. Sie heiratet den zehn Jahre jüngeren Fjodor, der sich bereits im zarten Alter von fünf Jahren in die hübsche Gehilfin im Lebensmittelgeschäft ihres Onkels verliebt hat. Die gemeinsame Tochter Nina wird geboren,
die zukünftige Frau von Karli, der im folgenden, sieben Jahre später spielenden Kapitel nach den Wirren des Bürgerkriegs im Weinviertel mit seinem Bruder Slavko aus einem Postbus aussteigt, um mit anderen Schutzbund-Kindern über die grüne Grenze in Sicherheit gebracht zu werden. Karlis Mutter, die überzeugte Sozialistin Eva, wird danach zum dritten Mal verhaftet, verhört
und gefoltert. Ihr Plan für die Buben aber scheint aufzugehen, die Kinder werden in Moskau in einem komfortablen Heim untergebracht und bekommen von den Repressionen, die vor dessen Toren ablaufen, nicht viel mit. Sie machen sogar jedes Jahr Urlaub auf der Krim, doch als sie 1939 von dort zurückkehren, ist das Heim geschlossen. Die Buben werden getrennt und eine Odyssee beginnt. Karli lebt als Straßenkind und kommt schließlich in Lagerhaft. Dort lernt er Nina kennen und folgt ihr nach seiner Freilassung 1953 auf die Seym-Insel, wo im Jahr darauf ein Mädchen geboren wird, das nach ihrem vermissten Onkel Slavoljub Ljuba genannt wird. Aber die Geschichte geht weiter und nicht gut aus, obwohl Karli seine Mutter wiederfindet und mit seiner kleinen Familie drei Jahre später nach Wien emigrieren kann. Zu heftig sind die erlittenen emotionalen Wunden und die kulturellen Brüche.
Mit dem Schicksal ihrer eigenen Familie beleuchtet Ljuba Arnautović gleichzeitig einen Teil der österreichischen und sowjetrussischen Geschichte, der bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Ljuba Arnautović: Junischnee. Roman. Zsolnay, 189 S., € 22,70
Zum Teil lässt sie dabei einfach die historischen Dokumente für sich sprechen und erreicht damit eine Dichte, die einem beim Lesen den Atem nimmt und einen Abgrund eröffnet. Die Wirkung auch des neuen Romans verdankt sich der Fähigkeit der Autorin, empathisch zu bleiben und dennoch Widersprüche zuzulassen. Das spiegelt sich auch im Titel „Junischnee“ wider: Die Metapher für den Flug der flaumigen Pappelsamen im Frühsommer, die den Boden wie Schnee bedecken, verdichtet die Gegensätze, Sommer und Winter, das Weiche der „Pappelwolle“ und die eisige Kälte von Schneekristallen, zu einem einzigen, poetischen Begriff. K IR STIN BREITENFELLNER
ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
uf der Insel im Fluss Seym, die in der russischen Stadt Kursk jedes Jahr A überschwemmt wird, stehen Holzhäuser,
„Ich komme aus einer erzählenden Familie“,
erklärt Arnautović. „Sowohl meine Großmutter als auch mein Vater waren politische Menschen und haben oft über die Vergangenheit gesprochen. Manchmal war mir das als Heranwachsender sogar zu viel.“ Heute scheint die Schriftstellerin mit ihrer Vergangenheit im Reinen zu sein, wirkt auf fröhliche Weise gelassen. Ihre Familiengeschichte hatte Arnautović bereits für den Rundfunk verarbeitet, wo sie als freie Mitarbeiterin von Ö1 tätig war. Warum sie sich dann schließlich für die Romanform entschieden hat? Zunächst habe sie überlegt, einen Dokumentarfilm zu machen, während der Arbeit daran jedoch bemerkt, dass ihr das Schreiben doch mehr liege. Und bei dem Tatsachenbericht, an dem sie sich anschließend versuchte, fehlte eine entscheidende Dimension: die Emotionen.
«Wenn über den bevölkerungsreichsten Korallenriffs der Tag anbricht, erreicht der Chor der Fische den Soundpegel einer Cocktailbar zur Happy Hour.» Es lohnt sich zuzuhören, wenn Bill François uns die Sprache der Fische erklärt.
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Sowohl meine Großmutter als auch mein Vater waren politische Menschen und haben oft über die Vergangenheit gesprochen. Manchmal war mir das sogar zu viel LJUBA ARNAUTOVIĆ
Die Romanform erschloss sich ihr, nachdem sie entschieden hatte, sich zunächst auf eine Person zu konzentrieren: ihre Großmutter Eva. Aber die Autorin wollte sich beim Schreiben nicht auf deren Erinnerungen verlassen und begann, den Fundus an mündlichen Erzählungen in Archiven und anhand von Dokumenten einem Realitätstest zu unterziehen: „Erstaunlich vieles konnte ich verifizieren.“ So fand Arnautović etwa heraus, warum die
meisten Schutzbund-Kinder so lange nicht zurückkehren konnten: „Es gab Zeitfenster während des Hitler-Stalin-Pakts, vorher oder nachher war es nicht möglich.“ Darüber hinaus hätten die Genossen Eva geraten, ihren jüngeren Sohn nicht zurückzuholen, da dessen Vater, Karl Kafka, Jude war. Der Name Arnautović stammt übrigens von Slavkos Vater, einem muslimischen Bosnier, von dem Eva zwar schon geschieden war, dessen Namen sie aber behielt. „Auch beim Recherchieren kommt es auf Zeitfenster an“, weiß Arnautović. Als sie etwa vor zehn Jahren das Archiv der evangelischen Kirche (AB) aufsuchte, hieß es von Seiten der älteren Archivarin, dass zu einer bestimmten Person nichts zu finden sei. Dann ging die Dame in Pension, und der junge Nachfolger konnte so manches zutage fördern. Auch im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, für das Arnautović früher gearbeitet hatte, wurde sie fündig. Bei den Nachforschungen in Russland half ihr die NGO Memorial, denn dort entscheidet der Wortlaut der Ansuchen darüber, ob Angehörige von Stalin-Opfern an Informationen herankommen. Außerdem müssen die Gesuchten schon zuvor in Publikationen erwähnt worden sein. Glücklicherweise war das bei Arnautovićs Vater der Fall, weswegen sie schließlich einen Link zu 40 Seiten mit Verhörprotokollen und anderen Materialien erhielt. Auch persönliche
Aus dem Französischen von Frank Sievers | 234 S. | 17 Zeichnungen | Geb. | € 22,70 ISBN 978-3-406-76690-9
tet wurde, um die arme Bevölkerung der Stadt mit Wohnraum zu versorgen. Die Anlage wurden zur Blaupause für die ab den 1920er-Jahren errichteten Gemeindebauten des Roten Wien. Es ist der 11. Februar, 2021. Arnautović schenkt Tee ein. „Morgen ist der 12. Februar. Mit diesem Datum bin ich aufgewachsen“, beginnt sie das Gespräch. Am 12. Februar 1934 brach der Bürgerkrieg aus, Karl Kafka musste flüchten, Eva brachte ihre beiden Söhne über die tschechische Grenze. Die Mitglieder des Demokratische Schutzbunds, der paramilitärischen Gruppierung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, und deren Angehörige waren bedroht. Die Kinder sollten zur Erholung und aus Sicherheitsgründen nach Moskau gebracht werden. Karli war neun, sein um drei Jahre ältere Bruder Slavko überlebte die Verschickung nicht und starb in einem Gefängnis. Karli, Ljuba Arnautovićs Vater, konnte erst 20 Jahre später in seine Heimat zurückkehren.
Als Lucy erfährt, dass ihr Ehemann Jake sie betrügt, soll eine verhängnisvolle Abmachung die Ehe retten: Drei Mal darf Lucy Jake bestrafen. Wann und auf welche Weise, entscheidet sie. «Das perfekte Buch für den Moment, wenn du etwas Böses tust und dich im Recht fühlst.» Lydia Herms, Deutschlandfunk Nova
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Briefe tauchten bei dieser Recherche auf – in Abschriften der Zensur. Arnautovićs Prosa arbeitet mit dem Stilmittel der Verdichtung, die genannten Dokumente werden teilweise unkommentiert zitiert. Das hänge mit ihren eigenen Leserpräferenzen zusammen, erklärt Arnautović: „Wenn ein dramatischer Stoff auch noch sprachlich dramatisiert wird, halte ich das schwer aus. Ich möchte meine Leser nicht manipulieren und ihnen auch nicht vorschreiben, welche Gefühle sie entwickeln und wie sie es verstehen sollen. Deswegen lasse ich die Ereignisse lieber für sich sprechen und versuche eine Sprache zu finden, die der Komplexität und Ambivalenz der Charaktere und Ereignisse gerecht wird.“ Das gelingt der Autorin vortrefflich. Weder Personen noch Systeme sind bei ihr einfach nur gut oder nur schlecht. „Vielleicht hat das auch mit meiner Faulheit zu tun“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. „Ich bin keine Autorin, die lange schreibt und umschreibt. Ich denke erst lange nach, und dann schreibe ich rasch. Schreiben ist für mich so etwas Ähnliches wie ein Stoffwechselvorgang. Man nimmt etwas zu sich, es sammelt sich in einem an, man verarbeitet es und bringt es in einer anderen Form wieder heraus.“ Ob sie sich damit die Geschichten auch vom
Leib geschrieben habe? Arnautović nickt. „Ich fühle mich dabei wie ein Medium. In jeder Familie gibt es eine Person, der diese Aufgabe zufällt. Und in meiner Familie bin das immer schon ich gewesen.“ Für ihre Leserinnen und Leser ist das ein Glücksfall. Band drei, an dem Arnautović bereits arbeitet, wird übrigens von ihrer eigenen Lebensgeschichte zwischen Kursk, Wien und München handeln, wo ihr Vater eine neue, beflissen bürgerliche Familie gründete und wohin Arnautović mit zwölf Jahren übersiedelte. K IR STIN BREITENFELLNER
Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen | 229 S. | Geb. | € 22,70 | ISBN 978-3-406-76663-3
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Schlechtes Karma Silvia Pistotnig und Carolina Schutti gewinnen dem Thema Krankheit überraschende Aspekte ab
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ine Frau teilt aus. Wenn die weibliche Hauptfigur aus Silvia Pistotnigs neuem Roman „Teresa hört auf “ etwas nicht ausstehen kann, dann Gefühligkeit. Die Menschen mit ihren banalen Bedürfnissen – ein Wellnessurlaub in versifftem Thermalwasser – gehen ihr auf die Nerven. Zynismus gehört zu ihrer Serienausstattung, Weltekel zum Grundgefühl. „Ich mag es, wenn die Leute sich über mich ärgern, das sorgt für schlechtes Karma und das schlechte Karma, das bin ich“, sagt Teresa, die in einer Agentur arbeitet, die Maturareisen organisiert. Eine gewisse Abgebrühtheit und Nerven aus Stahl kommen ihr bei diesem Job durchaus zugute. Ihren Chef beschreibt sie: „Er ist hier der einzige Mann und der einzige ohne Matura: der Geschäftsführer.“ Pistotnig, 44, ist Expertin für schräge Frauenfiguren, die sich als Außenseiterinnen wahrnehmen, dabei aber ziemlich schillernd sind. Nicht zuletzt, weil sie so klug beobachten können. Weil ihr Blick auf die Umwelt gnadenlos und entblößend witzig ist. Auch Teresa ist ein Original. In ihrer Freizeit geht sie einem seltsamen, recht anstrengenden Hobby nach: Im Dreimonatsrhythmus denkt sie sich Projekte aus, die ihren Körper, aber auch ihre Umwelt an ihre Grenzen treiben – von vernachlässigter Hygiene über Schlafentzug bis zum täglichen Solariumbesuch. Ein Sexualitätsprojekt wurde fallengelassen, weil es ihr „zu langweilig, zu wenig radikal“ erschien. Im Moment steckt sie mitten im 13. Projekt: Bulimie, der „Oldtimer unter den Essstörungen“.
in ihrem gefeierten Buch „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ (2018) setzt Pistotnig auf eine radikale Konstruktion, um über abstruse Frauenbilder in unserer Gesellschaft zu reflektieren, ohne aus ihrer Hauptfigur dadurch automatisch eine gängige Krankengeschichte oder gar ein Opfer zu machen. Der Roman schlägt zahlreiche Haken, die man besser nicht verrät. So viel aber darf man verraten: Im Zentrum von „Teresa hört auf “ steht eine ungewöhnliche Freundschaft, die sich zur Obsession entwickelt. Im Supermarkt lernt die Protagonistin Nicole kennen, eine Frau um die 50, die fresssüchtig ist. „Ein Ballon“, denkt Teresa: „Wahrscheinlich hat sie Diabetes und verfettete Organe.“ Der erste Eindruck trügt: Allein wie diese Nicole im Laufe des Buches an Würde gewinnt, ist herzergreifend zu lesen. Obwohl Teresa diese Beschreibung sicher furchtbar pathetisch und daneben finden würde! Silvia Pistotnig, Teresa hört auf. Roman. Milena, 240 S., € 23,–
Der Roman hat einen ernsten Kern, Teresa lei-
det unter Dysmorphophobie, sie kann ihren Körper nicht als Ganzes wahrnehmen. Es gehört zu den Stärken dieses überhaupt sehr tollen Romans, dass er keine banalen tiefenpsychologischen Erklärungsmuster bedient. Ähnlich wie Ottessa Moshfegh
Carolina Schutti, Der Himmel ist ein kleiner Kreis. Roman. Droschl, 152 S., € 19,–
Eine Frau reißt aus. Ina bricht ins ferne Sibi-
rien auf, minus 50 Grad schrecken sie nicht ab. Im Gegenteil, wenn die berühmte Winterstraße öffnet, auf der waghalsige LkwFahrer über gefrorenes Eis brettern und dabei ihr Leben riskieren, möchte sie auf der Route eine Raststätte eröffnen. Doch vorerst gilt es abzuwarten, bis der erste Schnee fällt. Die in Innsbruck lebenden Autorin Carolina Schutti, 45, beschreibt in ihrem Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ die große Suche nach Freiheit, die sich aber schnell in zermürbende Angst verwandeln kann. Kontrollverlust und Freiheitsbedürfnis prallen in ihrer atemlosen Erzählung hart aufeinander. Ina bewacht eine stillgelegte Industrieanlage, ein Traumziel für Lost-Places-Touristen, macht sich von einem undurchsichtigen Typen namens Boris abhängig, der sie abholen möchte, wenn alles gefroren ist. Aber wird Boris überhaupt
wieder auftauchen? Je länger Ina alleine ist, desto skeptischer wird sie, ob ihr Aussteigerprojekt so ablaufen wird, wie sie sich das erträumt hat. Die Stärke dieses Romans liegt in seiner sinnlichen Sprache, durch die alltägliche Verrichtungen wie Holzhacken eine neue Qualität bekommen. Beeindruckend auch die Beschreibung von Inas Rundgängen durch die verlassene Anlage, ihr Versuch, ihre Sinne beisammenzuhalten, was ihr immer weniger gelingen mag. Mitunter verliert sich der Roman aber auch in allzu poetische Verrenkungen: „Ina blickt in die Richtung, in der sie die Winterstraße vermutet, als könne sich ihr Blick durch das Gebüsch schlagen, durch den Wald schlängeln, als wäre ihr Blick ein Geräusch, das der Wind in die Ferne trägt.“ Die zweite Hauptfigur bleibt namenlos. Während Ina nach Russland aufbricht, sitzt sie in einer psychiatrischen Klinik fest und hat wenig Aussichten darauf, dass sich diese Situation ändern wird. Sie leidet an Wutanfällen, verweigert aber die Therapie. Sie ist mit einem anderen Patienten befreundet, der Mark heißt und demnächst entlassen werden soll. Ob sich die beiden tatsächlich unterhalten, bleibt unklar. Womöglich beginnt die Frau ihre Sätze nur laut, spinnt sie aber dann in ihrem Kopf weiter. Mitunter beschleicht eine aber auch der Verdacht, dass es sich im Grunde nicht um zwei unterschiedliche Frauenfiguren, sondern um eine in verschiedenen Lebensphasen handelt. Überhaupt lässt Schutti vieles offen, hält einiges in der Schwebe – und wirft dabei auch eine interessante philosophische Frage auf: Was ist Freiheit? Wo und wie kann man sie finden? Was sind wir bereit, für sie zu opfern? Auch Schuttis Buch ist eine Krankengeschichte, versucht dem Genre aber neue, überraschende Aspekte abzutrotzen – durchaus mit Erfolg. K ARIN CERN Y
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Souveränes Scheitern Mit „Lachen und Sterben“ legt Franz Schuh eine medien- und kulturkritische Existenzphilosophie vor
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Das Schöne an Franz Schuhs Selbstgesprächen ist, dass und wie er uns in diese hineinzieht, verwickelt mitsprechen lässt
Zu den Risken des Geistesarbeiters gehört der
Mit seiner ganzen Erscheinung ruft Schuh uns
in Erinnerung, dass nicht jeder, der Philosophie studiert hat, auch schon ein Philosoph ist – weil die Philosophie „zu den letzten Disziplinen“ gehört, „die man nur sachgerecht ausüben kann, wenn man sie, auf welche Weise auch immer, in der eigenen Existenz verankert“. So bringt der Mann von Witz nicht nur dem Sterben, sondern auch dem Lachen ein professionelles Interesse entgegen; vor allem weil es Nietzsches Konzept des Amor fati, der Liebe zum eigenen Schicksal, seine melodramatische Note nimmt und das Paradoxon eines souveränen Scheiterns ermöglicht.
Amor fati, das meint eben nicht bloß stoisches Erdulden des Unvermeidlichen: Nein, man muss lernen, es zu lieben. Auskunft darüber, ob ihm das bei seiner lebensbedrohlichen Erkrankung gelungen ist, gibt der Autor nicht, wie er überhaupt sparsam mit biografischen Hinweisen umgeht. Immerhin schildert er sich als Insassen eines Pflegeheims und verrät so den tröstlichen Umstand, dass er für seinen Teil weitergemacht, also weitergeschrieben hat und es daher auch weitergegangen ist. Das Buch war jedoch schon vor dem fatalen Schlag so geplant – und auch vor der Pandemie, die Schuh nicht nötig hat, um sich als Mitglied einer „Risikogruppe“ zu begreifen.
Franz Schuh: Lachen und Sterben. Zsolnay 336 S., € 26,80
Vorwurf der Eitelkeit, den Schuh pariert, indem er ihn gelten lässt und dennoch bedauert, dass aus „den herrlichen Exzessen der Eitelkeit“ beim Bachmannpreis eine „lauwarme Intelligenzler-Veranstaltung“ geworden sei. „Bescheidenheit kriecht aus demselben Loch wie die Eitelkeit“, lautet ein Aphorismus der bescheidenen EbnerEschenbach, und Schuh lotet gerade die begrifflichen Ambivalenzen gründlich aus. In der Tat: Wenn er über Stifter sagt: „Er war ein Fresssack, wie ich einer bin“, dann ist das auf den zweiten Blick nicht so uneitel, wie es klingt, verleiht es dem Ich doch noch in der Denunziation seiner selbst Wichtigkeit. Aber: „Ich vergleiche mich lieber mit einem Unerreichbaren als mit einem Kollegen.“ Solch aphoristische Fundstücke bietet dieses Schuh-Lesebuch ebenso reichlich wie Anekdoten (Proust im Bordell, Schuh in der Straßenbahn), sein Stil funkelt, einiges wirkt schlichter – wohlgemerkt: nicht schlechter – als gewohnt, und wenn des Öfteren von „Idioten“ die Rede ist, dann nicht im Sinne des antiken Privatmannes. Allein die eingestreuten Gedichte überzeugen die Rezensentin nicht, weil sie, zumal in den schlecht transkribierten Dialektstücken,
»›Unterwasserflimmern‹ ist wie liquid cocaine: stark, süß, bitter, und du bleibst die ganze Nacht wach damit.« Fabienne vom Podcast Ich lese was, was du auch liest!
Katharina Schaller, Unterwasserflimmern,, Roman ISBN 978-3-7099-8130-6, 240 Seiten, gebunden
www.haymonverlag.at
eine gewisse Manieriertheit verraten: Ihre prosaische Ironie diskreditiert das lyrische Ich, das doch echtes Leiden verhandelt. Denken, so Hannah Arendt, ist nichts anderes
als das Sprechen mit sich selbst. Das Schöne an Franz Schuhs Selbstgesprächen ist, dass und wie er uns in diese hineinzieht, verwickelt, mitsprechen lässt, in einem Akt politischer Aufklärung: „Das Dialogische ist ein Gegenstück zum Dogmatischen.“ Was Hegel von der Philosophie verlangt, nämlich ihre Zeit auf den Begriff zu bringen, leistet der Hegelianer Schuh auch als essayistischer Causeur auf der Suche nach dem Phänomen, der überindividuell wirksamen Erscheinung eines Wesentlichen. So verdankt er Karl Kraus, dem „größten Österreicher“, die Einsicht, dass man „die Wahrheit im emphatischen Sinn über alles, was Österreich betrifft, nur polemisch sagen kann“. Wenn er den für seinen Erbschleichercharme berüchtigten Heinz Conrads Thomas Bernhard gegenüberstellt, avanciert jener zum Träger eines „staatstragenden Versöhnlichkeitskults auf der Grundlage darstellerischer Virtuosität“. Helmut Qualtinger erscheint als der letzte Träger des österreichischen Antlitzes, ein Volksschauspieler, der aus der Rolle fällt, weil er niemandem schmeichelt. Niemals betreibt Schuh bloßes Namedropping, stets ist er darauf aus, die „Konsumhaltung“ seines Publikums in eine „Reflexionshaltung zu verwandeln“. Indem er etwa den Schmäh als eine Form der Sprachkritik begreift, die ihren Humus in der Wiener Misanthropie wie im jüdischen Witz hat. Provinziell? Mitnichten: „Wer seine Weltprovinz […] bis auf den Grund geistig und expressiv durchdringt, ist für seine Zeit auf einem globalen Stand der Einsicht. Mehr kann man in dieser brüchigen Welt kaum noch erreichen.“ Franz Schuh hat’s bewiesen. DANIEL A STRIGL
© Emanuel Aeneas Photography
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a, das ist ein Mann, der auch die Früchte der Resignation kennt und gewiss genossen hat, der aber nicht resigniert hat“, sondern weitermacht, jedoch nicht wie ein Militär: „Nein, ein Nichtheld wie der auf Rembrandts Selbstporträt macht weiter, aber aus Selbstbewusstheit, weil er weiß, wenn er weitermacht, geht es auch weiter.“ Es hätte des Hinweises auf die „Allgemeinmenschlichkeit“ jedes gelungenen Selbstbildnisses nicht bedurft, um hinter dem „durchschnittlich hässlichen“ Mann mit den müden, aber immer noch scharfen Augen den Autor dieser Zeilen wahrzunehmen. Auch in seinem jüngsten Buch ist Franz Schuh als Person präsent, als selbstbewusster und zweifelnder Homme de lettres, aber auch als (neuerdings gendersensibler) Mann, der sich zu seiner jugendlichen Fantasie vom einsamen Wolf bekennt, zu sexueller Not, Krankheit und Gebrechen. Und zu seinem Flirt mit dem Tod, aus dem dieser jüngst beinahe Ernst gemacht hätte. Mit seinen Essays in „Lachen und Sterben“ legt Schuh freilich kein Bekenntnisbuch vor, sondern eine philosophische Medien- und Kulturkritik. Oder besser andersherum: eine medien- und kulturkritische Existenzphilosophie, die nicht von seiner Person zu trennen ist.
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Väter und Söhne Franz Michael Felders „Sonderlinge“ sondieren die Sprache und die dörfliche Welt des 19. Jahrhunderts
sisch weit verbreitet. Ähnlich wie „Genrebild“ oder „Sittengemälde“ signalisieren sie kulturgeschichtlichen Empirismus, ethnografischen Verismus nicht zuletzt durch die räumliche und geografische Eingrenzung. Neben dem damals noch aufrechten Vorbehalt gegen den Roman als lügenhafte Liebesgeschichte verweist der Plural „Lebens- und Charakterbilder“ zudem auf den Zusammenhang von kleiner Prosaform und Großepik, was mit den medialen Verwertungsmöglichkeiten und der oft addi-
Die „Sonderlinge“ beginnen mit einem Grup-
penbild der Bauern auf dem Kirchenplatz. Die schon lang anhaltenden Regenfälle, Zeichen der gestörten Natur und der bedrohten bäuerlichen Arbeit, haben die Dorfleute veranlasst, sich in der Kirche zum gemeinsamen Beten um schönes Wetter zu versammeln. Die Szene auf dem Kirchenplatz führt in Nah- und Distanzaufnahmen, alle Personen des Romans vor, zeigt, wie die Einzelnen sprechen und vor allem auch, wie über den anderen jeweils gesprochen wird. Die Grundzüge des bäuerlichen Charakters – Schlauheit und Naivität, Gesprächigkeit und Schweigsamkeit, Frömmigkeit und Zerfallensein mit Gott und der Welt – werden sichtbar. In dieser Szenerie heben sich allmählich zwei Hauptpersonen ab, deren Gegensätzlichkeit den Fortgang der sparsamen Handlung bestimmt. Es spricht für Felders Sozialroman, dass er dieses Gegensatzpaar nicht mit einer starren Schwarz-Weiß-Optik fixiert und karikiert. Es gibt zwar eine gewisse Präferenz für Sepp, den streng rationalen, autodidaktischen Volksaufklärer, der im Dorf
Im Neapel der Camorra „Spannung und Düsternis in einem Roman von großer Poesie.“ Il Sole 24 Ore
„Andò ist ein Intellektueller, wie es nur Sizilianer sein können!“ La Repubblica
Der Gegensatz zwischen dem Volksaufklärer Sepp und dem frömmlerischen Barthle bestimmt die Handlung
als „Freimaurer“ verschrien ist. Er ist auch nicht in der Kirche gewesen; sein Leben ist bestimmt durch Lektüre – hervorgehoben wird die Erzählung „Das Goldmacherdorf “ (1817) von Heinrich Zschokke, einem Kämpfer für Volksbildung in der Schweiz. Vorurteilskritik und tätiges Erbarmen zeichnen ihn aus. Trotz solcher Eigenschaften ist Sepp nicht gegen Verhärtung und überhebliche Misanthropie gefeit, die in Menschenverachtung umschlagen kann. Umgekehrt wird der frömmlerische, selbstgerechte und streng autoritäre Barthle nicht zu einer bigotten Verkörperung der Gegenaufklärung vereinfacht, wenngleich sein Verhalten gegenüber seinem Sohn, den er unter falschem Verdacht verstößt und in die Fremde treibt, deutlich zeigt, wie viel Erziehung diesem Erzieher fehlt. Auch Sepp gelangt mit der Art und Weise, in der er seinen einzigen Sohn Franz behandelt, deutlich an seine Grenzen. Der Roman, der so stark auf den familiären Zusammenhang als Modell praktischer Weltveränderung setzt, hat seine Stärke darin, dass er die Schwäche der Patriarchen sichtbar macht, indem sich die Kinder ihnen entziehen. Es ist die Liebesgeschichte zwischen Marianne, der Tochter des verwitweten Barthle, und Franz, die schließlich auch die Väter versöhnt. Es spricht für Felders sozialen Takt, dass dieser Romanschluss durch eine Naturkatastrophe, in Entsprechung zum Anfang, ermöglicht wird. Die Naturkatastrophe ist aber von Menschen verursacht worden: Sepp hat in selbstsüchtigem Nützlichkeitsdenken den Wald abgeholzt, der früher Schutz vor Lawinen bot; er wäre nun beinahe von der Lawine verschüttet worden, die indes durch einen Schuss seines Gegenspielers ausgelöst wurde. Diesem handlungsstarken Ende korrespon-
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Foto: Lia Pasqualino
Diese Gattungsbezeichnungen sind zeitgenös-
tiven Struktur der Romankomposition zu tun hat. Das Bauprinzip des Mosaiks zielt nicht auf die Lebensgeschichten eines Individuums, sondern auf die Darstellung eines Figurenkollektivs und der Wechselfälle seines Alltagslebens.
ISBN 978-3-85256-826-3 · Gebunden mit Schutzumschlag 230 S. · € 22,– · Auch als E-Book erhältlich
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er Bregenzerwälder Bauer und Schriftsteller Franz Michael Felder (1839–1869) hat seinen Roman „Sonderlinge“ vermutlich 1862 begonnen, im Mai 1866 abgeschlossen und 1867 im angesehenen Verlag Salomon Hirzel veröffentlicht. Erst 1912 und dann wieder 1976 erfolgten Neuausgaben. Aber Felders Roman wird nicht Roman genannt und sein Erstling, die Dorfgeschichte „Nümmamüllers und das Schwoazakaspale“ von 1863, nicht Dorfgeschichte, seit dem Erscheinen der ersten „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ von Berthold Auerbach (ab 1843) eine europaweit erfolgreiche Gattung des Realismus. Felder nennt sie „Ein Lebensbild aus dem Bregenzerwalde“ und die „Sonderlinge“ „Bregenzerwälder Lebens- und Charakterbilder aus neuester Zeit“.
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Franz Michael Felder: Sonderlinge. Bregenzerwälder Lebens- und Charakterbilder aus neuester Zeit. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von David Franzoi und Jürgen Thaler sowie mit Beiträgen von Otmar Gassner und Norbert Häfele. Libelle, 496 S., € 24,90
diert über weite Strecken ein Übergewicht der besprochenen Welt. Es ist geprägt von einem Sprach- und Sprechhandeln, das Dissens und Vorurteile verhandelt, aber auch durch ein aggressives Mobbing, das durch die Kanzelreden eines fanatischen Predigers ausgelöst wird. Zu diesem Sprechen über Sprache, das im Guten wie im Bösen Handeln auslösen kann, passt ein flexibler Gebrauch der Erzählperspektive. Sie legt, dramaturgisch reizvoll, auch nicht Ausgesprochenes frei, was nicht minder ins Elend führen kann. In längeren „Kopfmonologen“, gegeneinander versetzt, werden Prozesse der Täuschung oder aber auch der Selbsteinsicht dem Leser mitgeteilt. Die öffentliche Meinung ist ein Leitthema dieses Romans, sie reicht von der hetzerischen Rede bis zu den Sprichwörtern, von der Prägnanz des Dialektworts bis zum beharrenden Tratsch und dem hetzerischen Gerücht. Es ist ein gar nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst des Felder-Archivs und des Felder-Vereins, dass Franz Michael Felders Werke in neuer Gestalt, kundig kommentiert und umsichtig präsentiert, zugänglich sind. Dazu kommen die online verfügbaren Briefe – insgesamt ein Meilenstein regionaler Literaturforschung und aufgeklärter Kulturpolitik. K ARL WAGNER
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s ist noch nicht so lange her, dass in Literaturgeschichten, die sich mit Texten der Zwischenkriegszeit beschäftigten, die Frauen komplett fehlten. Die großen Männer von Arthur Schnitzler bis Elias Canetti dominierten das Terrain. Nach und nach haben sich im Kanon die Konstellationen verändert. In schöner Regelmäßigkeit präsentierten Verlage Bücher österreichischer Autorinnen aus den 1920er- und 1930er-Jahren zum Wiederlesen. So hat die Wiener Edition Atelier 2018 mit einer Feuilletonsammlung auf die spitze Feder Vicki Baums verwiesen. Im Jahr darauf machte der Zsolnay Verlag mit einer vierbändigen Werkausgabe auf die luziden Zeitromane Herminya zur Mühlens nachhaltig aufmerksam. 2020 setzte der kleine DVB-Verlag die Maria-Lazar-Edition mit dem Thriller „Leben verboten!“ fort. Einer noch größeren Öffentlichkeit wurde Lazar allerdings mit der aktuellen BurgtheaterInszenierung ihres Einakters „Der Henker“ bekannt. In Feuilletons wurde die Autorin wie ein Shootingstar gefeiert. Auch andere Autorinnen, die sich in der von Katharina Manojlovic und Kerstin Putz herausgegebenen Anthologie „Mein Leben sieht genauso aus wie ich“ finden, sind vor nicht allzu langer Zeit der Öffentlichkeit wieder vorgestellt worden. Die Autorinnen sind dem Vergessen entrissen, das Interesse an der Lektüre besteht nicht nur in feministischen Kreisen. Wenn jetzt der Verlag Jung und Jung mit einer Textsammlung innerhalb der Reihe „Österreichs Eigensinn“ nachlegt, so ist das auch Ausdruck, dass die genannten Schriftstellerinnen, die sich in ihrem Berufsleben meist unendlich vielen Schwierigkeiten gegenübersahen, mit fast hundertjähriger Verspätung in den Literaturgeschichten angekommen sind. Dass die meisten von ihnen 1933/1938 ins Exil fliehen mussten oder in NS-Vernichtungslagern umkamen, verleiht ihren Biografien Tragik. Ohne die Beschäftigung mit ihnen lässt sich keine österreichische Literaturgeschichte mehr schreiben. Und das ist gut so. Lange genug stand die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit im Schatten des habsburgischen Mythos. Die Literatur dieser Zeit schien einem Leiden verfallen zu sein. Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Stefan Zweig oder Hugo von Hofmannsthal waren bei ihren großen Schreibprojekten auf den Untergang der Donaumonarchie fixiert; „Die Welt von gestern“, die mit den „Letzten Tagen der Menschheit“ endete, verschwand nicht aus den Köpfen.
Neue Zeiten, alter Jammer Eine Anthologie über österreichische Frauenliteratur der Zwischenkriegszeit setzt die nötige Umschreibung des Kanons fort
ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
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bewusstsein ein, um die größeren Freiheiten der Moderne leben zu können. Im Weltkrieg hatte das angeblich schwache Geschlecht gelernt, seine Frau zu stehen, und diese Unabhängigkeit galt es nun zu bewahren, auch wenn sich Männer das alte Patriarchat zurückwünschten. In Filmen oder auf Plakaten war die neue Frau stark präsent, in der Realität dagegen war das neue Leben schwierig umzusetzen. Mit den Ansprüchen, die medial an sie herangetragen wurden, überfordern sich viele Frauen selbst. Die Herausgeberinnen stellen an den Anfang der Anthologie ein Prosagedicht Vicki Baums, in der das vorgegebene Optimierungsprogramm für Frauen bespöttelt wird: „Vor allem aber darf sie nicht unbescheiden werden, denn/ schön und klug und gebildet und witzig/ und fleißig und durchtrainiert und praktisch und pikant/ und verständnisvoll – / das ist heutzutage jede.“ In der Regel allerdings, so suggerieren die
In den Texten der schreibenden Frauen sind
diese polithistorischen Phantomschmerzen nicht vorhanden, da geht es in der Regel um das Leben im Hier und Jetzt, oder besser noch, um das Überleben. Frauen schreiben über Frauen. Die realistische Erzählform dominiert, wir erfahren sehr viel über das Elend der Zeit. Ein Teil der Autorinnen stellt sich der Tristesse mit Kälte, schreibt hart und schneidend. Bei anderen bestimmt eindeutig das Mitleid den Blick. Manche Texte haben den Charakter von einfach gebauten, eindringlichen Sozialstudien. Es gibt auch Autorinnen, die in ihrem Stil auf der Coolness der Roaring Twenties surfen können. Gina Kaus oder Vicki Baum etwa arbeiteten für Zeitschriften und unterhielten deren urbane Leserinnen mit süffisanten, spritzigen Texten, in denen sie mit Understatement über die Männer herzogen. Im Gegenzug propagierten sie neue weibliche Lebensentwürfe, drängten bei den Frauen auf Berufstätigkeit und mahnten Selbst-
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Mein Leben sieht genauso aus wie ich. Österreichische Autorinnen der Zwischenkriegszeit. Ein Lesebuch. Hrsg. Von Katharina Manojlovic und Kerstin Putz mit einem Vorwort von Elisabeth Samsonow. Jung und Jung, 350 S., € 25,–
Textauszüge, machen es die Zeitumstände den Annas, Friedas und Herthas nicht leicht, eine Arbeit zu finden, geschweige denn sich ein gutes, sorgloses Leben zu organisieren. Wie bekommt frau eine Arbeit, bei der der Lohn reicht, um zumindest für sich – und oft noch für die alte Mutter oder den kranken Vater – Essen und Wohnen zu sichern? In einer übersteuerten Groteske, einem Ausschnitt aus dem Roman „Die gelbe Straße“, schildert Veza Canetti, welche Demütigungen das „Hire and Fire“ den Hausgehilfinnen beschert: „Wer das Leben wagt, bekommt Kost und Quartier, und wenn’s gut geht, auch noch einen Posten.“ Den Sekretärinnen und den Telefonistinnen geht es nicht viel besser. Fließbandarbeit und Stress münden in heillose Selbstausbeutung und Selbstmordgedanken. In den meisten Texten landen die jungen Frauen in einem hundsmiserablen Leben, gebeutelt vom Geldmangel, gepresst durch Inflation, „die einem den Boden unter den Füßen wegzog und die Menschen herumwirbelte wie Fetzen Papier“ (Anna Gmeyner). Bei Marta Karlweis („Schwindel“) heißt es über die multipel agierende Heldin: „Olga näht, steppt, schneidert, rennt und rackert sich ab.“ Die Ich-Erzählerin in Else Feldmanns Roman „Martha und Antonia“ opfert sich gar als Prostituierte auf, um das Leben ihrer Geschwister zu finanzieren. Die Partnersuche wird in solchem Ambiente zum existenziellen Lotteriespiel: Wie den Richtigen finden? Die erhoffte Kameradschaft findet nicht statt. Der großen Liebe folgen die großen Enttäuschungen, was heißt: ungewollte Schwangerschaft und unglückliche Ehen. Die Männer sind in diesen Prosatexten meist Versorgungsfälle und Hochstapler oder nehmen ihre jungen Gattinnen aus. In den USA haben sich, wie Alice Schalek in einer bemerkenswerten Reportage zu berichten weiß, alleinstehende, erfolgreiche Frauen in Vereinen zusammengeschlossen, in denen sie glücklich ihre Bedürfnisse nach Geselligkeit ausleben. Hundert Jahre später blicken wir auf die Welt der 1920er- und 1930er-Jahre staunend zurück. Die im Band ausgewählten Texte, so die Herausgeberinnen, „präsentieren weibliche Lebens- und Arbeitswelten, reflektieren zeitgenössische Körperbilder und Geschlechtsdiskurse“. Zu Recht erinnert die Anthologie an die Kraft dieser zeitlich gebundenen wie zeitlosen Geschichten, Feuilletons und Sozialstudien. Ein Einstieg. ALFRED PFOSER
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Wickie, Slime und Kreisky In Daniel Wissers Roman „Wir bleiben noch“ traut sich der Cousin mit der Cousine. Ansonsten tut sich wenig
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er Schriftsteller Daniel Wisser steht mit dem Privatmann Daniel Wisser in einem Konkurrenzverhältnis, das zur Eifersucht Anlass gäbe, vermutlich aber auszuhalten ist. Einem breiten Publikum ist der gebürtige Kärntner nämlich vor allem als Kandidat der „Millionenshow“ bekannt, der zwar die letzte Frage nicht beantwortet, aber immerhin 300.000 Euro mit nach Hause genommen hat. Im Jahr darauf, 2018, gelang dem Schriftsteller mit seinem allseits gelobten und mit dem Österreichischen Buchpreis bedachten Roman „Königin der Berge“ über einen grantelnden MS-Patienten der Durchbruch. Es müsste für den Schriftsteller allerdings schon sehr gut laufen, sollte ihm ein vergleichbarer pekuniärer Erfolg vergönnt sein wie dem Quizkandidaten. Mit seinem jüngsten Roman „Wir bleiben noch“ ist Wisser nun von Jung und Jung zum deutschen Luchterhand-Verlag gewechselt – was eventuell erklärt, warum in diesem ein „Schuhschrank“ im Vorzimmer steht und eine „Plastiktragetasche“ Verwendung findet. Die Handlung spielt sich nichtsdestotrotz hauptsächlich zwischen Wien und dem burgenländischen Heiligenbrunn ab, wo der Protagonist, der mit dem Autor das Geburtsjahr (1971) teilt, das Haus der „Urli“ geerbt hat. Dieser Victor Jarno gehört also der Erbengeneration an – als Draufwaag’ gibt’s auch noch zwei Sparbücher –, er hat aber schon davor beschlossen, dem Broterwerb ade zu sagen, weil: „Unter dieser Regierung werde ich auch nicht mehr arbeiten. Keinen Groschen Lohnsteuer für diese Sauerei. Aber ich muss bis zu meinem Lebensende mit meinen Ersparnissen auskommen.“
Victor kultiviert den Habitus eines früh Gealterten und aus der Zeit Gefallenen. Schon mit sieben soll ein graues Haar seinem Haupt entsprossen sein. Überzeugt davon, dass seit den 1980er-Jahren alles den Bach runtergeht, verachtet er Smartphones, E-
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Victor Jarno hasst Smartphones und SUVs, vor allem aber leidet er darunter, dass sich die Menschen von der Sozialdemokratie abgewandt haben
Scooter und SUV-Fahrer (vor allem solche mit Mödlinger Kennzeichen) und betrachtet es als einen Ausdruck einer „Haltung“, wenn er im Café Toast Hawaii bestellt. Vor allem aber leidet der nach Victor Adler Benannte darunter, dass sich die Menschen von der Sozialdemokratie abgewandt und auf die Seite der „Christlichsozialen“ oder gar der Rechtspopulisten geschlagen haben – inklusive der eigenen Mutter, deren Schwester und deren böser Tochter Hanna, die, wenn sie schlecht gelaunt ist (eh immer), einen Möbelpacker auch schon einmal als „Kameltreiber“ bezeichnet. Die progredierender Verbieder- und Verbiesterung unterliegende Tante Margarete hat aber auch noch eine gute und schöne Tochter. Victor begehrt seine Cousine Karoline seit einem feuchten Traum im Jahre 1988. Drei Jahrzehnte später ist es endlich so weit, dass er sich traut, die im Wanda-Welthit „Bologna“ besungene Hemmung zu überwinden und seinen Schwanz in die Fut seiner Cousine zu stecken – wie es Victors Leider-noch-Ehefrau vorsätzlich krude, aber sachlich korrekt formuliert. Dass die Liaison schnell zur gar nicht ver-
heimlichten Lebensgemeinschaft wird, schmeckt den Müttern der beiden gar nicht. Eine von Erbstreitigkeiten begleitete Eiszeit bricht aus, in der Sippe kalben die Gletscher. Dass Karolines offizieller Vater nicht ihr leiblicher ist, weiß diese seit Jahrzehnten; und dass die Mama was mit Victors freiwillig aus dem Leben geschiedenen Vater gehabt hat, steht auch im Raum. Der Verdacht des Inzests schwebt also über den zärtlichen Cousins und Cousinen, und dieser leicht schwüle Soft-Porno-Touch passt gut zur weichzeichnenden Retro-Perspektive, aus der Victor die Welt wahrnimmt. Garniert mit zeithistorischen Vignetten – 1972 empfängt Kreisky Nixon in Salzburg, 1983 verliert er die Absolute –, versammelt der Roman all die Ingredienzien, mit denen die generationelle Nostalgie-Rituale à
Daniel Wisser: Wir bleiben noch. Roman. Luchterhand, 478 S., € 22,70
la „Wickie, Slime und Paiper“ gemeinhin ausstaffiert werden. Es treten auf: der Formel-1-Pilot Carlos Reutemann, der Bensdorp-Schokoriegel (in Blau und Grün), die Falk-Zigarette, die TV-Serie „Der goldene Schuss“ und der Song aus dem Teefix-Spot auf die Melodie von Cat Stevens … Was abseits davon dem Setting an Gegenwärtigkeit zuwächst, sind zahllose, mit Emoticons und Piktogrammen garnierte WhatsApp-Konversationen der turtelnden Fortysomethings, die einen allenfalls peinlich berühren: Man gönnt den beiden ihr Glück, müsste aber nicht dabei sein. Was auch immer das Thema, die Botschaft oder das Anliegen des Romans sein mag, es wird jedenfalls sehr umständlich, unökonomisch und tempobefreit erzählt. Ein Gerichtstermin, an dessen Ende plangemäß das Faktum von Victors Scheidung steht, wird auf dreieinhalb Seiten ausgewalzt, weil auch der Drucker rechts neben der Tür, das Post-it an der Wand über dem Drucker und das Klackern der Nägel auf dem Handydisplay der Frau aus der Kassastelle im ersten Stock gewürdigt werden wollen. Es wird reichlich Müll entsorgt und Geschirr abgespült, man geht sowohl um 6.30 als auch um 7.45 Uhr aufs Klo, und es wird recht viel eingeparkt. Aber selbst wenn man sich darauf beschränkt, den Roman einfach nur als Liebesgeschichte im Spätsommer des Lebens zu lesen, bleibt der sich über 470 Seiten hinwindende Plot ziemlich dünn und konventionell. Der nostalgisch-mürrische Victor und die proaktiv-sanguine Karoline verbünden sich gegen „die Bösartigkeit der Welt“, widerstehen den Reizen der Resignation und ziehen ins Urli-Haus in Heiligenbrunn, wo Karoline eine Stelle als Ärztin annimmt und sogar Bürgermeisterinnenambitionen entwickelt. „Wir bleiben hier und tun auch etwas für den Ort.“ Amore, unser Kaff! K L AUS NÜCHTERN
Zwei neue Gedankenspiele über Faulheit und Gelassenheit
Daniela Strigl nimmt uns trotz und wegen persönlicher Tendenz zum Faulsein mit zu ihren wortgewandten, amüsanten und überraschenden Gedankenspielen über die Faulheit in Literatur und Leben.
56 Seiten, 10 €
48 Seiten, 10 €
LITERATURVERLAG DROSCHL www.droschl.com
© C la r is s a S ta d le r
Die 1923 geborene Ilse Helbich schöpft in ihren Gedankenspielen über die Gelassenheit aus ihrem großen Erfahrungsschatz und erzählt in Anekdoten Beispiele und Gegenbeispiele zu diesem Begriff.
LITER ATUR
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„Hey man, you have a nice ass“
Draußt in Ottakring, wo die Stadt noch Land ist
Daniel Kehlmann kommuniziert mit einer künstlichen Intelligenz und bekommt unerwartete Komplimente
Poetry-Slammerin Mieze Medusa legt mit ihrem Roman „Du bist dran“ ein Porträt über drei liebenswerte Außenseiter vor
er in der Literaturszene hinreiW chend angesehen ist, darf auch Erlebnisberichte veröffentlichen, die
ls heimischer Poetry-Slam-Star A weiß Mieze Medusa, dass man sein Publikum gewinnen muss. „Wie
in ihrer Dringlichkeit an Deutschschularbeiten erinnern. Der Auftrag ist da, also bemüht man sich um eine gute Note. Ein „Sehr gut“ bekommt Daniel Kehlmann. Im Februar 2020 wurde er von der Open Austria, dem österreichischen Ansprechpartner im Silicon Valley, eingeladen, einen von einer Cloud-Computing-Firma entwickelten Algorithmus für natürliche Sprache zu testen. Kann eine solche künstliche Intelligenz Schriftsteller wie Kehlmann ersetzen? In seiner „Zukunftsrede“, die er Anfang Februar im Stuttgarter Literaturhaus hielt, beantwortet Kehlmann die Frage, wenig überraschend, mit Nein. Artig beginnt Kehlmann mit einer Beschreibung des Ambientes im Silicon Valley: die Gebäude unscheinbar, die Büros bunt, die Menschen leger gekleidet und intelligent. Kehlmann erklärt, wie der Algorithmus CTRL funktioniert: Der prädiktive Algorithmus errechnet, in welcher Kombination Worte am häufigsten vorkommen (auf „ich“ folgt eher „gehe“ als „Einhorn“) und versucht vorauszusagen, welche Textteile folgen.
well“, schreibt Kehlmann, „The first thing he said to me was, ‚Hey man, you have a nice ass and you’re not afraid of anything‘“, führt CTRL fort. Wie bitte? Auch Kehlmann, der betont, dass Algorithmen kein Bewusstsein haben, fragt sich, was in CTRL gefahren ist.Es sind die Daten, mit denen er gefüttert wurde. Und es ist natürlich der menschliche Faktor, also Kehlmanns Kommunikation mit dem Algorithmus, der das Büchlein amüsant macht. CTRL ist kein sehr konzentriertes Vis-
avis und beeindruckt nur so lange, als noch wenig Text vorhanden ist und seine Sätze sinnvoll scheinen; ein „toller Partytrick“ meint Kehlmann im Podcast des Stuttgarter Literaturhauses. Doch rasch verheddert sich der Algorithmus in Widersprüche, stürzt nach einigen Zeilen ab. Kehlmann bleibt dran und schließt mit halb erhobenem Zeigefinger: „Ich habe mitangesehen, wie aus der dunklen Tiefe ihrer statistischen Abschätzung, in der vielleicht eines fernen Tages auch einmal Bewusstsein glimmen wird, tatsächlich konsistente Sätze entstehen.“ ANNA GOLDENBERG
In der Praxis sieht das so aus: Kehlmann
schreibt einen Satz, der Algorithmus setzt diesen fort. Das Ergebnis erinnert an jenes aus Surrealismus und Deutschstunde bekannte Spiel, in dem jeder ein Satzglied schreibt, es abdeckt und das Papier weitergibt: lustig, poetisch und sinnbefreit. „I was looking for an apartment. It didn’t go
Daniel Kehlmann: Mein Algorithmus und ich. Stuttgarter Zukunftsrede. Klett-Cotta, 64 S., € 12,40
bringt man die Leute zum Träumen?“, fragt die 18-jährige Agnesa, der größte Beyoncé-Fan, den man sich nur vorstellen kann, gleich im zweiten Satz des Romans „Du bist dran“. Die Antwort, die sie selbst darauf gibt: „Man streicht die Wände weiß und hängt ein Fischernetz an die Decke.“ Agnesa wurde in Ottakring geboren und hat eine griechische Großmutter. Sie hilft manchmal im Poseidon aus. Am liebsten in der Küche: „Erstens muss ich dort den Bauch nicht einziehen.“ Und zweitens kann man auf Tripadvisor über das Lokal lesen: „Essen top, Service verbesserungswürdig“. Man könnte sich über Agnesa lustig machen, diese naive junge Frau ohne Schulabschluss. Aber das erledigen ohnehin schon die anderen. Als ihre Mutter die übergewichtige Agnesa beim Kellnern fragt, ob sie schwanger sei, antwortet diese abgebrüht: „Ja, Mama, ich bin schon wieder dicker geworden.“ Man gewinnt die strauchelnden Figuren
dieses Romans sofort lieb, nicht zuletzt aufgrund ihres Wortwitzes und ihres pointierten Blicks auf die Welt. Außenseiter sind sie alle drei: Da wären neben Agnesa noch der Computer-Nerd Eduard, der einen fatalen Hang dazu hat, alle zu überwachen und sich via Webcam ins Leben von Familie und Ex-Freundinnen einloggt, und die Altfeministin Felicitas, die in der Provinz lebt und über
den Weg, den die Welt wieder einmal nimmt, den Kopf schütteln muss. Stadtflucht ist ein großes Thema dieses Buchs, das sich aber trotzdem weder auf die Seite des Anti-Heimatromans schlägt noch in die Landidylle flüchtet. Die Beschreibung eines sehr dörflichen Ottakrings zählt zu den Highlights des Romans, der zeigt, dass sich Stadt und Land oft ähnlicher schauen, als man annehmen würde. Alle drei Figuren stecken in ihrem pat-
scherten Leben fest, versuchen aber, das Beste daraus zu machen. Irgendwann laufen sie sich sogar über den Weg. Der Roman ist sehr nahe am mündlichen Erzählen geschrieben und liest sich entsprechend leicht. In Interviews hat Mieze Medusa verraten, dass sie sich ihre Texte gern von Computern laut vorlesen lässt. Das sei schließlich das Gegenteil von Rap, denn eine Computerstimme habe nicht viel Flow. „Einen Text, den der Computer nicht kaputtlesen kann, der passt.“ Keine schlechte Methode. Bei „Du bist dran“ hat sie jedenfalls funktioniert. K ARIN CERN Y
Mieze Medusa: Du bist dran. Roman. Residenz, 256 S., € 22,-
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„Ich habe einen Kulturschock erlebt“ Der isländische Autor Mikael Torfason kam 2019 nach Wien. Er fühlt sich hier unwohl, was ihn gerade reizt
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ahrscheinlich“, beschließt Mikael Torfason leise einen ausführlichen Monolog über seine erste Zeit in Österreich, in dessen Verlauf er zwischenzeitlich ziemlich laut geworden ist, „spiele ich einfach für das falsche Team.“ Hört man dem Mittvierziger zu und liest die wilde autobiografische Romantrilogie, die er über seine schwer dysfunktio- Man sagte mir, nale Familie geschrieben hat, so scheint es das Burgtheater sei ihm nicht nur in Wien so zu gehen. Wo- großes Theater. möglich ist das Gefühl, nicht dazuzugehören, genau das, was Torfason braucht und Dann bin ich woraus er seine Kraft zieht. Ist er am Ende hergekommen und einer Tirade angelangt, wirkt er richtig hap- habe gesehen: py. Thomas Bernhard hätte an ihm seine Es ist auch nur Freude gehabt. Wer aber ist Mikael Torfason? Der ein Haus Schriftsteller hat sich in seiner isländischen Heimat den Ruf eines Provokateurs erarbei- M I K A T O R F A S O N tet. Was weniger mit seinen Romanen, Theaterstücken und Filmdrehbüchern als mit seiner journalistischen Vergangenheit zu tun hat. Als Chefredakteur von Dagblaðið Vísir versuchte er sich an einem linken Boulevard. O-Ton Torfason: „Ich komme aus der Arbeiterklasse. In der Zeitung wollte ich die Wahrheit sagen und Geschichten aus allen Bereichen der Gesellschaft erzählen.“
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Es folgen: Skandale und verbrannte Erde. Ein
© Foto: Übersetzer
© Foto: Autorin
Politiker, den Torfason als Kinderschänder outete, beging Suizid. Seine letzte journalistische Station war der Posten des Chefredakteurs bei einer Zeitung, die „so etwas wie der isländische Kurier“ ist: „Die Besitzer sind schwerreich. Ich versuchte mein Bestes. Aber ich habe gemerkt, dass ich für das falsche Team spiele.“ Das Mikael-Torfason-Gefühl. Es ereilte ihn auch am Burgtheater. Das Haus am Ring war der Grund, warum er mit seiner Familie von Berlin nach Wien übersiedelt ist. Seine Frau Elma Stefanía Ágústsdóttir ist Schauspielerin und seit der Saison 2019/20 Ensemblemitglied an der Burg. Torfason begleitete sie und brachte
Mikael Torfason: Brief an Mama. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Stroux Edition, 200 S., € 22,70
ALISSA GANIJEWA Geboren 1985, wuchs in Machatschkala/ Dagestan auf und lebt heute als Literaturkritikerin und Autorin in Moskau. Ihr Debüt, die unter männlichem Pseudonym veröffentlichte Erzählung Salam tebe, Dalgat, löste heftige Reaktionen aus. Die russische Mauer, ihr erster Roman, wird zurzeit in mehrere Sprachen übersetzt. JOHANNES EIGNER Geboren 1960 in Bad St. Leonhard, Kärnten. Studium in Graz (Rechtswissenschaften, daneben Übersetzer- und Dolmetscherstudium in Französisch und Russisch), 1985 Eintritt in den diplomatischen Dienst des österreichischen Außenministeriums; seit 2017 österreichischer Botschafter in Russland, zuvor österreichischer Botschafter in Serbien. Nach Übersetzungen slowakischer und serbischer Literatur ist das vorliegende Buch seine erste Übersetzung aus dem Russischen.
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seine mit dem ebenfalls aus Island stammenden Regisseur Thorleifur Örn Arnasson erarbeitete Neuinszenierung der „Edda“ mit. Premiere war im Herbst 2019, seither passierte nicht mehr viel. Eine für April 2020 geplante Neufassung von Henrik Ibsens „Peer Gynt“ fiel aus dem bekannten Grund ins Wasser. Torfason glaubt nicht mehr so recht daran, dass sie nachgeholt wird. Wirklich warm wurde Torfason mit seiner Wiener Wirkstätte sowieso nicht: „Man hat mir gesagt, das Burgtheater sei das Wahre, ein großes Theater. Es klang wunderbar. Dann bin ich hergekommen und habe gesehen: Es ist auch nur ein Haus. Vielleicht ist es nichts für mich. Nur gebildete, ältere Menschen gehen rein.“ Richtig in Rage reden kann er sich über den
„Faust“ und die hiesige Aufführungspraxis: „Ich hasse es, alte Stücke mit neuen Kostümen vorgesetzt zu bekommen. Man tut so, als hätten diese Sachen von vor 250 Jahren etwas mit uns zu tun. Tatsächlich? Faust ist ein faschistisches Stück über einen Mann, der ein Kind vergewaltigt.“ In Oslo hat Torfason vor Jahren einen anderen „Faust“ mit neuem Text inszeniert. Er nannte ihn „We Have to Talk about Faust“ und rückte Gretchen in den Mittelpunkt des Geschehens. „Das Stück wäre am Burgtheater undenkbar“, ist er überzeugt. Überhaupt habe er in Wien einen Kulturschock erlebt. Er greift zu seinem Handy und öffnet eine Bildergalerie mit Plakaten, die ihn aufgebracht haben. Darunter finden sich solche der FPÖ, aber auch eines des Österreich-Radioableger Radio Austria, das Wolfgang Fellner und Rudi Klausnitzer als tolle Hechte mit sehr viel jüngeren Assistentinnen zeigt: „Es scheint mir ein treffendes Bild für die österreichische Medienlandschaft zu sein.“ Auch die Burg-Kampagne „Ohne Kultur …“ stößt ihm sauer auf: „Für mich hat sie eine klare Botschaft: Wenn du nicht zu
ALISSA GANIJEWA
VERLETZTE
GEFÜHLE ROMAN
WIESER
unserer Kultur gehörst, wenn du nicht auf die eine, reine Art Deutsch sprichst und die entsprechende Bildung hast, bist du kein Mensch. Ich gehöre da nicht dazu.“ Österreich fühle sich für ihn an wie eine Zeit-
reise in die Vergangenheit, erzählt Torfason. Normalerweise sei er in Hinblick auf patriarchale Strukturen sehr islandkritisch. „Aber verglichen mit Österreich liegt Island weit vorn.“ Wer nun aber denkt, Torfason wolle Wien so bald wie möglich wieder den Rücken kehren, liegt falsch. Der Mann braucht eine gewisse Reibung, um sich richtig zu spüren. Vor sechs Jahren kauften seine Frau und er in Island ein Reihenhaus in jenem Vorort von Reykjavík, aus dem er stammt. Der rastlose Torfason dachte, nun hätte er dem Platz gefunden, an dem er bleiben würde. Indes: „Drei Jahre später sind wir in Berlin aufgewacht. Vielleicht war es zu angenehm.“ In seinen harten, aber auch herzerwärmenden Romanen – zuletzt ist mit „Brief an Mama“ der letzte Teil einer Trilogie über seine eigene Familie erschienen – erzählt Torfason davon, wie er als Kind von Zeugen Jehovas fast starb, weil die Eltern eine Bluttransfusion ablehnten. Nach deren Scheidung wurde es nicht besser, die Mutter versank zeitweise in Depressionen, der Vater war ein lustiger Kerl, aber auch ein schwerer Alkoholiker. Der Sohn brach die Schule ab, um als Schriftsteller zu leben, und verdiente seinen Lebensunterhalt als Fabriksarbeiter. Auch mit 46 Jahren ist Torfason noch nicht müde geworden. Er liebt Herausforderungen. Sein jüngstes Projekt: einen Text auf Deutsch schreiben. „In einer neuen Gesellschaft und neuen Sprache zu leben bringt auch etwas Neues aus einem raus“, ist er überzeugt. „Man darf das Schreiben und die Sprache nicht den Perfekten überlassen. Ich bin ein Ausländer in Österreich, für einen Autor ist das eine gute Position.“ SEBASTIAN FASTHUBER
Die Handlung des neuen Romans Verletzte Gefühle spielt in einer russischen Provinzstadt. Eines Tages, es regnet in Strömen, setzt sich ein Unbekannter zu Nikolaj ins Auto … Damit beginnt ein Kaleidoskop von überbordender Korruption, Dreiecksgeschichten und detektivischen Rätseln. Wer ermordete den Minister für Regionalentwicklung Ljamzin? Wie kommt es, dass die frömmlerische Beamtin Natalja Petrowna in nichts als einem Korsett posiert? Theaterabende und Vernissagen, Intrige und Verführung, Straßen und Idioten, Gelärm und Zornausbrüche – alle Ingredienzien aus dem realen Leben in Russland, vor unserer Nase. ca. 254 Seiten, gebunden, Lesebändchen, Prägedruck EUR 21,00 · ISBN 978-3-99029-458-1 Bereits erschienen
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LITER ATUR
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Vom Gastwirtssohn zum König von Neapel
Die Dreifaltigkeit von Sex, Crime & Money
François Garde ist eine packende Romanbiografie über den flamboyanten Kavallerieoffiziers Joachim Murat gelungen
Alissa Ganijewa gelingt mit „Verletzte Gefühle“ ein sarkastisches Porträt von Putin-Russland im Krimi-Format
or kurzem sah sich der achte V Prinz Joachim Murat „gezwungen zu erinnern, dass sein Rang als
in Mann torkelt über die Straße, E hält ein Auto an, kurzer Wortwechsel mit dem Fahrer, der Unbe-
Königliche Hoheit nichts mit der kaiserlichen Familie zu tun hat, sondern ihm als Nachfolger eines regierenden Hauses zusteht“. Der Geist seines Vorfahren, des napoleonischen Generals, der von 1808 bis 1815 als König von Neapel regierte, weht also weiter … François Garde, Jahrgang 1959, widmet sich am Ende seiner Karriere als Beamter der französischen Überseegebiete der Schriftstellerei. Sein erster Roman „Was mit dem weißen Wilden geschah“ war ein großer Erfolg. Im Mittelpunkt des neuen Buches, einer fesselnden Romanbiografie, steht nun also jener so flamboyante wie heroische Vorfahre. Den erzählerischen Rahmen bilden die letzten Lebenstage Murats, die er, in die Hände seiner Feinde, der allseits verhassten spanischen Bourbonen, gefallen, in Festungshaft und Erwartung des sicheren Todes verbringt. Dem Gefängnisalltag entzieht er sich gedanklich, indem er die entscheidenden Stationen seines Lebens Revue passieren lässt. Der Sohn eines Gastwirts aus dem Südosten Frankreichs wird von Talleyrand gefördert und ins Priesterseminar gesteckt. Der Karrierestart erweist sich nicht nach dem Geschmack des schon im Internat kampfeslustigen Jünglings, er sucht das Weite. Revolutionäre Begeisterung führt ihn am 14. Juli 1790 nach Paris. In der republikanischen Kavallerie beginnt der unaufhaltsame Aufstieg. Napoleon bemerkt ihn: zunächst einmal seine beeindruckende Körpergröße und die malerischen Aufzüge in selbstentworfenen Prunkuniformen; dann 1795, anlässlich des Versuchs einer royalistischen Konterrevolution, mit welchem Bravour und Geschick Murat die zur Niederschlagung nötigen Kanonen heranschafft.
In den Italienfeldzügen sind es Tollkühnheit und -patschigkeit, die die stirnrunzelnde Anerkennung des späteren Kaisers finden und ihm die Bewunderung seiner Soldaten eintragen. Als Napoleon nach dem Ägyptenabenteuer die Armee dort schmählich zurücklässt, gehört Murat zu den wenigen, die ihn nach Frankreich begleiten dürfen. Caroline, die jüngste Schwester des Feldherrn, setzt es sich in den Kopf, den schmucken Helden zu ehelichen. Niemand hat Einwände. Damit beginnt Murats Traum von der Gründung einer Dynastie, die ein ihn bewunderndes, freiheitsliebendes Volk anführt. Polen wäre ihm schon recht gewesen. Zunächst wird es aber nur ein deutsches Duodezfürstentum. In der Folge wechseln einander im-
mer bedeutendere Zivil- und Militäraufgaben ab. Als Gouverneur von Paris residiert er im Elysée-Palast, der heute noch die Zeichen seines Repräsentationsbedürfnisses trägt. Im Spanienfeldzug wird er Militärstatthalter der Iberischen Halbinsel, schlägt mit brutaler Härte den Aufstand der Bürger von Madrid nieder – Goyas aufwühlende Bilder geben davon Zeugnis. Die erhoffte Krone Spaniens bleibt Murat indes verwehrt. Diesmal ist die Enttäuschung nicht so groß, besteigt er doch als Nachfolger Joseph Bonapartes den Thron Neapels. In einer der eindrucksvollsten Szenen
des Buches hatte ein geheimnisvoller Agent die Stadt als Schlüssel zur Herrschaft über Italien empfohlen. Im Nachwort enthüllt Garde, dass es sich dabei um eine der wenigen erfundenen Figuren handelt – bemerkenswert, wie diese besonders plastisch hervortreten. Durch die anfänglichen Erfolge in der Regierungstätigkeit, die wachsende Beliebtheit bei der Bevölkerung und die Geburt eines Sohnes – er lässt ihn auf den vielversprechenden Namen Achille taufen – wähnt sich Murat fast am Ziel seiner dynastischen Träume. Der kaiserliche Schwager vermasselt alles: Er zieht ihn in die Russlandkatastrophe hinein, Versuche einer eigenständigen Politik verhindern nicht die Niederlage gegen die Bourbonen. Nicht Todesangst beherrscht ihn im Kerker, sondern die Sorge um eine standesgemäße Form des Finales. Jahre zuvor hatte er sich grandios ausgemalt, mit welchen Zeremonien das erschütterte Volk seiner Residenzstadt die Trauer über das Ableben des geliebten Souveräns ausdrücken sollte. Daraus wurde nichts. Immerhin, ein kleiner Erfolg ist ihm beschieden: Als ranghöchster anwesender Offizier kann er das eigene Erschießungspeloton kommandieren ... Garde entwirft in seinem ironischen Ton das Porträt einer historischen Figur, deren Züge zwischen Don Quijote und Till Eulenspiegel oszillieren. Das liest sich wie ein streckenweise heiteres Zwischenspiel zu Tolstois „Krieg und Frieden“, jenem größten aller historischen Romane, in dem Joachim Murat als kostümierter Clown allerdings recht schlecht wegkommt. THOMAS LEITNER
François Garde: Der gefangene König. Roman. Aus dem Französischen von Thomas Schultz. C.H. Beck, 335 S., € 23,70
kannte steigt ein und stirbt am Rücksitz. Der Tote ist Andrej Iwanowitsch Ljamzin, Regionalminister für wirtschaftliche Entwicklung in einer namenlosen russischen Provinzstadt. Der Fahrer Nikolaj, Einkaufsleiter in der Baufirma von Marina Anatoljewna Semjonowa, der Geliebten des Ministers, weiß nicht so recht, wie ihm geschieht, und legt den ominösen Fahrgast am Stadtrand ab. Was hier eigentlich vor sich geht, erfährt man erst ganz am Ende dieses flott erzähl-
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In der Provinz denunziert jeder jede. Denunziert wird auch die Schuldirektorin, aber nicht, weil sie Gelder abgezweigt hat, sondern weil ein Lehrer an ihrer Schule Stalin mit Hitler verglichen hat ten Porträts des heutigen Russland. Nikolaj selbst stirbt hingegen schon am Ende des zweiten Kapitels. Dass es sich um einen einfachen Verkehrsunfall mit schwerem Lastwagen handelt, darf bezweifelt werden. Satiriker von Gogol bis Bulgakow, die Russlands immerwährende Korruption aufs Korn nahmen, mögen Alissa Ganijewa Pate gestanden haben. Vor den schwindelerregenden Einsichten der Klassiker in die Abgründe der russischen Seele macht sie aber Halt; sie schreibt einen Gesellschaftsroman als Krimi. Die aus Dagestan stammende 35-jährige Autorin, die seit ihrem Studium am Gorki-Institut in Moskau lebt und sich bislang in zwei Romanen am Machismo Jugendlicher in der islamischen Vorkaukasusrepublik abgearbeitet hat, unternimmt mit „Verletzte Gefühle“ den Versuch, ganz Putin-Russland einen Spiegel vorzuhalten. Die Hauptstadt liegt in weiter Ferne, in
der namenlosen Provinzstadt ist alles überschaubarer, rabiater und komischer: Korruption und Polizeigewalt, vor allem aber die heilige Dreifaltigkeit des Homo Postsovieticus: Sex, Crime & Money. Selbst das Wetter ist hier anlassig: „Der Regen wurde heftiger, es prasselte hernieder und klatschte unverfroren auf das Wagenäußere, wie eine Männerhand auf einen Frauenschenkel. Die Scheibenwischer flogen tachykardisch rasend hin und her.“
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Herzrasend überdreht sind überhaupt alle bis hin zu einer Nebenfigur wie der auftretende invalide Kriegsheimkehrer aus dem Donbass, der zur Begrüßung alle als Faschisten beschimpft. Das halbe Dutzend Protagonisten ist ähnlich verpeilt, hat aber andere Problem. So etwa die Bauunternehmerin Marina, die vom Regionalminister vergewaltigt und später dessen Geliebten und Geschäftspartnerin wird. Die Stellung des auf ominöse Weise zu Tode Gekommenen hat sich mittlerweile Staatsanwalt Kapustin erarbeitet, der sich seine Beschützerdienste durch ein Aktienpaket entlohnen lässt. Auf sozial etwas tieferer Ebene wieder-
holt sich das Spiel von Niedertracht und Heuchelei bei der Sekretärin Lena und dem Kriminalpolizisten Viktor – jeder verdächtigt jeden, etwas mit dem Tod des Ministers zu tun zu haben. Zu Ehren kommen weiters der lokale Aufdeckungsjournalist (der später zusammengeschlagen wird), ein Porträtist der Spitzen dieser Gesellschaft sowie ein sich besonders patriotisch gebärdender Theatermacher. Hieß es bei Tschechow noch „Nach Moskau! Nach Moskau“, lautet der Slogan jetzt kriegslüstern: „Nach Kiew!“ Putin-Russland bedeutet in der Provinz vor allem Denunziation. Denunziert wird hier jeder, also auch die verwitwete Ministergattin und Schuldirektorin; nicht nur, weil sie die Gehälter des nicht vorhandenen Lehrpersonal in die eigene Tasche abzweigt, sondern auch, weil einer ihrer Geschichtslehrer die Gefühle der Neo-Patrioten verletzt, indem er Stalin mit Hitler vergleicht. Droht der Thrill der Erzählung angesichts eingeschobener Reflexionen und Beschreibungen verloren zu gehen, folgt eine Sexszene. Alissa Ganijew zieht dabei alle Register der diesbezüglich reichen russische Sprache und tut das mit der Dezenz einer Erzählung für Erwachsene (so wird Porno in Russland umschrieben). Der Sarkasmus, mit dem „Verletzte Gefühle“ einem Land beikommt, in dem die Realität ständig alle Fiktion überbietet, macht „Verletzte Gefühle“ aber immerhin zu etwas wie Dostojewskij en miniature – eine höchst beachtliche Leistung. ERICH K LEIN
Alissa Ganijewa: Verletzte Gefühle. Roman. Aus dem Russischen von Johannes Eigner. Wieser, 252 S., € 21,–
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Das Öffnen einer Holzmatrjoschka
Die Pärchenlüge lauert überall
Knapp, klug, witzig: Volha Hapeyeva erinnert sich in „Camel Travel“ an ihre Kindheit im Minsk der späten 1980er-Jahre
In ihren sarkastischen Erzählungen „Mein Mann“ lässt Rumena Bužarovska das Eheleben alt aussehen
us ihr hätte eine „echte, aufrichA tige und ergebene Kommunistin“ werden können, weiß Volha Hapeye-
ie Familie ist die Keimzelle der D Gesellschaft, behauptet das Patriarchat. Daraus erwächst Unschönes
va, die Ich-Erzählerin des Romans „Camel Travel“, der von einer Autorin aus Belarus geschrieben wurde, die ebenfalls Volha Hapeyeva heißt. Sie wuchs in Minsk in den letzten Jahren sowjetischer Herrschaft auf, wo wir sie als „Oktoberkind“ kennenlernen. Oktoberkinder war der Name einer Jugendorganisation, in der alle Schulanfänger ideologisch geimpft wurden. Dass aus Volha dennoch keine stramme Kommunistin wurde, liegt am nahen Ende der UdSSR und daran, dass die Mutter Lenin nicht leiden konnte. Durch die Augen ihres KindheitsIchs betreibt die 1982 in Minsk geborene Hapeyeva spielerisch Autofiktion, angetrieben durch die Neugier für das Verhalten des Kindes, das sie damals war. Sie fragt sich: Warum ist meine Generation so, wie sie heute ist? Die unmittelbare Gegenwart aber wird in diesem im Original bereits 2019, also vor den Protesten gegen die Wahlmanipulation erschienenen Roman nicht berührt. Dennoch passt so mancher Satz zu den Bildern, die man in letzter Zeit aus Belarus zu sehen bekommt. Vor allem die Bilder von den Frauen, die für die Freilassung politischer Gefangener auf die Straße gehen: „Wir glaubten, dass Worte die Realität verändern, uns schützen oder unsere Peiniger strafen konnten.“ Das Politische wird bei der Hapeyeva, die
Teil eines unabhängigen Schriftstellerverbandes in Belarus ist und als Lyrikerin Bekanntheit erlangt hat, im Subtext verhandelt. Frauenpower aber gerät bei der promovierten Linguistin, die auch Gender Studies studiert hat, zur konkreten Ansage. Mit Judith Butler und Co erkennt die Erwachsene in den kindlich-subversiven Handlungen von damals („Silberstaub des Feminismus“) ihren heutigen Einsatz gegen „gewaltsame Geschlechtszuschreibungen“. Das eigenwillige Mädchen, das als Einzelkind bei der zum Lob unfähigen Mutter „mit spartanischer Härte“ aufwuchs, lernt recht schnell, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Einmal wird der kleinen Volha zugerufen, sie solle ans Heiraten denken
und nicht Ball spielen. „Nach so etwas willst du mit einem glühenden Eisen alles in dir ausbrennen, was die anderen daran erinnert, dass du ein Mädchen bist. Weil du nicht heiraten willst, sondern Ball spielen.“ Auch in der Schule passieren die spannenden Dinge wie der Tausch von Comicstrips gleichsam im Untergrund. Ein Hang zur Schönheit kann in der schulischen Bastelstunde nicht anerkannt werden: „Origami à la UdSSR: maximale Funktion bei minimaler Ästhetik“. „Camel Travel“ beginnt mit einer Rei-
se an den See Issyk-Kul in Kirgisien, auf der ein Foto der kleinen Volha auf einem Kamel entstand. Der Titel steht für das Leben als Reise und sinnbildlich für das gegenwärtige nomadische Leben der Autorin, die sich zurzeit in Österreich aufhält. Vor einem Jahr war sie Stadtschreiberin in Graz. In Belarus zu leben wäre für die „Außenseiterin und Randständige“ aufgrund der derzeitigen politischen Lage zu gefährlich. Das „brave Oktoberkind“ Volha wächst zwischen gutbürgerlicher Herkunft und sowjetischer Mangelwirtschaft („Auswahl verdirbt“) auf, stets begleitet von der „Identifikationsfrage“, die sie verwirrt: dass es zwei Länder, zwei Hauptstädte, dann zwei Hymnen und schließlich auch zwei Sprachen gibt. „Als lebten wir parallel in zwei Dimensionen oder im Bauch einer russischen Holzmatrjoschka.“ Hapeyeva, die in ihrer Muttersprache Belarusisch schreibt, öffnet diese Matrjoschka. Heraus kommt in 20 Kapitel auf lediglich 120 Seiten ein kluges, provokantes und humorvolles Stück Literatur, das mit alltäglichen Motiven eine gar nicht so weit entfernte Zeit in einem hierzulande weitgehend unbekannten Land lebendig macht. SEBASTIAN GILLI
Volha Hapeyeva: Camel Travel. Roman. Aus dem Belarusischen von Thomas Weiler. Droschl, 128 S., € 18,–
– und Stoff für die Literatur, den die 1981 in Skopje geborene Autorin und Literaturwissenschaftlerin Rumena Bužarovska präzise und ohne Milde zu verarbeiten weiß. Ihre bereits 2014 erschienenen elf Erzählungen sind die erste Übersetzung ins Deutsche; dabei sollte es nicht bleiben. Dabei besteht das Personal von „Mein Mann“ zum Großteil aus autoritären Arschlöchern, trunksüchtigen Trutschen oder verschlagenen Kindern – allesamt egozentrisch und wenig einnehmend. Bužarovska verfügt über eine Beobachtungsgabe, der keine Lebenslüge standhält. Ihr scharfer Blick trifft die Mittelmäßigkeit eitler Männer, meist aus Sicht der etwas klügeren Frauen. Moralisches Oberwasser bekommt dabei niemand. Man darf den Gattinnen die (auch literarisch relevante) Frage stellen, warum sie diese Fatzkes nicht einfach stehen lassen. Im vorliegenden Fall wäre das aber insofern schade, als man auf diese Weise um Grotesken wie „Mein Mann, der Dichter“, „Nektar“ oder „Empty Nest“ gebracht würde, die den sarkastischen, äußerst amüsanten Kern von „Mein Mann“ bilden. Von der Verwechslung von Liebe mit Zu-
gehörigkeit oder Versorgung handeln alle Texte. Dem Vater gratuliert man zur Geburt des Sohnes, und wenn eine den gefühlskalten Ehemann beim Fremdgehen erwischt, rät die Mutter: „Er ist dein Mann. Du hast ihn dir ausgesucht, du musst ihn ertragen.“ „Gene“, die längste der Erzählungen, verpasst kaum verstecktem Rassismus – hier jener der slawischen Mehrheitsbevölkerung gegenüber der albanischen Minderheit – mittels böser Pointe eine schallende Ohrfeige. So geht’s halt zu in Nordmazedonien, mag eine unbedachte Erstreaktion lauten, aber bis auf ein bisschen Ayran, Lokum oder Ajvar fehlt hier jedes Lokalkolorit. Das Patriarchat ist weder exotisch noch Monopol des Balkans. Bužarovska schildert auch die hilflose Kälte einer jungen Mutter, die sich beim Stillen fühlt, „als ob ich von einem kleinen Außerirdischen gemol-
ken wurde“. Neben den sarkastischen und genderpolitischen Tönen gibt es auch die feineren, etwa in „Suppe“, einer Erzählung über den Verlust des Ehemannes. Den drastischen Abschluss „8. März“ widmet Bužarovska dem akademischen Milieu, mit dem sie als Dozentin für amerikanische Literatur an der Universität Skopje bestens vertraut ist. Hier geht es genauso dumm und dünkelhaft zu wie überall sonst. Eine Dissertantin feiert mit ihrem literaturwissenschaftlichen Institut den Frauentag in einem Restaurant. Je mehr Schnaps getrunken wird, umso altbackener werden die Gespräche, schließlich lässt sich die Erzählerin dazu hinreißen, der unverheirateten Kollegin auszurichten, „eine Frau, die keine Mutter ist, ist eine unverwirklichte Frau“. Besoffen und halbherzig brät sie den älteren Toni an, auch er kein Gender-Avantgardist: „Du bist geistreich. Das ist selten bei Frauen.“ Das Fremdgehen scheitert auf wirklich hässliche Weise, eine erbauliche Geschichte zum Frauentag sieht anders aus. Doch die Message kommt an – wer es an weiblicher Solidarität mangeln lässt, ist zum Kotzen. Bužarovskas literarische Stärke sind die Schwächen ihrer Figuren. Alle reden anders, als sie denken; alle denken anders, als sie fühlen. Es ist ein ewiges Ringen um Aufmerksamkeit und Anerkennung, das nie befriedigt und dem Gegenüber nie zugestanden wird. Am Ende bekommen sowohl Männer als auch Frauen ihrer emotionalen Unfähigkeiten und moralischen Verpeiltheit wegen ihr Fett ab. Zynisch wird Bužarovska dabei nie, zwischen den Zeilen zeigt sie die Kämpfe, die alle in sich selbst auszufechten haben. DOMIMIK A MEINDL
Rumena Bužarovska: Mein Mann. Aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer. Stories, Suhrkamp, 171 S., 22,70 €
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Mit Dürers Hasen von Mostar nach Wien Lana Bastašić legt ein grandioses geschichtssattes Roman-Debüt über eine Frauenfreundschaft vor
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er Text beginnt mit einem Halbsatz: „von vorne anfangen“. Die Erklärung, die sodann folgt – „Du hast jemanden, und dann hast du ihn nicht mehr. Und das ist ungefähr die ganze Geschichte“ – mag die Essenz des Romans beschreiben. Aber damit muss man sich nicht zufriedengeben. Denn die fulminante Geschichte, die die bosnische Schriftstellerin Lana Bastašić, Jahrgang 1986, auf den folgenden 336 Seiten erzählt, weist einige Ebenen mehr auf. Die Rahmenhandlung bildet ein Roadtrip zweier Freundinnen in einem Opel Astra von Mostar im Süden Bosnien-Herzegowinas nach Wien. Beide sind sie in Banja Luka, einer Stadt im Norden des Landes, aufgewachsen. Sara, die Erzählerin, lebt seit Jahren in Irland, Lejla ist in Bosnien-Herzegowina geblieben. Es ist kein freudiges Wiedersehen. „Du musst mich so bald wie möglich abholen kommen. Ich muss nach Wien und diese Affen hier haben mir den Führerschein abgenommen, und keiner versteht, dass ich …“, erklärt Lejla am Telefon, als sie die Freundin nach vielen Jahren das erste Mal wieder kontaktiert. Sara, die gerade in Dublin unterwegs ist, versucht die Bitte abzuwehren, doch dann fällt der entscheidende Satz: „Sara, Armin ist in Wien.“ Sara packt ihre Sachen.
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Mit eindrucksvollen Bildern macht Lana Bastašić Europas größte Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg begreifbar
Der Fluchtpunkt der Handlung ist das in Aus-
ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
Da sind sie nun, zwei ungleiche Frauen mit ei-
nem schweren Rucksack an Geschichten, Erinnerungen, Vorwürfen und Missverständnissen, den sie niemals ablegen konnten. Gleichermaßen einander zugeneigt und voneinander abgestoßen, fügen sie sich auf der Fahrt Verletzungen zu, wo sie nur können, versuchen, die vermeintliche Macht der jeweils anderen zu brechen. Aus Sicht der Erzählerin scheint Lejla die Stärkere zu sein; die, die sich nicht unterkriegen lässt, die, die ihr einfach ins Lenkrad greift, was beinahe zu einem schweren Unfall führt – nur weil Lejla auf die Toilette muss und Sara nicht gleich stehenbleiben will.
Doch der Erzählerin ist nicht zu trauen. Überwältigt und begraben unter all den Geschichten aus ihrer und Lejlas gemeinsamer Vergangenheit fährt sie durch ein Land, dem sie niemals entkommen wird, egal wie weit sie fortzieht. Für diese unheimliche Verbundenheit steht im Roman die Dunkelheit am Tag. Die Uhr im Auto zeigt 15 Uhr, doch draußen ist es schon finster. Sara schimpft über die kaputte Anzeige, Lejla macht sich über Sara lustig. Doch dann: „‚Welcome back‘, sagte Lejla leise. Sie verstand mein Entsetzen. […] Wahrscheinlich begriff sie, dass ich tatsächlich verloren war, dass ich mich nicht verstellte. Ich hatte alles vergessen: sie und Armin, Bosnien. Diese Finsternis.“ An anderer Stelle heißt es: „Mindestens eine halbe Stunde fuhr ich durch Slowenien, bevor mir bewusst wurde, dass Bosnien schon seit langem hinter uns lag. Vielleicht, weil ich es immer noch zwischen uns spürte, als wären wir durch Kohle und abgebranntes Land gefahren. […] Wir sind immer in Bosnien.“
Lana Bastašić: Fang den Hasen. Roman. Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger. S. Fischer, 336 S., € 22,90
sicht gestellte Wiedersehen mit Armin, Lejlas Bruder, in den Sara heimlich verliebt war, und der plötzlich verschwand, als „es“ begann – der Krieg, der in Bosnien-Herzegowina im März 1992 ausbrach, in dem 100.000 Menschen getötet und zwei Millionen Menschen vertrieben wurden. Mit Zahlen, Daten und historischer Fakten indes hält sich die Autorin nicht auf. Bastašić gelingt es, mit vagen Andeutungen und eindrucksvollen Bildern Europas größte Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg begreifbar zu machen, ohne das Wort Krieg überhaupt zu verwenden. Banja Luka, die Heimat der beiden jungen Frauen, wurde zu dieser Zeit zu einer Bastion des serbischen Nationalismus. Lejla und Sara gingen gemeinsam in die Schule. „Der Tod kommt zuerst schleichend, dann plötzlich und unerwartet. Am Anfang starben die Hunde, einer nach dem ande-
ren.“ Wer tatsächlich Schuld hat am Tod der Hunde bleibt ungeklärt, doch deren Besitzer haben keinen Zweifel, dass es das „Ungeziefer“ gewesen sei, wie sie ihre bosniakischen bzw. muslimischen Nachbarn mittlerweile nennen. Die Hunde sind nun nicht mehr nur Hunde,
sondern „serbische“ Hunde, ihr Tod stellt einen Angriff auf das Serbentum dar. Man stellt sich orthodoxe Kreuze in den Garten und lässt sich religiöse Motive auf die Arme tätowieren. Der Vater schleppt Sara – die Familie begreift sich nun ebenfalls als serbisch – in die Kirche, um sie taufen zu lassen, die Mutter versucht, eine andere Freundin für ihre Tochter zu finden, eine, die nicht muslimisch ist so wie Lejla. Lejla wiederum wird plötzlich ein neuer Name verpasst. Aus Lejla Begi wird Lela Beri: Das fehlende „j“ und das „r“ statt des „g“ machen aus dem bosniakischen einen serbisch klingenden Namen. Es ist eine Frage von Leben oder Tod. Es geht in „Fang den Hasen“ aber nicht nur um eine traumatische Kindheit im Krieg, sondern auch um Szenen einer Jahrzehnte währenden Freundschaft, um Saras Leben in Dublin, um deren Beziehung zu ihren Eltern und um ein erschreckendes Wiedersehen in Banja Luka. Das Motiv des Hasen aus dem Titel kehrt immer wieder, etwa als Armin als kleiner Bub im Museum so nahe an Dürers Hasen herantritt, dass der Alarm anschlägt. „Fang den Hasen“ ist ein grandioser Roman, dessen sprachliche Vielschichtigkeit auch in der deutschen Übersetzung spürbar wird. Dabei hilft auch ein Glossar, das von „Džezva (Metallgefäß mit langem Stiel zur Zubereitung von bosnischem Kaffee)“ bis „Zeljanica: eine Sorte Pita (mit Spinat gefüllte Teigblätter)“ einiges erklärt. Es ist eine Geschichte, die nach dem letzten Halbsatz dazu animiert, das Buch sofort wieder auf der ersten Seite aufzuschlagen. STEFANIE PANZENBÖCK
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Noch ist Polen nicht verloren
Ungute Menschen in feindseliger Landschaft
Tomasz Jedrowskis Debütroman kann als Parabel auf die LGBT-Feindlichkeit im gegenwärtigen Polen gelesen werden
Mit seinem Roman „In der Ferne“ ist Hernan Diaz ein tiefgründiger Neo-Western im Migrantenmilieu geglückt
o sehen künftige Stars aus: poS lyglott aufgewachsen, fünf Sprachen fließend sprechend, Abschlüs-
er Western ist nicht mehr das, D was er einmal war. Vierschrötige Männer mit der Hand stets am
se an den Universitäten Cambridge und Paris und zwischen Wohnsitzen in England, Polen und Frankreich so frequent unterwegs, dass man meinen könnte, der junge Mann befinde sich permanent auf Tournee. Apropos jung: Als Wunderkind geht Tomasz Jedrowski altersmäßig nicht mehr ganz durch. Geboren 1985, widmete er sich nach einigen Jahren als Jurist und einem Intermezzo als Model ganz dem Schreiben, konkreter, dem Verfassen seines literarischen Debüts. In Großbritannien per aufwendiger Auktion an den Verlag gebracht und daraufhin im englischsprachigen Raum vielgepriesen, liegt der Roman nun auf Deutsch vor. „Im Wasser sind wir schwerelos“ blickt gleich zu Beginn – markiert durch eine Erinnerung an die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 – zurück ins Polen zur Zeit der Militärregierung. Ludwik, der Protagonist, schreibt ein Jahr nach seiner Emigration nach New York aus dem Exil an Janusz, seinen ehemaligen Geliebten. Janusz hat es vorgezogen, sich dem Regime anzupassen und mit der Tochter eines Funktionärs ein Kind zu bekommen, verleugnet dabei nicht nur seine eigentliche politische Haltung, sondern vor allem seine Homosexualität und seinen Geliebten. Im Sinn einer eindringlichen, manchmal beinahe verzweifelten schwulen Selbstvergewisserung schlägt Jedrowskis Roman einen Bogen von der ersten erotisch getönten Begegnung Ludwiks zu seinem eigentlichen Coming-out inmitten der politischen Repressionen der frühen 1980er-Jahre. Im Zentrum der Geschichte steht die Liebe zwischen den beiden jungen Männern, ihr Aufkeimen während eines verpflichtenden Ernteeinsatzes, ihre Kulmination in der Zeit danach und ihre fehlende letzte Erfüllung. Als gewissermaßen magisch aufgela-
denes affirmatives Element fungiert James Baldwins Roman „Giovannis Zimmer“ aus dem Jahr 1956, ein Schlüsselwerk der Schwulenliteratur. Einerseits kennzeichnet es Art und Ausmaß der homosexuellen Identifikation der beiden – Ludwik verfällt dem Buch und möchte darüber dissertieren, Janusz liebt es ebenfalls, entscheidet sich aber, für die Zensurbehörde tätig zu bleiben –, andererseits soll es den Stellenwert von Literatur insgesamt unterstreichen. Man hat mit „Im Wasser sind wir schwerelos“ eine klassische und klassisch gebaute Liebesgeschichte vor sich, die alles enthält, was man sich
erwarten darf: Zartheit und Leidenschaft, Innigkeit und Zweifel, Überschwang und Verrat, schließlich die große Botschaft des einen, der Gewissheit gewonnen hat, an den anderen, der dieser Gewissheit nicht gerecht werden kann. Das alles liest man nicht ungern, ins-
besondere vor dem Hintergrund der im gegenwärtigen PiS-Polen grassierenden LGBT-Aversion. Freilich ist das auch das Problem des Romans: Mehr als das Erwartbare stellt dieser einem nicht zur Verfügung. Die Figuren sind nach vertrauten Klischees
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Die Stille ist „lähmend“, das Sonnenlicht „gleißend“, in dunklen Räumen riecht es nach Moschus, und der Schwanz in der Unterhose des Freundes ist „welterschütternd“
gezeichnet, handeln schematisch und bieten nicht, was man sich von Lektüre manchmal erhofft, nämlich die eine oder andere Überraschung. Gleiches gilt für die Sprache. Die Stille ist „lähmend“, das Sonnenlicht „gleißend“, in dunklen Räumen riecht es nach Moschus, und dass dem unter dem Stoff der Unterhose liegenden Schwanz des Freundes das Adjektiv „welterschütternd“ angetan wird, möchte man nur zu gern der Übersetzerin anlasten. „An manchen Menschen, manchen Ereignissen verzweifelt man. Sie sind wie Guillotinen, die das Leben zweiteilen, in das Tote und das Lebendige, das Davor und das Danach.“ So heißt es im ersten Kapitel des Buches, und man bemüht sich, daran nicht zu verzweifeln. Vielleicht gibt es derartige Guillotinen inzwischen ja tatsächlich, oder vielleicht urteilt man zu streng, weil man sich gerade dem Polen Kaczyńskis und Morawieckis gegenüber ein wenig mehr gewünscht hätte: mehr Lebendigkeit, mehr Wagemut oder mehr Welterschütterung. PAULUS HOCHGAT TERER
Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Hofmann und Campe, 224 S., € 23,70
Abzug, im Hinterhalt lauernde Native Americans – das geht sich in Zeiten von Identitäts- und Diversitätspolitik nicht mehr aus. Wer sich literarisch an die amerikanische Pionierzeit des 19. Jahrhunderts heranwagt, kommt zwar um die säckeweise abgestellten Stereotypen nicht ganz herum, sollte aber – um nicht ganz aus der Zeit zu fallen – von ihrer Romantisierung tunlichst absehen, sie schon gar nicht in alter Manier zusammenschrauben. Neue Perspektivierungen, neue Sujets, neue Helden und Heldinnen braucht der Westernroman! Die US-amerikanische Schriftstellerin Téa Obreht etwa brachte in ihrem von der Kritik gefeierten Buch „Herzland“ neben einem Einwanderer aus dem Osmanischen Reich eine toughe Siedlerin als zentrale Protagonistin in Stellung. Und im Erstlingsroman von Hernan Diaz, der soeben unter dem Titel „In der Ferne“ in deutscher Übersetzung erschienen ist und der 2018 für den Pulitzerpreis nominiert wurde, steht ein schwedischer Emigrant im Mittelpunkt. Obreht und Diaz verbindet zum einen, dass sie den klassischen Western auftrennen und neu stricken, zum anderen, dass sie beide auf eine persönliche Migrationsgeschichte zurückblicken: Obreht wurde in Belgrad geboren, der heute in New York lebende Diaz kam 1973 in Argentinien zur Welt, aufgewachsen ist er in Schweden, wohin seine Familie vor der Militärdiktatur geflohen war. Diaz dockt nun an seine Biografie an: Wichtigster Protagonist von „In der Ferne“ ist ein junger Bursche, Håkan Söderström, der gemeinsam mit seinem älteren Bruder Mitte des 19. Jahrhunderts von Schweden nach New York aufbricht, um dort ein besseres Leben zu finden. Gleich zu Beginn der Reise verlieren sich
die beiden Brüder, und Håkan landet nicht in New York, sondern auf der anderen Seite des Kontinents in San Francisco, wo seine eigentliche Odyssee beginnt: Mittellos, minderjährig, zu Fuß und der englischen Sprache nicht mächtig, macht er sich Richtung Osten gegen den Siedlerstrom nach New York auf, um seinen Bruder zu finden. Letztlich wird er jahrelang durchs Land irren, sein Haar wird ergrauen und er noch immer nicht angekommen sein. Was das Buch besonders macht, ist nicht nur, wie anstandslos Elemente von Abenteuer- und Bildungsroman, Reiseerzählung und Nature Writing zu einem Neo-Western fusioniert werden, es ist vor allem die personale Erzählperspektive: Durch
einen impressionistischen Filter seiht Diaz für den Leser nur das ab, was Håkan sehen, hören, fühlen und begreifen kann. Und gerade Letzteres gelingt dem Schweden oft so gar nicht, mangelt es diesem doch an Sprachkenntnis sowie Lebenserfahrung. Sobald er auf seiner Wanderschaft auf andere Menschen trifft – etwa einen halbverrückten irischen Goldsucher oder eine zahnlose Salonbesitzerin, die sich Håkan als Sexsklaven hält –, dünkt ihn deren Verhalten zunächst meist rätselhaft. Er braucht, zurückhaltend, wie er ist, seine Zeit, um hinter die Fassaden zu blicken, wo zumeist nur Arglist lauert. Zuneigung erfährt er kaum. An und mit den widrigen Bedingungen wächst aber auch Håkan. Er wird zu einem schier unbezwingbaren Hünen und entwickelt nicht zuletzt moralische Größe. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb
findet er keinen Platz in einem Land, das ihm, wie dessen Bewohner, feindselig gegenübersteht. Ob in der Prärie, der Wüste, auf Bergen oder in einem Canyon – Håkan befindet sich in einem ständigen Überlebenskampf. Beinahe klaglos erträgt er Schmerz, Hunger und Durst, ebenso die mitunter halluzinatorischen Begleiterscheinungen von Einsamkeit und Isolation. Während der jahrelangen Arbeit an „In der Ferne“ hat Hernan Diaz, der auch Literaturwissenschaftler ist, etliche Romane des 19. Jahrhunderts gelesen, sich darüber hinaus in Reiseliteratur, medizinische Handbücher oder die Schriften von Naturforschern dieser Zeit vertieft. Mithin sind es nicht bloß die fein säuberlich aneinandergereihten Abenteuer und ihre überraschenden Wendungen, die den Roman so packend machen, sondern das satte Wissen über die Techniken des (Über-)Lebens fernab jeder Zivilisation und in einer Landschaft, die nur das herzugeben bereit ist, was ihr mühsam entrissen wird. Nahrung suchen, Fallen stellen, Tiere häuten, Kleidung fabrizieren, Medizin herstellen, Wunden versorgen, Lager errichten – das liest sich hier ungelogen so spannend wie ein Duell zu High Noon. TIZ SCHAFFER
Hernan Diaz: In der Ferne. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin, 304 S., € 24,70
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Wollt ihr die totale Fantasie? Charlie Kaufmans spätes Romandebüt „Ameisig“ verliert vor lauter Fabulierlust die Bodenhaftung
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harlie Kaufman gilt als genialisch versponnener Kopf, der als Drehbuchautor und Regisseur mit Lust und Witz Konventionen durcheinanderwirbelt und dramaturgische Standards wie Plotpoints verweigert. Seine Werke stecken voller vertrackter Zeitenfolgen und verschachtelter Erzählstränge. Häufig bespiegeln sie in narzisstischer Ironie die Schaffen- und Identitätskrisen des eigenen Ichs bzw. das Filmemachen – inklusive der eigenen Starpersona, die etwa in „Adaption – Der Orchideendieb“ gleich doppelt als Zwillingsbruderpaar Donald und Charlie Kaufman in Szene gesetzt wird, dessen eine Hälfte Charlie das Drehbuch zum Film „Being John Malkovich“ von Spike Jonze geschrieben hat. Kaufman tüftelt gern an metareflexiven Fragen herum: Welcher Film lässt sich als Film im Film erzählen, und ginge da nicht noch mehr, zum Beispiel ein Film im Film im Film, der rückwärts erzählt wird?
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Der Protagonist ist einem cineastischen Meisterwerk auf der Spur. Der Haken: Es hat eine Spielzeit von drei Monaten und die einzige Kopie ist verbrannt
Nun legt der 62-Jährige mit dem Faible für Pup-
pen und das Puppenhafte vermeintlicher Individualisten sein spätes Romandebüt vor. „Ameisig“ führt die Obsessionen des Cineasten und Filmkritikkritikers fort, steigert aber den Grad der Vertracktheit noch einmal ganz gewaltig. Das Buch erzählt in der Ich-Perspektive vom Leben des Filmkritikers B. Rosenberg, dessen unzählige und selbstverständlich unzureichend gewürdigte Veröffentlichungen vom unbestechlichen Blick einer überragenden filmischen Intelligenz mit enzyklopädischem Wissen und Hang zu avantgardistischer Sprödheit künden. Rosenberg bringt durch den Vornamen B. die Ablehnung binärer Genderkonstruktionen zum Ausdruck, erzählt voller Stolz von seiner schönen afroamerikanischen Freundin und versichert jedem und jeder, kein Jude zu sein, auch wenn ihn viele für einen halten. Mit seinen oft vernichtenden Urteilen über die Zwänge Hollywoods und
Charlie Kaufman: Ameisig. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Hanser, 864 S., € 35,–
die Routinen des Arthouse-Kinos hält der Erzähler nicht hinter dem Berg – besonders ein gewisser Charlie Kaufman kriegt regelmäßig sein Fett ab. Je länger der Mittfünfziger Rosenberg aber von sich erzählt, desto inkonsistenter erscheint seine Haltung zur Welt, besonders zu den derzeitigen Ausprägungen der Identitätspolitik in den USA. Macht sich das nonbinäre B. am Ende über antirassistische Achtsamkeitsgebote und den Rigorismus der von alten, weißen Männern geforderten Ich-Abspeckung lustig? Vom Verlag als „unendlicher Spaß“ mit offen-
sichtlichem Bezug auf den gleichnamigen Roman von David Foster Wallace beworben, geht es auch hier um die Suche nach einem Film, genauer, um die Rekonstruktion einer in Flammen aufgegangenen, singulären Filmkopie. Diese ist das Lebenswerk des im hohen Alter verstorbenen und zuvor mit dem Erzähler bekannt gewordenen, afroamerikanischen Regisseurs Ingo Cutbith. Man ahnt schon, dass nach diesem noch halbwegs plausiblen Plot vieles „kontraintuitiv“ weitergehen wird (so formuliert der Ich-Erzähler die Ausgangslage des TV-Horrorfilms „Schrei mich in den Schlaf “, in dem die Schreie eines Monsters Menschen in den Schlaf wiegen, in dem sie dann umgebracht werden). Cutbiths unsichtbarer Film aber, von Rosenberg instinktiv als unübertreffbares Meisterwerk erkannt, hat eine Spielzeit von drei Monaten und wird sich, neu konfiguriert im Kopf des von seiner Reanimation besessenen Kritikers, möglicherweise als technologisch aufgerüsteter Knetanimationsfilm über ein krisengeschütteltes Comedy-Duo entpuppen. Oder als langes weißes Nichts, das am Ende nicht mehr nichts ist, sondern ein zutiefst persönlicher Dialog mit dem Filmemacher, der sich über Stunden vom winzigen Punkt zum Körperbild aufbaut. Oder der Film endet in einer Million Jahren mit der Herrschaft einer hyperintel-
ligenten, einsamen Ameise namens Calcium. Oder geht es letztlich um die Würdigung der Ungesehenen im Film? Über all das lassen sich kaum verlässliche Aussagen treffen, denn das einzige Hilfsmittel der Recherche über den Film ist das Gedächtnis von Rosenberg, dem mit Hilfe von Hypnosetechniken auf die Sprünge geholfen werden soll. Durch diese Art von erzählerischem Trick (die anderenorts im Roman als billige Legitimation für Charlie Kaufmans Zwangsoriginalität kritisiert wird) entbindet sich der reale Autor Kaufman von jeglicher Forderung nach Stringenz. Nichts erscheint unmöglich in diesem Zwischenreich zwischen Fiktion und Metafiktion. Aber weil in diesem Pluriversum fast alles zwischen popkultureller Referenz, Kulturwissenschaftsparodie und Problematisierung eines neurosengeplagten Egos mit Clown-Fetisch Platz hat, ermattet auch das Interesse am Versuch, den Narrationsebenen zu folgen und die Wirklichkeitsbezüge zu entwirren. Nichtsdestotrotz blitzen immer wieder hoch-
komische Passagen auf, zum Beispiel jene über das Los des Intellektualismus in einer Welt voller schlecht durchdachter Filme über Zeitschleifen. Ein Rumpelstilzchen namens Donald Trunk beziehungsweise seine robotische Doppelgängerarmada kommen auch vor und plappern – ausgerechnet inmitten dieses am Ende doch ziemlich überreizten Ideenfeuerwerks ohne schnöden Wahrheitsanspruch – etwas von Fake News. Später hat auch noch das berühmte, über mehrere Zeilen zitierte Zitat Walter Benjamins über den Engel der Geschichte seinen Auftritt, der vom Fortschritt in die Zukunft geweht wird. Was es illustrieren soll, bleibt unklar. So wie der Ich-Erzähler immer wieder in Slapstick-Manier in offene Kanalschächte plumpst, gerät auch der Leser angesichts dieses fiktionalen Blendwerks gehörig ins Stolpern. THOMAS EDLINGER
S U S AN NE FAL K
Johanna spielt das Leben Susanne Falk entführt uns in die aufregende Welt des Wiener Burgtheaters der fünfziger und sechziger Jahre und man fiebert förmlich mit: Mutter, Ehefrau und gefeierte Schauspielerin – wie schafft es eine junge Frau, sämtliche Rollen unter einen Hut zu bringen? Tragisch, lustig, unterhaltsam und dennoch nicht seicht, das Buch ist eine perfekte Mischung! PETRA HARTLIEB Ein Theaterroman? Auch. Eine Liebesgeschichte? Aber ja. Emanzipation? Das große Thema. Susanne Falk lässt leichtfüßig und humorvoll die fünfziger und sechziger Jahre aufleben. Ihre Johanna ist ein echter Feger! BARBARA HOPPE 256 S., gebunden, Ð 22,-
www.picus.at
Picus
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Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion, Der Bilderbuchfrühling wartet mit Poetischem auf, mit Hasen ohne Nasen, Walen, die im Garten liegen, oder einem Wallrass, das es gar nicht gibt. Es geht um die Grenzen von Wahrheit und Fiktion. Im Kinder- und Jugendbuch werden diese schon enger gesetzt. Aber die Fantasie darf auch hier nicht fehlen er kleine rote Hase lebt im Wald. D Als er zum ersten Mal sein Spiegelbild im See sieht, bemerkt er, dass
er keine Nase hat. Plötzlich fühlt er sich unvollkommen und begibt sich auf die Suche „nach allem, was eine Nase hätte sein können“. Der Hase wandert durch einsame, unwirtliche Gegenden. Irgendwann lernt er ein kleines Mädchen kennen, das ihn mit nachhause nimmt. Von seiner neuen Freundin bekommt er, so viel sei schon verraten, auch irgendwann eine neue Nase. Und das, obwohl er eigentlich schon längst vergessen hat, dass er sich eine solche unbedingt gewünscht hatte. Das Besondere an diesem Bilderbuch ist nicht die herzerwärmende Geschichte, sondern die Illustrationen der Niederländerin Hanneke Siemensma. Mit einer Mischtechnik aus zarter Kreide und Abdrücken von echtem Laub schafft sie eine lichte, poetische, für allerlei Gedanken und Entdeckungen durchlässige Stimmung, in die man eintauchen und sich auch als Vorlesender vom anstrengenden Alltag erholen kann. Wenn das Kind schläft, liest man das Buch dann noch einmal von vorne … K IR STIN BREITENFELLNER
Annabel Lammers, Hanneke Siemensma (Illustrationen): Der Hase ohne Nase. Bohem, 36 S., € 20,60 (ab 3)
In Annabel Lammers poetischem Bilderbuch macht sich ein Hase auf die Suche nach seiner Nase
chöne Bilderbücher müssen nicht S knallbunt sein, um die Fantasie in Gang zu setzen. Sabine Rufener ge-
lingt das auch mit Schwarz, mit Grauund Erdtönen. Sie versteht es, glaubhaft zu machen, dass es etwas gibt, das es nicht geben kann Ein kleines Mädchen wacht morgens auf und sieht einen Wal im Garten, der auf dem Fahrrad liegt, mit dem es eigentlich zur Schule fahren will. Es freundet sich mit dem Wal an, der zu schrumpfen beginnt und schrumpft und schrumpft, bis ihn das Mädchen auf dem freigelegten Fahrrad zum Meer zurückbringen kann. Zum Schluss erinnern nur noch ein paar Seesterne an den ungewöhnlichen Besucher, den man inzwischen selbst so liebgewonnen hat, als würde man ihn und seine dunkle Unterwasserwelt wirklich kennen. K B
m ein unwahrscheinliches Tier geht es auch in dem Buch der U Wienerin Sigrid Eyb-Green. Das
Sabine Rufener: Der Wal im Garten. Kunstanstifter, 36 S., € 22,70 (ab 4)
merkt man schon am Namen: „Was ist ein Wallrass?“, fragt der kleine Bruder den großen im Sommer an einem See. Und er erfährt, dass es aussieht wie ein Dromedar, mit langem Hals, Schlangenkopf und zottigem gelbem Fell an den Hinterbeinen. Den Rest der Ferien fürchtet sich der Kleine vor dem unbekannten Tier. Bis er es bei einem Badeunfall durch Zufall kennen zu lernen glaubt. Das Wallrass gibt es gar nicht? Jetzt glaubt der kleine dem großen Bruder nicht mehr. Aber das ist sein Geheimnis. Eine Geschichte über Fantasie und Lüge und die Angst vor dem Unbekannten, mit lebensfrohen Bildern, die einen vom kommenden Sommer träumen lassen. K B
Sigrid Eyb-Green: Das Wallrass. Jungbrunnen, 32 S., € 16,90 (ab 4)
KINDERBÜCHER
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Realität und Fantasie ist fließend
Ann Cathrin Raab: Grünkäppchen und der böse Elefant. Kunstanstifter, 36 S., € 20,60 (ab 4) Isabelle Simler: meine wilde* katze. Von Hacht, 46 S., € 13,40 (ab 4)
Atak: Piraten im Garten. Kunstmann, 48 S., € 20,60 (ab 3)
Jürg Schubiger, Eva Muggenthaler (Illustrationen): Mein Bruder und ich und die Katze im Wald. Peter Hammer, 24 S., € 16,50 (ab 5)
eorg Barber alias Atak braucht pa erzählt gerne Geschichten. atzen sind Raubtiere, auch wenn aum jemand hat mehr Talent für Komplexität als die deutG keine großen Worte, um eine O Aber bei Märchen kennt er sich K man das dem schnurrenden K sche Illustratorin Eva MuggenthaHaustier nicht ansieht. Diesem großartige Geschichte zu erzählen. In nicht aus. „Es war einmal ein Mädseinen bisherigen Werken „Verrückte Welt“ (2009), „Im Garten“ (2013) und in den legendären Illustrationen zu Mark Twains „Der geheimnisvolle Fremde“ (2012) entwickelte er einen ebenso eigenwilligen wie eindrücklichen Stil, eine Mischung aus naiver Malerei, Comic-Elementen und Zitaten. Danach kann man durchaus süchtig werden. Zum Glück gibt es wieder etwas Neues aus der Werkstatt Atak, und diesmal geht es um Piraten, die im Garten herumschleichen, eine Explosion, die alles durcheinanderbringt, und einen Jungen und eine Ente, die das Chaos verstehen wollen. Auf jeder Seite steht nur ein Wort: oben, unten, hier, dort, groß, klein etc. Die Geschichte muss man sich selbst zusammenreimen. Mit den knallfröhlichen großformatigen Bildern von Atak ein Riesenspaß! K B
chen mit einer grünen Kappe“, beginnt er auf Nachfrage des Enkels. „Mit einer grünen Kappe?“ – „Seine Mutter gab ihm einen Korb mit Essen, damit es ein Picknick machen konnte.“ – „Opa, den sollte sie doch zu ihrer kranken Oma bringen!“ Jeder von Opas Sätzen wird von dem Kleinen angezweifelt, denn Opa hat wirklich keine Ahnung. Daraus entspinnt sich nicht nur ein witziger Dialog, sondern auch eine Neuinterpretation des Märchens vom Rotkäppchen – mit Elefanten statt Wolf und dickem Bauch statt großem Maul. Opas Naivität – oder Hang zur Anarchie? – wird hier gekonnt illustriert mit kindlich anmutenden, mit Wachsmalkreiden kolorierten Strichzeichnungen. Der Enkel hat den Fake-News-Opa trotzdem lieb. Dieses so knuffige wie originelle Bilderbuch muss man mögen! K B
Umstand widmet die Illustratorin Isabelle Simler ein Katzenbuch der besonderen Art. Auf jeder Seite steht ein Satz über den „Stubentiger“, dem mit einer Sternchen-Anmerkung (darauf spielt auch das Sternchen im Titel an) am Fuß der Seite wissenschaftlicher Charakter verliehen wird. So erfährt man einiges über die Muskeln, die Geschwindigkeit, das Sehvermögen oder die Funktion der Schnurrhaare. Auf dem dazugehörigen Bild sieht man die Katze in einer harmlosen, liebreizenden oder neckischen Pose. Aus diesem Gegensatz speist sich der Reiz des Buchs, das sich zum Schluss als Liebeserklärung eines kleinen Mädchens an seinen schwarzen Kater entpuppt. Eine witzige Idee, mit Ideenreichtum und Geschmack umgesetzt. Das Buch eignet sich auch als Mitbringsel für Katzenliebhaber jeglichen Alters. K B
ler. Ihre Bilder sind so frech und komisch wie detailreich und vielschichtig, und trotzdem wird die Situation wie in einem Tableau auf den Punkt gebracht. In der Geschichte von Jürg Schubiger geht es um zwei Brüder, die im Wald auf eine weinende Katze treffen. Um sich ihr zu nähern, verwandeln sie sich in einen Wolf, aber die Katze traut ihnen nicht. Sie versuchen es mit Spinnengestalt, wieder schaffen sie es nur gemeinsam: Einer ist der Rumpf, der andere die Beine. Auch als Taube kommen sie nicht wirklich weiter. Dann stellt sich heraus, dass die Katze eigentlich ein Mädchen ist. „Sie sagte: Und ihr beide, ihr hört auf mit dem faulen Zauber und zeigt mir den Weg, aber sofort.“ Und man erfährt, dass die Buben einen Grund haben, ihre Zeit zu verplempern: Daheim erwarten sie nicht erledigte Hausaufgaben ... K B
Ab 4 Jahren. Gebunden 32 Seiten. € 13,95
»Wunderbar erzählt, liebevoll illustriert: Für große Träume ist man nie zu jung.« MELANIE MÜHL, FAZ
Alle Titel der Reihe Little People, BIG DREAMS finden Sie unter www.insel-verlag.de/littlepeoplebigdreams
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Mut und Klugheit muss man erproben
Ein Lümmel auf der Busfahrt ins Leben
Wie wird man von der verwöhnten Prinzessin zu einem Kind?
Ein Rabauke lernt Obdachlose kennen und damit sich selbst
andekraska Pampernella ist elf, Prinzessin und eine starke PerP sönlichkeit. Mit zwei Jahren gewöhnt
ector beobachtet gut. „Erwachsene helfen immer nur denen, die H sie mögen, und ich habe noch nie ei-
sie sich das Windeltragen ab, sie hat einen Leibwächter und einen eigenen Chronisten. Mit denen bereist sie die Welt. Das klingt recht abgehoben, aber Pandekraska plagt auch eine große Angst: niemals eine beste Freundin zu finden. Der Berliner Zoran Drvenkar hat schon viele Preise eingeheimst. Eindimensionalität ist seine Sache nicht, wie er schon in seiner erfolgreichen „Kurzhosengang“-Reihe zeigte. Auch mit „Pandekraska Pampernella“ hat er eine Geschichte mit mehreren Erzählsträngen geschaffen. Ist das Mädchen zu Beginn eine Kunstfigur, so entwickelt sie sich zunehmend zu einem greifbaren Kind. Pandekraska muss lernen, dass die Welt sich nicht um sie dreht und es trotz ihres Muts und ihrer Klugheit Kinder gibt, denen sie sich nicht gewachsen fühlt. Und wie es Ängste so an sich haben, lösen sie sich auch nicht in Luft auf, nur weil man „sich ihnen stellt“. So bleibt der Roman bis zum Schluss voller Überraschungen.
Drvenkar weiß witzig zu formulieren, wenn etwa die Rede ist vom Leibwächter, „dem Treppensteigen so sehr verhasst war, dass sich jede Treppe duckte, sobald er in ihre Nähe kam“. Selbst das Ende ist noch nicht das Ende. Da sind immer noch „ein paar Erinnerungen versteckt, an die Pandekraska Pampernella nicht erinnert werden will“. G E R L I N D E P Ö L S L E R
Zoran Drvenkar, Martin Baltscheit (Illustrationen): Pandekraska Pampernella. Beltz, 336 S., € 15,40 (ab 10 )
nen Erwachsenen getroffen, der mich mag. Außerdem enttäusche ich alle und jeden, seit ich denken kann, also war das nichts Neues.“ Doch so sehr Hector sich in der Opferrolle gefällt, ist er doch meist Täter. Mit Leidenschaft schikaniert er Lehrer ebenso wie besonders strebsame Mitschüler. Ans Nachsitzen hat sich der Lümmel längst gewöhnt, ja, er mag es sogar: In diesen Stunden kann er zur Ruhe kommen und sich neue, noch fiesere Aktionen einfallen lassen. Selbst die wohlmeinendsten Pädagogen haben wenig Hoffnung auf eine baldige Besserung Hectors. Als er einem Obdachlosen einen Streich spielen will, geht er freilich einen Schritt zu weit. Plötzlich findet ihn niemand mehr cool. Onjali Q. Raúf ist eine britische Autorin und Frauenaktivistin mit Wurzeln in Bangladesch. Mit „Die Nachtbushelden“ setzt sie ihre Reihe von Kinder- und Jugendromanen mit Fokus auf sozial Schwache und Unterprivilegierte fort. Diesmal geht es um Obdachlose, um
Vorurteile, mit denen man ihnen begegnet, und um die oft bewegenden Lebensgeschichten, die dahinterstehen. Mit viel Empathie, aber ohne Sozialkitsch zu produzieren, schildert das Buch, wie sich Hector und „der Mann, der im Park wohnt“, annähern – und wie das den Rabauken schließlich doch noch verändert. SEBASTIAN FASTHUBER
Onjali Q. Raúf: Die Nachtbushelden. Atrium, 318 S., € 15,50 (ab 10)
Der beste Freund ist nicht mehr zu erkennen
Wenn Wut und Schmerz im Bauch grummeln
Ein Sommer am Übergang von der Kindheit in die Jugend
Sogar über die Vorpubertät lässt es sich humorvoll schreiben
sta fährt dem schönsten SomA mer aller Zeiten entgegen. Der Zug wird sie in die deutsche Klein-
uke, der eigentlich Lukas heißt, L ist kein Kämpfer. Aber er will einer werden, will hart sein, damit ihm
stadt Geschrey bringen, wo ihr bester Freund Ringo wohnt. Mit ihm will sie im See baden, Schlumpfeis essen, abhängen, weil: „Mit Ringo ist nichts blöd.“ Und Asta wird das erste Mal auf der Bühne stehen, im Sommertheater, das ihre Eltern in dem kleinen Ort jedes Jahr inszenieren. Doch dann kommt alles anders. Ringo ist jetzt so groß und benimmt sich komisch. Im Eissalon haben sie Schlumpfeis ausgemustert, und Astas erste Schauspielversuche enden in Peinlichkeit. Stattdessen entpuppt Ringo sich als neuer Star der Waldbühne. Na toll. Von der Leipzigerin Judith Burger sind schon „Gertrude grenzenlos“ (2018) und „Roberta verliebt“ (2019) gut angekommen. Auch jetzt schreibt sie über die emotionalen Höllen, durch die (früh)pubertierende Menschen nun mal müssen. Was Asta immer freute, fühlt sich mit zwölf, beinah 13 plötzlich hohl an. „Bin ich überhaupt noch die Asta, die ich kenne?“, fragt sie sich. Doch es ist nicht alles schwer, schließlich leuchten Ringos Augen grüner denn
je. In den Büschen knispelt es, die Rollen des geklauten Einkaufswagens, mit dem die beiden durch die nächtlichen Straßen kurven, rattern. Und tief im See entdeckt Asta ein Unterwasserwäldchen. Am Ende wird es doch noch ein guter Sommer – der mit dem letzten Satz des Buchs einen würdigen Abschluss findet. GERLINDE PÖLSLER
Judith Burger: Ringo, ich und ein komplett ahnungsloser Sommer. Gerstenberg, 176 S., € 14,90 (ab 10)
die Tiefschläge des Lebens nichts anhaben können. Seit einigen Wochen trainiert er deshalb täglich mit einem Boxsack, den er an einem Baum im Garten aufgehängt hat. Hier kann er Druck und Frust abbauen – und kurzzeitig auch seine Sorgen vergessen. Davon hat der 13-Jährige genug. In seiner neuen Schule ist er noch Außenseiter und intellektuell unterfordert, zuhause stehen die Zeichen sowieso auf Krise. Seine ältere Schwester macht plötzlich auf sexy Lady und ist ihm fremd geworden; der Vater hat sich in sich selbst zurückgezogen – was kein Wunder ist, denn nach einer Gehirnblutung liegt Lukes Mutter im Wachkoma. Alles scheint über Luke zusammenzustürzen. Ihm stellt sich die Frage: Soll er sich das gefallen lassen und dabei zusehen, wie seine Familie zerbricht, oder will er handeln und sein Schicksal selbst in die Hand nehmen? Der österreichische Autor Thomas Hartl legt nach einer Reihe von Sachbüchern mit „Fauststarker Herz-
schlag“ sein erstes Buch für Jugendliche an der Schwelle zur Pubertät vor. Bei den gehäuft auftretenden Troubles seines Protagonisten und beim Finale hat er ziemlich dick aufgetragen. Dennoch ist der Roman keine Lektüre, die schlechte Laune macht. Dafür sorgen neue Freunde in Lukes Leben und gut dosierter Humor. SEBASTIAN FASTHUBER
Thomas Hartl: Fauststarker Herzschlag. Mit Illustrationen von Mirjam Zels. Kunstanstifter, 160 S., € 22,70 (ab 12)
JUGENDBÜCHER
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Kleinstadtdramen in den englischen Midlands
Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß
Ein knackiger Milieuroman über halbstarke Jugendliche
Ein 15-Jähriger lernt mit Trauer und Wut umzugehen
ine Vororte-Hauptstraße mit farbE losen Zweckbauten, gelangweilte junge Männer, ein Fastfood-Lo-
aniel hatte einmal coole Eltern. D Sein Vater war Musiker, spielte den lieben Tag lang Gitarre, alber-
kal. Es ist kalt und grau. Plötzlich zerreißen Schüsse dieses Anti-Idyll einer Kleinstadt in den englischen Midlands. Ein „glänzender schwarzer Mercedes“ quietscht vorbei. Ein „Street Player“ wird erschossen. Drei Burschen beobachten, wie die Polizei alles absperrt, aber sie schleichen sich lieber fort, bevor sie befragt werden. „Keiner traut der Kripo.“ Jonas, einer der Burschen, macht noch schnell einen Abstecher in die Nähe des Tatorts und findet die Tatwaffe, eine Pistole, die er unter seinem Bett versteckt. Als er sie seinen Freunden Binny und Kamal zeigt, nimmt das Unglück seinen Lauf. „The Gun“ heißt der 80 Seiten schmale Milieuroman des britischen Autors Bali Rai im Original. Es ist ein ähnlich abgegriffener Titel wie der deutsche Titel „Außer Kontrolle“. Unzählige Thriller heißen so. Auch der Untertitel ist missglückt: „Wenn aus Spiel bitterer Ernst wird.“ Der Ernst ist nicht bitter, sondern tödlich. Für die Jugendlichen, die hier in Siedlungen mit tristen Wohnblöcken und schmuddeligen Parkanlagen ihr Revier abstecken, ist das Spiel des Lebens immer ernst.
Jugendliche ohne Perspektive wachsen in Armut auf, Gewalt und Rassismus sind allgegenwärtig. Die Milieustudie, die stereotype Männlichkeit nicht ausspart, ist durchkomponiert, ohne zu viele Details und ohne großes Seelentheater. Jonas, etwa 13 Jahre alt, ist der Ich-Erzähler. Er wohnt mit zwei Schwestern und seiner alleinerziehenden Mutter, einer Pflegerin, die jede Nacht zur Arbeit muss, im zwölften Stock. Die drei Freunde, die sich jargongetreu mit „Bruder“ anreden, behandeln die gefundene Pistole wie einen wertvollen Schatz. Kamal aber, ein Flüchtlingskind, entwickelt sich zur „immer wütenden“ Hauptfigur und will bald die Pistole nicht mehr hergeben. „Er meinte, wir hätten unser Gesicht verloren und die Leute würden uns Weicheier nennen.“ SEBASTIAN GILLI
Bali Rai, 1971 als Sohn indischer Ein-
wanderer in Leicester geboren, gelingt es gut, mit kurzen Sätzen, frechen Dialogen und klaren Bildern die Lebensrealität jener Jugendlichen einzufangen, die sich geografisch und gesellschaftlich am Rand befinden. Banden und Drogenhändler treiben ihr Unwesen. Halbstarke
Bali Rai: Außer Kontrolle. Wenn aus Spiel bitterer Ernst wird. Gulliver, 80 S., € 10,30 (ab 13)
te die restliche Zeit rum. So erinnert sich sein Sohn zumindest an ihn. Gesehen hat er ihn seit fünf Jahren nicht mehr, da war Daniel zehn. Eines Tages verließ der Vater die Familie, lud seine Habseligkeiten ins Auto und war einfach weg. Seine einzige Hinterlassenschaft: ein zotteliger Hund namens Ozzy Osbourne. Als der stirbt, bricht für Daniel eine Welt zusammen. Seine Mutter wiederum geht ausgerechnet mit dem Mann aus, der für Daniel Ozzys Mörder ist. Es ist der Tierarzt, der ihn eingeschläfert hat. Es wird eine Weile dauern, bis Daniel begreift, dass der Typ nicht so übel und schon gar kein krummer Hund ist. Alle anderen Beziehungsversuche seiner Mutter seit dem Tag, an dem sein Vater verschwunden ist, endeten katastrophal: „Im Durchschnitt sind die Männer zwei Monate und siebzehn Tage geblieben. Ihr Durchschnittsalter war fünfunddreißig. Der Anteil an Schwachsinn, den sie geredet haben, lag bei mindestens neunzig Prozent.“
Daniel macht es seiner Mutter auch nicht leicht. Wenn ihm die Sicherungen durchbrennen, dann dreht er völlig durch und drischt auf alles ein, was ihm im Weg steht. Mit großem Gespür schreibt Juliane Pickel in ihrem Roman über die Wut eines Pubertierenden. Bei diesen Anfällen ist Daniel nicht er selbst, er handelt blindwütig wie im Rausch und hat danach kaum Erinnerungen an seine Gewaltausbrüche. Schön ist, dass die Figur vielschich-
tig gezeichnet ist. Eigentlich ist Daniel kein Schläger, sondern ein ruhiger, nachdenklicher Jugendlicher. Aber er hat seine offenen Baustellen und verdrängten Probleme, die ihm immer wieder den Atem rauben. Und dann explodiert er eben. „Krummer Hund“ ist mehr als eine Problemgeschichte. Die Autorin schreibt sensibel über Freundschaft, wenn sie Daniels Verhältnis zu seinem besten Kumpel Edgar schildert – und wie es sich verändert, als eine fiese, hochnäsige Mitschülerin immer mehr zum Thema wird. Die beiden hassen diese „Princess Evil“ zwar erklärtermaßen, aber insgeheim gefällt sie ihnen auch. Dieses Buch ist vielschichtig und facettenreich wie das Leben. Das ist auch die Lektion, die Daniel irgendwann lernt: Es gibt auf der Welt nicht nur Schwarz und Weiß. SEBASTIAN FASTHUBER
Juliane Pickel: Krummer Hund. Beltz, 264 S., € 15,40 (ab 14)
Besondere Wörter lassen sich nicht übersetzen Kyra Groh erzählt einfühlsam über die Liebe und die Schwierigkeiten der Kommunikation innerhalb der Familie
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er Begriff „Forelsket“ bezeichnet im Dänischen das Gefühl, dass man sich gerade in jemanden verliebt. Genau das verspüren Benni und Jule, die zwei Ich-Erzähler des neuen Jugendromans der Frankfurter Autorin Kyra Groh, schon bald nach ihrem ersten Kennenlernen. Kein Wunder, denn sie haben einiges gemeinsam: etwa eine Vorliebe für besondere Wörter, für die es in anderen Sprachen keine adäquate Entsprechung gibt. Eine Auswahl davon ist samt der jeweiligen zugehörigen Definition in Vignettenform zwischen die einzelnen Romanabschnitte eingefügt – und diese Wörter beziehen sich inhaltlich auf die Entwicklung der Geschichte. Die „lexikalische Lücke“, die solche Wörter in anderen Sprachen füllen, erscheint
sowohl Benni als auch Jule als perfekte Metapher für den Grundzustand ihres eigenen Lebens. Denn weder zuhause noch in ihrem so-
zialen Umfeld fühlen sie sich wirklich zugehörig: Benni – in Grohs Debüt „Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion“ (2020) spielte er eine Nebenrolle als bester Freund der Protagonistin Jake – hat gerade die Schule abgeschlossen, in der er stets ein Außenseiter war. Nun absolviert er ein Praktikum als Krankenpfleger und hat auch hier mit Schwierigkeiten zu kämpfen, ebenso wie in der Familie: Er wuchs ohne seinen Vater bei einer streng religiösen Mutter auf. Zwar kann er sich mit ihren strikten Glaubensregeln schon lange nicht mehr identifizieren, aber er
scheut aufgrund ihrer labilen Psyche den offenen Konflikt. Auch Jule fühlt sich ihrer Familie entfremdet, deren Fremdenfeindlichkeit und unreflektierter Fleischkonsum den Idealen der 16-jährigen Klimaaktivistin und Veganerin diametral zuwiderlaufen. Jule traut sich nicht, ihren Eltern offen zu widersprechen, aber darüber kann sie nicht einmal mit ihren Freunden ehrlich reden. Das ändert sich erst, als Jule und Benni aufeinandertreffen. In langen Gesprächen gelingt es ihnen, mehr Klarheit über die eigene Situation zu gewinnen. Eine zarte Liebesgeschichte, aber auch ein Plädoyer für den innerfamiliären Dialog trotz oder gerade bei weltanschaulichen Differenzen. LENA BR ANDAUER
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Kyra Groh: Mein Leben als lexikalische Lücke. Arctis, 448 S., € 18,90 (ab 14)
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ingabe ist keine politische Kategorie, denn Politik fußt auf Entscheidungen und Handlungen, auf dem Kampf für eine Lebensweise, die man für richtig hält. Das „Corona-Jahr“ 2020 war geprägt vom Begriff der Kontrolle, von der Idee, das Virus und seine Ausbreitung in den Griff zu bekommen. Dazu wurden Maßnahmen wie Lockdowns gesetzt, Massentestungen organisiert und die Impfung der gesamten Bevölkerung projektiert. Angefeuert von Politik und Medien sollte sich das Kollektiv anstrengen, die Situation in den Griff zu bekommen. Dabei verloren Millionen Menschen die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Für ganze Generationen von friedensverwöhnten Individualisten bestand die „Härte“ auch darin zu spüren, wie wenig Macht der Einzelne in Krisensituationen hat. Und das galt gleichermaßen für jene, die sich vor dem Virus fürchteten, wie für jene, die Angst vor der Staatsmacht und ihren Vollzugsorganen sowie den gesellschaftspolitischen Folgen der Maßnahmen hatten oder vor Mitmenschen, die sich nicht an die Regeln hielten. Man saß zuhause und die Kehle wurde immer enger. Manchen gelang es, aus der Not eine Tugend zu machen und sich abzulenken, indem sie sich etwas anscheinend Unbedeutendem, Nutzlosem widmeten. Indem sie etwa anfingen, Brot zu backen, und daraus Befriedigung zogen, oder zu stricken oder aufzuräumen, und sich damit beruhigten. Oder wieder einmal ein Buch zur Hand nahmen. Nach Monaten schlugen Angst und Ohnmacht vielerorts in Wut um, während bei anderen die Erkenntnis wuchs, dass man nicht immer gegen Windmühlen kämpfen kann. Dass man auch einmal akzeptieren muss, was ist. Und sei es nur aus psychohygienischen Gründen. Hingabe gehört zu den im öffentlichen Diskurs
vernachlässigten Tugenden, signalisiert sie doch weder Macherqualitäten noch Ichstärke. Wer sich hingibt, verliert sich an eine Tätigkeit. Aber genau das macht zufrieden, wenn nicht glücklich. Die Zeit, die in den Lockdowns so langsam verstrich wie nie, verging beim Brotbacken, beim Stricken,
SACHBUCH
Hingabe ist das Gegenteil von Kontrolle Lebenskunst: Zwei neue Bücher singen ein Loblied auf die Kunst der Hingabe und des Nichtstuns, die nicht nur gut für die eigene Psyche sind, sondern auch eine politische Dimension besitzen REZENSION: K IR STIN BREITENFELLNER ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
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Wenn wir seitwärts entkommen und uns aufeinander zubewegen, dann werden wir vielleicht merken, dass alles, was wir uns wünschen, bereits existiert JENN Y ODELL
Lesen oder Aufräumen wie im Flug – und verschwand damit. Die beiden Bücher, die hier besprochen werden sollen, wurden nicht in Hinblick auf die Corona-Krise verfasst. Jenny Odells „Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“ erschien bereits 2019 in den USA. Auch Martin Scherers Essay „Hingabe“ bezieht sich nicht auf das gegenwärtige Thema Nummer eins. Aber genau das macht sie so interessant und hebt sie von besserwisserischen bis unseriösen Schnellschüssen à la „Ich sage euch jetzt, was ihr aus der Krise lernen könnt“ ab. Denn niemand weiß, ob die Menschheit aus der Krise gestärkt oder geschwächt hervorgehen wird. Odell und Scherer, die Künstlerin aus Kalifornien und der Verleger aus Deutschland, nähern sich dem Thema aus verschiedenen Richtungen. Scherer, der sich mit seinem Buch „Gentleman“ (2003) bereits mit dem Thema Lebenskunst befasst hat, kommt von der Literatur und Philosophie, Odell von der bildenden Kunst und Ökologie her. Hingabe, so definiert Scherer zu Beginn, hat
keinen äußerlichen Auslöser, und es gehe ihr auch keine Willensentscheidung voraus. Sie ist eine Form der Selbstvergessenheit und bedeutet Verschwendung und Selbstentblößung – und somit das Gegenteil von Kontrolle. Passionen scheinen nicht zeitgemäß, denn sie sind nicht nützlich. Sammler und Dilettanten, Menschen mit seltsamen Hobbys widmen sich Tätigkeiten, die Zeit und Geld kosten und sich dem Primat von Effizienz und Profit widersetzen. Aber mit der Hingabe verwandle sich der Mensch schlagartig in einen Liebhaber, denn er gestehe sich zu, für etwas schwach werden zu können. Der Hingegebene stellt sowohl Profit als auch Eigennutz hintan. Der „manischer Eigensinn“, mit der er sich teilweise skurrilen, immer aber zeitaufwendigen Beschäftigungen widmet, läuft jeder kollektiven Identität zuwider. Er bedeutet einen „Akt der Verschwendung von Aufmerksamkeit, Kraft und Zeit“. Philosophische Referenzen holt sich Scherer für seinen anregenden, gut lesbaren Text bei Seneca,
SACHBUCH
Georges Bataille, Immanuel Kant, Franz Grillparzer oder Sigmund Freud, aber er bezieht sich auch auf Gedichte und Romane. „Hingabe taugt nicht als Handlungsanweisung“, meint er, denn sie sei ein Prozess der „De-Optimierung“, des „Sein-Lassens“. „Das unterscheidet sie von den allenthalben angepriesenen Lebenseinstellungen wie Resilienz, Achtsamkeit oder auch Resonanz.“ Hingabe gleiche damit einer „Ausflucht in die Wildnis“.
Odell lebt als Autorin, Künstlerin sowie Lehrende an der Stanford University in Oakland an der San Francisco Bay und damit am Einfallstor zum Technologie-Eldorado Silicon Valley. In dieser Gegend, zwischen den sterilen Campussen der Hightech-Start-ups, ist die Tochter einer Philippinerin und eines US-Amerikaners auch aufgewachsen. Nach ihrer Graduierung 2008 arbeitete sie u.a. in einem Fulltimejob im Modebereich, wo „Markenpfeiler“ eingerammt und die Kollektionen unter Titeln wie Frühling 1, Frühling 2 und Frühling 3 in rasantem Tempo ausgeworfen wurden.
Bedeutet Hingabe Weltflucht? Keineswegs,
meint Jenny Odell. Sie nennt das Zentrum, um das sie kreist, nicht Hingabe, sondern „Nichtstun“, wobei sie freilich zugibt, dass nur „die größten Nihilisten und Kaltherzigsten“ gar nichts tun würden angesichts des Zustands der Welt. Odell geht es darum, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun – und damit Raum zu schaffen für anderes, das differenzierter, weniger offensichtlich, aber dafür poetischer ist. Etwa sich der Überreizung durch die bewusst suchterzeugenden sozialen Medien zu entziehen und sich der Natur zuzuwenden. „Das Wesentliche am Nichtstun, so wie ich es definiere, ist nicht etwa, erfrischt und bereit zu gesteigerter Produktivität an die Arbeit zurückzukehren, sondern vielmehr zu hinterfragen, was wir derzeit als produktiv wahrnehmen.“ Leicht sei das nicht, sondern es erfordere Hingabe, Disziplin und Willensstärke, sich von der derzeitigen Aufmerksamkeitsökonomie frei zu machen. Erst damit entstehe der Freiraum, sich auf etwas anderes einzulassen. Dieses andere sind Dinge, die schon da sind und immer schon da waren, aber in unserem derzeitigen Lebensstil außerhalb der Wahrnehmung liegen. Um von der „Ortlosigkeit eines optimierten OnlineLebens“ in eine neue „Ortsfülle“ einzutreten, von der Filterblase in die „mehr-alsmenschliche“ Realität einzutreten, wendet sich Odell der Geschichte („was passierte hier, an dieser Stelle“) und der Ökologie („wer oder was lebt oder lebte hier“) zu. Der dazugehörige Begriff lautet Bioregionalismus, und der Widerstand, den sie meint, hat durchaus politische Züge, auch wenn er auf der privaten Ebene stattfindet.
Am Beginn des Buches sitzt Odell in einem öf-
Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. C.H. Beck, 296 S., € 24,70
Martin Scherer: Hingabe. Versuch über die Verschwendung. Zu Klampen, 103 S., € 14,40
fentlichen Park, dem sogenannten Rosengarten, und reflektiert über die Arbeiterbewegung, die 1886 die Forderung „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Ruhe, acht Stunden was wir wollen“ stellte – wobei unter Letzterem weder Bildung noch Optimierung verstanden wurden, sondern Ruhe, Nachdenken, Blumen und Sonnenschein. Odell selbst haben es Vögel angetan, sie freundet sich mit einer Rabenfamilie an und fährt in die Berge und an die Küste, um Vögel zu beobachten. Das Nichtstun, das sie meint, erfordert höchste Aufmerksamkeit. „Ich möchte klarstellen, dass ich keineswegs irgendjemanden dazu anregen möchte, gar nichts mehr zu tun. Vielmehr denke ich, dass ,Nichtstun‘ […] einen aktiven Prozess des aufmerksamen Hinhörens anstößt, der die Auswirkungen von ethnischer, ökologischer und ökonomischer Ungerechtigkeit aufspürt und einen echten Wandel herbeiführt. Ich betrachte das ,Nichtstun‘ nicht nur als eine Art Mittel zur Entprogrammierung, sondern auch als Stärkung für diejenigen, die sich zu zerfahren fühlen, um sinnvoll zu handeln.“ Nichtstun bedeutet also ein Gegenmittel gegen die Rhetorik des Wachstums und eine Öffnung für die zu Unrecht als „unproduktiv“ angesehenen Tätigkeiten der Erhaltung, Instandhaltung und Pflege. Als Zeuginnen beruft sich Odell nicht nur auf Rebecca Solnit oder Donna J. Haraway, sondern auch auf Epikur und Diogenes, die
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durch ihre Philosophie und Handlungen überkommene Werte infrage gestellt haben. Hermann Melvilles „Bartleby“, der Schreibgehilfe, der seinen Dienstgeber mit seiner subversiven Verweigerungshaltung zum Wahnsinn treibt, indem er auf alle Aufträge „Ich möchte lieber nicht“ antwortet, hat es ihr besonders angetan. Sie erzählt von Rückzugsprojekten wie Levi Felix’ Sommerlagern für Digital Detox oder Kunstperformances, die die Erwartungen unterlaufen, wie Pilvi Takalas „The Trainee“, in dem eine Praktikantin nichts tut, als in die Luft zu starren, aber auch von der Geschichte der Aussteigerkommunen der 1960er-Jahre. Und natürlich darf hier Henry David Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849) nicht fehlen. Weniger bekannt dürfte den meisten die „Nichts-tun-Landwirtschaft“ des japanischen Bauers Masanobu Fukuoka sein, die versucht, so wenig wie möglich in die Natur einzugreifen. Odells ehrliche und wahrhaftige Suchbewe-
gung regt an. Sie stellt sich damit in eine Reihe von US-amerikanischen Versuchen, die Umweltthematik auf eine neue Grundlage zu stellen, die (teilweise erst zehn Jahre nach Erscheinen) in den letzten beiden Jahren ins Deutsche übersetzt wurden: Jane Bennetts „Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge“, Marcia Bjorneruds „Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten“, Timothy Mortons „Ökologisch sein“ oder Charles Eisensteins „Klima. Eine neue Perspektive“. Sie alle gehen von der Verbundenheit des Menschen mit dem Rest der Natur aus, nicht von seiner Pflicht zu deren Kontrolle. Mit Martin Scherer verbindet Odell die Kunst, Denkanstöße zu liefern, ohne zu Ratgeberliteratur zu werden. Und das ist gut so. Denn welchen Dingen oder Tätigkeiten man sich hingeben will, kann man sich nicht vorgeben lassen, das muss man selbst herausfinden. Oder sich von ihnen finden lassen. Oder, wie Scherer in seinem letzten Satz formuliert: „Hingabe bleibt immer das Andere der Berechnung, also das Unberechenbare.“ F
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SACHBUCH
Wie viele Welten und Realitäten gibt es? Physik: Drei neue Bücher erklären aktuelle Probleme der Quantentheorie abseits des Mainstreams
A
n der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war es noch umstritten, ob es Atome überhaupt gibt, danach revolutionierten die Entdeckung der Radioaktivität, die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik unsere fundamentalen Vorstellungen von der Welt innerhalb weniger Jahrzehnte und führten in allen Disziplinen zu einer tiefgreifenden Mathematisierung. Als Folge dieser Umbrüche war Ende des Jahrtausends im naturwissenschaftlichen Denken ein Abstraktionsgrad erreicht, der selbst Sätze wie „Unser Universum ist Teil eines gigantischen Multiversums“ salonfähig machte. Solche Aussagen behagen nicht allen Wissenschaftlern, sind aber Ausdruck eines fundamentalen Problems. Denn trotz vieler Ansätze ist es seit bald 100 Jahren nicht gelungen, die Gravitationskraft der Relativitätstheorie mit den drei Kräften der Quantenmechanik (der elektromagnetischen, der schwachen sowie der starken Wechselwirkung) unter ein theoretisches Dach zu bringen. Die bisherigen Lösungsversuche setzten auf
Anpassungen der zentralen Begriffe von Raum und Zeit. Der 1966 in Philadelphia geborene Sean Michael Carroll, der am renommierten California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena lehrt, wählte den Weg über die Quantenmechanik. In dieser Theorie werden die physikalischen Eigenschaften von Materie im Größenbereich von Atomen und kleiner studiert, was für die Atomphysik, die Festkörper-, Kernund Elementarteilchenphysik, aber auch für die Quantenchemie zentral ist. Ohne sie würden weder Mikrochips noch Laser oder Computerspeicher funktionieren. Caroll vertritt die Meinung, dass die Quantenmechanik – eine der erfolgreichsten physikalischen Theorien – keineswegs vollständig ausgearbeitet ist. Die Lehrbücher würden dieses Manko ausklammern, beklagt er, und Forschungsgelder dafür zu bekommen, die Unstimmigkeiten zu beheben, sei kaum möglich. In seinem neuen Buch „Was ist die Welt und wenn ja, wie viele“ sendet der streitbare Physiker drei Botschaften aus. Die erste lautet, dass die Quantenmechanik verständlich sein sollte. Das sei schwierig, aber möglich, wenn man sich von bestimmten intuitiven Denkweisen löse. Darüber hinaus wirbt Carroll für die sogenannte „Viele-Welten-Interpretation“, die auf den höchst originellen US-amerikanischen Physiker Hugh Everett III. (1930– 1982) zurückgeht und eine Alternative zur sogenannten Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik ist. Und drittens diskutiert er Thesen, die provokante Zusammenhänge zwischen Quantenverschränkung und der Krümmung der „Raumzeit“ herstellen, dem Phänomen, das man un-
ter dem Begriff Schwerkraft oder Gravitation kennt. Was die Zukunft angeht, gibt er sich optimistisch. Jüngste Fortschritte beim Verständnis der Quantentheorie hätten einige Innovationen vorangetrieben: die Arbeit mit Quantencomputern, Quantenkryptografie und Quanteninformatik allgemein. „Wir haben einen Punkt erreicht, an dem es nicht mehr zweckmäßig ist, den Quantenbereich vom klassischen Bereich abzugrenzen.“ Alles sei quantenmechanisch, und diese Erkenntnis werde auch zum Verständnis der Entstehung von Raum und Zeit beitragen. Carroll schreibt anspruchsvoll, aber er hat das Talent, seine Gedanken so begeisternd und verständlich formulieren zu können wie einst der legendäre Richard Feynman (1918–1988), der ebenfalls am kalifornischen Caltech lehrte. Nach Carlo Rovellis „Und wenn es die Zeit nicht gäbe?“ (2018) und Lee Smolins „Quantenwelt“ (2019) ist sein streitbares Buch ein weiterer faszinierender Beleg dafür, wie unterhaltend und inspirierend die aktuelle Physik auch für Laien sein kann.
Sean Carroll: Was ist die Welt und wenn ja, wie viele. Wie die Quantenmechanik unser Weltbild veränderte. Klett-Cotta, 399 S., € 25,70
Eine verwandte Problematik schildert der
58-jährige Astrophysiker Avi Loeb, der seit 1997 Professor an der Harvard University ist. Der gebürtige Israeli gilt als Spezialist für die Entstehung von Sternen und beschäftigt sich schon lange mit Ideen und Methoden, mögliche außerirdische Zivilisationen aufzuspüren. Weil er meint, dass es gute Gründe gebe, an die Existenz intelligenten Lebens außerhalb der Erde zu glauben, geriet er jüngst in einen besonders ernsthaften Konflikt mit seinen Fachkollegen. Im Herbst 2017 hatte ein Teleskop auf Hawaii einen Himmelskörper detektiert, auf den man erst aufmerksam geworden war, als er nach Durchquerung unseres Sonnensystems bereits wieder auf dem Weg zurück in den interstellaren Raum war: einen relativ kleinen Körper von ungewöhnlich länglicher Form, dessen Bahn auf eine Zusatzbeschleunigung schließen ließ, und bekam den hawaiianischen Namen ‘Oumuamua, was Botschafter bedeutet. Loeb ging an der Elite-Uni daran, mit seinen Studenten alle möglichen Optionen für die Einordnung und Deutung dieses seltsamen Flugobjekts zu überprüfen. Das Resultat ihrer Untersuchungen war, dass ‘Oumuamua entgegen der Mehrheitsmeinung kein Komet sein konnte, sondern eher ein Lichtsegel war, wie es auch in der Raumfahrt zum Antrieb von Sonden verwendet wird. Da diese Hypothese einen intelligenten Konstrukteur voraussetzt, schlug ihm seitens seiner Kollegen außergewöhnlich scharfe Kritik entgegen. Sie setzte Loeb derart zu, dass er die innerakademischen Mechanismen seines Fachs
grundsätzlich zu hinterfragen begann. Das sehr nachdenklich stimmende Resultat dieser Reflexionen findet man in seinem Buch „Außerirdisch“. Es ist stark autobiografisch gefärbt und inhaltlich sprunghafter als dasjenige von Sean Carroll, sprüht aber ebenso vor Ideen und wirft im gleichen Sinn wie der Text des kalifornischen Quantenphysikers die Frage auf, wieso im akademischen Bereich der Möglichkeit von interstellarem Leben weniger Glauben geschenkt wird als hochabstrakten Theorien wie der von Extradimensionen oder Dunkler Materie. In einem ausführlichen Interview diesen Februar im Scientific American wies Loeb darauf hin, dass private Firmen wie früher Bell Labs, die ehemalige Forschungsabteilung der Telefongesellschaft AT&T, oder heute Google ihre Forscher dazu animieren, sich auch mit Themen auseinanderzusetzen, bei denen kein direkter kommerzieller Nutzen auszumachen sei, und solche Anstrengungen finanziell sogar unterstützen. Die akademische Welt, nimmt er konsterniert zur Kenntnis, sei da um einiges konservativer, was allerdings wenig Sinn mache. Als Folge davon hat Loeb seinen Job als Vorsitzender des Astronomie-Departements von Harvard jüngst abgegeben. Für ein neues Weltbild setzen sich ebenfalls
Avi Loeb: Außerirdisch. Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten. DVA, 264 S., € 22,70
Frido Mann, Christine Mann (Hg.): Im Lichte der Quanten. Quantenphysik und ihre Auswirkungen auf Digitalisierung, Politik, Spiritualität, Umweltschutz und Pädagogik. Eine interdisziplinäre Analyse. Wbg Theiss, 334 S., € 28,80
schon länger Christine und Frido Mann ein, wenn auch nicht mittels mathematischer Formeln. Als Tochter des Pioniers der Quantenmechanik und Physiknobelpreisträgers Werner Heisenberg und als Enkel des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann haben beide ein starkes Interesse an der Quantenphysik entwickelt und davon motiviert bereits 2017 das Buch „Es werde Licht“ verfasst, in dem sie die harte Wissenschaft mit Fragen der Psychologie und Pädagogik zusammenbringen. Nun liegt von der 1944 geborenen gelernten Schulpsychologin und dem vier Jahre älteren vielseitigen Psychologiedozenten unter dem Titel „Im Lichte der Quanten“ eine Essaysammlung vor. Beide sind davon überzeugt, wie sie jüngst im SZ-Magazin kundtaten, „dass Materie und Geist eine gemeinsame Grundlage besitzen und dass das Geistige die Materie letztlich beeinflussen kann“. Leben denken sie sich „als instabiles Fließgleichgewicht, das immer wieder durch Selbststeuerung stabilisiert werden muss“. Dabei spiele die „quantische Ebene“ eine wichtige Rolle. Die Essays stammen von Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld der Manns und thematisieren die unterschiedlichsten Bezüge, von der Deutung der Quantenmechanik, der Bildung von Bewusstsein und der Wirklichkeit des Geistes bis zu Meditation und der Notwendigkeit einer neuen Form von Aufklärung. ANDRÉ BEHR
Der Online-Shop mit Prinzipien. Über 1.5 Mio. Bücher, DVDs & CDs mit gutem Gewissen bestellen.
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Ein kräftiger Tritt in den Hintern der Bequemen
Hier geht es um die Hand und nicht um den Fuß
Lebenskunst: Was bedeutet Heimat, fragt Andreas Altmann, und findet sie nicht nur zuhause, sondern auch auf Reisen
Kulturgeschichte: Jochen Hörisch legt eine elegante Monografie über die Bedeutung der Hand vor
eimat gibt es für Altmann nicht H in der Einzahl, sondern in den verschiedensten Weltgegenden und
er Fußball ist schuld. Nämlich D daran, dass der Hand nicht die Bedeutung zukommt, die ihr gebührt.
vor allem Menschen. So ist seine „Gebrauchsanweisung für Heimat“ weder eine historische Untersuchung eines gerne missbrauchten Begriffs noch eine Rückbesinnung auf die eigene Herkunft, sondern vielmehr ein flammendes Plädoyer für eine unermüdliche Beweglichkeit. Ein Weltbürger wollte Altmann werden, und wurde es am Ende auch: Wer seine Kindheit als Hölle empfindet, bleibt vielleicht ewig auf der Suche nach dem Paradies, das in jedem Winkel dieser vom Menschen arg zerschundenen und doch immer wieder bestaunenswert-faszinierenden Erde verborgen sein könnte. Altmann hat es gefunden, in der Einsamkeit der Wüste Sahara ebenso wie in New York, beim Meditieren mit einem Zen-Meister in Japan. Freunde bieten ihm Heimat. Und Frauen. Altmanns Sehnsucht nach schönen, geistreichen, seine Weltneugier teilenden Gespielinnen ist mindestens so groß wie der sinnliche Genuss, darüber zu schreiben. Womit wir beim eigentlichen erotischen Zentrum dieses Lebenskünstlers wären: der Sprache. „Mein Hauptwohnsitz ist die deutsche Sprache, nebenbei wohne ich in Paris. […] Sprache als Heimat, gefährliche Heimat, allerschönste Heimat.“ Das ist vielleicht nicht originell, aber tief
gen packen und ihnen ihre Sterblichkeit vor Augen führen. Natürlich hat das zuweilen etwas Selbstgefälliges und Selbstgerechtes. Wer nicht mit ebenso aufgerissenen Augen und Abenteuerlust durch die Welt zieht wie Altmann, wird schnell zum Spießer degradiert. Bescheidenere Lebensentwürfe lässt er kaum gelten; auch keine gedanklichen Plattheiten. Er macht sich, natürlich zu Recht, über die einlullenden Weisheiten eines Paulo Coelho lustig, verfällt dann aber zuweilen selber ins leicht juvenile Phrasendreschen. „Ich will nicht philosophieren, ich will Geschichten von Frauen erzählen, denen ich – erotisch oder ganz ohne physische Nähe – nah war und die ich alle nicht verstanden habe. Wie Katzen, unergründlich. Schon wahr, das Verborgene ist aufregender als das Taghelle.“ Dennoch hat sein Buch das Potenzial, dem bequemen und nüchternen Zeitgenossen einen Tritt in den Hintern zu versetzen: Ich selbst, zugegeben, fühlte mich zuweilen ertappt. Zu einem Weltenbürger wird es bei den meisten zwar nicht reichen. Aber dazu vielleicht doch: ein bisschen sorgsamer mit sich und der kostbaren Lebenszeit umzugehen. Und sich klar zu werden, dass es eben nicht nur eine (un)glücklich machende Heimat gibt, die bis zum unwiderruflichen Ende verwaltet werden muss. ULRICH RÜDENAUER
empfunden. Denn tatsächlich genügt es ja nicht, etwas zu erleben. Man muss auch davon erzählen können. Dieses Talent besitzt Altmann zweifellos: mal leidenschaftlich, mal zart, mal aufschneiderisch, mal ergeben. Nicht selten wechselt der Atheist auch in einen missionarischen Tonfall. Er würde nämlich jene, die ihr Leben als Couch-Potato führen, gerne vom Sofa schubsen, sie am Kra-
Andreas Altmann: Gebrauchsanweisung für Heimat. Piper, 220 S., € 15,50
Denn dort gilt die Hand „schlechthin als tabuisiertes Organ, sie steht unter Berührungsverbot“, schreibt der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch in seinem Buch „Hände“. Er diagnostiziert eine „Epoche des umfassenden Körperkults“, in der „das komplexeste menschliche Organ eine irritierende Vernachlässigung“ erfahre, und nennt etwa auch das Handwerk, das sein Ansehen mehr und mehr verlöre. Knapp 140 Seiten später kommt Hörisch noch einmal auf den Fußball zurück und beschreibt das irreguläre Handspiel des Fußballstars Diego Maradona, mit dessen Hilfe er bei der Weltmeisterschaft 1986 ein Tor erzielte, das anerkannt wurde. Es sei „ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes“ gewesen, rechtfertigte sich der Spieler. Abgesehen davon hält sich Hörisch im Verlauf seines Textes kaum mit den Niederungen der Populärkultur auf. Im Zentrum seiner Kulturgeschichte steht die hohe Literatur. Hörisch durchforstet die Werke Goethes,
wie etwa „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“, nach Szenen, in denen Hände eine Rolle spielen, oder widmet sich „Werthers Verehrung von Lottes Händen“. Der Werther erscheint an dieser Stelle bereits zum zweiten Mal, denn schon in der ausführlichen Einleitung geht Hörisch auf Goethe und die Hände ein. „Hände sind die Organe, die es wirklich gibt, und die schaffen (aber auch abschaffen) können, was es zuvor nicht gab (beziehungsweise alsbald nicht mehr geben wird)“, schreibt Hörisch. „Hände sind die produktiven (und destruktiven) Organe schlechthin.“ Und weiter: „Berühmt wurde Goethe in jungen Jahren mit einem Roman, dessen Ende
AUGENBEFEUCHTUNG UND PFLEGE. MIT SYSTEM.
ergreifend lakonisch davon berichtet, wie ein junger Mann Hand an sich legt, weil er keine Aussicht darauf hat, erfolgreich um die Hand einer geliebten Frau zu bitten.“ Goethe spielt in Hörischs Kulturgeschichte eine zentrale Rolle. Doch auch andere Werke der Literaturgeschichte werden ausführlich auf die Rolle, die Hände in ihnen spielen, untersucht“. Etwa Thomas Manns „Buddenbrooks“. Hier nennt Hörisch sogar eine Zahl: Das Wort „Hand“ bzw. „Hände“ werde auf 837 Seiten der Kritischen Edition 642 Mal verwendet. Auch Martin Heideggers „Zuhandenheit“ und „Vorhandenheit“ kommen zur Sprache sowie eine große Anzahl anderer großer Geister wie Herder und Kant, Schnitzler, Rilke, Heine und Kafka. Die Hand Gottes wird ebenso abgehandelt wie die „unsichtbare Hand des Marktes“, die Hörisch als Erbin der Ersteren begreift. Schließlich geht es um die Rivalität zwischen privater und öffentlicher Hand. Auch die Raute, die die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren Händen des Öfteren bildet, findet Erwähnung. Hörisch stellt hohe Ansprüche an seine Leserinnen und Leser, führt sie elegant, manchmal auch sprunghaft von einem Werk der Weltliteratur zum nächsten. Etwas mehr Einblicke in die bildende Kunst oder gar in die Musik wären erfreulich gewesen. STEFANIE PANZENBÖCK
Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. Hanser, 304 S., € 28,80
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Krisen machen Bruchstellen sichtbar Psychologie: Zwei Bücher analysieren die Auswirkungen der Corona-Krise: Einsamkeit und Zusammenhalt
Globalisierung, Digitalisierung und ständigen Druck zur Selbstoptimierung macht sie als Ursachen für diese Schattenseite der Individualität aus. Die Corona-Krise sieht sie dabei nicht nur als Brennglas, sondern auch als „ziemlich entscheidendes Experiment“, bei dem es auch positive Ergebnisse zu verbuchen gebe: neue soziale Kanäle und Solidarität. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist auch in ihrem Beruf als Politikerin Thema. Als Nachwuchshoffnung der CDU berät Kinnert deutsche Landesregierungen sowie die britische Regierung zum Thema Kampf gegen die Einsamkeit. 2017 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, „Für die Zukunft seh’ ich schwarz“, über zeitgemäßen Konservativismus. Ihr neues Buch verfasste sie zusammen mit dem Co-Autor Marc Bielefeld, einem erfahrenen Journalisten und Autor, der unter anderem für die Zeit und die Süddeutsche schreibt. Und doch scheint’s manchmal, als hätte viel Text in wenig Zeit verarbeitet werden müssen: etwa wenn Hermann Melvilles legendäre Figur Bartleby, die sich ihrem
Chef so subtil verweigert, um eine Nuance falsch zitiert wird. Oder wenn plakative Metaphern wie „das wundersame Aphrodisiakum der Krise“ dem Leser schrill entgegenleuchten. Doch gerade diese Dichte und Direktheit ohne allzu viel Feinschliff erzeugen auch den Sog des Buchs. Da schwimmt man mit im schnellen Strom von Kinnerts vielfältigen Wahrnehmungen und treffenden Wortkreationen wie „Fast-Food-Intimität“ und fühlt sich nahe bei der Autorin. Kinnerts Therapievorschläge überraschen. Manches hätte man sich zumindest nicht aus dem konservativen Eck erwartet: „Gefragt sind emanzipierte Seelen, die dem Flexibilitätsregime Ungehorsam entgegensetzen.“ Bartleby lässt grüßen. Wie das geht, führt die offen lesbisch lebende Kinnert an konkreten Beispielen aus. „Digitale Mündigkeit“ gegenüber den allgegenwärtigen mobilen Einzelwelt-Spielzeugen ist eins davon. Kinnerts Beobachtungen und Analysen der gesellschaftlichen Vereinzelungsmechanismen lassen das wüste Land der Einsamkeit in erstaunlich vielen Farben erscheinen, die dort zu funkeln beginnen, wo die Autorin machbare Ideen für ein neues Miteinander präsentiert. Selten sei so oft an dieses Personalpronomen
appelliert worden wie in der Corona-Krise, meint Judith Kohlenberger, Jahrgang 1986. Deswegen hat sie ihr Buch schlicht „Wir“ genannt. Aber welches von den vielen „Wir“ meint sie? Kohlenberger zeigt, dass sich unsere anscheinend gestärkten Gemeinschaftsgefühle oft als exklusive Wir-Konstrukte darstellen. Am deutlichsten wird das dort, wo man sich darüber definiert, dass man nicht die anderen ist – also zum Beispiel in allen Nationalismen. Doch auch positiven Identifikationen und gemeinsamen Erfolgserlebnissen attestiert Kohlenberger nur ein „kuhwarmes Wir-Gefühl“, basierend auf unreflektierter Emotionalisierung. Die Kulturwissenschaftlerin forscht am Institut für Sozialpolitik der WU Wien zu
Fluchtmigration und Integration und engagiert sich unter anderem im FALTERThink-Tank und im Expertenrat Migration. Integration.Teilhabe. Ihr gesellschaftlicher Befund unter der Lupe der Corona-Krise lautet „umfassende Ungleichheit“. Nicht nur, wenn es um Homeoffice in der Dachterrassen- versus Souterrain-Wohnung geht, ziehen schwächere Gruppen den Kürzeren, sondern auch beim Gesundheitsschutz. Nach jüngsten medizinischen Erkenntnissen fuße der nicht nur auf einem funktionierenden Gesundheitssystem, sondern auch auf sozialer Gerechtigkeit, die Angst und Existenzsorgen vorbeuge. Vor allem will die Autorin zeigen, dass ein an-
Diana Kinnert (mit Marc Bielefeld): Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können. Hoffmann und Campe. 448 S., € 22,70
Judith Kohlenberger: Wir. Kremayr & Scheriau, 112 S., € 18,–
deres Wir möglich ist: „ein Wir, das nicht auf Ausgrenzung oder Abwertung beruht, sondern auf Miteinander und Füreinander“. „Auf Privilegien verzichten“, heißt einer ihrer sehr konkreten Vorschläge für Doit-yourself-Maßnahmen. Als Beispiel bringt sie die Geschichte einer weißen Studentin, die darauf besteht, von dem Polizisten, der sie wegen Schnellfahrens angehalten hatte, auch ein Strafmandat zu bekommen. Der hätte glatt darauf verzichtet aus lauter Überraschung darüber, dass hinter den getönten Scheiben des laute Hip-Hop-Musik in die Luft blasenden getunten Wagens kein afroamerikanischer Mann aufgetaucht war, sondern eine weiße Frau. Hinschauen lautet für Kohlenberger das Gebot der Stunde: Nicht so zu tun, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Geschlecht, Herkunft oder Religion, sondern anzuerkennen, dass Menschen unterschiedlich sind – und nicht zu schweigen, wenn das dazu führt, dass sie unterschiedlich gewertet werden. Gerade mit ihren treffenden und wenig beschönigenden Analysen macht sie Mut, nicht den Glauben daran zu verlieren, dass echte Fortschritte in Sachen Diversität und Inklusion möglich sind, und öffnet die Augen dafür, dass sie schon stattfinden. ANDREAS K REML A
ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL
S
teht ein System unter Druck, werden seine Schwachstellen deutlich sichtbar. Genau das geschah in der Corona-Krise. Zwei junge, politisch aktive Autorinnen interessieren sich in ihren Büchern für zwei besonders prägnante Bruchstellen unserer Gesellschaft: die Einsamkeit vereinzelter Individuen und das kleine „Wir“, das die anderen abwertet. Diana Kinnert, 1991 geborene Tochter eines schlesischen Spätaussiedlers und einer philippinischen Migrantin, erlebte es am eigenen Leib: Psychosozialer Stress und Vereinzelung machen krank. „Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können“, lautet der Titel ihres Buchs. Aus Umfragen und soziologischen Studien liefert sie erschreckende Zahlen für Deutschland und Europa. Das einsamste EU-Land scheint übrigens Bulgarien.
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Fakten sind Fakten sind Fakten sind Fakten
So schreiben, als sei es ohne Mühe entstanden
Medienkritik: Eine Literaturwissenschaftlerin erkundet Halbwahrheiten und das Universum des Postfaktischen
Literaturtheorie: Klaus Reicherts Grazer Vorlesungen sind eine Liebeserklärung an die Kunst des Schreibens
chlimmer als der Wurm im Apfel S ist bekanntlich der halbe Wurm im Apfel. Mit der Wahrheit ist es ge-
ätte ich mehr Zeit gehabt, wäre H dieser Brief kürzer geworden“, sagte Goethe. Und Lichtenberg. Und
nauso: Die Lüge kann widerlegt werden, die Halbwahrheit jedoch verdirbt alles. Sie verwandelt den sicheren Grund politischer Integrität in Morast, verwischt die Grenzen, innerhalb derer sich der öffentliche Diskurs entwickelt, und führt geradewegs ins postfaktische Universum, in dem Manipulatoren wie Donald Trump regieren. Die Spielregeln, die dort herrschen, nimmt die Basler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in ihrem Buch „Halbwahrheiten“ unter die Lupe. Mit Faktenchecks allein, so ihre These, komme man gegen die Halbwahrheit nicht an. Sie entziehe sich den Kategorien „wahr“ und „falsch“. Wer sie einsetze, wolle vor allem gute, weil glaubwürdige Geschichten erzählen – die eben nicht völlig falsch sind. Wer Halbwahrheiten widerlegen will, muss ihnen daher immer auch teilweise recht geben. Doch komplexe Argumentationsmuster nach dem Schema „Ja, aber“ haben es in der öffentlichen Debatte schwer. Vor allem erweist sich ein Publikum, dessen Weltbild durch Halbwahrheiten bestätigt wird, als weitgehend immun gegen Fakten.
lich deren Stunde. Gess erzählt eine kurze Literaturgeschichte der Halbwahrheit, von Johann Jakob Breitingers „Critischer Dichtkunst“ aus dem Jahr 1740 über die Romantik bis zu Benjamin, Adorno und Arendt. Ihre Erkenntnisse erprobt sie danach an drei aktuellen Beispielen, die für drei Erscheinungsformen der Halbwahrheit stehen: dem als Hochstapler entlarvten ehemaligen Spiegel-Journalisten Claas Relotius, Ken Jebsen, der auf seinem Youtube-Kanal die Verschwörungstheorie von den Corona-Impfungen mit Mikrochip in die Welt setzte, und dem Autor Uwe Tellkamp, der Deutschland zur Gesinnungsdiktatur erklärte. Einem gewissen Hang zu Schachtelsätzen zum Trotz legt Gess einen nicht nur lesenswerten, sondern auch gut lesbaren Essay vor. Sie zeigt darin nicht nur, dass die Literaturwissenschaft über das Werkzeug verfügt, Halbwahrheiten zu sezieren, sondern regt auch dazu an, dieses selbst in die Hand zu nehmen. Anschauungs- und Übungsmaterial für eigene Fiktionschecks findet sich ja gerade auch hierzulande zuhauf. GEORG RENÖCK L
Es brauche daher keinen Fakten-, son-
dern einen Fiktionscheck, um den Strategien und Verfahren der Manipulatoren auf die Schliche zu kommen, so Gess. Und wer wäre dazu besser geeignet als die Literaturwissenschaft als Spezialistin für das Fiktionale? Womöglich schlägt in Zeiten konkurrierender Narrative ja tatsäch-
„
Der Schmerz ist zweitrangig, was zählt, ist dieser fabelhafte Anblick. Wundervolle Leichtigkeit.
Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Matthes & Seitz, 157 S., € 14,40
Pascal, Twain, Schiller, Kleist, Swift, Lessing, Marx. Es stimmt ja auch jedes Mal: Umständlich kann jeder, in der Kürze liegt die Kunst. Ein ähnliches Paradoxon benennt Klaus Reichert, der zeit seines Lesens und Schreibens vor allem eines wollte: so schreiben nämlich, „als sei es mühelos von der Hand gegangen“. Ein ganz schön anstrengendes Unterfangen, schließlich gilt: „Nichts ist schwerer, als leicht zu schreiben.“ Es dürfte ihm insgesamt dennoch halbwegs gelungen sein. Der 1938 geborene Autor ist nicht nur Verlagslektor, Professor für Anglistik, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Übersetzer von Shakespeare, James Joyce, Lewis Carroll oder John Cage, Herausgeber Virginia Woolfs, H.C. Artmanns oder Paul Celans, sondern auch ein vielfach preisgekrönter Lyriker und Essayist. Er habe nie „unterschieden zwischen wichtigen und lässlichen Texten, alles wollte gleichermaßen sorgfältig geschrieben, auch laut gelesen sein auf die Satzmelodie hin, auf die Reihenfolge der Wörter und ob sie saßen wie die Steinchen in einem Mosaik“, beschreibt Reichert den Anspruch an sich selbst, der auch in seinen nun vorliegenden Grazer Vorlesungen in jeder Zeile spürbar ist. Reichert entwickelt darin seine Überlegungen zu „Gelehrsamkeit und Poesie“ anhand der eigenen Lebensgeschichte, beginnend in einer anarchischen Nachkriegszeit, in der alles
Anna Felnhofer erzählt in ihrem Prosadebüt Schnittbild mit großem Sprachgefühl von Begegnungen zwischen jeweils zwei Menschen, deren augenscheinlichste Gemeinsamkeit der Kontakt zu einer Frau ist, die als Therapeutin mit den Protagonisten in Berührung kommt. Sie ist es gewöhnt, eine Rolle zu spielen, und sie ist eine Meisterin darin. Die vier Episoden setzen dort an, wo die Rolle der Therapeutin brüchig wird und wo Sprünge in einer sorgfältig komponierten Fassade allmählich ihr wahres Gesicht freilegen. Anna Felnhofer | Schnittbild Episodenroman, Hardcover, 336 Seiten ISBN 978-3-903081-86-4 | € 24.00
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kaputt, aber trotzdem vieles möglich war. Vielleicht liegt die Frische, die vom Denken des mittlerweile 81-Jährigen ausgeht, ja in dieser Prägung begründet: Das Auftürmen von Sekundärliteratur etwa, die den Blick auf den Text verstellt, ist die Sache des späteren Professors nicht. Er liest und denkt lieber selbst. Ein wich-
tiger Weg, die eigene Neugier zu stillen, ist dabei das Schreiben, schließlich wäre es schlicht viel zu „fad gewesen, etwas aufzuschreiben, was ich schon wusste“. Wie gern man diesen Satz Verfechtern der Bildungsstandardisierung in ihren Raster schreiben würde! Nicht zuletzt sind Klaus Reicherts Vorlesungen eine wehmütige Liebeserklärung an die Vielsprachigkeit und die Bereicherung, die diese für Individuen, Gesellschaften und Literaturen bedeutet – im Bewusstsein, dass sie in vielen Bereichen gerade zu verschwinden droht. Reichert hat ein schlicht aufgemachtes Buch von großer Schönheit vorgelegt. Es muss ein schweres Stück Arbeit gewesen sein – so wunderbar leicht liest es sich. GEORG RENÖCK L
Klaus Reichert: Die Leichtigkeit des Schweren. Lesen. Verstehen. Übersetzen. Droschl, 112 S., € 15,–
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Die Liebe zur Welt und das Gebot zu handeln
So wenige Philosophinnen gab es dann doch nicht
Philosophie: Die niederländische Philosophin Joke J. Hermsen entdeckt Rosa Luxemburg und Hannah Arendt neu
Philosophie: Ein Sammelband stellt Denkerinnen der letzten 2400 Jahre aus allen Weltgegenden vor
us ihrer Zelle sah Rosa LuxemA burg nicht viel mehr als ein paar Wolken. Und doch schrieb die Revo-
n mehr als 2000 Jahren PhilosoIausreichend phiegeschichte wurden Frauen nie wahrgenommen. Diese
lutionärin 1917 heitere Briefe aus dem Gefängnis, etwa: „Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.“ Aus Liebe zur Welt müsse man auch aufstehen und handelnd eingreifen. Später griff die Philosophin Hannah Arendt dies auf: Wenn Menschen sich nur noch um ihre eigenen Belange kümmerten, brächen „finstere Zeiten“ an. Die Niederländerin Joke J. Hermsen erhielt für ihre Romane und Essays viele Preise. Auch ihr Buch „Rosa und Hannah“ stand in den Niederlanden wochenlang auf den Bestsellerlisten. Hermsen spannt darin die Werke der sozialistischen Anführerin Rosa Luxemburg (1871–1919) und der Philosophin Hannah Arendt (1906– 1975) mit den französischen Gelbwesten-Protesten zusammen. Die Erkenntnisse der sozialistischen Re-
volutionärin und Theoretikerin des Totalitarismus sind auch heute noch gültig, findet Hermsen. So erkannte Luxemburg bereits 1913, dass der Kapitalismus für sein Fortbestehen stets „nichtkapitalistische Gebiete“ erobern müsse. Da er sich heute in geografischer Hinsicht kaum weiter ausdehnen könne, expandiere er nun etwa in unser Privatleben, spinnt Hermsen den Gedanken treffend weiter. All das setzt sie in Verbindung mit den Gilets jaunes. Als die Autorin sich nämlich in das Werk Luxemburgs vertieft, hält sie sich gerade in ihrem Landhaus in der Bourgo-
gne auf und erlebt die Proteste zufällig mit. Der Eindruck, in das Buch sei manches zufällig geraten, kommt allerdings mehrfach auf. So schwärmt Hermsen über Luxemburgs Idee von den Bürgerräten und dass diese wohl auch etwas für die Gelbwesten wären. Wie genau das aussehen könnte, sagt sie nicht. Auch zeigen sich blinde Flecken, wenn sie schreibt, die Gelbwesten würden als rechte Chaoten verunglimpft, dabei führten sie einen berechtigten Aufstand gegen eine elitäre Politik. Das mag zutreffen. Dass Teile der Bewegung aber antisemitische Hassreden pflegten und gewalttätig wurden, müsste schon auch erwähnt werden. Die angehängten Gefängnisbriefe Luxemburgs vermitteln ein faszinierendes Bild einer extrem resilienten Frau, die noch in der Zelle Gedichte rezitiert und naturkundliche Beobachtungen anstellt. Das alles kommt ein wenig lose aneinandergereiht daher. Wenn es Hermsen aber vor allem darum ging, die Lust auf den Esprit und die geistige Schärfe der beiden Intellektuellen neu zu wecken, muss man sagen: Das ist ihr gelungen. GERLINDE PÖLSLER
Ein außergewöhnliches Buch zum 200. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewskij
Joke J. Hermsen: Rosa und Hannah. Das Blatt wenden. Wagenbach, 144 S., € 18,50
Leerstelle versuchen die Britinnen Rebecca Buxton und Lisa Whiting zu schließen. Ihre Auswahl von Denkerinnen reicht in alle Kulturkreise und Religionen hinein, etwa nach Indien zur Philosophin Lalla oder ins Königreich Oyo, das im heutigen Nigeria liegt. Sie stellt uns Ban Zhao als bedeutende Intellektuelle in der chinesischen Antike vor und bringt uns die muslimische Feministin Azizah Y. al-Hibri näher. Jede Minibiografie steht für sich. Liest man die Texte chronologisch, beginnt der Kanon circa 400 vor unserer Zeitrechnung mit einem Weckruf der selbstbewussten SokratesFlüsterin Diotima und endet mit der 1953 geborenen Anita L. Allen. An Allen zeigt sich, wie unterschiedlich die Teilgebiete der Philosophie sind, hat sie doch den Datenschutz in die philosophische Forschung eingeführt. Was macht Privatsphäre heute aus? Wie viel unseres Selbst ist in Hinblick auf die verschiedenen Dimensionen (öffentlich, privat, geheim) konstruiert? Wie viel Eigenverantwortung haben wir dafür? Und wie weit sollte sich der Staat einmischen, um das Recht auf Privatsphäre zu bewahren? Allens Werk wird nicht nur vorgestellt, sie steuert auch selbst einen Beitrag zur afroamerikanischen Bürgerrechtsikone Angela Davis bei. Mit jedem der 20 Porträts lernt man gleichzeitig eine zeitgenössische Wissenschaftlerin kennen. Manche beschreiben ihren persönlichen Bezug zur jeweiligen Denkerin und lie-
fern eine Art Plädoyer. Andere gehen mehr auf Distanz. Der einordnende Blick Buxtons auf Hannah Arendt übersieht auch deren Rassismus gegenüber Afroamerikanern nicht. Es gilt dasselbe wie für die männlichen Kollegen: Keine Denkerin ist über Kritik erhaben. Unter den berühmtesten Vertreterinnen
sind Simone de Beauvoir, Edith Stein und Mary Wollstonecraft. Wie Letztere beschäftigte sich schon 100 Jahre vorher die ungleich unbekanntere Mary Astell (1666–1738) mit der benachteiligten Position der Frau. Aber es gibt noch andere hierzulande wenig bekannte Marys zu entdecken, etwa Mary Warnock (1924–2019) oder Mary Midgley (1919–2018), die zwischen ihrem 59. und 99. Lebensjahr mehr als 200 Bücher, Aufsätze und Guardian-Artikel verfasste. Diese Lektüre erweitert den Horizont in puncto Ideengeschichte. 92 weitere Namen von Hildegard von Bingen, Teresa von Ávila bis Susan Sontag und Judith Butler im Abspann zeigen eindrucksvoll: So wenige Philosophinnen gab es dann doch nicht. JULIANE FISCHER
Rebecca Buxton, Lisa Whiting (Hg.): Philosophinnen. Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte. Mairisch, 240 S., € 22,70
Die fiktive, aber mögliche Begegnung von Fjodor M. Dostojewskij und Gioachino Rossini, bei der man Venedig auf Schritt und Tritt spürt, schmeckt, riecht, hört und erlebt.
ISBN 978-3-99200-297-9 480 Seiten, Hardcover (D) € 24
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„An manchen Objekten klebt Blut“ Kunstraub: Bénédicte Savoy liefert letzte Beweise für die Notwendigkeit der Rückgabe von Kunst nach Afrika
D
ie Geschichte der Debatte um Restitutionen von Kulturgütern nach Afrika beginnt im Jahr 1972. Da schreibt der nigerianische Archäologe Ekpo Eyo einen Brief an europäische Museen, in dem er darum bittet, den in Entstehung begriffenen Galerien seinen Landes Objekte zur Verfügung zu stellen. Er spricht nicht von zurückgeben, sondern von leihen. Die oft durch Raub oder zweifelhafte Geschäfte aus Afrika in die Sammlungen der Kolonialmächte gelangten Kunstwerke seien Teil der kulturellen Identität der jungen Nationen. „Bitte helfen Sie uns.“
»
Zwischen 1965 und 1985 wurde bereits alles gesagt. Nun ist es Zeit zu handeln
Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy fand
ein Exemplar dieses Briefes auch im Wiener Museum für Völkerkunde (heute: Welt Museum Wien) und dokumentiert in ihrem neuen Buch die Reaktion der offiziellen Stellen. Die Stücke nigerianischer Herkunft seien auf völlig legale Weise erworben worden, eine Herausgabe komme daher nicht in Frage, antwortete das österreichische Ministerium für Wissenschaft und Forschung auf Ekpo Eyos Anfrage. Im Umgang mit Restitutionsforderungen der von den Nazis beraubten Juden hatten die Beamten gelernt, die Sache auf die lange Bank zu schieben. Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte 2017 in einer in Ouagadougou, Burkina Faso, gehaltenen Rede an, Kulturerbe nach Afrika „temporär oder dauerhaft“ zurückzugeben. Gleichzeitig gab er bei Savoy und Felwine Sarr einen Bericht in Auftrag, der unter dem Titel „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ 2019 auch auf Deutsch erschien. Sarr ist ein senegalesischer Ökonom, die Kunsthistorikerin Savoy lehrt in Paris und Berlin. Der Bericht löste ein Beben aus, denn die Museen in Wien, Hamburg oder London besitzen Sammlungen, die zu 60 bis 90 Prozent aus kolonialem Kontext stammen. Das Welt Museum Wien etwa verfügt über eine
Almost Quito Siegesplatz Aspern
Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst: Geschichte einer postkolonialen Niederlage, C.H. Beck, 256 S., € 24,70
der größten Kollektionen von Benin-Plastiken aus dem heutigen Nigeria. Savoy und Sarr forderten eine Umkehr der Beweislast. Nicht die Antragsteller sollten dokumentieren, was schmutzig, sondern die Museen, was sauber sei. „An manchen Objekten klebt Blut“, erklärte Savoy. Nun liefert sie richtig gute Munition für die Kontroverse. Ihr Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“ beginnt mit dem Jahr 1965. In den Jahren nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten erhoben schwarze Künstler und Schriftsteller ihre Stimme, um das Recht auf eine eigene Geschichtsschreibung einzufordern. „Gebt uns die Negerkunst zurück“, titelte die in der afrikanischen Diaspora viel gelesene Zeitschrift Bingo. Der Kampf zwischen zwei ungleichen Kontrahenten begann. Savoy ging in die britischen, französischen und deutschen Archive, um alte Zeitungsartikel und die Korrespondenzen zwischen Museumsleuten zu lesen. Sie rekonstruiert den Austausch zwischen Ministerien und Ethnologen und enthüllt dabei ein überraschendes Szenario. Die meisten Argumente, die auch heute noch die Restitution verhindern, wurden vor 50 Jahren formuliert. Die Museen ließen die Gitter herunter. Da ist von unverschämten Forderungen die Rede oder, diplomatischer, von fehlenden museologischen Voraussetzungen. Kopien könnte man vielleicht hergeben, aber doch keine Originale. Während die Beamten etwa in den Außenministerien die Anliegen verstanden und sich um Fairness bemühten, blockierten die Kustoden. Die Autorin verweist auf die in die NS-Zeit
zurückreichenden Karrieren deutscher Museumsleute, deren Blick auf den schwarzen Kontinent von Verachtung und patriarchaler Bevormundung geprägt war. Die vielen Kongresse, Ausstellungen und Unesco-Resolutionen änderten nichts an dem „Njet“ der Institutionen. „Hüten sollte man sich bei diesen ganzen Gesprächen davor, ein
schlechtes Gewissen zu präsentieren“, riet ein deutscher Museumsmann 1976. Herbert Ganslmayr (1937–1991) bestätigt als Ausnahme die Regel. Der Direktor des Überseemuseums in Bremen gehörte zu einer jüngeren Generation von Ethnologen, die sich mit der Situation etwa in Nigeria vertraut machten und mit ihren Kollegen austauschten. Ganslmayr fand 1976 klare Worte: „Man hat nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine moralische Verpflichtung zur Rückgabe.“ Der Ethnologe hatte international eine gute Reputation, sodass seine Stimme gehört wurde. Die Gegner in den deutschen Museen wussten sich zu wehren. Das konservative Netzwerk machte Ganslmayr zum Außenseiter und schloss ihn aus den internen Korrespondenzen aus. Seine Widerworte blieben ohne konkrete Folgen. Savoy gliedert ihr in journalistisch knappem
und anschaulichem Stil geschriebenes Buch in Kapitel, die chronologisch einzelnen Jahren der „ersten Restitutionsdebatte“ gewidmet sind. Die Recherche endet im Jahr 1985, als in Ost-Berlin eine Ausstellung über „Schätze aus Alt-Nigeria“ eröffnet wurde. Die blockfreie Politik Nigerias ermöglichte die Kooperation mit der kommunistischen DDR, eine postkoloniale Pioniertat. „Die Ausstellung verfolgt den Zweck, endlich die noch aus der Kolonialzeit stammenden Vorurteile gegenüber der afrikanischen Kultur aus dem Weg zu räumen“, schrieben die Kustoden des Pergamonmuseums. Ihr Ansprechpartner war Ekpo Eyo, der den Kampf um Rückgabe von Anfang an begleitete. In Ost-Berlin trat er als geschätzter Fachmann in Erscheinung, der den europäischen Kollegen Leihgaben zur Verfügung stellte. Mitte der 1980er-Jahre war der Streit für die folgenden Jahrzehnte vorläufig beendet, zugunsten des Westens. Die These des Buches ist klar: Zwischen 1965 und 1985 wurde bereits alles gesagt. Nun ist es Zeit zu handeln. MAT THIAS DUSINI
Almost Denver
Wojciech Czaja
Handelskai Leopoldstadt
Almost. 100 Städte in Wien 232 Seiten, 100 Farbabbildungen € 20,–
Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im CoronaLockdown aus Frust auf die Vespa, begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden und fand unzählige Orte, die ihn an fremde Städte und internationale Metropolen erinnerten: Havanna am Praterstern, Paris in der Barnabitengasse, und sogar Atlantis, nur einen Steinwurf vom Schloss Schönbrunn entfernt.
Edition Korrespondenzen
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A
ls die Pest 1347 über Europa hereinbrach, raffte sie in den darauffolgenden Jahren ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung dahin und brachte das soziale und politische Gefüge auf mannigfaltige Weise durcheinander. Aus längerfristiger Perspektive allerdings änderte sich erstaunlich wenig: Die Pandemie hatte „keine völlig neuen Ideen oder Verhaltensweisen hervorgebracht, sondern mit ihren Erschütterungen lange vorher angelegte Überzeugungen, Grundhaltungen und Entwicklungstendenzen gefestigt und verstärkt“. So lautet das Fazit in Volker Reinhardts „Die Macht der Seuche“. Der Untertitel, „Wie die Große Pest die Welt veränderte“, greift also ein wenig zu weit. Reinhardt, der zuletzt in „Die Macht der Schönheit“ (2020) eine facettenreiche Schilderung der Kulturgeschichte Italiens lieferte, erschließt sich „die Welt“ in konzentrischen Kreisen: In ihrem Innersten liegt Florenz, darum herum die Vielfalt der Stadtstaaten; bereits an der Peripherie der Betrachtungen Westeuropa und das Heilige Römische Reich, von den äußersten Rändern wird wenig berichtet. Gerade noch, dass Polen, weil von der Pest verschont, zu einer europäischen Macht aufsteigt, aber nichts von Russland und erstaunlicherweise kein Wort über Byzanz und das sich festigende Osmanische Reich, obwohl auch dort die Seuche wütete, ja aus dem Osten eingeschleppt worden war. Das ist aber auch der einzige Einwand gegen dieses spannende Buch.
So unterschiedlich sich die Pandemie in Mailand, Rom, Venedig und Florenz auswirkte, so verschieden die unmittelbaren politischen Strategien und ihre Konsequenzen zunächst ausfielen, setzten sich überall am Ende die alten Verhältnisse – arm und reich, oben und unten – wieder durch. Sprich: „Pestangst und Pestwut“ lösten zunächst Chaos aus, wurden dann aber instrumentalisiert und kanalisiert. In Rom gewann anfangs gegen das in internem Dauerzwist liegende Patriziat eine republikanische Strömung die Oberhand, begünstigt durch die finanzielle Schwächung, die die Abwesenheit der Päpste im Avignoner Exil mit sich gebracht hatte. Das „gute Volk“ sah sich zu Unrecht von der „Gottesstrafe“ mitbetroffen, war deren Grund in seinen Augen doch die Korruption der Herrschenden. Und tatsächlich verlief die Seuche nach Einsetzung des Volkstribunen Cola di Rienzo relativ glimpflich, wohl aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte in der weitläufigen Stadt. Als der im Zeichen der moralischen Erneuerung gewählte Führer sich allzu sehr für seine Erfolge feiern ließ und Allüren eines Alleinherrschers zeigte, wurde er schon nach vier Jahren wieder gestürzt. In Mailand übernahm das Haupt der herrschenden Familie Luchino Visconti die Rolle des starken Mannes. Ihm gelang das „Wunder von Mailand“: Ein sehr geringer Anteil der Bevölkerung fand in der ersten Welle der Seuche den Tod. Die Isolationsmaßnahmen waren allerdings beispiellos streng: Visconti wird gar nachgesagt, er hätte die Erkrankten einmauern lassen. Die Versorgung der Armen war hingegen gut organisiert. So stieg die Familie zur mächtigsten Dynastie Italiens auf und wurde gleichzeitig für ihre Feinde zum Inbegriff der verhassten Tyrannis. In Venedig lief der administrative Apparat regelrecht heiß. Unzählige Dekrete wurden erlassen, die Wirksamkeit der hektischen Tätigkeit tendierte gegen null. Die einzig effiziente Maßnahme, die Abschottung gegenüber dem Festland und dem
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Die Seuche des Mittelalters Geschichte: Volker Reinhardt zeigt, auf welche Weise die Pest instrumentalisiert wurde
Fernhandel, traf man viel zu spät, da die Finanzinteressen der Oberschicht zu empfindlich getroffen worden wären. Selbst das Edikt zur Sperrung der Weinschenken trat nicht in Kraft, da die Händler Umsatzeinbußen nicht hinnehmen wollten. Kaum eine Stadt wurde denn auch so hart von der Pest getroffen, und kaum eine Oberschicht diskreditierte sich trotz groß angekündigter „Gesundheitspolitik und Seuchenprävention“ so nachhaltig. Daran sollte auch der mysteriöse Putschversuch des greisen Dogen Marin Falier, der sich zum Anführer der städtischen Mittelschicht aufschwingen wollte, nichts ändern. Nicht weniger heftig traf es Florenz. Zunächst funktionierte das politische Räderwerk der Institutionen, das Zusammenund Gegenspiel der mächtigen Familien weiter wie gewöhnlich. Die Stadt fand sich aber in einem stärkeren Austausch mit dem ländlichen Umfeld. Das zeigt sich an den Klagen über Reiche, die sich in ihre toskanischen Villen zurückzogen, später in der Kritik an der „gente nuova“, den Neureichen: Verwandtschaft vom Land, die zur Elitenergänzung und „Blutauffrischung“ der Alteingesessenen in den Kreis der besseren Leute einbezogen wurde. Es dauert noch Jahrzehnte, bis auch hier eine Mittelstandsbewegung die Hegemonie zu stürzen versuchte. Der Aufstand endete mit dem Griff einer der Familien nach derart uneingeschränkter Macht, wie man es nur von Mailand kannte. Cosimo de’ Medici machte aus seinem Namen Programm, verlieh damit dem angekratzten Renommee der Mediziner neuen Glanz und beflügelte die Verehrung seines Namenspatrons Kosmas, eines wundertätigen Heilers der Antike. Die Deutung der unter ihm erblühenden Renaissance als Feier des aus den Seuchenwellen erstandenen „uomo nuovo“ sieht Reinhardt allerdings als Konstrukt späterer Klassizisten an. Den ausführlichsten Abstecher aus den ita-
Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte. C.H. Beck, 256 S., € 24,70
lienischen Kunstzentren macht der Autor nach Avignon: Petrarca unternahm von dort aus (angeblich) die Besteigung des Mont Ventoux. Diesem Ausflug und den dabei angestellten Überlegungen über die menschlichen Geschicke angesichts der Pest ist das schönste Kapitel des Buches gewidmet. Der Vater des Humanismus und Günstling des hier residierenden Papstes Clemens VI., der schon in Reinhardts großer Papst-Enzyklopädie „Pontifex“ (2018) als eine der wenigen gewinnenden Persönlichkeiten hervorsticht, spielt auch hier, wenig überraschend, eine wichtige Rolle. In der Praxis hatten sich seine Hygienemaßnahmen (etwa das Abbrennen von wohlriechenden Hölzern) als erfolgreich erwiesen. Zudem zeigte er theologischen Mut: Er sprach von Gottes unergründlichem Ratschluss statt von Strafe und lehnte Sündenbockprozesse ab, die sich zuvorderst gegen Juden richteten. Pogrome blieben im päpstlichen Umkreis sowie auch in Italien, außerhalb des Einflussbereichs des französischen Aristokraten, aus. Umso heftiger wüteten sie dagegen im Reichsgebiet. Volker Reinhardt verbindet auf elegante Weise komplizierte und weitreichende Zusammenhänge. Er klopft zeitgenössische Stimmen auf Authentizität oder Stilisierung ab, öffnet Ausblicke auf literarische und bildnerische Glanzleistungen der Zeit und lässt manchmal auch die Gedanken in die Gegenwart abschweifen. Seine erzählerische Kunst macht aus schrecklichen Geschehnissen ein intelligentes Lesevergnügen. THOMAS LEITNER
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Handdesinfektion und Mund-Nasen-Schutz Geschichte: Ronald D. Gerste rekapituliert epochale medizinische Errungenschaften von 1840 bis 1914
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or jedem Geschäft begrüßt uns derzeit das Desinfektionsmittel quasi mit Handkuss. Umso gruseliger liest sich die Lebensgeschichte von Ignaz Semmelweis. Er rettete durch jene alltägliche Handlung, die seit einem Jahr wieder mehr in unser Bewusstsein gerückt ist, das Händewaschen, unzähligen Frauen und Kindern das Leben. Warum starben bei Hausgeburten viel weniger Mütter an Kindbettfieber, aber in der ersten Geburtshilflichen Klinik fünf Mal so viele wie in der zweiten? Der Wiener Arzt fand es heraus, und er setzte mit der Beharrlichkeit und dem Mut der 1848er-Revolutionäre seine Händedesinfektion durch. Semmelweis, der den Weg für Sauberkeit in der Medizin freikämpfte und damit die Grundlage der heutigen hohen Lebenserwartung legte, starb 1865 in der Irrenanstalt Döbling mit einer entzündeten Wunde am rechten Mittelfinger. Ausgerechnet! Nur 24 Stunden vorher hatte Joseph Lister in Glasgow das erste Mal einen antiseptischen Verband angelegt, anstatt das Bein eines jungen Burschen zu amputieren.
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Ein kurzweiliges und lehrreiches Buch, das einen mit Dankbarkeit für die Errungenschaften der Medizin erfüllt
Erstaunlich viele Innovationen fallen in die
Zeitspanne, der sich Ronald D. Gerste unter dem etwas salbungsvollen Titel „Die Heilung der Welt“ widmet. Der Untertitel lautet zu Recht: „Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840–1914“. Diese Epoche der beispiellosen medizinischen Reformen ist verzahnt mit unzähligen anderen Neuerungen. In Boston operiert man 1846 erstmals unter Narkose, Charles Darwin veröffentlicht 1859 „The Origin of Species“, Henry Dunant gründet 1876 das Rote Kreuz. Der 15. Juni 1883 gilt als Geburtsstunde der ersten Krankenversicherung. Karl Landsteiner entdeckt 1901 die Blutgruppen, und Albert Hustin stellt 1913 fest, dass Blut nach Zugabe von Natriumcitrat nicht gerinnt. Gerste fokussiert sich auf die Dynamik in Europa und Nordamerika und nimmt zufällige, manchmal bizarre Koinziden-
Ronald D. Gerste: Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840–1914. Klett-Cotta, 400 S., € 24,70
zen herein. So führte Ludwig Rehn die erste OP am schlagenden Herzen durch, zwei Jahre bevor Kaiserin Sisi an einer Attacke, die sie am Herz verletzte, ums Leben kam. Solche Schicksale Prominenter streut Gerste in kursiver Schrift ein. Immer wieder schwenkt er ab und liefert etwa Geschichten zur Erfindung der Eisenbahn oder der Fotografie oder tummelt sich an Kriegsschauplätzen, etwa beim Krimkrieg oder im Amerikanischen Bürgerkrieg. Dort setzte sich die spätere Suffragette Dr. Mary Edwards Walker als erste weibliche US-Militärärztin durch. Robert Koch ist durch das nach ihm benannte
Institut momentan ständig präsent. Koch gelang der Aufstieg vom Landarzt zum Starforscher, so wird er etwa als Entdecker des Choleraerregers gefeiert. Tatsächlich fand der italienische Anatom Filippo Pacini schon 30 Jahre vorher die kleinen, beistrichförmigen Objekte. Er nannte sie „vibrio“. Koch jedenfalls ebnete den Weg zur Seuchenbekämpfung: Identifizierung des Keims, Präventionswege, Therapie. So wie jetzt ein internationales Forscherteam in Wuhan nach dem Ursprung von Covid-19 sucht, spürte John Snow, der Begründer der modernen Epidemiologie, detektivisch einen Brunnen in der Londoner Broad Street als Herd der Cholerainfektion auf. In etwa so könnte es sich tatsächlich zugetragen haben, als er nach einer Dosierungsmöglichkeit für Äther suchte: „Snow sitzt allein in seiner vollgestopften Wohnung, um ihn herum quaken die Frösche als Versuchstiere, alles ist nur von Kerzenlicht erleuchtet. Nach ein paar Minuten Werkeln an der neuesten Variante des Inhalators befestigt er das Mundstück an seinem Kopf und öffnet die Gaszufuhr. Nach wenigen Sekunden sinkt sein Kopf auf die Tischplatte. Einige Minuten später wacht er wieder auf, schaut mit vernebeltem Blick auf die Uhr. Er greift nach seiner Feder und beginnt, die Daten niederzuschreiben.“
Gegen Ende des Buchs geht es wieder in jene Stadt, die es Ignaz Semmelweis nicht leicht machte: nach Wien, wo Carl Koller und Sigmund Freud mit Kokain experimentieren. Nachdem man mittels Äther und Chloro-
form den Schmerz bei Operationen ausgetrickst hatte, gab es immer noch einen großen Feind: An den Händen, am Skalpell und in der Luft lauerten unsichtbare Erreger. Der „Wundbrand“ führte nach dem Eingriff zu Entzündung, Fieber und Koma. Diese Infektion blieb Haupttodesursache – bis zur Einführung der Wunddesinfektion durch Joseph Lister. In „Die Heilung der Welt“ begegnen wir Fleiß, Mut und Wille zum Experiment, Wissensdurst und Begeisterung für das medizinische Handwerk. Damit gehen immer auch Irrtum, übertriebenes Ehrgefühl, Fehleinschätzungen und Dogmatismus einher. Gerste erzählte deswegen auch über Rivalität, Erpressung und Konkurrenzdenken. Nicht nur Semmelweis brachte seine Pioniertat wenig Glück, sondern auch William Morton, der die erste Narkose vornahm, und William Halsted, der seiner Mutter Gallensteine entfernte und später selbst an solchen starb. Eine von Halsteds Wirkungsstätten ist heute ein wichtiges Dokumentationszentrum der Corona-Pandemie: die Johns Hopkins University in Baltimore. Dort kamen auch die ersten Gummihandschuhe zum Einsatz. Halsted ließ sie für die OP-Schwester Caroline Hampton extra anfertigen. Sie hätte wohl nie gedacht, dass derartige Handschuhe einmal gang und gäbe sein würden – und zwar in Kombination mit jenem Accessoire, das auch das Corona-Jahr 2020 prägt, nämlich dem Mund-Nasen-Schutz. Ein rundum kurzweiliges und lehrreiches Buch, das einen in Pandemiezeiten mit Dankbarkeit für die Errungenschaften der Medizin erfüllt! JULIANE FISCHER
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Verstand, Fantasie und Naturliebe vereint Epochenporträt: Stefan Matuschek legt eine spannende, gut lesbare Studie über die Romantik vor omantik oder romantisch bedeutet landläufig vielerlei. Auch der EpochenR begriff Romantik bringt es kaum zu festen Konturen. Relativ leicht tut sich Stefan Matuschek in seinem Buch „Der geteilte Himmel“ mit dem Beginn der Ära: Es ist das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, und das hängt mit der Französischen Revolution zusammen. „Romantik“ war keineswegs nur ein Phänomen der Literatur, sondern auch der Malerei, der Architektur oder der Philosophie. Sie fand keineswegs nur im deutschen Sprachraum statt, obwohl sie dort theoretisch von den Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel wesentlich begründet wurde. Besonders heikel wird die zeitliche Ansetzung des Endes, denn sie läuft in verschiedenen Ländern und Literaturen unterschiedlich aus. Sprich: Es gab kein europaweit wirksames, markantes Schwellenereignis. Das romantische Prinzip, einmal in die Welt gesetzt, kam den Künsten, der Literatur und dem Denken nicht mehr abhanden und wirkte etwa im Surrealismus weiter. Wesentliches Stil- und Wesensmerkmal der Romantik war, dass sie sich, anders als die Aufklärung, mit den großen Geheimnissen des Lebens beschäftigte. Was sich nicht rational beantworten ließ ,
schreckte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Sie fragte nach dem Zusammenhang des Gan-
zen, sie kümmerte sich um das Merkwürdige, Fantastische und Groteske, sie hatte ein Faible für Religion, allerdings nicht für Dogmen. Die Romantik war nicht antiaufklärerisch, sondern forderte die Menschen auf, sich den Naturerfahrungen, den subjektiven Grenzgängen und der Transzendenz zu öffnen, auch wenn das Ergebnis zweifelhaft und unsicher war. Der Schlüssel für das Verständnis der Romantik ist für den Jenaer Germanisten, der sich seit vielen Jahren dieser Bewegung widmet, die „Kippfigur“. Damit meint er, dass im romantischen Stil auch Gegensätzliches Platz hat, dass sich Verstand und Fantasie nicht ausschließen. Ihr philosophisches Fundament bildet die ironische Brechung. Shakespeares „Hamlet“ und Cervantes’ „Don Quijote“ wurden damals als die großen Vorbilder gehandelt. Die politisch dunklen Seiten der Romantik gab es zweifellos auch. Die Nationalisierung der Kultur, die Feier von Volk und Volkstümlichkeit gehörten, wie Matuschek in einem eigenen Kapitel darstellt, zum deutschen Erbe, das den Nationalsozialismus vorbereiten half. Dafür wurde im 19. Jahrhundert so einiges zusammengeflickt. Die deutsche Geschichte wurde zugerichtet, damit sie von Größe, Würde und besonderer Eigenart der Nation zeugen konnte. Volkstümlichkeit verkam in den anti-napoleonischen Befreiungskriegen zum Chau-
vinismus. Das „Nibelungenlied“ wurde zum Gegenstück der altgriechischen „Ilias“ aufgewertet. Mit einer abstrus hergeleiteten Mythologie wurde versucht, die „Edda“ zu einer nordischen Walhalla-Religion aufzupolieren. Richard Wagners Opern waren das bekannteste Beispiel für den Versuch, die neuzeitliche deutsche Kultur im Germanentum zu verankern. Das deutsche Verhängnis gehört also zur Ge-
Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. C. H. Beck, 400 S., € 28,80
schichte der Romantik. Diese allerdings auf die „Zerstörung der Vernunft“ (Georg Lukács) zu reduzieren sei ein kapitaler Fehlschluss, meint Matuschek. Er betont die Innovationen, die die Romantik der europäischen Kulturgeschichte gebracht hat. „Sie besteht weniger in neuen Überzeugungen, Meinungen und Thesen als vielmehr in einer neuen Darstellungsweise. Sie ist ein Stilphänomen, das aber weit mehr als nur Stilistisches betrifft und unmittelbar auf die Weltanschauung und Lebenseinstellung durchschlägt.“ Ein gelehrtes Buch mit großem Horizont, das souverän Literatur, Kunst und Theorie mit politischer Geschichte verbindet. Überdies ist das Epochenporträt gut und anschaulich geschrieben und verliert in der Fülle der Themen nicht den Überblick – und vermag so zweifellos auch ein größeres Publikum zu faszinieren. ALFRED PFOSER
Die Urkräfte der Natur am eigenen Leib spüren Biografie: Goethe war als Geologe, Botaniker und Anatom ein vielseitiger Naturforscher, weiß Stefan Bollmann oethe hielt seine naturwissenschaftliG chen Arbeiten für wichtiger als seine literarischen. Ausgenommen vielleicht „Faust
II“. Diese Selbsteinschätzung des Dichterfürsten ließ schon Zeitgenossen schmunzeln oder die Stirn runzeln, und die Geringschätzung des Forscher Goethes währte lange. Mit seiner „Farbenlehre“ galt er bestenfalls als fehlgeleiteter Kritiker von Newtons Optik. Schon seit einigen Jahren hinterfragen Historiker und Literaturwissenschaftler aber das Bild des naturkundlich lediglich dilettierenden Dichterfürsten. Stefan Bollmanns Goethe-Biografie konzentriert sich nun ganz auf den Naturforscher und vermeidet dabei die Charakterisierungen als hoffnungsloser Amateur oder gar als verkanntes Genie. Die Wahrheit liegt allerdings nicht dazwischen, denn derartige Kategorien taugen nichts für die Zeit um 1800, als von einer professionalisierten Forschung nur in Ansätzen die Rede sein kann. Goethes Naturforschen basiert auf direkter
Erfahrung. Ständig treibt es ihn hoch auf Kirchturmspitzen, aber auch tief in Bergwerksschächte. Er besteigt im Dezember 1777 als Erster den Brocken, überquert im Spätherbst 1779 den hochalpinen FurkaPass und riskiert im März 1787 am Rand des Kraters des lava- und aschespeienden Vesuvs Kopf und Kragen. In Venedig interessieren ihn im Oktober 1786 die wundersam geformten Taschen-
krebse am Lido mehr als die Markuskirche, deren Architektur er als „kolossalen Taschenkrebs“ verspottet. Mitten im Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich im Herbst 1792 bewundert er das prismatische Farbenspiel einer Glasscherbe auf dem Boden eines Teiches. Gleich ob in Pompeji oder im Thüringer Wald: Stets klopft er mit seinem Geologenhämmerchen die Felsen ab. 18.000 Gesteinsproben zählt seine Sammlung am Ende. Goethe hat Spaß am Sezieren, er botanisiert, mikroskopiert und lässt mittels Elektrizität Froschschenkel zucken. Seine Liste naturkundlicher Publikationen ist ellenlang, an seinem Hauptwerk zur Farbenlehre (erscheint 1810) arbeitet er fast zwei Jahrzehnte. Er misstraut der Abstraktion, denn so ginge ja das Phänomen selbst verloren, und damit auch der Mathematisierung. Goethe sucht in der Vielzahl der Pflanzen nach dem zugrunde liegenden Modell, aber ohne das Konkrete zu verlieren. Das ist die Grundspannung seines Naturverständnisses: Präzision und Lebendigkeit zu verbinden. Bollmann streicht auch das „Moderne“ in Goethes Naturforschung heraus: seinen „ökologischen Blick“ auf die inneren Zusammenhänge der Natur und ihre Dynamik. Dass die Natur selbst eine Geschichte hat und die biblische Chronologie von ein paar tausend Jahren nicht ausreicht, um die geologischen Prozesse zu erklären – diese Erkenntnis teilt Goethe mit anderen Na-
turforschern seiner Zeit. Aber anders als diese verstand er Anomalien (vermeintliche „Missbildungen“) in Organismen als Hinweise zu einem grundlegenderen Verständnis. Führende Pflanzengenetiker wie etwa Elliot Meyerowitz beziehen sich heute explizit auf den Weimeraner Universalgelehrten. Die Erde als lebendiges Wesen zu begreifen, scheint auf die Gaia-These von James Lovelock und Lynn Margulis zu verweisen. Aber Bezüge über zwei Jahrhunderte hinweg zu unserer Gegenwart herzustellen, ist so verlockend wie problematisch. Das Hauptverdienst Bollmanns besteht darin
Stefan Bollmann: Der Atem der Welt: Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur. Klett-Cotta, 656 S., € 28,80
zu zeigen, dass Goethe auch und gerade ein Produkt der naturkundlichen und weltanschaulichen Debatten sowie spezifischer Praktiken um 1800 war: weitausgespannte Korrespondentenznetzwerke, die Reise als Forschungsexpedition, gemeinsames Experimentieren im privaten Kreis. Sein Buch ist bestens recherchiert und flott geschrieben. Aber da die Interessen des Herrn Geheimrat umfassend und ihm über 82 Lebensjahre beschieden waren, ist es ein rechter Ziegel geworden: 656 Seiten. Wenn die Verästelungen von Goethes botanischen und optischen Theorien dann gar zu feingliedrig werden, neigt man als Leser dazu, weiterzublättern. Insgesamt ist „Der Atem der Welt“ aber ein gelungenes Plädoyer dafür, den Naturforscher Goethe ernst zu nehmen. OLIVER HOCHADEL
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Vom Kreuzestod bis zur #MeToo-Bewegung Geschichte: Tom Holland rekapituliert die Historie des Christentums und seinen Einfluss auf „den Westen“
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m englischen Sprachraum hat „popular history“ Tradition. Tom Holland (nicht zu verwechseln mit dem derzeitigen Hauptdarsteller der Blockbuster-Serie „Spider Man“) ist heute einer ihrer bekanntesten Vertreter. Viele seiner Bücher wurden auch ins Deutsche übersetzt. Er begann seine Schriftstellerkarriere als Verfasser von (ebenfalls übersetzten) Vampirromanen, bis er die Geschichte als seine besondere Leidenschaft entdeckte – und hier wiederum die Religionsgeschichte. Wieso, so scheint Hollands Überlegung zu sein, diesen Stoff den Theologen und Kirchenhistorikern überlassen, wenn ihr Stoff, ihre Ideen und Debatten so voller Dramen und bewegender Geschichten stecken? Neben der Geschichte der persischen Invasion im alten Griechenland und über die Römerzeit beschäftigte sich Holland mit dem Islam und dem Aufstieg des christlichen Europas um 1000 nach Christus.
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Der Einfluss des Christentums auf die Entwicklung der Zivilisation des Westens war so tiefgreifend, dass er unsichtbar geworden ist TOM HOLL AND
Jetzt legt er mit „Herrschaft“ einen großen Auf-
riss über die Geschichte des Christentums von den Anfängen bis heute nach. Das ist kein kleiner Spaziergang in einem übersichtlichen Terrain, sondern eine mehr als 2000 Jahre währende Zeitreise, auf der sich immerfort die großen Fragen stellen: Wo ist Gott? In welcher Beziehung steht er zu den Menschen? Was ist ein gottgefälliges Leben? Mit mächtigen Schritten durchquert Holland die christliche Geschichte, von den subversiven Ursprüngen über den kühnen Opfermut der römischen Märtyrer und die fruchtbaren innerchristlichen Schismen im Mittelalter bis hin zur Religionskritik der Neuzeit und Gegenwart, von Friedrich Nietzsches Diktum „Gott ist tot“ bis zu Richard Dawkins’ Buch „Der Gotteswahn“ (2006). Hollands Großgeschichte kann auch mit feinen, lebendigen Zeichnungen der Heiligen punkten: Paulus, Augustinus, Peter Abelard, Katharina von Siena oder Franziskus von Assisi strahlen als kantige, starke Gestalten.
Das Buch beginnt bei der Kreuzigung Christi und erörtert die Frage, weshalb sich die Römer bei ihm dieser qualvollsten aller Todesarten bedienten. In der Regel hingen die Opfer zur Einschüchterung tagelang am Kreuz und wurden schließlich in einem Massengrab außerhalb der Stadtmauern verscharrt. Jesus zählte zu den bevorzugteren Opfern, weil er, wie im Neuen Testament geschildert, nach sechs Stunden vom Kreuz abgenommen und von Freunden in einem Einzelgrab bestattet werden konnte. Fast 2000 Jahre später, nach chronologisch geordnetem Durchlauf, landen wir in der Gegenwart, wo Holland das christliche Erbe aufspürt – auch da, wo man es nicht unmittelbar vermuten würde. Er beschreibt die Idee der allgemeinen Menschenrechte, die Black-Lives-Matter-Proteste, aber auch die #MeToo-Bewegung als im Kern christlich inspiriert. In ihnen leben die Ideen und Einflüsse des Christentums in säkularisierter Form weiter. Ein einprägsames Beispiel sind für ihn die Beatles, die in einer weltweiten TV-Liveschaltung „All You Need Is Love“ trällerten und damit globale Begeisterung auslösten. Das Fazit: „Der Einfluss des Christentums auf die Entwicklung der Zivilisation des Westens war so tiefgreifend, dass er unsichtbar geworden ist.“ Wieso war das Christentum so erfolgreich,
Tom Holland: Herrschaft. Die Entstehung des Westens. Klett-Cotta, 622 S., € 28,80
einst und jetzt? Spätestens ab dem dritten Jahrhundert nach Jesu Tod waren alle anderen Religionen in der Defensive, meint Holland, sie wurden im europäischen Raum nach und nach verdrängt und ersetzt. Die Botschaft, die Paulus und die anderen Apostel verbreiteten, war radikal und universell, war befreiend und revolutionär: Aus Verzweiflung machte das Christentum Hoffnung, aus Verwundung Heilung. Egal welcher Ethnie und egal welchen Geschlechts, jeder hatte nach der neuen Lehre das göttliche Gesetz in sich. Die damals vorherrschenden Religionen hatten nichts Vergleichbares anzubieten. Der Himmel des
alten Griechenlands war besetzt von Göttern, die sich wenig um die Menschen kümmerten und oft als Vergewaltiger und Diebe hervortraten. Im Persischen und Römischen Reich zimmerten sich Kaiser und Könige, Sieger und Helden eine Religion, die ganz auf ihre Autorität zugeschnitten war. Das Christentum war kein einheitliches Gebilde, es gab immer erbitterten, oft tödlichen Streit, der Sezessionen und langjährige blutige Konflikte hervorbrachte. Holland macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam, dass im Verlauf der Geschichte wiederholt und grosso modo zwei Varianten christlicher Lehre aneinandergerieten. Die Donatisten gegen die Caecilianisten, die Fundamentalisten gegen die Pragmatiker, die Apokalyptiker gegen die Angepassten, die reine Lehre gegen die Ökumene. So konnte es passieren, das zwei so gegensätzliche Bewegungen wie der Ku-Klux-Klan und die schwarze Bürgerrechtsbewegung gleichermaßen das Kreuz als ihr Symbol verwendeten. Man kann über den Autodidakten Holland die
Nase rümpfen. Und natürlich auch über dieses Buch. Er packt zu vieles in seine Geschichten, er kümmert sich mehr um Stil und Drama als um historische Einordnung, er beschäftigt sich mehr mit der Oberfläche als der Tiefe des Themas. Weder interessieren ihn methodische noch religionssoziologische Reflexionen, noch den „Kulturkampf “ der Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts gegen Säkularisierung und Moderne noch der gegenwärtige Zustand der Kirchen. Im Schlussteil geht vor lauter agnostischer Begeisterung für das Christentum die Differenzierung vollends verloren. Das Etikett „christliches Erbe“ wird so schnell vergeben, dass sich auch Atheisten und Freidenker, nicht einmal Karl Marx sich ihm entziehen können. Trotzdem bietet Hollands Studie allen, die mehr vom Christentum verstehen wollen, eine wunderbar anregende Lektüre. ALFRED PFOSER
LÖCKER VERLAG
LUDWIG HIRSCHFELD
Hirschfeld Werbung.indd 1
WIEN in MOLL Feuilletons 1907–1937 Dieser Band versammelt rund vierzig der besten Feuilletons Ludwig Hirschfelds. Im Nachwort informiert der Herausgeber Peter Payer, Historiker und Stadtforscher, sachkundig über Leben und Werk dieses großen Feuilletonisten. 04.03.21 14:49
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Handelt fair – sonst sind wir geliefert! Wirtschaft: Caspar Dohmen erklärt, wie globale Lieferketten arbeiten und was daran verbessert werden kann
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Der US-Schokomacher Mars konnte 2019 weniger als ein Viertel seines Kakaos bis zu den Bauern zurückverfolgen
Dohmen ruft in Erinnerung, dass es bei der Ge-
Globale Arbeitsteilung ist zwar an sich nicht
neu, schon die mittelalterliche Seidenstraße beruhte darauf. Neu ist das Ausmaß, schreibt Dohmen und zitiert das Lehrbuch des Harvard-Professors Michael Porter aus dem Jahr 1985, der Unternehmen riet: Beschränkt euch nur noch auf jene Funktionen, mit denen ihr die höchsten Gewinne einfahrt. Alles andere lagert aus! Binnen weniger Jahre setzten Manager dies in einem Ausmaß um, das früheren Unternehmensbossen absurd erschienen wäre: Sogar das Herzstück ihrer Unternehmungen lagerten sie aus, die Fertigung. Heute spannt sich bei Kleidungsstücken eine
etwa zehnstufige Lieferkette vom Baumwollfeld bis zur Konfektion. Autos werden in bis zu 15 Stufen gefertigt, und bei vielen Produkten lässt sich am Ende gar nicht mehr nachvollziehen, woher die Rohstoffe stammen. So konnte der US-Schokomacher Mars 2019 weniger als ein Viertel seines Kakaos bis zu den Bauern zurückverfolgen. Manager-Guru Porter hatte aber noch mehr geraten: Gebt eure Aufträge den Billigstbietern und verteilt sie unter jenen, die am härtesten konkurrieren! Eine solche Denke, zusammen mit immer längeren und zunehmend anonymen Lieferketten, bringt unweigerlich die Ausbeutung von Mensch und Natur mit sich. So wie in Rana Plaza, wo das schwerste Unglück in der Geschichte der Textilindustrie passierte. Am 24. April 2013 stürzte eine Textilfabrik binnen 90 Sekunden in sich zusammen. 1134 Menschen starben, mehr als 2400 wurden verletzt oder verstümmelt. Vorwarnungen hatten die Chefs einfach ignoriert.
Caspar Dohmen: Lieferketten. Risiken globaler Arbeitsteilung für Mensch und Natur. Wagenbach, 176 S., € 18,50
winnung von Rohstoffen für Laptops und Handys oft Kinder sind, die mit der Spitzhacke Seltene Erden aus dem Boden schlagen. Er weiß der Öffentlichkeit aber auch kaum Bekanntes zu berichten: dass ihre neuen Jeans von nordkoreanischen Zwangsarbeitern genäht worden sein könnten – China lagert gerne dorthin aus. Und wie erpresserisch Modefirmen in der Corona-Pandemie gegenüber asiatischen Fabriken vorgehen: Reihenweise stornierten sie einfach Aufträge, sogar für schon gefertigte Waren. Manche werden nun einwenden: Aber vieles hat sich doch schon gebessert! Was ist mit der freiwilligen Selbstverpflichtung von Konzernen? Was mit Fairtrade und der Macht der Konsumenten? Darauf antwortet Dohmen ungewohnt ruppig. Dieses Narrativ werde aus zwei Gründen hochgehalten: „Dummheit oder Gerissenheit“. Fairer Handel erfülle zwar eine wichtige Funktion, indem er zeige, wie es auch gehen kann.
Solange es allerdings massenhaft umweltschädlich und unsozial hergestellte Waren gebe, würden soziale und saubere Lieferketten eine Nischenangelegenheit bleiben. Das klingt pessimistisch, ist aber wohl bloß realistisch. Gut, dass der Autor auch recht klare Konzepte dafür liefert, wie den Problemen beizukommen wäre: mit strengen Gesetzen. Er dekliniert Beispiele bestehender Regelungen durch, etwa die der EU und der USA zu Gold oder Seltenen Erden oder den UK Modern Slavery Act. Alle haben ihre Stärken und Grenzen: Die einen nehmen nur einen kleinen Teil der Unternehmen in die Pflicht, die anderen nur einen kurzen Abschnitt der Lieferkette. Oft fehlen wirksame Sanktionsmöglichkeiten. Österreich findet im Buch übrigens nur ein einziges Mal Erwähnung; tatsächlich steht die Debatte hierzulande erst am Beginn. Das deutsche Lieferkettengesetz war bei Andruck des Buchs noch nicht bekannt; inzwischen ist nachzulesen, dass Dohmen es für einen passablen Kompromiss hält. Freilich könnten nationale Regelungen nur der Anfang sein, argumentiert er, doch je mehr es davon gebe, desto weniger Unternehmen können sich alleine aufgrund ihres Standortes aus der Verantwortung stehlen. Und um so wahrscheinlicher würden auch supranationale Regelungen, „weil Länder mit wirksamen Lieferkettengesetzen einen Wettbewerbsnachteil ihrer Unternehmen natürlich verhindern wollen“. Das klingt plausibel. Und falls jemand meint, das Thema brauche den globalen Norden wenig zu kratzen: großer Irrtum! Nicht nur in Bangladesch könnten die Näherinnen samt Smileys bald aus den Fabriken verschwinden, weil Roboter gerade nähen lernen. Schon wetteifern auch höher Qualifizierte aus Nord und Süd über digitale Plattformen um Aufträge zur Software- oder Designentwicklung. Und dabei, so Dohmen, „geht es zu wie im wilden Westen – regellos“. GERLINDE PÖLSLER
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angladesch, 2019. 3500 Näherinnen sitzen in bunten Saris an den Maschinen. An den Produktionslinien hängen Smileys: „Lächelt einer, hat die Linie ihr Pensum erfüllt, schaut er traurig, sind die Näherinnen in Verzug.“ Während die Frauen zu Niedrigstlöhnen für Konzerne wie H&M, C&A oder Lidl nähen, wird auch hier ausgelagert, was geht: Das Essen liefert eine Fremdfirma, eine weitere entsorgt die Stoffreste im Hof. Mitte Februar hat die deutsche Bundesregierung ihr Lieferkettengesetz präsentiert. Auch die EU-Kommission hat für den Frühling eines angekündigt. Es ist also ein höchst aktuelles Thema, das sich Caspar Dohmen, Autor der Süddeutschen Zeitung und Radiomacher, etwa für den Deutschlandfunk, in seinem Buch mit dem schlichten Titel „Lieferketten“ vorgeknöpft hat. Er gibt einen kompakten Überblick über die Auswirkungen davon, wie Arbeit zerstückelt und über den Erdball verteilt wird. Dabei kann er aus jahrelangen Recherchen schöpfen. Dohmen hat Bücher über Fairtrade und Schattenwirtschaft sowie das Buch zum Film „Let’s Make Money“ (2008) geschrieben. Er hat die Näherinnen in Bangladesch selbst besucht, genauso wie Kakaobauern in Côte d’Ivoire oder Arbeiter und Manager in mehr als 20 weiteren Ländern.
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Mehr als Bauland und Spekulationsobjekt Wirtschaft & Ökologie: Zwei neue Bücher über Bodenpolitik und damit einhergehende Ungerechtigkeiten
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arum werden die Mieten in Wien und Berlin immer teurer? Warum baut man Luxus-Chalet-Dörfer in Tiroler Naturschutzgebieten? Warum diskutieren wir über die Ökobilanz von Einfamilienhäusern? Warum stehen so viele Häuser in Ortskernen leer, während am Rand die Gewerbegebiete wuchern? Alle diese Fragen sind Teil desselben Problems, und das heißt: Boden. Es ist ein Thema, das jeder kennt, das jeden betrifft, die Bühne, auf der all dies passiert, aber gleichzeitig ist es ein Phantom. Der Begriff „Boden“ ist abstrakt und konkret zugleich. Man kann ihn landwirtschaftlich, raumplanerisch, ökologisch und politisch deuten. Der Boden ist Unterlage fürs Bauen, CO₂-Speicher, Garant für Biodiversität, und – in Corona-Zeiten wieder ins Blickfeld gerückt – Grundlage für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Seit der Finanzkrise 2008 und der bis heute andauernden Niedrigzinspolitik ist der Boden auch weltweites Spekulationsobjekt Nummer eins. Doch jetzt ist der Boden plötzlich präsent. Zwei
Ausstellungen zum Thema Boden haben viel Beachtung gefunden, die dazugehörigen Publikationen bieten einen Einstieg in eine aktuelle und akute Diskussion. Die Schau „Boden für alle“ am Architekturzentrum Wien (Az W) ist noch bis zum Sommer zu sehen, der dazugehörige Katalog reichert die Inhalte mit zusätzlichen Informationen an. Beiden gelingt es vorbildhaft, ein sprödes Thema verständlich, sogar unterhaltsam, aufzubereiten. Eine Fülle an Daten wird in plakativen Grafiken visualisiert, die an Otto Neuraths bahnbrechendes Infografik-Werk der 1920er-Jahre erinnern. Gegliedert in konzise Kapitel, werden verschiedene Aspekte des Bodens behandelt, die Datengrafiken bildhaft ergänzen: Plakativ-provokant werden österreichische Landschaftsklischees und die traurige Kreisverkehr-Realität gegenübergestellt, und die Frage, wer wie und warum im undurchsichtigen Dreieck zwischen Bürger-
meistern, Investoren und Planern Spekulationsgewinne macht, wird durch Bildstrecken im Stil von Bravo-Foto-Lovestorys illustriert. Doch auch die von den Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter erhobenen und gezielt ausgewählt Daten schlagen mit dramaturgischem Effekt ein. Beispiel: In Kitzbühel steigt der Quadratmeterpreis bei der Umwidmung von Grünin Bauland von 10,68 auf atemberaubende 1712,70 Euro. Manche werden so über Nacht zu Millionären, ohne einen Finger rühren zu müssen. Leistungsloses Einkommen – eigentlich das Gegenteil von Marktwirtschaft. Trotzdem gilt es als normal. Dank dieser pointierten Darstellungen wird sofort offensichtlich, wie ungerecht und absurd das scheinbar Selbstverständliche ist. Gewinne werden privatisiert, die Kosten trägt die Allgemeinheit, und dank des „Baulandparadoxons“ wird immer mehr Bauland ausgewiesen, obwohl wir längst mehr als genug davon haben – weil dessen Besitzer es horten. Die Kuratorinnen und Autoren scheuen sich nicht, die Systemfrage zu stellen und die Auswüchse des Kapitalismus für die Misere verantwortlich zu machen. Denn es ist klar, dass diese Ungerechtigkeit nicht naturgegeben ist. Wie auf der mit Infos dichtgepackten Zeitleiste im Buch ersichtlich, ist unser Umgang mit Boden immer das Ergebnis politischen Willens. Berüchtigt, aber immer noch oft vergessen: der Landraub der „commons“ im vorindustriellen England, als die Großgrundbesitzer sich sukzessive und landesweit Allgemeinflächen unter den Nagel rissen.
tisch aufgemachte, informationssatte Bestandsaufnahme inakzeptabler Zustände. Dieselbe Problematik konstatiert „Die Bodenfrage – Klima, Ökonomie, Gemeinwohl“, das deutsche Äquivalent zur Publikation des Az W. „Der Boden als knappes Gut ist gleichgestellt mit reproduzierbaren Gütern, deren Verknappung durch Angebot und Marktgeschehen begegnet werden kann“, heißt es in der Einführung. Das ist die Crux, denn der Boden ist eben kein Produkt. Das kompakte, kleine Buch basiert auf einer Ausstellung an der Universität Kassel und kommt dementsprechend akademisch, bisweilen auch spröde daher. Zielgruppe ist weniger die breite Bevölkerung
Angelika Fitz, Architekturzentrum Wien u.a. (Hg.): Boden für alle. Park Books, 320 S., € 39,20
Die im Buch vorgestellten Gegenstrategien sind
ein bunter Mix: von Städten wie Basel und München, die Grundbesitzern und Investoren bei Widmungsgewinnen handfeste Abgaben abverlangen, bis zum Vorarlberger Verein Bodenfreiheit, der gezielt kleine Grünland-Grundstücke im Rheintal erwirbt, um damit den gierigen Verwertungsdruck mit den eigenen Waffen zu schlagen. In Summe eine im besten Sinne populis-
Stefan Rettich: Sabine Tastel (Hg.): Die Bodenfrage. Klima, Ökonomie, Gemeinwohl. Jovis, 144 S., € 16,50
als Fachleute und progressive Kräfte in Verwaltungen und Regierungen. Diese gibt es durchaus, schon 2018 richtete das deutsche Innenministerium die Expertenkommission „Nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“ ein. Die in kurzen Essays ausgeführten Vorschläge, wie eine Bodenreform aussehen könnte, beschränken sich daher vor allem auf gesetzliche Stellschrauben und politische Top-down-Handlungen. Zugänglicher und konkreter sind die auf je einer Seite abgehandelten 36 Punkte des Boden-„Manuals“ in den Kategorien Klima, Ökonomie und Gemeinwohl, aufgelockert durch Piktogramme. Optisch ist das durch die durchgehend rote Schrift und Grafik auf Dauer ein etwas anstrengendes Leseerlebnis, aber als kompakte Handreichung liefert das Manual praktische Argumentationshilfen, ohne dass der Laie sich durch Berge von Paragrafen wühlen muss. In der Rolle des Eigentums unterscheiden sich deutsches Grundgesetz und österreichische Verfassung. Im Nachbarland gilt „Eigentum verpflichtet“, hierzulande ist es ein hohes Schutzgut, was die Reformbestrebungen schwieriger macht. Doch beide Publikationen zeigen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht und dass das Thema Boden uns alle angeht. Venceremos! MAIK NOVOTN Y
Bücher
Besser lesen mit dem FALTER Alle zwei Wochen führt die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb Gespräche mit Autorinnen und Autoren über das Lesen, das Schreiben und das Leben an sich. Alle Folgen auf falter.at/buchpodcast und überall dort, wo Sie Podcasts hören.
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Die Ausrufung der Nation der Pflanzen Biologie: Stefano Mancuso erhellt mit einer „Charta der Pflanzenrechte“ die Prinzipien des Lebens
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as erwartet man von einem Buch mit dem Titel „Die Pflanzen und ihre Rechte. Eine Charta zur Erhaltung unserer Natur“? Ein moralphilosophisches Traktat wie die im letzten Herbst erschienene Publikation von Corine Pelluchon „Manifest für die Tiere“? Oder eher Ausführungen eines Juristen über die formalen Grundlagen unserer Beziehungen zur Pflanzenwelt? Vermutet man sogar, dass sich die VeganismusBewegung nun auch auf diese Gruppe von Lebewesen ausweitet und wir dazu angehalten werden, nur mehr synthetische, aus unbelebten Stoffen hergestellte Nahrung aufzunehmen? Alles falsch. Der Autor, Stefan Mancuso, ist ein weltweit führender Botaniker, Professor an der Universität Florenz und Leiter des Internationalen Instituts für pflanzliche Neurobiologie. Sein 2015 erschienenes Buch „Die Intelligenz der Pflanzen“ war ein Bestseller, in dem er über die im Vergleich zu uns Menschen erweiterten Sinneswahrnehmungen der Chlorophyllträger schrieb. Sie können elektromagnetische Felder spüren, die Schwerkraft berechnen und zahlreiche chemische Stoffe ihrer Umwelt analysieren. Mit Duftstoffen warnen sie sich vor Fressfeinden oder locken Tiere an, die sie davon befreien, ihre Wurzeln bilden riesige Netzwerke, in denen Informationen über den Zustand der Umwelt weitergegeben werden. Auch ohne zelluläres Nervensystem zeigen sie eine Form von Schwarmintelligenz, mit der sie Strategien zum Überleben entwickeln. Mit typisch menschlicher Hybris betrach-
ten wir Pflanzen aber nur als die geringste Form von Leben. Dagegen erhebt Mancuso Einspruch. Mit seinem neuen Buch schreibt Mancuso eine Charta der Pflanzenrechte, die eigentlich eher acht Prinzipien pflanzlichen Zusammenlebens darstellen. Diese „Verfassung“ ist ein elegantes
Gedankenspiel, wie man die belebte Sphäre unseres Planeten auch wahrnehmen könnte. Von den 550 Gigatonnen (eine Gigatonne entspricht einer Milliarde Tonnen) kohlenstoffhaltiger Biomasse auf der Erde entfallen nur etwa zwei Gigatonnen auf tierisches Leben. Etwa die Hälfte davon machen Insekten aus und Fische tragen weitere 0,7 Gigatonnen bei. Alle Übrigen, also Säugetiere, Vögel, Reptilien etc., legen gerade einmal 0,3 Gigatonnen auf die Waagschale. Pflanzen dominieren unsere Welt mit 450
Gigatonnen und über 80 Prozent der irdischen Biomasse. Menschen sind mit 0,06 Gigatonnen eher eine globale Randerscheinung. Dennoch erheben wir – quasi undemokratisch, weil in der Unterzahl – den Anspruch auf Vorherrschaft auf der Erde. Mancuso nennt es ein „aristokratisches“ Argument, dass wir aufgrund unseres Geburtsrechts den Anspruch erheben, besser als alle anderen existierenden Arten zu sein und daher diese auch dominieren zu dürfen. In acht Kapiteln stellt er seine „Verfassungsartikel“ vor und erläutert diese in einer wunderbar klaren Sprache, die ohne jedes Fachvokabular auskommt. Für Leser mit biologischem Vorwissen bietet es keine botanisch-wissenschaftlichen Überraschungen, doch es war auch nicht die Absicht des Autors, ein weiteres Fachbuch zu verfassen. Faszinierend und erhellend sind vielmehr die Zusammenhänge, die er mit seinen Thesen aufzeigt. So lautet zum Beispiel Artikel 3 seiner Charta: „Die Nation der Pflanzen erkennt die tierischen Hierarchien mit ihren Kommandozentren und konzentrierten Funktionen nicht an, sondern unterstützt dezentrale Pflanzendemokratien mit verteilten Funktionen.“ Das mag – und will wohl auch – den Leser zuerst irritieren und dahinter eher eine ironische Brechung
ernot Wagner gehört zu den klügsten Klimawissenschaftlern Stop Suburbia! G des Landes, der gebürtige Amstettner lehrt als Ökonom an der New York University. Nach „Klimaschock“, gekürt zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2017, legt er nun ein Plädoyer für ein Leben in der Stadt vor. Warum ihn das Thema bewegt, ist folgender Bilanz geschuldet: In Vorstädten entstehen doppelt so viele CO₂-Emissionen wie in Städten. Denn die Stadt ist effizienter. Hier werden Wege kurz und das Auto überflüssig, die Wohnfläche ist kleiner, damit verbraucht man weniger Platz und weniger Energie. Swimmingpool muss man auch keinen heizen. Zudem ist die Politik handlungsfähiger. Kleine Änderungen machen in der Stadt schnell große Unterschiede in der Klimabilanz – etwa wenn man Park-
Wir brauchen nicht mehr Platz, um glücklich zu sein
Gernot Wagner: Stadt, Land, Klima. Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten. Brandstätter, 200 S., € 22,00.
vermuten lassen. Aber genau diese Gratwanderung zwischen scheinbarer Provokation und einer darauf folgenden Auflösung mit klarer, nachvollziehbarer Argumentation macht einen Reiz dieses Buchs aus. In diesem Fall erklärt Mancuso seine These auf diese Weise: Dank ihrer Fähigkeit zur Umwandlung von Sonnenlicht in chemische Energie sind Pflanzen nicht gezwungen, dauernd ihren Standort zu verändern. Tiere hingegen ernähren sich von anderen Organismen und sind stets unterwegs, um ihre Beute zu finden. Diese grundsätzlich unterschiedlichen Wege der Energiegewinnung haben Folgen für die Organisation und Funktionsweise dieser Lebensformen. Tiere lösen fast jedes Problem durch Bewegung und brauchen dafür spezialisierte Organe. Sie sehen mit Augen, hören mit Ohren, atmen mit einer Lunge und denken mit dem Gehirn. Pflanzen hingegen haben alle Funktionen
dezentral verteilt und sehen, fühlen, atmen und denken mit dem gesamten Körper. Dadurch kann man sie viel schwerer außer Funktion setzen, also töten. Pflanzen leben oft dann noch weiter, wenn man sie umschneidet und aus den Wurzeln neue Triebe entstehen, bei tierischen Organismen kann man mit einer kleinen Pistolenkugel das Leben beenden. Unser auf Zentralisierung und Führung ausgelegtes Prinzip replizieren wir überall und bauen auch unsere Gesellschaften nach diesem Schema auf. Mancusos Ausführungen führen ohne logischen Bruch bis zu Max Weber, der über unsere Verwaltungsbürokratien sagt, dass diese nicht mehr der Gesellschaft dienen, die sie erschaffen hat, sondern zu wuchernden Fremdkörpern werden, die dysfunktionale Regeln schaffen müssen, um ihre Ausmaße zu rechtfertigen. Dem gegenüber stellt er seine „Nation der
plätze verteuert oder von einer vierspurigen Straße zwei Spuren für Bus und Rad abzwackt. Vorstädte hingegen sind alternativlos aufs Auto ausgelegt, für Wagner sind sie „Naturund Klimakiller“. Genau das ist die Essenz des Buches: Die Politik müsse verhindern, dass Suburbia überhaupt erst entsteht. Wagner handelt in seinem Buch große Klimabrocken wie Fliegen, Ernährung und CO₂-Bepreisung ab, kehrt aber immer wieder zu seinem zentralen Thema zurück: der Urbanisierung und ihrer Bedeutung fürs Klima. Der Ökonom stellt dabei das „Immer mehr“ infrage. Brauchen wir wirklich immer mehr Platz, um glücklich zu sein? Wagner mischt Fakten mit persönlichen Erzählungen, er selbst lebt mit seiner vierköpfigen Familie auf 70 Quadratmetern in New York,
Pflanzen“, deren modularer Aufbau ohne hierarchisches Zentrum komplexe Strukturen bildet, die sich mit unseren neuronalen Netzwerken messen können – und die sich „mit dieser Organisationsform von den Problemen befreit, die mit der Fragilität, Bürokratie, Entscheidungsferne, Erstarrung und Ineffizienz hierarchisch oder zentral strukturierter Tierorganisationen einhergehen“. Mancuso hilft uns, die anthropozentrische Sichtweise auf den Globus abzulegen und einen anderen Blick auf die allem zugrundeliegenden Verhältnisse des Lebens zu werfen. Alle seine Ausführungen sind gut belegt und trotz komplexer Themen in bewundernswert verständlicher Sprache geschrieben. Am Ende dieses mit 140 Seiten im Kern eher kompakten Buchs beginnt man zu verstehen, dass die bereits seit hunderten Millionen Jahren existierende Nation der Pflanzen allen Lebewesen gemeinsam das Leben auf dem sonst toten Gesteinsplaneten Erde ermöglicht. Nur wenn wir das begreifen, lässt es sich verhindern, dass einzelne anmaßende Arten vorzeitig aussterben – sprich: wir selbst, aber vor und durch uns unzählige weitere Arten – und auf diese Weise deutlich machen, dass ein besonders großes Gehirn keineswegs ein Vorteil, sondern vielmehr ein evolutionärer Nachteil ist. Imperative Leseempfehlung! PE TER IWANIE WICZ
Stefano Mancuso: Die Pflanzen und ihre Rechte. Klett-Cotta, 160 S., € 18,50
auch wenn er sich mehr leisten könnte. Die Erde wird mit solchen Beiträgen auf der individuellen Ebene aber noch nicht gerettet. „Die echten Antworten beim Klimaschutz liegen in der Politik – und zwar nicht bloß im Umweltressort“, schreibt Wagner. Derzeit befeuere diese noch den Traum vom Einfamilienhaus mit allen dazugehörigen Steueranreizen und Subventionen. Wohnbauförderung, Pendlerpauschale und eine verfehlte Raumplanung seien die Grundlagen für ein klimapolitisches Fiasko. Das Buch trifft einen Nerv. Gerade gingen in Deutschland unter Konservativen die Wogen hoch, weil ein Hamburger Bezirk keine Einfamilienhäuser mehr im Bebauungsplan vorsieht. Wer Wagners Buch liest, kann über diese Erregung nur den Kopf schütteln. BENEDIK T NARODOSL AWSK Y
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Einsame Wale, erfinderische Kraken, diskrete Hummer Meeresbiologie: Bill François erzählt in seinem poetischen Buch „Die Eloquenz der Sardine“ nicht nur von dieser ie einzigen Tiere, denen ich auf gar keiD nen Fall begegnen wollte, waren Fische.“ Mit diesen Kindheitserinnerungen
an das Meer beginnt Bill François seine „Unglaublichen Geschichten aus der Welt der Flüsse und Meere“, wie es der Untertitel seines Buchs „Die Eloquenz der Sardine“ verheißt. Eloquent ist dabei weniger die Sardine, sondern vor allem sein Erzählstil. Raffiniert verwebt er Elemente eines Entwicklungsromans mit marinbiologischen Fakten, Anekdoten und Historien, die bis in die Antike und wieder retour führen. „Als das Meer gerade wieder einmal einatmete, sah ich hoch oben am Felsen am Rande der Wellen etwas aufblitzen. Ein Leuchten, das meinen Blick magisch anzog, vielleicht ein kleiner Schatz, ein Stück Perlmutt oder ein verlorener Gegenstand. Über die scharfen Felsen stolpernd kam ich dem schimmernden Etwas näher und näher. Und ich sah meine erste Sardine.“ Mit seinem anfangs immer sehr persönlichen
Zugang saugt der Autor uns in seine Gedankenwelt hinein, um uns dann scheinbar ganz nebenbei etwas über die Haut der Sardine zu erzählen, die wie ein vollkommener Spiegel polarisiertes Licht aus jedem Winkel gleichmäßig reflektiert, sodass sie mit der Welt unter Wasser optisch verschmilzt. Da François dem Leser niemals das Gefühl gibt, sich doch in einem Lehrbuch zu befin-
den, folgt man ihm gerne auf seinen mäandrierenden Wanderungen durch das Leben unter Wasser. Dabei erfährt man, dass die Schuppen der Fische wie Bäume Jahresringe zeigen und dass die „Packungsdichte“ in einem Schwarm 15 Sardinen pro Kubikmeter ausmacht. Die Dichte an Menschen in einer U-Bahn zur Hauptverkehrszeit liegt bei einem Viertel des Volumens, dennoch stoßen wir, anders als Sardinen in voller Bewegung, dauernd aneinander. Bevor all diese Informationen doch zu viel werden, sitzt man plötzlich wieder neben dem Schüler Bill François in einem Klassenzimmer und langweilt sich mit ihm im Mathematikunterricht. Seine Gedanken schweifen ab und wir mit ihm: Wie lernen Meerestiere? Trächtige Krakenmütter wagen sich nicht mehr aus ihrem Schutzraum, sterben an Nahrungsmangel, noch bevor der Nachwuchs schlüpft, und können diesem nichts beibringen. Ganz anders die Kindheit der Buckelwale, die mit ihrem Nachwuchs unentwegt kommunizieren und damit eine Form von Kultur entwickelt haben. Als die riesigen Heringsschwärme vor der Ostküste der USA vor einigen Jahrzehnten durch Überfischung verschwanden, mussten die Wale auf die schwieriger zu fangenden Sandaale Jagd machen und dazu eine neue Technik entwickeln. Diese wird auch an neu hinzukommende Tiere weitergegeben. Pädagogik und Didaktik sind also nicht nur
unter Menschenaffen üblich, um erworbenes Wissen weiterzugeben. Die einzelnen Kapitel funktionieren wie gut ge-
Bill François: Die Eloquenz der Sardine. Unglaubliche Geschichten aus der Welt der Flüsse und Meere. C.H. Beck, 234 S., € 22,70
machte Youtube-Videos. Sie ziehen einen sofort in den Bann, füttern einen mit Fakten, und bevor man in die Abgründe der Tiefsee eintaucht, beginnt eine weitere Episode, von der man wissen will, wie sie weitergeht. François tischt uns ein opulentes Buffet mit großen und kleinen, neuen und bekannten Geschichten auf, ohne den roten Erzählfaden oder seinen literarischen, ja fast poetischen Stil zu verlieren. Sein Buch endet mit einem bewegenden Plädoyer: „Die Welt der Worte ist wie die Welt des Meeres: ein Raum der Freiheit. Und die muss sie auch bleiben. Wer die Worte zügeln will, dem Ausdruck und der Rede Regeln auferlegt, ist wie die Menschen, die im Meer Barrieren bauen. Also singen wir in Freiheit unsere Geschichten, jede und jeder auf seine Weise, ob wir nun der einsame Wal sind, der seine eigene Sprache spricht, oder eine Sardelle im aufeinander abgestimmten Schwarm, der erfindungsreiche Krake, der anhängliche Schiffshalter oder der diskrete Hummer. Halten Sie sich eine Muschel ans Ohr. Man hat mir erzählt, dass man darin das Meer hören kann.“ Ein wundervolles Lesebuch, das die Sehnsucht nach dem Meer und seinen Lebewesen lehrt. PE TER IWANIE WICZ
Bonusmeilen und Schwanzlängenvergleich Biologie: Stephen Moss verknüpft Fakten, Mythen und Beobachtungen zu leichtfüßigem Edutainment über die Schwalbe enn diese Buchbeilage erschienen ist, W dauert es noch genau acht Tage, bis die Schwalben zurückkehren: Punktgenau
am 25. März sind sie dann da. So jedenfalls dachte man lange in Russland – vermutlich, weil Mariä Verkündigung, die auf dieses Datum fällt, ein wichtiges Fest der orthodoxen Kirche ist. Aber so einigermaßen haut das schon hin: Ende März dürfen wir die ersten Rauchschwalben erwarten, die Mehlschwalben sind einige Wochen später dran. Was die in der Stadt viel häufiger anzutreffenden Mauersegler anbelangt, kann der Rezensent präzise Auskunft geben: 2020 trafen sie am 28. April in Wien ein. Bloß dass Mauersegler keine Schwalben, ja mit diesen nicht einmal näher verwandt sind. Das weiß natürlich auch der britische Autor, Birder und TV-Produzent Stephen Moss. In seinem Buch „Über die Schwalbe“ weist er darüber hinaus auch noch darauf hin, dass diese „zwitschert“, wohingegen der Mauersegler „schreit“. In Sachen Wendigkeit haben allerdings die
Rauchschwalben die Schnabelspitze vorne: „Sie können in einem rechten Winkel abbiegen und legen dabei eine Strecke zurück, die kürzer als ihre eigene Körperlänge ist.“ In einem Punkt hat sich allerdings Moss etwas vertan: Es gibt zwar ein Gedicht des britischen Poet Laureate Ted Hughes, in dem Schwalben vorkommen. Es heißt allerdings nicht „Swallows“, sondern „Work
and Play“; wohingegen Hughes’ Gedicht, das die Rückkehr der Vögel enthusiastisch feiert, eben nicht von Schwalben, sondern von Mauerseglern handelt: „Swifts“. Genug der orni-poetischen Klugscheißerei. Schwalben sind jedenfalls unter allen 240 Vogelfamilien die am weitesten verbreitete, wobei hier schon wieder die Rauchschwalbe das Spitzenfeld anführt: Als einzige Schwalbenart kommt sie in der Alten und der Neuen Welt vor. Dass ihr Auftauchen als bedeutsam und als Signal für die Jahreszeitenwende wahrgenommen wurde – und zwar schon vom antiken griechischen Dichter Hesiod, einem Zeitgenossen Homers –, ist also nicht verwunderlich. Im Unterschied zur Mehlschwalbe. Aber gut, vielleicht sollten wir zunächst den einmal klären. Rauchschwalbe: rostroter Kehlfleck, tief gegabelter Schwanz, nachlässiges Nestdesign im Inneren von Gebäuden (Stall!). Mehlschwalbe: weiße Kehle, leicht gegabelter Schwanz, 1A-Schlammkugel-Nestdesign an Außenwänden. Und: Im Unterschied zur individualistischen Mehlschwalbe ziehen die Rauchschwalben in riesigen Schwärmen in ihre angestammten Gebiete südlich der Sahara, ja bis nach Botswana, Namibia und Südafrika. Warum sich die Rauchschwalben – übrigens sind nicht alle Schwalben Zugvögel – diese ungeheuren Reisedistanzen von zweimal jährlich 10.000 Kilometer und mehr antun, weiß man nicht so genau, es hängt aber wohl da-
mit zusammen, dass die Sahara vor 14.600 bis 5500 Jahren keine Wüste, sondern Grasland und Seengebiet war. Wohin die Schwalben verschwinden, war lan-
Stephen Moss: Über die Schwalbe. Mit zahlreichen Abbildungen. DuMont, 224 S., € 23,70
ge unbekannt. Selbst der berühmte Taxonom Carl von Linné hielt an der Auffassung fest, Schwalben würden auf dem Grunde von Seen überwintern, und ein Jahrhundert davor vertrat der englische Geistliche Charles Morton, Lehrer des Autors Daniel Defoe, eine noch viel steilere These: Die Schwalben würden auf den Mond ziehen – wohin auch sonst? Moss, der davor schon Bücher über das Rotkehlchen und den Zaunkönig vorgelegt hat, erweist sich auch in Sachen Schwalbe als routinierter Edutainer und Nature-Writer, der basale Informationen, Kuriosa, Kulturgeschichte und persönliche Beobachtungen mit leichter Hand verknüpft. Da sich das englische Wort „tail“ strikt auf die animalische Morphologie bezieht, ist die Zweideutigkeit, die der Übersetzung von Marion Herbert und Annika Klapper zuwächst, im Original allerdings nicht angelegt: „Wenn es sonst keinen Unterschied gibt, sind Männchen mit längeren, geraderen und symmetrischeren Schwänzen normalerweise erfolgreicher bei der Partnerinnensuche. […] Die zusätzliche Energie, die nötig ist, um einen langen Schwanz wachsen zu lassen, beweist, dass der Vogel stark und gesund ist.“ K L AUS NÜCHTERN
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„I am holy“, sprach der Gast zum Donut Neuerscheinungen des Kochbuch-Frühlings bewegen sich zwischen Lifestyle und steiler Großstadtexpedition
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en Trend braucht man heuer nicht eigens auszubuchstabieren. K wie Kochbuch steht in dieser Saison auch für K wie Klima. Und klimafreundlich zu kochen bedeutet in der Regel, vegetarisch, wenn nicht vegan zu Werke zu gehen. Es gibt Kochbücher, die den neuen Trend explizit im Titel tragen. Was jedenfalls verpflichtend zu sein scheint, ist Lifestyle. Ein Stichwort, das der kochende Autor nicht so gern mag, erinnert es ihn doch an die oberflächlichen 1980er-Jahre, die mit den aufmüpfigen 1960ern endgültig Schluss machen wollten, mithilfe von Lifestyle. „The Green Garden“ ist der Name eines Res-
taurants in Salzburg, die Inhaberin Julia und die Food-Bloggerin Stefanie taten sich zusammen und schrieben ein Kochbuch, das uns einen Tag mit den beiden jungen Frauen miterleben lässt, Kätzchen und Hündchen auf dem Arm inklusive. Das ist schön und anmutig und als Einstiegsbuch für jene, die dem Trendigen zuneigen, durchaus geeignet. Der Autor dürfte nicht wagen, einen Hummus mit Kichererbsen aus der Dose zuzubereiten, da würde ihn seine Frau aus der Küche jagen. Ohne Lokal entstanden ist „Ui“, auf österreichisch Hui, ein Buch von Carsten Brück und Christian Nevesly: „Und da wir beide in unserer beruflichen und privaten Zeit schon die eine oder andere Abzweigung genommen haben, entdeckten wir, dass wir eigentlich schon alles für die Entwicklung eines Kochbuchs können. (…) Und so wurde aus einer Idee ein Projekt, und wir widmeten uns mit Hochdruck unserer neuen Aufgabe. Ein Jahr später war unser Kochbuch fertig! Ui!“ „Ui“ enthält so etwas wie moderne Hausmannskost, die auch vor Fleisch nicht zurückschrickt, universell, mit Zutaten wie Harissa, Minzöl, Tahin und so weiter, viele Röstaromen auf dem Gemüse und Kind und Hund bei den Rezeptfotos. Stylish eben. Katharina Seiser muss man dem Falter-Publikum nicht vorstellen, ihr Kochbuch haben wir in der letzten Beilage gerade verpasst. Bei ihr lernt man gleich viel mehr, handwerklich wie auch geografisch. Das Buch ist ein sehr nützliches Kompendium, mit dem man in der Küche wirklich etwas anfangen kann, auch nach Jahreszeiten gegliedert. Paul Ivić geht es ideologischer an. Vegetarisch kochte er immer schon, im legendären Restaurant Tian und in vielen ausgezeichneten Kochbüchern nachzuprüfen. Jetzt halt auch noch nachhaltig, kli-
Julia Platzer, Stefanie Anich: Green Garden. DK, 176 S., € 20,60
Carsten Brück, Christian Nevesly: Ui. DK, 240 S., € 27,80
mafreundlich und vegan (nicht alle Rezepte im Buch sind vegan). Wenn eine Verbesserung der Welt mit Genuss zu erreichen ist, was wäre dagegen einzuwenden, fragt er, natürlich nur rhetorisch. Bei Ivić kann man sicher sein, dass tatsächlich die Fantasie eines Spitzenkochs am Werk ist; dafür nimmt man auch einmal ein komplizierteres Rezept in Kauf wie für das Zwiebel-Dreierlei mit Heucreme; ganz einfache Gerichte wie ein Paprika-Lauch-Salat, in der Pfanne zubereitet, entschädigen auch weniger Versierte. Das Buch „Love Is Served“ führt uns nach Kalifornien, ins Café Gratitude, mittlerweile zu einer kleinen Restaurantkette geworden. Es basiert auf ähnlichen Prämissen wie das eingangs präsentierte Buch. In Kalifornien findet man das in dieser Hinsicht archetypische Restaurant von Alice Waters, Chez Panisse, dem Ursprungsort der kalifornisch-vegetarischen Küche in Berkeley. Ami müsste man sein: dann hätte man keine Scheu, von Liebe und Dankbarkeit zu sprechen, die einen bei der Führung eines Geschäfts treiben, und wenn man ein Gericht bestellt, sagt man zum Kellner: „I am serene“, bitte, der gibt es an die Küche weiter, und alles wird heiter. („I am holy“ heißen übrigens glutenfreie Donuts). Nun, ob wir das glauben oder nicht, hier haben wir eine vegetarische Ausprägung amerikanischer Küche: mit vielen Grundrezepten, von Mandel- und Kokosmilch bis Dattelpaste, die geschichteten Cakes, mit Ahornsirup übergossen, dicke Sandwiches, appetitliche Dips und all das Frittierte. I am free! (Kokos-Calamari in Bierteig mit scharfer Cocktailsauce.) Das bringt uns zu eher klassischen Kochbü-
chern mit Küchen anderer Länder. Panisse ist ja eine provenzalische Kichererbsenschnitte. Die Provence wieder einmal zum Thema zu machen, das muss man sich trauen. Kann man machen, wenn man es so gut kann wie die französische Foodjournalistin Marie Pierre Moine. Sie geht es grundsätzlich an, von den Materialien und wie man sie behandelt (Knoblauch, Birne und Aubergine, Artischocken, Sardellen, Muscheln). Dazu gibt es Gemüserezepte, Omelettes, aber auch Fisch- und Fleischgerichte nicht zu knapp, diverse Saucen und Marinaden, bis zu Brot und diversen pikanten Tartes. Letitia Ann Clark wiederum ist Bloggerin, Illustratorin und Köchin – was für eine Kombi! Ihr sardisches Kochbuch ist wirklich hübsch gemacht. Clark, geboren in Devon/GB, lebt auf Sardinien und bringt
Katharina Seiser: Immer wieder vegan. Brandstätter, 192 S., € 28,–
Paul Ivić: Restlos glücklich. Brandstätter, 192 S., € 28,–
Manuel Larbig: WildkräuterGuide. Penguin, 336 S., € 14,40
uns eine kargere Seite mediterraner Küche zur Kenntnis. Spart dabei nicht mit Text (oft informativ, manchmal redundant). Hat aber viele feine Sachen. Ihr in Sardellensauce oder Nelkenmilch gegartes Schweinefleisch muss man einmal probieren. „Hibiskus“ nimmt uns nach Nigeria mit, zu einer uns eher wenig bekannten Küche, und auch Autorin Lopè Ariyo, eine nigerianische, in London geborene Migrantin lernte sie erst kennen, als sie ein Internat in Nigeria besuchte. Die dort kennengelernten Speisen inspirierten die nach London Zurückgekehrte zum Nachmachen, und so wurde ein Führer in diese Küchenwelt daraus. In Großstädten und online wird man nötige Zutaten bekommen, dankenswerterweise werden wir gleich am Anfang mit allem vertraut gemacht, was wir brauchen, um etwas Okele, Eba und Amala Isu zuzubereiten (das erste Gericht eine schmelzende Art Pasta oder Teig, die beiden anderen Suppen). Jedenfalls viel Neuland, buntes Augenfutter und deftige Hausmannskost. Vorgemerkt: Ijebu-Fischrollen (sehen aus wie Frühlingsrollen, aber mit Makrele, Petersilie und Koriander gefüllt.) Am Schluss das andere Ende des Trends: Nicht
Alexandra Maria Rath: Wildes Wien. Gmeiner, 240 S., € 28,–
Seizan Dreux Ellis: Love Is Served. Sieveking, 336 S., € 41,10
das lifestylige Restaurant, sondern die Expedition ins Grüne der Großstadt versprechen zwei Bücher. Manuel Larbigs „Wildkräuter-Guide“ beschränkt sich auf deutsche Großstädte, weist aber mehrere Überraschungen auf: Städte sind zwischen 40 Prozent (Leipzig) und 70 Prozent (Hamburg) grün. Man findet immer etwas, wenn man Kräuter sucht. Superfood gibt es nicht – es gibt nur besser oder weniger gut geeignetes Essen. Das Buch bringt kleine Rezepte und gute Info zur Bestimmung und Giftigkeit von Wildpflanzen. Dazu viel Wissenswertes, etwa dass der Fuchsbandwurm kein Problem darstellt. Kategorie: angenehme Neuerscheinung. Wien hat 50 Prozent Grünflächen. Alexandra Maria Raths (sie ist Vitaltrainerin) „Wildes Wien“ versucht eine Kombination aus Kochbuch, Wildkräuterbuch und Fremdenführer, das ist ein bisschen zu viel, wenngleich auch hier nette Ideen zu finden sind: Ein Veilchenparfait muss man wohl einmal gemacht haben, mit selbstgesammelten Veilchen, die Löwenzahntorte auch nett (weil die Blüten verwendet werden), aber der Salat, der angibt, mit „jungen Blättern“ zu arbeiten, verschmäht das Beste, die Wurzel, die gestochen werden muss. Fazit: eher ein Bilderbuch. AR MIN THURNHER
Marie Pierre Moine: Die Küche der Provence. DK, 304 S., € 14,40
Letitia Clark: Isola Sarda. ars vivendi, 256 S., € 28,–
Lopè Ariyo: Hibiskus. DK, 192 S., € 20,60
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7. Neubau
Audiamo | Kaiserstraße 70/2 Hintermayer | Neubaugasse 27 Posch | Lerchenfelder Straße 91 Walther König | Museumsplatz 2 8. Josefstadt
Bernhard Riedl | Alser Straße 39 Eckart | Josefstädter Straße 34 Lerchenfeld | Lerchenfelder Straße 50
9. Alsergrund
Buch-Aktuell | Spitalgasse 31 Facultas am Campus | Altes AKH | Alser Straße 4
Hartliebs Bücher |
Porzellangasse 36 Löwenherz | Berggasse 8 Oechsli | Berggasse 27 Orlando | Liechtensteinstraße 17 Yellow | Garnisongasse 7 10. Favoriten Facultas | Favoritenstraße 115
12. Meidling Frick | Schönbrunner Straße 261
Spazierer | Budweiser Straße 3a,
Riepenhausen | Langer Graben 1,
Stark Buch | Bahnhofstraße 5,
Riepenhausen | Andreas-Hofer-Straße
3940 Schrems 3950 Gmünd
Niederösterreich Korneuburg | Stockerauer Straße 31,
6020 Innsbruck
6020 Innsbruck
6060 Hall in Tirol 10, 6130 Schwaz
Steinbauer, EKZ Cyta | Cytastraße 1, 6167 Völs
Oberösterreich Fürstelberger | Landstraße 49, 4013 Linz Alex | Hauptplatz 17, 4020 Linz Buch plus | Südtiroler Straße 18, 4020 Linz
Bücher & Mehr | Klosterstraße 12, 4020 Linz
19. Döbling
Lhotzkys Literaturbuffet |
Stuwerstraße 42
Tyrolia | Maria-Theresien-Straße 15,
Waidhofen/Thaya
15. Rudolfsheim-Fünfhaus Buchcafé Melange | Reindorfgasse 42 Buchkontor | Kriemhildplatz 1
Wagner’sche | Museumstraße 4,
Murth | Wiener Straße 1, 3550 Langenlois Rosenkranz | Els 127, 3613 Els Kargl | Hauptplatz 13–15, 3830
Zangerl | Salzburger Straße 12, 6300 Wörgl
Lippott | Unterer Stadtplatz 25, 6330 Kufstein
Tyrolia | Rathausstraße 1, 6460 Imst Jöchler | Malserstraße 16, 6500 Landeck Tyrolia | Rosengasse 3-5, 9900 Lienz
In der Freien Waldorfschule | Waltherstraße 17, 4020 Linz
Neugebauer | Landstraße 1, 4020 Linz Thalia | Landstraße 41, 4020 Linz Buchhandlung Auhof | Altenbergerstraße 40, 4045 Linz-Auhof
Wolfsgruber | Pfarrgasse 18, 4240 Freistadt
Wurzinger | Hauptplatz 7, 4240 Freistadt Ennsthaler | Stadtplatz 26, 4400 Steyr Hartlauer | Stadtplatz 6, 4400 Steyr Michael Lenk | Vogelweiderplatz 8,
Vorarlberg Ananas | Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner | Marktstraße 33, 6850 Dornbirn Rapunzel, Klostergasse 1,6850 Dornbirn Brunner | Rathausstraße 2, 6900 Bregenz Ländlebuch | Strabonstraße 2a, 6900 Bregenz
Brunner | Konsumstraße 36, 6973 Höchst
4600 Wels
SKRIBO GmbH | Stadtplatz 34, 4600 Wels
Thalia | Schmidtgasse 27, 4600 Wels Schachinger | Untere Stadtplatz 20,
4780 Schärding Kochlibri | Theatergasse 16, 4810 Gmunden Thalia | Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer | Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Schachtner | Stadtplatz 28, 4840 Vöcklabruck Bücherwurm | Bahnhofstraße20, 4910 Ried Thalia | Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Der Buchladen | Stadtplatz 15-17, 5230 Mattighofen
Engelhart Brandstötter |
Marktplatz 15, 5310 Mondsee
Burgenland s’Lesekistl | Obere Hauptstraße 2, 7122 Gols
Buchwelten | Hauptstraße 8, 7350 Oberpullendorf
Pokorny | Schulgasse 9, 7400 Oberwart Wagner | Grazer Straße 22, 7551 Stegersbach
Steiermark Bücherstube | Prokopigasse 16, 8010 Graz
ÖH Unibuchladen | Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz
Moser | Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz büchersegler | Lendkai 31, 8020 Graz
2100 Korneuburg
Leykam | Lazarettgürtel 55,
Hauptplatz 15, 2320 Schwechat
Plautz | Sparkassenplatz 2, 8200 Gleisdorf Buchner | Hauptstraße 13,
Am Hauptplatz | Morawa, SCS,
Top G 299, 2334 Vösendorf Kral | Elisabethstraße 7, 2340 Mödling Valthe | Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Riegler | Kirchengasse 26, 2460 Bruck an der Leitha
8025 Graz
Salzburg Bücher-Stierle | Kaigasse 1,
5010 Salzburg Motzko | Elisabethstraße 24, 5017 Salzburg
Facultas NAWI-Shop |
Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg
5020 Salzburg
Morawa | Burggasse 100,
5020 Salzburg
Hinterschweiger |
Höllrigl | Sigmund-Haffnergasse 10,
Papeterie Rehor |
Morawa SCA | Alpenstraße 107,
Theodor-Körner-Platz 6, 2630 Ternit z Hikade | Herzog-Leopold-Straße, 2700 Wiener Neustadt Thalia | Hauptplatz 6, 2700 Wr. Neustadt Mitterbauer | Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s | Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Thalia | Kremsergasse 12, 3100 St. Pölten Reischl | Hauptplatz 12, 3250 Wieselburg Schmidl | Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau
8600 Bruck/Muhr
Mayr | Kurort 50, 8623 Aflenz Kerbiser | Wiener Straße 17,
Bücher-Schütze |
Pfarrgasse 8, 2500 Baden
8280 Fürstenfeld
Leykam | Hauptplatz 2, 8330 Feldbach Leykam | Mittergasse 18,
Rupertusbuchhandlung |
8680 Mürzzuschlag 8750 Judenburg
Anna Neumannstraße 43, 8850 Murau
Dreifaltigkeitsgasse 12, 5020 Salzburg Thalia | Europastraße 1, 5020 Salzburg
Buch + Boot | Altausse 11,
Tirol
Kärnten
Haymon | Sparkassenplatz 4,
Heyn Johannes | Kramergasse 2, 9020 Klagenfur t Besold | Hauptplatz 14, 9300 St. Veit/Glan
6020 Innsbruck Studia | Innrain 52f, 6020 Innsbruck
8992 Altaussee
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