FALTER Bücherherbst 2013

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FALTER

Bücher-Herbst 2013 86 Bücher auf 56 Seiten

Nr. 41b/13

ILLUSTR ATION: GEORG FEIERFEIL

Abenteuer: Zu Piraten lass dir raten +++ Lit aus Ö: Breznik, Musil, Handke & Stangl +++ Jubilar: Diderot, altes Haus! Kinder: Fördern oder Fordern? +++ Brasilien: Land der Gegensätze +++ Und vieles mehr: Meer, Körper, Düfte

Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2420/2013


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i n h a l t    Illustrationen

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!

Illustrator Georg Feierfeil arbeitet auch unter dem Namen diegabi und wurde 1986 in Scheibbs (NÖ) geboren. Laut Reisepass 170 cm groß, Statur liegt etwas über dem empfohlenen BMI. Frühstückt grundsätzlich nur Smart und Espressi und lässt den Tag gerne bei einem Glas Frucade ausklingen. Studium der Kunst­ pädagogik und der Digitalen Kunst an der Angewandten

Unter den rund 100.000 Büchern, die alljährlich auf den deutschsprachigen Markt kommen, befindet sich auch viel Altes, das neu aufgelegt oder neu übersetzt wurde. Dem schenkt der Belletristikteil diesmal besondere Aufmerksamkeit: in der heimischen ebenso wie in der französischen, der brasilianischen oder der Abenteuerliteratur . Der Sachbuchteil eröffnet mit einem Ruf nach der guten (alten) Kindheit, die von einem Mangel an Natur und einer falsch verstandenen Förderung bedroht zu sein scheint. Weitere Themen: Russland, Brasilien, der Erste Weltkrieg, die Tiefen des Meeres, das Internet, die Zeit, Farben und Düfte. K IR STIN BR EITENFELLNER K l a u s N ü c h tern

Besprochene Autoren Literatur Atelier, Edition   20 Aubry, Gwenaëlle   8 Begley, Louis   10 Bouvier, Nicolas   8 Breznik, Melitta   15 Coetzee, J.M.   11 Carrère, Emmanuel   25 Cotten, Ann  17

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Diaz, Junot   10 Diderot, Denis   30 Gorelik, Lena   5 Hamid, Mohsin   28 Handke, Peter   18 Hughes, Richard   6 Kertész, Imre   14 Kronauer, Brigitte   24 Lispector, Clarice   26 Maljartschuk, Tanja   29 McEwan, Ian   12 Monfreid, Henri de  6 Mora, Terézia   25 Mülder-Bach, Inka   14

Sacher-Masoch, L.v.   21 Salter, James   9 Sontag, Susan   13 Stangl, Thomas   22 Stavaric, Michael   16 Stevenson, Robert Louis  4 Thayil, Jeet   28 Walser, Martin   22 Wiener, Oswald   19 Zeiner, Monika   23

Sachbuch Abbate, Carolyn   50

Liter atur

Abenteuerliteratur : Neuübersetzung der „Schatzinsel“ 4 Romane von Henry de Monfreid und Richard Hughes  6 Nachgelassenes des Reiseschriftstellers Nicolas Bouvier  8 Vaterbuch „Niemand“ von Gwenaëlle Aubry  8 James Salter legt sein Alterswerk vor: „Alles, was ist“  9 Louis Begley liefert „Erinnerungen an eine Ehe“  10 Junot Diaz schwächelt: „Und so verlierst du sie“  10 J.M. Coetzee will uns was sagen: „Die Kindheit Jesu“  11 Ian McEwan hat Spaß mit Spionen in „Honig“  12 Die Tagebücher von Susan Sontag werden fortgesetzt  13 Imre Kertész schreibt auch Tagebuch „Letzte Einkehr“  14 Inka Mülder-Bach über „Der Mann ohne Eigenschaften“  14 Melitta Breznik eröffnet den Österreicher-Block der Beilage  15 Michael Stavaric schlachtet: „Königreich der Schatten“  16 Ann Cotten und die Liebe: „Der schaudernde Fächer“  17 Peter Handke steht im Wald: „Versuch über den Pilznarren“  18 Oswald Wiener ist wieder lieferbar: „verbesserung von …“  19 Die Edition Atelier hat ein neues Programm  20 L.v. Sacher-Masoch kleidet ein: „Venus im Pelz“  21 Thomas Stangl erklärt die „Regeln des Tanzes“  22 Martin Walser bleibt bei seinem Thema: „Die Inszenierung“  22 Monika Zeiner debütiert mit „Die Ordnung der Sterne …“  23 Brigitte Kronauer lässt’s wuseln: „Gewäsch und Gewimmel“  24 Terézia Mora setzt ihre Trilogie fort: „Das Ungeheuer“  25 Clarice Lispector wird wieder einmal neu herausgegeben  26 Jeet Thayil erzählt aus der neuen „Narcopolis“  28 Mohsin Hamid versichert: „So wirst du stinkreich …“  28 Tanja Maljartschuk protokolliert „Biografie eines Wunders“  29 Lena Gorelik präsentiert „Die Listensammlerin“  29 Denis Diderot würde seinen 300. Geburstag begehen und

wird daher von Armin Thurnher gewürdigt

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Abulafia, David   40 Aldersey-Williams, H.   52 Ansari, Salman   33 Bernheimer, Konrad   51 Berthoud, Ella   50 Bled, Jean-Paul   45 Bosshard, Marco Th.  37 Clark, Christopher   44 Cole, Tim   48 Dornik, Wolfram   45 Elderkin, Susan   50 Emcke, Carolin   42 Emmott, Stephen  47 Gorelik, Gennady   49

Haider, Edgard   45 Heckl, Wolfgang M.   49 Holzer, Anton   45 Hüther, Harald   33 Klewitz, Andreas von   41 Knipp, Kersten   36 Kraus, Josef   33 Leuthold, Ruedi  38 Machado Nunes, M.  37 Mann, Charles C.   39 Meier, Verena   38 Niemeyer, Frauke   37 Padova, Thomas de  53

Parker, Roger   50 Pastoureau, Michel   51 Prutsch, Ursula   36 Rauchensteiner, M.   45 Renz, Ulrich   43 Renz-Polster, Herbert  33 Röhrlich, Dagmar   41 Sanchez, Tania  53 Serres, Michel   48 Silver, Nate   47 Tough, Paul   39 Turin, Luca  53 Vašek, Thomas  43 Zimmer, Undine   42

Sachbuch Pädagogik Kinder brauchen Natur und nicht zu viel Förderung  32 Russland Das Volk und die Kunst demonstrieren gegen Putin  35 Brasilien Zwei Kulturgeschichten, zweimal Rio und zwei Landespor­ träts betrachten das Gastland der Frankfurter Buchmesse  36 Globalisierung Die Entdeckung Amerikas veränderte die Welt  39 Geschichte Das Mittelmeer und seine Anwohner  40 Meeresforschung Zwei Bücher über das Leben in unbekannten Tiefen  41 Arbeit Was ist Armut? Eine Kindheit in einer Hartz-IV-Familie  42 Journalismus Soll man über Ungerechtigkeit, Gewalt und Elend berichten und wie?  42 Arbeit Zwei Betrachtungen zur Work-Life-Balance  43 Geschichte Das 100-Jahr-Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 2014 wirft seine Bücher voraus  44 Zukunftsforschung Statistiken und Prophezeiungen, von Wahlvorhersagen bis zum Weltuntergang  47 Neue Medien Macht uns das Internet zu besseren Menschen?  48 Physik Andrej Sacharow, das Wettrüsten und der Widerstand  49 Nachhaltigkeit Reparieren statt wegwerfen lautet die Devise  49 Lebenshilfe Können Romane eine Therapie ersetzen?  50 Musikgeschichte Eine monumentale Geschichte der Oper der letzten 400 Jahre  50 Kunstmarkt Konrad O. Bernheimer erzählt die Geschichte  51 seiner Familie und erklärt den Kunstmarkt Ästhetik Die Lieblingsfarbe der Menschheit ist Blau  51 Kulturgeschichte Ein kleines Buch erklärt die großen Düfte  52 Wissenschafts- und Kulturgeschichte Leibniz, Newton und der Streit über die Zeit  53 Kochen Neue Kochbücher für den Herbst  54

Impressum Falter 41b/13 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Klaus Nüchtern Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl Korrektur: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh, Rainer Sigl, Marie Yazdanpanah Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau. DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar. Bücher-Herbst ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das

ICH HABE MIR DAS PARADIES IMMER ALS EINE ART BIBLIOTHEK VORGESTELLT JORGE LUIS BORGES

WALDVIERTLER | SCHUHE | TASCHEN GEA MÖBEL | GEA NATURMATRATZEN BRENNSTOFF GEA WIEN 1010, HIMMELPFORTGASSE 26 ( SCHUHE, TASCHEN, MÖBEL & MATRATZEN) 1080, LANGE GASSE 24 ( SCHUHE & TASCHEN) UND LANGE GASSE 31 ( MÖBEL & MATRATZEN) 1070, KIRCHENGASSE 24 ( SCHUHE & TASCHEN) 1210, AM SPITZ 2 ( SCHUHTRAFIK ) GEA GRAZ 8010, SACKSTRASSE 36 ( SCHUHE & TASCHEN) 8020, GRIESGASSE 4 (NÄHE KUNSTHAUS) ( SCHUHE, TASCHEN, MÖBEL & MATRATZEN) 25 * IN ÖSTERREICH 14 * IN DEUTSCHLAND | 1 * DER SCHWEIZ WWW.GEA.AT


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liter atur

Fünfzehn Mann auf des Toten Mannes Kiste Eine Neuübersetzung der „Schatzinsel“ zeigt auch, wie diese ihrem Autor aus der peinlichen Erfolglosigkeit half

Und auch die im Laufe der Jahre und Jahrzehn-

te heranwachsende Medienkonkurrenz zum Buch hat „Die Schatzinsel“ souverän überstanden: An die zwei Dutzend Mal ist sie bislang verfilmt worden. 1934 spielte Wallace Beery Captain Silver, in der 2012 ausgestrahlten opulenten Miniserie gab der Komiker Eddie Izzard diese Rolle, und der ZDF-Vierteiler von 1966, in dem Michael Ande den Jim Hawkins gab (bevor er verflucht wurde als ewiger Assistent die Weltmeere des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu befahren), hat wohl Millionen von Fernsehkindheiten geprägt.

Der Roman ist selbst ein Akt dreister Piraterie, hat sich Stevenson – wie er ganz offenherzig gestand – doch nicht nur Robinsons Papagei ausgeborgt (Daniel ­Defoes Piratenroman „Die Abenteuer des Kapitän Singleton“ ist übrigens 1720, also bereits 160 Jahre vor der „Schatzinsel“ erschienen), sondern sich auch weidlich aus der Seemannskiste von Washington Irvings „Tales of a Traveller“ (1824) bedient. Die elsternhaften Ausflüge in die Schmuck­kästchen anderer Autoren ­hatte Stevenson offenbar auch nötig, denn bis zur „Schatzinsel“, über deren Entstehung er in einem, in der Neuausgabe abgedruckten Text mit dem Titel „Mein erstes Buch“ (!) Rechenschaft ablegt, war er ein von ­originellen Einfällen nicht eben überwältigter („Die Länge ist es, die einem das Genick bricht“) und dementsprechend erfolgloser Autor.

Zur Übersetzung

Andreas Nohl verdanken wir einen deutschen „Dracula“ (Steidl 2012) und die geniale Übersetzung des „Huckleberry Finn“ (Hanser 2010). Hier zeigt er eine gewöhnungsbedürftige Vorliebe fürs Niederdeutsche („Dösbaddel“) und rutscht im Umgangssprachlichen zuweilen irritierend in ein gegenwärtiges Idiom. „Geistig normal“ (für „sane“) klingt eher Sein Stiefsohn Lloyd Osbourne, für den Steven- nach 20. als nach 19. son „Die Schatzinsel“ schließlich schrieb, Jahrhundert, und die erinnert sich in einer Nachbemerkung da­ doofe Connaisseursran, dass ihn die „frohgemute Gelassen- Phrase „vom Feinsten“ heit“, mit der sein Stiefvater den eigenen hat in der „Schatzinsel“ Miss­erfolg hinnahm, „so manchen ­heftigen auch nichts verloren

Stich versetzte“. Dass es dafür gute Gründe gab, daran lässt Lloyd freilich keinen Zweifel: „Ich wusste, dass seine Bücher sehr schlecht waren, denn als eifriger Leser hatte ich mich durch jedes Einzelne hindurchgequält. In der Tat waren sie so langweilig, dass mich seine Aussage erstaunte, er könne auf ganze siebenhundertfünfzig Leser zählen.“ Als Motor der Inspiration sollte schließlich – so

erinnert wiederum des Autors Frau, Fanny Van de Grift Stevenson – eine fiktive Landkarte dienen, die in einem Chalet in Davos „auf den blanken Boden gezeichnet“ wurde und über der Gatte Robert und ihr Bub „viele Stunden mit einer Art Kriegsspiel zu[brachten], das über meinen Verstand ging“. Das ist nicht ganz unnachvollziehbar, war „Die Schatzinsel“ doch als „eine Geschichte für Jungs“ konzipiert, für die – wie der Autor selbst in erwähntem Text gesteht – galt: „Frauen waren ausgeschlossen.“ Diese Charakterisierung stimmt nicht ganz. Immerhin hat John Silver eine „Negerin“ zur Frau, mit der er die Taverne führt. Und darüber hinaus gibt es –viel wichtiger – na-

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»Ein Stück Zeitgeschichte – und spannende Lektüre obendrein.«

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Illustr ation: Georg feierfeil

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enn all die Abenteuerei, / Erzählt auf ganz die alte Art, / Noch Interesse findet bei / Der Jugend unserer Gegenwart: So greift nur zu, dann soll es sein!“ Rückblickend nimmt sich diese „An den zaudernden Käufer“ gerichtete Aufforderung, die der Autor seinem Roman vorangestellt hat, vollkommen absurd aus, gilt „Die Schatzinsel“, die zunächst in Fortsetzungen in der Zeitschrift Young Folks und 1883 auch als Buch erschien, heute doch als der Abenteuerroman schlechthin.


l i t e r a t u r

türlich noch Jim Hawkins’ gleich zu Beginn des Romans zur Witwe werdende Mutter. Es ist allerdings schon ziemlich auffällig, dass Hawkins zwar – soweit bekannt – das Schicksal seiner Abenteuergefährten nachliefert, über die doch hoffentlich stattgefundene Wiederbegegnung mit seinem schicksalgebeutelten Mütterlein aber kein Wort verliert. Saubub! Der Fiktion nach ist „Die Schatzinsel“ ein in der Ich-Form verfasster Bericht, den Hawkins im Aufrag seiner erwachsenen Begleiter geschrieben hat; ein aus der Sicht von Doktor Livesey und ebenfalls in der ersten Person erzähltes Kapitel (Nummer 16) wird zu Beginn des vierten Teils eingeschoben, um die Perspektive zu vervollständigen, nachdem der Kampf zwischen den Expeditionsleitern und den meuternden Piraten begonnen hat. Wie groß die Distanz zwischen Erlebtem und

Erzähltem ist, wird nicht geklärt, es spricht aber einiges dafür, dass es Jahre sind. Ein Bub, der bislang in der elterlichen Schenke an der Küste aufgewachsen ist, aber „dem Meer nie wirklich nahe“ gewesen ist, bevor er an Bord der in Bristol vor Anker liegenden Hispanola geht, wird die Muskatnussbäume einer karibischen Insel wohl kaum aus dem Stand zu identifizieren wissen. Darüber hinaus ist Hawkins ein bemerkenswert unhysterischer Erzähler. Nachdem sich die Schatzsucher im Fort verschanzt haben, wird dieses von den Meuterern angegriffen.

Es kommt zu einer wilden Schießerei. Das Stöhnen der Verwundeten in den eigenen Reihen finden Hawkins und der die Expedition finanzierende Gutsherr Trelawney zwar schon verstörend, aber der Bodycount wird dann doch recht trocken rapportiert: „Von den acht Mann, die im Kampf gefallen waren, atmeten nur noch drei – der eine Pirat, der an der Schießscharte niedergeschossen worden war, Hunter und Kapitän Smollett. Und von diesen waren die beiden Ersteren so gut wie tot.“

„Wenn es so was wie ’nen Autor gibt, dann bin ich seine Lieblingsfigur“ Silver zu Smollett

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affektiver Wärme, und John Silver, der nicht nur den im eigenen Enthusiasmus schmurgelnden Trelawney, sondern auch den hyperkontrollierten Livesey einzuwickeln vermag, wird durch Jims ungeplanten Lauschangriff im Apfelfass dann eben sehr schnell enttarnt. Aber was für ein prächtiger Schurke dieser Long

Die ultimative Bubengeschichte, die „Die

Schatzinsel“ darstellt, ist so etwas wie eine Coming-of-Age-Story, die weitgehend ohne Psychologie auskommt: Sind die Eltern erst einmal aus dem Weg geräumt, herrscht nur noch die fantastische Pragmatik des Abenteuers. Das Glück des Zufalls steht dem Buben bei, sogar die Gestirne und Elemente zeigen sich auf einmal von ihrer gütigen Seite und liefern Nebel und Vollmond, wann immer dergleichen vonnöten ist. Selbst das Meer verzichtet darauf, den in einem windschiefen Korakel dahinschippernden Jim zu vernichten und lässt diesen stattdessen – in den fulminanten Kapiteln 23 und 24 – ­einen Crashkurs in Nautik und Strömungslehre angedeihen. Psychologisch betrachtet würden sich Jim zwei Ersatzväter anbieten. Keine der Möglichkeiten wird ergriffen. Doktor Livesey, der mit kalter Noblesse dem hippokratischen Ethos folgt, mangelt es ein wenig an

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Robert Louis Stevenson. Die Schatzinsel. Roman. Herausgegeben und über­setzt von Andreas Nohl. Mit zwei Lesebändchen. Hanser, 384 S., € 28,70

John Silver doch ist! Er ist der wahre Held der „Schatzinsel“ – und er weiß es. „Wenn es so was wie ’nen Autor gibt“, lässt Stevenson ihn in einem Dialog mit dem zutiefst anständigen, aber auch ein bissl faden Kapitän Smollett prä-poststrukturalistisch daherschwadronieren, „dann bin ich seine Lieblingsfigur.“ Da hat er fraglos recht. Denn welcher Leser vermöchte sich dem Charme dieses windigen Opportunisten zu entziehen? Er ist hochintelligent und doch kein Eiszapfen (Jim mag er wohl wirklich). Er ist belesen und kultiviert und hat – im Unterschied zu Jack Londons Seewolf – seine Affekte weitgehend unter Kontrolle. Anders gesagt: John Silver verpasst der Piraterie in etwa jenen Modernisierungsschub, den Stringer Bell in „The Wire“ dem Drogenhandel injiziert. Unter dem Diktat des ökonomischen Kalküls wird auf das unmittelbare Ausleben der eigenen Affekte und instantane Triebbefriedigung verzichtet. O-Ton Silver: „Heutzutage läuft’s mit dem Sparen besser als mit dem Verdienen, darauf kannst du Gift nehmen.“ K L A U S N Ü C H T E R N

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liter atur

Die Verlockungen des blauen Horizonts Zwei herrliche Abenteuerromane von Henry de Monfreid und Richard Hughes sind zu entdecken

Dass einer ein so unverdrossenes Vergnügen an

der Tollkühnheit hat, sich wie ein ­Odysseus des Roten Meeres listenreich aus Piraten­ angriffen, gestellten Fallen, Verfolgungs­ jagden auf hoher See und tückischen Un­ tiefen befreit und dabei auch noch welt­ gewandt, kenntnisreich und begabt ge­ nug ist, aus dem Erlebten herzzerreißend schöne und pulsbeschleunigend spannende

„Orkan über Jamaika“ ist eine ganz andere Geschichte. Piraten und das Meer spielen auch hier eine Hauptrolle, dazu aber vor allem eine Horde Kinder, ganz besonders ein zehnjähriges Mädchen namens Emi­ ly. Die Geschichte, die Richard Hughes (1900–1976) erzählt, bezieht ihren großen Reiz daraus, dass eine vermeintlich klassi­ sche Seeräubergeschichte komplett gegen den Strich gebürstet wird.

Literatur zu machen, stimmt einen unge­ heuer heiter. „Die Geheimnisse des Roten Meeres“ ist ein fantastisches Buch, das einem – wie der Wind auf See, von dem darin so oft die Rede ist – den Kopf frei bläst. Da schreibt

„Die Piraten sind nicht bloß blutrünstig und böse, die Kinder nicht nur deren unschuldige Opfer“

Nichts ist hier so, wie es sein soll: Die Piraten

ein Mensch, der Lust hat, sich selbst zu erproben, der lernwillig, neugierig und frei von Autoritätshörigkeit ist und angesichts von Gefahr nicht mit Zaudern, sondern mit kalkulierter Kaltblütigkeit reagiert. Monfreid ist eine herrliche Abwechslung zu

dem Übermaß an Befindlichkeitsliteratur, mit der man es dieser Tage zu tun hat. Viel­ leicht macht auch das exotische Setting ganz einfach Spaß. Prall gefüllt mit genialen Por­ träts, Gesprächsszenen, Landschaftsbildern und mit kühnen Segelmanövern, bei denen einem fast das Herz stehenbleibt. Es geht darin auch um den Hochseil­ akt, als Europäer in einer waffentragenden zähen Männergesellschaft aus Herren und Sklaven nicht als Kolonialist aufzutreten, sondern als einer, der Respekt verdient, weil er genauso gut segeln und feilschen, kämp­ fen und verhandeln, schweigen und tricksen kann. Es ist zweifellos ein bizarres Bündel an Fähigkeiten, das da verlangt wird: Reue zu zeigen und Fragen zu stellen sind Unar­ ten, hingegen ist es ratsam, auf der Flucht vor dem Patrouillenboot des Zolls das ei­ gene Schiff zu versenken. Ja, es ist eine Welt mit anderen Re­ geln, in die man bei Monfreid eintaucht. Und nichts tut man lieber. Natürlich wird es noch einmal besser dadurch, dass man weiß, dass das meiste davon tatsächlich so oder so ähnlich passiert ist.

Henry de Monfreid: Die Geheimnisse des Roten Meeres. Übersetzt von Gerhard Meier. Unionsverlag, 304 S., € 20,50

Richard Hughes: Orkan über Jamaika. Übersetzt von Michael Walter. Dörlemann, 256 S., € 20,50

sind nicht bloß blutrünstig und böse, die Kinder, die ihnen auf der Überfahrt von Ja­ maika nach England noch in karibischen Gewässern – eher durch ein Missverständ­ nis – in die Hände fallen, sind nicht nur deren unschuldige, verzagte Opfer. Dazu kommt: Das Letzte, womit man in einem Buch rechnet, in dem es um Tropenstür­ me, Schmugglernester und das Leben an Bord eines Piratenschiffs geht, ist die hal­ luzinatorisch genau beschriebene Innenan­ sicht der pubertären Anwandlungen eines zehnjährigen Mädchens. Genau das findet sich aber auch in „Or­ kan über Jamaika“. Emilys ahnungsvolle, halb ratlose Beobachtungen und die Mo­ mente, in denen sie sich auf der Schwelle zwischen Kindheit und Eintritt ins Erwach­ senenalter erstmals ihrer selbst bewusst wird, sind ein wesentliches Spannungsele­ ment dieses wunderbaren Romans: Richard Hughes ist eindeutig der Psychologe unter den Abenteuer-Romanciers. Ein zweites Schwungrad des Buchs stellt das Motiv der Rekonstruktion von Erin­ nerung dar. Das ist gerade angesichts ei­ nes Personals, das sich vorrangig aus Pira­ ten und Kindern zusammensetzt und also zwei Gruppen angehört, auf die der klare Blick durch besonders starre Klischees ver­ stellt wird, sehr ergiebig und findet seinen Höhepunkt in doppelbödigen Sätzen wie: „Woher sollten sie, Kinder, besser wissen als die Erwachsenen, was sie erlebt hatten?“ In aller Unschuld werden hier Leben ruiniert und Schicksale neu geschrieben, dass einem angst und bange wird. JULIA KOSPACH

illustr ation: georg feierfeil

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ie beiden Bücher erschienen im Ab­ stand von nur drei Jahren, das eine 1928, das andere 1931. Sie waren beide die ersten Romane der so offensicht­ lich begnadeten Autoren Richard Hughes und Henry de Monfreid und machten sie gleichermaßen auf einen Schlag berühmt – den einen in England, den anderen in Frankreich. Jetzt kann man sie endlich auch auf Deutsch lesen, ein Umstand, den man als Glücksfall bezeichnen muss. Henry de Monfreid (1879–1974) schrieb, von Freunden gedrängt, mit „Die Geheimnisse des Roten Meeres“ den ers­ ten Band seiner autobiografischen Aben­ teuer. Dutzende weiterer Bücher aus sei­ ner Feder folgten und bescherten den Fran­ zosen ihre ganz eigene farbenprächtige Abenteuerliteratur. Monfreid erzählt vom Leben auf dem Meer zwischen den Küsten der Arabi­ schen Halbinsel und dem Horn von Afri­ ka, „dieses vulkangespickte, lavabedeckte, windumtoste höllische Land“ voller Pira­ ten, Sklaven, afrikanischer Seeleute, arabi­ scher Sheiks und hartgesottener Draufgän­ ger wie Monfreid selbst. Die entlegenen, rauen Weltgegenden, in denen man überlebensgroße Figuren wie Henry de Monfreid noch unterbringen könnte, sind seither rar geworden. Der jun­ ge Franzose aus gutem Haus, der als todun­ glücklicher Angestellter einer Handelsfirma erst in Abessinien landete und sich schließ­ lich, knapp vor Ausbruch des Ersten Welt­ kriegs, in Dschibuti niederließ, um von dort aus „der Verlockung des blauen Horizonts“ zu erliegen, erprobte seinen Freiheitsdrang mit vollem Körpereinsatz und hoch entwi­ ckelter Beobachtungsgabe.



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liter atur

Das Goldbrassenhafte der Thailänderin Da muss man durch: unveröffentlichte Reisenotizen des großen Schweizer Reiseschriftstellers Nicolas Bouvier (1929–1998) s gibt ein schönes Schwarzweißfoto von Nicolas Bouvier aus dem Jahr E 1954. Es zeigt ihn als 25-Jährigen in Tehe-

ran. Er sitzt, nur mit einer weißen Unterhose bekleidet, auf einem sonnenbeschienenen Fliesenboden vor ein Ziegelwand, hat eine Zigarette im Mundwinkel und hackt mit gebeugtem Kopf auf eine kleine Reiseschreibmaschine ein, die zwischen seinen locker angewinkelten Beinen steht. Er wirkt wie der Poster-Boy der Reiseschriftstellerei: gut aussehend, muskulös, ernsthaft und kühn. Unterwegs war Bouvier damals auf jener zweijährigen Reise, die ihn und einen Freund in einem Fiat Topolino vom heimatlichen Genf über den Balkan, die Türkei, Persien und Pakistan bis Afghanistan und schließlich, allein, weiter zu einem durch Malaria zwangsverlängerten Aufenthalt auf Ceylon führte. Aus dieser abenteuerlichen Fahrt entstand Anfang der 1960er-Jahre das legendäre erste Reisebuch des Französisch-Schweizers: „Die Erfahrung der Welt“. Bouvier fotografierte und er schrieb so bemer-

kenswerte Sätze wie: „Man spricht wenig, die verschiedenen turkmenischen Dialekte sind einfache Sprachen. Denken tun eher die Pferde.“ Auch gut 30 Jahre später – Bouvier war längst eine große Nummer unter den Reiseschriftstellern des 20. Jahrhunderts – konnte man solche abgebrühten Bemerkungen jederzeit von ihm haben:

„Man stellt sich nicht vor, an welches entsetzliche Mass an Platz, Langweile, Bier die Leute hier gewöhnt sind“, notierte er 1991 angesichts einer Kanada-Durchquerung per Zug. Dabei werden Bouviers Reiseberichte meistens vor allem für ihre Poesie gerühmt. Sie kommen freilich ganz ohne barocken Ballast aus: „Hier braucht es superleichtes Gepäck und ein, zwei festverankerte Ideen – denn das Land schwimmt, die Stadt schwimmt, nachts ist es wie ein Fluss, auf dem die Karren mit den Karbidlampen und die auf einer ausgebreiteten Zeitung schlafenden armen Schlucker wie Gemüseabfälle auf grossen dunklen Fluten treiben“, schrieb er 1970 über Jakarta.

Was ist „plump, hässlich, aber nicht bösartig?“ Antwort Bouvier: ein belgischer Student

Wirkliche Schönheit aber erlangen diese Be-

richte erst durch Bouviers todsicheren Blick für plastische Details, durch dessen Fähigkeit, mit zwei, drei Sätzen auch die fremdartigsten Szenen und Landschaften vorm inneren Auge bildhaft werden zu lassen und durch die Durchmischung all dieser Eleganz mit Sätzen von unverblümter, trockener Matter-of-Factness. Belgische Studenten? „Plump und hässlich, aber nicht bösartig.“ Thailänderinnen? „Lange, schöne Beine, grosse, überraschte Augen und erinnern ein wenig an Goldbrassen, die man soeben aus dem Wasser gezogen hat.“ All diese Sätze stammen aus dem Band „Es wird kein Bleiben geben“, in dem „Un-

Nicolas Bouvier: Es wird kein Bleiben geben. Unveröffentlichte Reisenotizen. Übersetzt von Yla M. von Dach. Lenos, 193 S., € 20,50

veröffentlichte Reisenotizen“ von Bouvier aus sechs Jahrzehnten zusammengefasst, geordnet und unter Zugabe von zahlreichen erklärenden Fußnoten ediert sind. Von Bouvier selbst waren sie nicht für die Veröffentlichung gedacht. Verlage, Erben und Bouvier-Forscher haben anders entschieden. Kann man verstehen. Die Lektüre dieser Notizen ist ein nicht unbe-

trächtliches, allerdings auch ziemlich zwiespältiges Vergnügen und richtig fruchtbar wohl nur für eingefleischte Bouvier-Forscher. Es stimmt: Anhand dieser Aufzeichnungen lässt sich Bouvier über Jahrzehnte begleiten: von einer Belgien- und Dänemarkreise im Jahr 1948 über Frankreich und Nordafrika in den 1950ern, Indonesien 1970, China 1986 und Kanada und Neuseeland Anfang der 1990er-Jahre. Es ist alles da, was man an Bouvier bewundert. Aber man muss es sich unter viel Nebensächlichem, schnell hingeworfenem Terminkalenderstakkato herausklauben: „Froh, um 16 Uhr wieder im Hotel zu sein. Gebadet. Karten und Briefe geschrieben. Absolut keine Lust, im Bus in diese Stadt zurückzufahren, die mir nicht gefällt.“ Da muss man wohl durch. Bouvier ist immer noch Bouvier, der große, beglückende Reisedichter, auch dann, wenn er sich 1992 im Mietauto auf einer langen, schwarzen Überlandstraße in Neuseeland selbst fragt: „Was suchst du hier, in deinem Alter, am Arsch der Welt?“ J U L I A K O S P A C H

Der Rechtsanwalt mit der Clownsnase in der Lade In „Niemand“ geht die Schriftstellerin und Philosophin Gwenaëlle Aubry die Wege ihres psychisch kranken Vaters nach ch habe einen Vater gehabt. Dieser VaIganzes ter war weder ein Held, obwohl er sein Leben hindurch mit dem Schatten

in ihm gekämpft hat, noch ein gewöhnlicher Mann. Aber er hat mir eine heroische Welt hinterlassen, eine unendliche und labile, undurchschaubare und wimmelnde Welt voll mit Fallgruben und Kulissen, mit Rändern und Fluchtlinien, auch mit Monstern und Gespenstern (…), und mit dieser Welt den Wunsch, sie abzuschreiten und in Sprache zu fassen.“ In der letzten Wohnung ihres Vaters fand Gwenaëlle Aubry nach dessen Tod ein Manuskript mit dem Titel „Das melancholische schwarze Schaf “ mit Notizen und ungeordneten Erinnerungen – und versehen mit dem Vermerk „Einen Roman daraus machen“. Die französische Autorin konnte nicht anders, als darin einen Auftrag zu sehen. Und so geht sie in „Niemand“ die Wege ihres Vaters nach, der schon vor seinem Ableben nach und nach aus der Welt entschwunden war: „Am Ende seines Lebens wollte mein Vater nichts sein.“ Als manisch-depressiver Psychotiker hatte der

Mann im Laufe seines etwas mehr als 60 Jahre umfassenden Lebens zuvor viele Rollen eingenommen, Kostüme, Masken und Personen ausprobiert. Seine Tochter, die neben Romanen auch ausgiebig über die Antike geschrieben und sich mit Hermann Broch befasst hat, konnte und wollte dieses Leben nicht in eine chronologisch verlau-

fende Erzählung pressen. Stattdessen hat sie sich für ihr Vater-Projekt an der Ordnung des Alphabets orientiert und 26 Facetten herausgearbeitet – von „Antonin Artaud“ (der Dichter und der Wahn) bis „Zelig“ („er ist auf der Flucht, immer auf der Flucht“). François-Xavier Aubry hatte, wie man so sagt, die besten Startvoraussetzungen. Er entstammte einer gutbürgerlichen Familie, in der in jeder Situation das Gesicht oder zumindest der Schein gewahrt wurde. Man war schließlich wer, sowohl der Vater als auch der Großvater gingen dem Beruf des Arztes nach. Der Ende 1945 geborene Spross folgte dieser Tradition nicht, wurde aber immerhin Anwalt und Professor an der Universität. Er wollte von seiner Familie akzeptiert werden, dabei hätte er seine Zeit lieber anders verbracht – als Clown etwa: „In einem hübschen kleinen Wohnwagen von Stadt zu Stadt ziehen, die Kinder zum Lachen bringen und bis zum nächsten Morgen durchschlafen“, schreibt der Vater in seinen Notizen. „Aber das ist ein Phantasma, ich weiß es, auch wenn ich früher als Rechtsanwalt in einer Schublade meines Schreibtischs eine Clownsnase aufbewahrt habe (…).“ Herausgeholt hat er sie nie. „Wer weiß“, fragt sich die Tochter, „ob ihn diese Clownsnase, hätte er sie einmal getragen, nicht doch gerettet hätte?“ So aber brach immer wieder der Wahn durch, und der Vater verlegte sich auf kur-

„Mein Vater war immer nur fünf Jahre alt. Am Ende seines Lebens wollte mein Vater nichts sein“ Gwenaëlle Aubry

ze Fluchten aus dem bürgerlichen Alltag: barfuß durch Paris wandernd, sich in den Vorstädten verlierend, in Lokalen unablässig Runden schmeißend oder den orientalischen Märchen seiner Kindheit hinterherträumend: „Ich habe oft die Salons der großen Pariser Hotels aufgesucht, um die arabischen Geschäftsmänner zu sehen in der Hoffnung, dass einer von ihnen mich dort hinunter mitnimmt, in das Weiß des Sandes.“ Kein alter König in seinem Exil war der Vater

Gwenaëlle Aubry: Niemand. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, 150 S., € 18,50

am Ende. Bei allem, was er unternahm, blieb er, wie die Tochter vermerkt, letztendlich ein kleines Kind: „Mein Vater war fünf Jahre alt. Mein Vater ist immer nur fünf Jahre alt gewesen.“ Insofern verwundert es nicht, dass er auch in späteren Jahren immer wieder die Nähe seiner Familie suchte, die ihn als schwarzes Schaf abgestempelt hatte, und schließlich sogar wieder bei seinem Vater einzog. „Niemand“ ist ein so berührendes, ach was, erschütterndes wie literarisch ansprechendes Porträt des Vaters als „Truppe der Masken“, „als sechsundzwanzig andere und mit dem entwischten Ich“. Und es verschweigt auch nicht, wie es der Tochter in all den Jahren ging. Sehr eindrücklich lässt sich nachvollziehen, wie stark die Angehörigen psychisch Kranker betroffen sind und wie auch ihnen die Normalität verwehrt bleibt. SEBASTIAN FASTHUBER


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Sex, Krieg und der Lunch mit Christine Mit dem Roman „Alles, was ist“ legt der 88jährige US-Schrifttsller James Salter ein geglücktes Alterswerk vor

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ach mehr als drei Jahrzehnten legt James Salter, heute 88-jährig, seinen sechsten Roman vor. Im deutschen Sprachraum erlangte der Autor einige Berühmtheit, als sein meisterhaftes, im Original 1975 erschienenes Buch „Light ­Years“ („Lichtjahre“) mit über zwanzig Jahre währender Verzögerung übersetzt wurde. Die Chronik einer scheiternden Ehe, in ­sezierender Sprache erzählt, machte ihn bekannt. Es folgten unter anderem Übertragungen seiner fulminanten Kurzgeschichten, seines nicht ganz so guten, scharf am Pornografischen entlang schrammenden „A Sport and a Pastime“ und seiner beeindruckenden Autobiografie „Burning the Days“. Salter hat eine höchst bewegte Biografie. Bevor er sich dem Schreiben zuwandte, trat er 1945 für zwölf Jahre in die amerikanischen Luftstreitkräfte ein und flog unter anderem Einsätze im Koreakrieg. Niemand kann über das einsame Fliegen in einem Kampfjet schreiben wie er. Später verfasste Salter – schlicht um Geld zu verdienen – Drehbücher für Filme mit Robert Redford oder Omar Sharif. Seine Welt sollte dieses Milieu freilich nie werden. Im Unterschied zum Autor führt dessen jüngs-

ter Held ein eher beschauliches Leben. Philip Bowman erlebt wohl als junger Mann den Kampfeinsatz gegen Japan, nach dem Weltkrieg und einem Studium in Harvard arbeitet er dann, meist als Lektor, am Rande des literarischen Lebens der amerikanischen Ostküste – mit gelegentlichen Ausflügen nach Europa. Er heiratet Vivian, die der Oberschicht aus dem Süden entstammt, die nicht unerwartbare Trennung erfolgt ebenso unspektakulär wie die Hochzeit: „Ich gehöre wirklich nicht in deine Welt, und ich glaube nicht, dass du in meine gehörst. Ich denke einfach, es wäre besser, ich kehre dahin zurück, wo ich hingehöre“, schreibt Vivian zum Abschied.

Präzise charakterisiert Salter diese für Bowman stets fremd bleibende Community, deren Arroganz und Doppelmoral, aber auch deren latenten Antisemitismus und Rassismus, obwohl die politische Nachkriegsgeschichte der USA keine wesentliche Rolle spielt. „,Fliegst du noch?‘, fragte Eddie. ‚Oh, sicher. Ich starte jetzt von der Andrews Base.‘ ‚Wie man hört, habt ihr einen Schwarzen General im Air Corps‘, sagte Eddie. ‚Man sagt jetzt Air Force‘, sagte Travis. ‚Ich kenne nur Air Corps.‘ ‚Sie haben es umbenannt. Jetzt heißt es Air Force. ‘ ‚Habt ihr wirklich einen Negergeneral?‘“ Eddie und Travis sind zwei der zahllosen Nebenfiguren, derer sich Salter für sein kaleidoskopisches Erzählen bedient. Manche tauchen nur ganz kurz auf, andere gehen und kommen überraschend wieder. Häufig wird die Perspektive gewechselt, in plötzlicher Abfolge rücken die verschiedenen Personen in den Vordergrund, jedoch in der Regel nicht für besonders lange. Auf diese Weise entsteht ein sehr eigentümlicher, kalkulierter Rhythmus, in dem Dialoge von großer Banalität mit dramatischen Ereignissen und Erfahrungen abwechseln. Das gilt auch für die Welt der Literatur, in der sich Bowman bewegt. Zu den Ausnahmen zählt ein schönes Porträt des Verlegers Wiberg, hinter dem sich wohl der aus Wien gebürtige Lord Weidenfeld verbergen dürfte: „Er hatte in Frankreich mit dem Herzog und der Herzogin von Windsor diniert, ein sagenhaftes Protokoll, alle hatten anwesend zu sein, bevor das königliche Paar erschien. Und von Caterina, der früheren Tänzerin, war er ermuntert worden, dann und wann nach dem Theater ein kleines Essen zu geben, soirées, wie sie sie nannte, mit einem kalten Buffet aus Roastbeef und Paté auf dem Esstisch, sowie Gebäck und Wein bekannter Provenienz. Wenn sie alleine waren, nannte sie ihn ihren cochon. Im Bademantel war er ihr Falstaff oder Figaro, und sie hatte ein unwiderstehliches Lachen.“

„Er würde hingehen, wo alle hingegangen waren, und alles, was er je gekannt hatte, würde mit ihm gehen“ James Salter

Bowmans Berufsleben steht freilich eher im Hintergrund. Wichtiger sind seine Affären, die bereits während der Ehe beginnen. Besonders angetan hat es ihm Christine, die Frau eines Griechen: „Sie lag neben ihm, die ersten Minuten neben ihm, wie ein Schwimmer in der Sonne. Er konnte ihre Nacktheit sehen, fast alles an ihr, im nahen Dunkel. Sie liebten sich sehr einfach, sehr direkt – sie sah zur Decke, er auf die Laken –, beinahe wie Schulkinder. Alles war still, nur der Verkehr war zu hören, fern und weitab und nicht einmal das. Die Stille war überall, und er kam wie ein trinkendes Pferd.“ Wie so oft bei Salter spielt Sex eine zentra-

James Salter: Alles, was ist. Roman. Übersetzt von Beatrice Howeg. Berlin, 368 S., € 23,70

le Rolle – auch als Chiffre für die herausragend intensiven Momente des Lebens. Dass der Autor dabei manchmal zu nicht gar überzeugenden Bildern greift, ist vielleicht die einzige Schwäche seiner Erzählkunst. Christine wird Bowman jedenfalls auf perfide Weise des gemeinsamen Hauses berauben. Seine Rache wird freilich grausam sein. Bowmans Leben – das signalisiert bereits der Titel des Romans – ist im Grunde sehr gewöhnlich. Frauen kommen und gehen, Freunden begegnet man, verliert sie wieder, Wohnsitze wechseln, der Job ist ganz interessant. Das Alltägliche wird allenfalls dann und wann für kurze Zeit unterbrochen. Das ist alles. Lakonisch lässt Salter seinen Helden am Ende an den Tod denken. „Er würde hingehen, wo alle hingegangen waren, und – es war schwer zu glauben – alles, was er je gekannt hatte, würde mit ihm gehen, der Krieg, … der Lunch mit Christine, … Namen, Häuser, das Meer, alles, was er gekannt hatte, und auch Dinge, die er nicht gekannt hatte, die aber trotzdem da waren, Dinge seiner Zeit, all die Jahre.“ Davor soll aber mit der neuen Freundin noch nach Venedig gefahren werden. „Es wird großartig werden.“ K ARL DUFFEK


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liter atur

Der diskrete Charme des Ostküsten-Adels Louis Begley macht einfach weiter. Und das ist gut so, wie sein entspannter Roman „Erinnerungen an eine Ehe“ beweist m hohen Alter sieht sich der Mann im Allgemeinen und der Schriftsteller im ISpeziellen mit nachlassenden Kräften konfrontiert. Manch einer, man denke an Philip Roth, schreibt Beruf und Berufung dann ganz ab. Mancher macht noch ein bisschen weiter – mit begrenzter Verve, mit entspannt-lapidarer Lässigkeit. Louis Begley hat nach langen Jahrzehnten als

erfolgreicher Anwalt in New York erst spät mit dem Schreiben begonnen. Als er 1991 mit dem autobiografischen Roman „Lügen in Zeiten des Krieges“ debütierte, war er bereits 58 Jahre alt. Danach hat sich der in Polen geborene und von den Nazis verfolgte Jude immer wieder zu europäischen Schauplätzen hingezogen gefühlt, die schon zu den Sehnsuchtsorten amerikanischer Reisender gehörten, als der Kontinent noch überwiegend monarchisch geprägt war: „Mistlers Abschied“ (1998) spielt in Venedig, „Wie Max es sah“ (1994) in einer Villa am Comer See. Nachdem zuletzt Begleys dritter Roman über den frühpensionierten Anwalt Schmidt erschienen war, erzählt der mittlerweile 79-jährige Autor in „Erinnerungen an eine Ehe“ von einem erfolgreichen Schriftsteller im letzten Lebensabschnitt, der aus Europa nach New York zurückkehrt. Nach langen Jahren in Paris – wohl über eineinhalb Jahrhunderte so etwas wie die Auslandsmetropole künstlernder Amerikaner – will Philip, so sein Name, in New York den Verlust sei-

ner geliebten Frau verkraften, die schon auf der sechsten Seite an Leukämie stirbt. Philip besucht zur Zerstreuung eine – enttäuschende – Aufführung der New York City Ballet Compagnie. Als er in der Pause an die Bar geht, um einen Whiskey zu trinken, trifft er auf eine alte Bekannte aus längst vergangenen Pariser Tagen, Lucy De Bourgh Snow. Ende der 60er-Jahre hatte er die aus ältestem Ostküsten-Adel stammende Lebefrau erstmals kennen und für eine Nacht auch lieben gelernt. Lucy, die „fickt wie eine Mänade“, und der Icherzähler, ein „mittelmäßiger Liebhaber“, dem es „an Talent und Stehvermögen“ fehlt: Die Vereinigung sollte eine einmalige bleiben.

Louis Begley ist heuer Gast bei der Literatur im Nebel 18. & 19.10., Heidenreichstein Details: www.literaturimnebel.at

Für ihr Alter (Anfang 70) immer noch „erstaun-

lich gut aussehend“, trägt Lucy jedoch schwer an der Hinterlassenschaft ihrer gescheiterten Ehe mit dem erfolgreichen Investmentbanker Thomas Snow. Hass und Häme für ihren mittlerweile verstorbenen Ex-Mann haben die einst lebenslustige Frau in ein – immerhin relativ begütertes – Monument der Verbitterung verwandelt. Philip muss an die Zeiten in Paris denken, und bei einem Dinner in Lucys großzügig dimensionierter Park-AvenueWohnung werden seine Erinnerungen unter Einnahme kalter Speisen und zahlloser Drinks wieder aufgefrischt. Philip ist verblüfft von der Verwandlung der einstigen Belle de la nuit, und weniger als ehemaliger Freund denn als Romanci-

Louis Begley: Erinnerungen an eine Ehe. Roman. Deutsch von Christa Krüger. Suhrkamp, 222 S., € 20,60

er beginnt er sich für Lucys Fall zu interessieren. Neben ausführlichen Gesprächen in einem französischen Restaurant (das kalte Huhn vom Deli möchte sich Philip nur ungern noch einmal antun) trifft er kapitelweise ehemalige Bekannte, die ihm die Ereignisse der letzten Jahrzehnte aus ihrer Perspektive schildern sollen: die erfolgreiche Fernsehjournalistin Jane, zweite Ehefrau des Ex-Manns von Lucy; Alex van Buren, einen langjährigen Bekannten der beiden, und Jamie, den Sohn von Lucy und Thomas. Als stil- und stimmungsvolle Kulisse für die-

se Hintergrundgespräche dient das Habitat der alten New Yorker High Society: neben besagter Park-Avenue-Wohnung noch vornehme Clubs und reihenweise Häuser in den Hamptons. Für seine Tour der Erinnerungen bedient sich Begley oft eines verblüffend einfachen Tons. Absätze werden mit simplen Hauptsatzfolgen eröffnet – „Irgendwann vor dem Sommer traf ich Lucy auf einem Empfang der britischen Botschaft. Es war ein schöner milder Abend“ – und auch wieder mit solchen beendet: „Er liebt mich wirklich, antwortete sie. Ich denke, er braucht mich. Vielleicht brauche ich ihn auch.“ Der Geschichte aber ist das nicht abträglich, sie verströmt den diskreten Charme der Nonchalance. Auch Philip Roth hätte eigentlich ruhig noch ein bisschen weitermachen können. STEFAN ENDER

So bleibst du dir treu. Und so vergeigst du es Junot Diaz schickt sein Alter Ego in Beziehungskrise und Midlife-Crisis. Folgen möchte man ihm dorthin nur bedingt unior ist wieder da. Junot Diaz hat die Y Figur, zu der er sich teilweise durch die eigene Biografie inspirieren ließ, schon frü-

her eingeführt. Sein Debüt, der gefeierte Erzählband „Abtauchen“, handelt von Yuniors Aufwachsen zwischen der Dominikanischen Republik und den USA. Und wie zuvor schon im Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ tritt Yunior nun in Diaz’ jüngstem Buch wieder als Erzähler, Gegenstand und mitunter sogar Adressat der Erzählung auf. Auch die Sprache und die Erzähltechnik von „Und so verlierst du sie“ hat der Autor schon in „Abtauchen“ erfolgreich erprobt: Die einzelnen Erzählungen sind lose miteinander verbunden, die Figuren treten wiederholt auf. Auf diese Weise wird Spannung erzeugt, weil jede Geschichte eine neue Situation herstellt, die erst nach und nach preisgibt, ob und inwieweit sie sich auf bisher Gelesenes bezieht: Yunior ist einmal noch sehr jung, dann wieder erwachsen. Yunior verschwindet und scheint doch präsent

zu sein, selbst wenn er gar nicht vorkommt. Allerdings scheint Yunior diesmal auf seltsame Weise indisponiert. Vielleicht eine frühe Midlife-Crisis oder einfach ein temporäres Formtief. An das, was Diaz in „Abtauchen“ schon geleistet hat, kommen die meisten seiner jüngsten Erzählungen jedenfalls nicht heran, und das hat auch mit dem zu tun, was hier größtenteils verhandelt wird: Yunior

hat seine Freundin betrogen; sie fliegt zwar noch einmal mit ihm in die Dominikanische Republik, verlässt ihn aber dann; Yunior hat seine Freundin betrogen und ihr – mit Beweisen konfrontiert – eine dermaßen blöde Lüge erzählt, dass sie ihn verlassen hat; Yunior hat seine Freundin betrogen, und zwar mit 50 verschiedenen Frauen, was sie ihm nicht verzeiht, worüber er seinerseits nicht hinwegkommt (dann aber doch).

Das ,,Du“ ist hier ein „Du weißt schon“ – Signal für ein Gespräch unter Männern, aus dem zu erfahren ist, dass Männer fremdgehen und sich dann schlecht fühlen

Das ist zu viel von zu wenig, und das fällt

schließlich auch auf Diaz’ Technik zurück: Die Sprache, der Slang mit dem hohen Spanischanteil, der in den früheren Büchern selbstverständlicher wirkt, weil er auf den Ort verweist, an dem die Geschichten spielen, wirkt hier oft nur aufgesetzt. Und das „Du“, das in „Abtauchen“ manchmal wirklich atemberaubende Momente der Nähe zum Erzählten erzeugen konnte, bekommt hier ebenfalls eine andere Funktion: „Deine Freundin erwischt dich beim Fremdgehen“ – so beginnt die letzte Erzählung mit dem Titel „Liebe für Fremdgänger“. Das „Du“ ist hier ein „Du weißt schon“ – das Signal für ein Gespräch unter Männern, das Yunior mit sich selbst führt und aus dem kaum etwas anderes zu erfahren ist, als dass Männer fremdgehen, sich dann schlecht und schuldig fühlen, bereuen, ihre mamí zurückhaben wollen, sich aber irgendwann mithilfe verschiedener Strategien – Alkohol, Sport, Arbeit, ande-

Junot Diaz: Und so verlierst du sie. Übersetzt von Eva Kemper. S. Fischer, 272 S., € 17,50

re Frauen – wieder beruhigen und etwas Neues anfangen: „weil du in deinem verlogenen Fremdgängerherzen weißt, dass wir manchmal nicht mehr bekommen als einen Anfang“. Wenn es das ist, was die New York Times meinte,

als sie Junot Diaz als „streetwise“ bezeichnete, dann ist die Straße auch nicht mehr das, was sie einmal war. Besser wird es, wenn Yunior sich zurückzieht. Die Erzählung „Otravida, Otravez“ ist aus der Perspektive einer Dominikanerin in den USA geschrieben: Yasmin ist seit fünf Jahren im Land und arbeitet in der Wäscherei eines Krankenhauses. Als es ihrem Partner Ramón endlich gelingt, ein Haus für sie beide zu kaufen, ist das für Yasmin kein Grund zur Begeisterung. Ramón hat in Santo Domingo noch Frau und Kinder, was nicht ungewöhnlich ist, aber dennoch eine latente Bedrohung darstellt. Die Beziehung zwischen den beiden ist nicht sonderlich liebevoll, sondern bloß das, was möglich ist – ähnlich dem neuen Haus: ein „neues Leben“ (otra vida), aber eben nur „wieder einmal“ (otra vez). Hier wird unaufgeregt über ein Leben ohne Illusionen erzählt, und das funktioniert besser als alles, was Yunior zu bieten hat. Vielleicht gönnt Junot Diaz seinem Helden ja einfach einmal ein paar Jahre Pause. NIKOL AUS STENIT ZER


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Und was will uns der Autor damit sagen? Frustrierend und spannend zugleich: J. M. Coetzees „Die Kindheit Jesu“ gibt zahlreiche Rätsel auf

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on der Kindheit Jesu ist nicht viel überliefert. Dem Matthäus-Evangelium zufolge floh seine Familie nach Ägypten, als Jesus ein Jahr alt war und kehrte einige Zeit später nach Israel zurück. Mit zwölf Jahren, so berichtet Lukas, pilgerte Jesus mit seinen Eltern nach Jerusalem zum Osterfest. Als seine Eltern wieder abreisen wollen, ist Jesus verschwunden. Drei Tage später finden sie ihn im Tempel: „Er saß mitten unter den Lehrern und hörte ihnen zu und stellte Fragen.“ Von seinen Eltern zur Rede gestellt, erwidert Jesus: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?“ Bei Markus findet man dann noch den Hinweis, Jesus sei wie sein Vater Zimmermann gewesen. Das ist alles. Die Kindheit des historischen Jesus ist dem­-

nach kein „Stoff “, sondern eher eine ­Lücke darin, die man mit Spekulationen füllen kann. Oder man erzählt eine Geschichte, die auch von Flucht, Vertreibung, einem nicht-leiblichen Vater und einem wunder­ samen, ja vielleicht irgendwie göttlichen Kind erzählt und nennt sie „Die Kindheit Jesu“. J. M. Coetzee hat davon gesprochen, dass er den Titel seines neuen Romans gern bis zur letzten Seite verheimlicht hätte; aber so etwas lasse ja die Buchbranche nicht zu, die Titel gern auf der Vorderseite sieht. Weil nun also der Titel wie üblich vor dem Roman steht, kommt man nicht umhin, den folgenden Roman als dessen wie auch immer rätsel- oder gleichnishafte Einlösung zu lesen. Coetzee habe, so hieß es in ersten Kritiken, eine Parabel geschrieben, oder eine Allegorie. Aber eine Allegorie worauf ? Vom Titel abgesehen und der Konfusion, die Coetzee willentlich durch ihn ­verur­sacht, ist an diesem Roman im Grunde alles fast zu klar, zu karg und einfach – und zugleich so überaus bizarr, wie man es

nicht mal vom späten Coetzee gewohnt war. Ein Mann und ein Junge, der nicht sein Sohn ist, kommen nach einer schwierigen Überfahrt in einem neuen Land an, in dem spanisch gesprochen wird. Der Empfang ist bürokratisch, aber korrekt, die Menschen sind hilfsbereit, jedoch reserviert, die Volksbildung steht hoch im Kurs, es gibt Abendschulen, in denen sich die Arbeiter treffen und über Philosophie sprechen. Der Mann, Simón, nimmt einen Job als Schauermann im Hafen an. Es gibt nichts Gescheites zu essen in Novilla, nur Brot und Obst. Im Hafen trifft er auf Kollegen, die ihn gut behandeln. Simón sehnt sich nach Liebe, aber die Frauen, denen er begegnet, wollen von körperlicher Nähe nichts wissen. Die Menschen in dieser sonderbaren südlichen Erziehungsdiktatur sind „blutleer“, sagt Simón, sie verstehen nichts von Begierden und Verlangen. Dieses neue Land ist kein Utopia und auch kein Dystopia, es nimmt einfach keine Gestalt an. Nichts deutet auf die kleinste Lebensfreude hin, ebenso wenig aber auf ungestillte Bedürfnisse. In einer wildfremden Frau erkennt Simón Davids Mutter, nicht die unbekannte leibliche, sondern die Frau, bei der David aufwachsen soll. Überraschenderweise willigt die Frau ein und nimmt das Kind zu sich.

Der Autor hätte den Titel seines neuen Romans gerne bis zur letzten Seite verheimlicht. Aber die Buchbranche lässt so was nicht zu

Man fragt sich natürlich, wie der Roman funkti-

Es gibt also eine regelrechte Handlung bei Co-

etzee, es geschieht sogar auf unterkühlte Weise jederzeit Ungeheuerliches. So komplex und manchmal frustrierend Coetzees Bücher einerseits sein mögen, so spannend sind sie andererseits. Daneben aber und ohne Rücksicht auf ungeduldige Leser wird in diesem „Roman“ (den der Autor selbst nicht so nennt) ohne Ende philosophiert, debattiert und manchmal auch nur schwadroniert. Man kennt das aus Coetzees später, der „australischen“ Werkperiode mit ihren Romanessays oder Essayromanen: Es geht um Fragen der Ethik, vor allem den Umgang

mit Tieren, es geht neuerdings sehr intensiv um Fragen der Erziehung, der Schule und des Lernens, es geht bei Coetzee außerdem viele Seiten lang um „Kacke“, ja um das „Kackhafte von Kacke“, oder da­rum, wie Simón seinem Ziehsohn in einem ihrer vielen Dialoge zu erklären versucht, dass „wir eine doppelte Natur haben“, insofern wir am Ideal wie an der Kacke Anteil haben. So wird bei Coetzee geredet: langatmig manchmal, umständlich, begriffsstutzig, verschroben, als schriebe da jemand, der sich wirklich alles leisten kann und auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen muss.

J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer, 352 S., € 22, 70 Das Buch erscheint am 23.10.

onieren würde, wenn er nicht „Die Kindheit Jesu“ hieße, sondern beispielsweise, wie ein früheres Coetzee-Buch, „A Boy“. Wir können nicht überlesen, dass uns der Autor mit diesem Titel „etwas sagen will“, zugleich nötigt uns der Titel zu einer Anstrengung (ist David Jesus, und wenn ja, warum?), die nur in Frustration enden kann. Wenn David Jesus „ist“, dann ist die Allegorie platt, wenn David nicht Jesus ist, dann legt der Titel eine falsche Fährte. Man stelle sich noch einmal vor, wie es wäre, wenn man diese ebenso lakonische wie metaphysisch befrachtete Flüchtlings-, Ankunfts- und Erziehungsgeschichte läse und dann, nach der Lektüre auf einmal mit dem Titel „Die Kindheit Jesu“ konfrontiert wäre. Dann würde das Erzählte erst retroaktiv allegorisch aufgeladen und – im Licht der Allegorie – umgehend eine neue Lektüre erfordern (die vielleicht keine neuen Gesichtspunkte ergäbe). Wäre es das Beste, sich um die Kindheit Jesu einfach nicht weiter zu kümmern? Aus dieser bohrenden Unzufriedenheit wird man von Coetzee nicht entlassen. Wie er es schafft, einen gleichzeitig auch noch aufs Äußerste zu fesseln, gehört zu den vielen Rätselfragen, mit denen uns „Die Kindheit Jesu“ allein lässt. CHRISTOPH BARTMANN

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Die Spionin, die aus dem Pfarrhaus kam Spannend, clever und sehr vergnüglich: Mit „Honig“ erfüllt Ian McEwan alle in ihn gesetzten Erwartungen

Serena ist die Tochter eines Bischofs, der in sei-

nem Beruf aufgeht, und einer Mutter, die hiezu auf äußerst kompetente Weise beiträgt, zugleich aber als Kryptofeministin der Auffassung ist, dass Serena als Frau gefälligst in Cambridge Mathematik studieren soll. „Als Frau? So sprach kein Mensch in jenen Tagen“; die Rede ist übrigens von den späten 60ern. Wie sich herausstellt, ist Serena allerdings nicht ganz so begabt wie angenommen, und es ist schließlich die Liebe zur Literatur, die ihr einen ersten Achtungserfolg einträgt: Mit ihrer unbekümmert-frechen Kolumne „Was ich letzte Woche gelesen habe“ bringt sie es unter ihren Kommilitonen zu einem gewissen Ansehen. Dieses verspielt sie zwar, sobald sich ihr bis dahin omnivorer Lesehunger auf „seriöse“ Literatur beschränkt, dafür gerät sie dank ihrer Präferenz für Solschenizyn und andere kommunismuskritische Autoren auf den Radar des MI5, der sie schließlich rekrutiert. Das Vorstellungsgespräch in der Great Marlborough Street verschafft ihr allerdings auch einen realistischen Vorgeschmack vom „Glamour-Faktor“ der geheimdienstlichen Tätigkeit, mit der sie zunächst betraut wird: „Ich wartete auf einem harten Stuhl, den mir eine Sekretärin mit einem

Ausdruck wortloser Missbilligung auf den Betonfußboden eines schummrigen Korridors hingestellt hatte. Ich war noch nie in einem so deprimierenden Gebäude gewesen.“ Ian McEwan ist kein Autor, der mit seiner Gescheitheit hinterm Berg hielte. Er ist allerdings auch fleißiger als viele seiner um nichts weniger eitlen Kollegen. Man mag es

zu sein. Und weil ihm sein Job an einer jungen Uni in Brighton kaum genug Zeit lässt, seine literarische Karriere zu verfolgen, akzeptiert er trotz anfänglicher Skepsis das nicht unbeträchtliche Stipendium der vom MI5 eingerichteten Tarnstiftung. Nicht geplant und definitiv suboptimal ist freilich, dass aus den beiden schnell ein Paar und aus Serena eine unfreiwillige Doppelagentin wird: Der Loyalitätskonflikt, in den sie gerät, lässt sich auch durch den Chablis nicht betäuben, den sie sich dank des Stipendiums nun leisten kann und auch in noblen Restaurants vergönnt.

„Serena soll dabei helfen, Linksintellektuelle von der marxistischen Perspektive wegzulocken“

Ein bisschen konservativ sind beide: die Pro-

für streberhaft halten, wenn er neuere Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psychiatrie, Neurobiologie oder Fotovoltaik in seine Romane einarbeitet. Der beträchtliche realienkundliche Aufwand trägt allerdings auch dazu bei, dass McEwans Bücher um vieles überraschender, interessanter und dichter sind als die tausenden Familien-, Generationen- und „Junger Mann hat Pech in der Liebe und trinkt zu viel“-Romane, die jedes Jahr erscheinen. Im vorliegenden Falle hat McEwan neben ei-

nem guten Dutzend anderer, ebenfalls im Anhang ausgewiesener Bücher vor allem Frances Stonor Saunders Studie „Who Paid the Piper?“ von 1999 (dt.: „Wer die Zeche zahlt“) gelesen, in dem sich die britische Journalistin und Historikerin mit der „Kulturpolitik“ der CIA während des Kalten Krieges auseinandersetzt. Serena soll nämlich dabei helfen, „europäische Linksintellektuelle von der marxistischen Perspektive wegzulocken und ein öffentliches Engagement für die freie Welt intellektuell salonfähig zu machen“. Als Leseratte hat sie einen guten Überblick über den zeitgenössischen Literaturbetrieb, und Thomas Haley, den sie schließlich vorschlägt, scheint der ideale Kandidat

Ian McEwan: Honig. Roman. Übersetzt von Werner Schmitz. Diogenes, 464 S., € 23,60

tagonistin ebenso wie der Autor, der ihr wohl einige seiner eigenen Ansichten in den Kopf gepackt hat. Die literarische Postmoderne von Pynchon abwärts ist Serena ein Graus, und der wohlfeile Pessimismus des post-apokalyptischen Kurzromans (der ein bisschen an Cormac McCarthys „Die Straße“ erinnert), mit der ihr Geliebter bald überraschenden Erfolg hat, ist ihr ähnlich zuwider wie das selbstgefällige Gelaber ihrer Hippie-Schwester, die sich ihre ­haschischumwölkte Sozialhilfeexistenz als gegenkulturellen Widerstand gegen die Normalos schönredet. „Meine Bedürfnisse waren schlicht“, umschreibt Serena einmal ihre Lektürepräferenzen. „Ich wollte Figuren, an die ich glauben konnte, ich wollte neugierig gemacht werden, wie es mit ihnen weiterging. Am liebsten las ich von Menschen, die sich veroder entliebten, aber es störte mich auch nicht, wenn sie sich zwischendurch mit anderen Dingen befassten.“ Auf gefinkelte Weise entspricht „Honig“ diesem Credo. Am Ende der Lektüre ist man zwar erschöpft von all den überraschenden Wendungen des Plots, aber dennoch gerührt von der (dann doch ein bissl postmodernen) Meta-Pointe, mit der der Autor seine vielschichtige Süßspeise krönt. Oder sagen wir es so: Serena Frome hätte das Buch, das sie selber erzählt, wohl gemocht – und diese Aussage ist alles andere als trivial. K L AUS NÜCHTERN

Illustr ation: georg feierfeil

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nsgesamt sind erste Sätze wohl überschätzt, und auf keinen Fall sollte man von ihnen auf den Rest des Buches schließen. Ohne alle Aussagekraft sind sie freilich auch nicht: „Ich heiße Serena Frome (reimt sich auf Ruhm), und vor knapp vierzig Jahren wurde ich vom britischen Nachrichtendienst auf eine geheime Mission geschickt. Sie ging nicht gut aus.“ Ein Roman, der so beginnt, lässt nicht nur auf eine spannende Geschichte, sondern auch darauf hoffen, dass der klare und unprätentiöse Ton ebenso durchgehalten wird wie die löbliche Absicht der Erzählerin, den Leser nicht zu langweilen: „In meinen ersten achtzehn Jahren passierte nichts Merkwürdiges oder Schlimmes, und deshalb überspringe ich sie.“


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Eine Werkstatt des Denkens und Fühlens Der zweite Band von Susan Sontags Tagebüchern ist ein packendes Dokument systematischer Selbsterkundung

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s muss uns bei nachträglicher Betrachtung als paradoxer Glücksfall gelten, dass Susan Sontag ihren in den späten 1990ern erneut gefassten Plan, eine auf ihren persönlichen Notizen basierende Autobiografie zu schreiben, schnell wieder fallen gelassen hat. Mit der Herausgabe ihrer Tagebücher durch ihren Sohn David Rieff wird nach und nach deutlich, wie viel gewinnbringender der Einblick in die ungeschliffenen Notizen ist. Schon das Erscheinen von „Wiedergeboren“, des ersten Auswahlbands, sorgte berechtigterweise für viel Aufsehen. Da artikulierte eine Jugendliche und junge Erwachsene ihre Wünsche, ihre Zweifel und ihren unbedingten Willen zu einem Werk und einem kulturerfüllten Leben. Diese Leidenschaft ist auch dem zweiten Band, der nun auch in deutscher Sprache vorliegt, deutlich anzumerken. Ganz nach dem Motto „Wahrheit vor Gerechtigkeit“ ist Sontag erneut als aufmerksame, kritische Beobachterin der Geschichte, der Kultur und ihrer Szenen, vor allem aber auch ihrer selbst zu erleben. Hatte „Wiedergeboren“ die Emanzipation der

streitbaren Intellektuellen sichtbar gemacht und den Zeitraum bis zur ersten Romanveröffentlichung („The Benefactor“) erfasst, ist mit dem vorliegenden Band der Zeitraum zwischen 1964 und 1980 abgedeckt – und damit eine für Sontag zentrale Schaffensphase. In diesen produktiven Jahren entstehen neben dem Erzählband „I etc.“ und dem eher gemischt aufgenommenen Roman „Death Kit“ vor allem so wichtige Essaysammlungen wie „Against Interpretation“ und „Styles of Radical Will“. In zentralen, leidenschaftsbetonten Texten wie „Notes on ‚Camp‘“ oder dem titelspendenden „Against Interpretation“, die beide in das Jahr 1964 fallen, spricht sie sich deutlich gegen klassische Interpretationen und eine rein bedeutungszuschreibende Auslegungsarbeit aus.

Dieses stark politisch aufgeladene Programm der von Sontag in jeder Hinsicht verkörperten New Sensibility hat deutliche Spuren in den Tagebüchern hinterlassen – wobei diese Charakterisierung angesichts der entsprechenden Texte doch stark verkürzend wirkt. Sontags Notizbücher, in denen auch die klassischen Cahier-Schreiber Cioran und ­Valéry ihren fixen Platz haben, scheinen in ihrer offenen Form eher Denkwerkstätten zu sein: Da finden sich Fragen zu einer noch zu erarbeitenden Poetik oder erste

„Sontag ist eine kritische Beobachterin der Kultur und ihrer Szenen, aber auch ihrer selbst“

Ansätze zu vielen (auch unrealisierten) Projekten ebenso wie lange Listen mit Lektüren, Filmen und Anweisungen an sich selbst. Dass Sontag auf den sperrigen Begriff des Enchiridions, eines „Handbuchs oder Überlebensfibel“, zu schreiben kommt, erscheint da nur konsequent. Die Notizbücher Sontags sind nicht zuletzt Teil einer Selbstbildung und „systematischen Selbsterkundung“, sie sind Ausdruck einer sich verändernden Haltung und des Ringens um ein von Widersprüchen und Wünschen zerrissenes Selbst.

Susan Sontag: Ich schreibe, um den Abtasten ihrer „Verzweiflungsgewohn- herauszufinden, heiten“ zentral: Die Motti reichen hier von was ich denke. „Ich muss arbeiten“ bis „Ich will auch et- Tagebücher was Bedeutendes schreiben“. 1964–1980. Aus Das Hinarbeiten auf den großen US- dem Amerikaniamerikanischen Roman, eine Form, die sie schen von Kathrin modernisieren und „in filmischen Begrif- Razum. Hanser, fen denken“ wollte, war ihr mit „Death Kit“ 560 S., € 28,70

Der Faktor Arbeit ist für Sontag im schreiben-

noch nicht vergönnt. Erst spätere Werke wie „The Volcano Lovers“ und das mit dem National Book Award ausgezeichnete „America“ sollten ihr helfen, über diese Kränkung hinwegzukommen. „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ ist eine Einladung in eine turbulente Werkstatt des Denkens und Fühlens, das Dokument eines Lebens und nicht zuletzt auch die zutiefst private Chronik einer kulturellen Ära aus der Sicht einer ihrer zentralen Protagonistinnen. Mit der Veröffentlichung von Sontags Tagebüchern wird eine bewundernswerte, doch nichtsdestoweniger problematische Untrennbarkeit von Schreiben und Leben zelebriert, die sich nicht mit der simplen Übertragung von Ereignissen in Schrift genügt. Vielmehr schält sich Seite für Seite eine radikale existenzielle Form heraus, die abseits aller Lustfeindlichkeit in der Kunst den „höchsten Zustand von allem“ sieht und sich dem Wunsch „mehr sehen“ unterwirft. Wenn Sontag in einem Nebensatz Wahnsinni-

ge als „Menschen, die alleine dastehen + brennen“ beschreibt, liegt die Vermutung nahe, dass diese Gleichung zu den zahlreichen Selbstdefinitionen der Susan Sontag zu zählen ist. Dass die Tagebücher nur sehr behutsam ediert und so gut wie gar nicht kommentiert sind, macht es allerdings mitunter etwas schwierig, alle Einträge den entsprechenden Ereignissen im Lebensverlauf dieser Denkerin zuzuordnen. Vielleicht muss man diese Herausgeberentscheidung aber einfach anerkennen und als Aufforderung verstehen, sich weiterhin und intensiv mit dieser Schwierigen auseinanderzusetzen. Was mit „Wiedergeboren“ schon angedeutet wurde, hat sich mit dem vorliegenden Band nun bestätigt: Susan Sontags Tagebücher sind ein wesentlicher Teil ihres Werks – und ein Lesevergnügen, das es tatsächlich verdient, als „Entdeckung“ bezeichnet zu werden. THOMAS BALLHAUSEN


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„Es ist fertig und ich bin noch da“ In seinem Tagebuch „Letzte Einkehr“ protokolliert Nobelpreisträger Imre Kertész schonungslos die Demütigung des Alterns in Eintrag vom 17. Januar 2001 gibt den Tenor der nun veröffentlichten späE ten Aufzeichnungen von Imre Kertész vor: „Erkennen zu müssen, daß mein Tagebuch zu einer Wüste persönlicher Klagen geworden ist. Trotzdem muß ich es führen, damit man sieht, was aus einem wird, wenn Geist, Lust und Begabung schwinden.“ Ein düsterer Moll-Ton durchzieht „Letzte Ein-

kehr“, nur ab und zu durch ein paar heitere Dur-Klänge abgemildert. Dennoch oder gerade deshalb ist dieses Buch eine eindrückliche Lektüre, ein journal intime, das uns Einblicke in die Innen- und Außenwelten, in die alltägliche Verzweiflung und den trotzigen Mut eines der großen Autoren des 20. Jahrhunderts gewährt. Imre Kertész’ gesamtes Werk ist geprägt vom Autobiografischen, dabei kunstvoll die Abgründe zwischen Erlebtem und Fiktion überbrückend, schwebend und von einer Ernsthaftigkeit, die man von großer Literatur verlangt, aber nur bei wenigen Dichtern findet. „Denke ich an einen neuen Roman, denke ich immer an Auschwitz“, hat Kertész einmal gesagt. Dieser Ort des Grauens bildet das Zentrum seines Werks. Er selbst ist als 15-Jähriger nach Auschwitz deportiert worden, sein berühmtestes Buch, „Roman eines Schicksallosen“, legt davon Zeugnis ab. Seine Tagebücher der Jahre 2001 bis 2009 fallen in die Zeit seines größten

Ruhms und vielleicht auch der größten Selbstzweifel. 2002 wird Kertész der Literaturnobelpreis zugesprochen. Zu dieser Zeit lebt er mit seiner zweiten Frau Magda bereits in Berlin, geflohen vor der „Barbarei“ in seinem Heimatland Ungarn, einer von ihm tief empfundenen Kulturlosigkeit, dem Antisemitismus seiner Landsleute: „Noch nie habe ich in meinem Leben so viel Niedertracht erfahren, wie seit der Verkündung meines Nobelpreises. Als wäre der Preis nur dazu da, das Fenster zu den bodenlosen Tiefen der Gemeinheit aufzustoßen. Judenhetze von Nazis; Judenhetze von Juden; das Gewürm, das aus der Vergangenheit kriecht … “ Berlin erscheint Kertész wie ein Hort der westlichen Zivilisation, als sei er endlich angekommen in der Freiheit. An dem Schatten, der sich über sein Dasein senkt, ändert das freilich nichts: „Der größere Teil meines Lebens ist eine tief empfundene sinnlose Zeitvergeudung. Ich bin unfähig, mich dem zu erwehren.“ Das Alter erleidet Kertesz als physische Demütigung. Es geht in seinen Tagebüchern zugleich um Existenzielles und um Triviales. Der Kampf mit dem Computer, der die Schreibmaschine abgelöst hat, wird geschildert; die Freuden und das Unglück des Alleinseins und des Zusammenlebens mit einer Frau, die im Gegensatz zu Kertész ein Familienmensch ist – ein immer wieder zu Irritationen führender Umstand.

„Der größere Teil meines Lebens ist eine tief empfundene sinnlose Zeitvergeudung. Ich bin unfähig, mich dem zu erwehren“ Imre Kertész

Krankheiten beschränken die gewonnene Freizügigkeit zusehends, Parkinson wird ­diagnostiziert. Verlagswechsel, Freundschaften und das kulturelle Leben Berlins spielen eine Rolle, zunehmend auch die unangenehme Kehrseite des Ruhms: Interviews und Einladungen, Verpflichtungen, denen Kertész in geradezu masochistischer Manier nachzukommen sucht. Zuweilen verachtet er sich dafür, Teil einer „Auschwitzkultur“ geworden zu sein. Nicht zuletzt ist dieses Tagebuch aber auch ein Arbeitsjournal. Der immer wieder stockende, beglückende, zerreißende, euphorisierende, niederschmetternde Schreibprozess wird ausführlich geschildert. In dieser Zeit entstehen, man mag es angesichts der geschilderten Qualen dieses Schreibakts kaum für möglich halten, gewichtige Werke: „Liquidation“ und „Dossier K.“. Das letzte Projekt allerdings, ein „radikal

Imre Kertész: Letzte Einkehr. Tagebücher 2001 – 2009. Mit einem Prosafragment. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt, 464 S,. € 25,70

persönliches Buch“ mit dem Titel „Letzte Einkehr“, missglückt. Ein Fragment ist der Ausgabe seiner Tagebücher beigegeben. Das Scheitern wird selbst zu einem Werk, nämlich zu jenem, das uns nun vorliegt. Imre Kertész lebt inzwischen wieder in Budapest. In einem Interview mit der Ze meine Augenblicke schon erlebt“, sagt er in diesem Gespräch. „Es ist fertig, und ich bin noch da.“ Die Tagebücher von Imre Kertész sind der Epilog zu einem wechselvollen Leben, wahrhaftig eine letzte Einkehr. ULRICH RÜDENAUER

Untersuchungen an einer Wurstmaschine Die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach zerlegt Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und fördert Erstaunliches zutage m 7. August war Ulrichstag: Denn mit A der Schilderung eines Vorfalls zu diesem Datum im Jahre 1913 setzt Musils

„Mann ohne Eigenschaften“ ein – die neben dem „Ulysses“ wohl imposanteste Konstruktion der Moderne in der Literatur. Der Ulrichstag wird zwar nicht so ausgiebig gefeiert wie der Bloomsday am 16. Juni, doch immerhin: Anlässlich seiner 100. Wiederkehr ist ein „Versuch“ über das Werk erschienen, so gewichtig und dicht, dass er es mit seinem Gegenstand durchaus aufnehmen kann. Die Germanistin Inka Mülder-Bach, 1953 geboren, lehrt an der Universität München. Sie hat sich bisher vor allem als Interpretin und Herausgeberin von Siegfried Kracauer profiliert. Die Vorarbeiten zu der Gesamtdarstellung von Musils feingliedrigem, oft ehrfürchtig als „Foltermaschine“ gepriesenem Monstrum erstreckten sich über 20 Jahre. Ein Leichtes wäre es der Autorin gewesen, mit

dem üblichen „Hinweis auf die Heiterkeit, den Übermut und den Humor seiner Sprache“ zu einer Oberflächenlektüre einzuladen, die das Werk als literarisch-essayistische Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts nimmt, und seine brillanten Wendungen und Bilder paraphrasiert. So ließe sich der Roman ja ohne große Tücken lesen, so hat es vielen schon halbwegs intelligenten Literaturkonsum erlaubt. Über den Charakter des „Mannes ohne Eigenschaften“ als

Werk der Avantgarde las man dabei aber oft allzu leichtfüßig hinweg: nämlich den Versuch, die Konstruktion einer Welt nachzuvollziehen, die zu einem undurchdring- Man kann nicht lichen „Gefilz von Kräften“ (so Musil) ge- umhin, die Autorin als hermeneutische worden war.

Mitarbeiterin an dem zu sehen, was sie tung dessen vor, was die Autorin als Musils als das „faustische Mikropoesie bezeichnet. Sie demonstriert, Projekt Musil“ wie unter der scheinbar recht glatten Ober- bezeichnet An die Grenzen der Lesbarkeit dringt die Deu-

fläche der lose aneinandergereihten Kapitel eine „überstrukturierte und übermotivierte Konstruktion“ liegt. Mit intimer Kenntnis setzt Musil sich mit den avanciertesten Tendenzen der Wissenschaften seiner Zeit – der Sprach- und Erkenntnisphilosophie des Wiener Kreises, der modernen Physik, und der Gestaltpsychologie Köhlers – auseinander, deren gemeinsames Unterfangen eine tastende Orientierung in einer neuerdings als radikal unübersichtlich erlebten Welt war. Mit ihnen verzettelt sich der Roman geradezu (alb-)traumhaft, findet nur durch feuilletonistische Einschleifungen zu einem Fortgang von Text und Handlung. Das daran empfundene Ungenügen führt dazu, dass sich der „MoE“ in zahlreichen Schichten an der Form der literarischen Gestalt abarbeitet, letztendlich zur Unvollendbarkeit: Die Welt selbst war zu einer bloßen Abfolge von nur mehr mit dem Wörtchen „und“ verbundenen Zuständen verkommen … Das unschätzbare Verdienst der Autorin liegt dar-

in, in dieses Dickicht Lichtungen zu schlagen, in Mikrobereichen scharfsinnige Interdependenzen aufzuzeigen, Einblicke in Entstehungsgeschichte, Topologie und Dynamik des Textes zu gewähren. Man kann nicht umhin, sie bewundernd als hermeneutische Mitarbeiterin an dem zu sehen, was sie als das „faustische Projekt Musils“ bezeichnet: die mühselige Kittung von partikularen Sinnzusammenhängen nach der großen Zertrümmerung eines Gesamten durch die Moderne. Auch dem Leser und Kenner Musils wird – vor

Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. Hanser, 541 S., € 35,90

allem in den besonders akribischen Anfangskapiteln – Erhebliches an Anstrengung abverlangt; und manchmal schwindelt ihm vor all der schillernden Brillanz. Umso größer das Vergnügen an ebenso erhellenden wie erheiternden Sinnzusammenhängen, etwa dem Vergleich des großen, in seinem Anspruch geradezu „gefräßigen“ Romans mit dem allzu gesegneten, alles verdauenden Appetit Leonas, einer von Ulrichs Musen. Ulrich füttert sie so sehr mit ihren „geliebten Mischgerichten“, dass es ihr ähnlich ergeht wie dem „MoE“: Beide werden sie gefüttert – „so voll von vornehmen Sachen“, dass er (sie) „kaum noch zusammenhält“. Der Text wird dadurch, wie die Autorin schreibt, zur „Wurstmaschine“. Ebenso schmackhaft wie bei der Verdauung hilfreich ist der „Senf “, den sie dazu reicht … THOMAS LEITNER


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Das Zeitalter der Extreme ist unerzählbar Mit ihrem jüngsten Roman beweist Melitta Breznik, dass Erinnerung nicht im Anekdotischen aufgeht

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Tochter-Erinnerungen zeigen auch verschiedene Facetten von Lenas Vater, Margarethes erstem Ehemann Max. Ihm werden jeweils einzelne Erzählsequenzen zugeordnet, die nach seinem Kindheitsort mit „Kapfenberg 1934“ beginnen und mit Stationen seiner Weltkriegsjahre als Soldat der Wehrmacht in Griechenland 1944 bzw. einem Kriegsgefangenenlager in Hampshire in England 1946 fortgesetzt werden. Anders als bei den Frauenfiguren sind diese Abschnitte stärker gerafft und im Berichtston eines Erzählers gehalten. An diesen drei Hauptfiguren zeigt Breznik, wie die Gewalt im 20. Jahrhundert durch die Lebensgeschichten hindurchgeht und sie verstümmelt, ramponiert und zerstört. Das steirische Schutzbündler-Kind war später auch als Kommunist niemals auf der Seite der kompromittierenden MehrSeit der Totgeburt von Lenas Zwillingen, die heiten jener Jahre. Niemals wird er in der von der Mutter mit ihrer Missbilligung Pose einer moralisch überlegenen Minderder künstlichen Befruchtung herzlos kom- heit gezeigt; er ist das Opfer schlechthin: mentiert worden war, hatte es kaum noch gebeutelt und kujoniert, hilflos den Folgen Kontakt zwischen den beiden gegeben. Die der von ihm mitverübten Auslöschung grieBegegnungen, die stattfanden, verliefen für chischer Partisanen ausgeliefert, die ihn im beide enervierend. Der doppelte Schluss Fortgang der Nachkriegsjahre in Wien imzeigt zwar keine illusionäre Verschmelzung mer vehementer heimsuchen. Seine Albder Perspektiven an, aber das Tabuisierte träume führen zur Trennung von Mutter ist besprechbar und die verhärteten Gren- und Kind und schließlich zur Einlieferung zen lösen sich durch neue Erzählkontex- nach Steinhof, wo er sich aus dem Fenster te auf, ohne dass die Schwere des Schwei- in den Tod stürzt. Unheroischer kann die verleugnete und gens wie des Verschwiegenen dadurch bagatellisiert würden. verdrängte „Gegengeschichte“ Österreichs Ein wichtiges Medium der Rückschau nicht erzählt werden. Es bedarf der ganzen sind hier Fotografien. An ihnen veranschau- Kunst der Autorin, sie dennoch nicht zylicht der Roman auch das Dilemma von nisch preiszugeben. Erinnern und Erzählen, also seine eigene In dem dicht geknüpften Figurennetz Poetik: „(…) habe die Photographien aus wird deutlich, welcher Preis von denen zu den Alben gelöst. Ich wollte sie aus ihrer entrichten war, die nicht mit den Wölfen bisherigen Umgebung entfernen, in der sie heulen wollten. Dass jedoch der Umgang nicht genug wahrgenommen werden, weil der Opfer miteinander qualvoll sein kann, auf derselben Seite Bilder eingeheftet sind, ist eine der unbequemen Wahrheiten diedie mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. ses Romans und vielleicht diejenige, die in Die Erinnerung geht unter in den Anekdo- der erzählerischen Anschaulichkeit am diften, an die sich alle erinnern.“ ferenziertesten zur Darstellung kommt. Die aufeinander bezogenen, aber in je Dass die Befreier als Vergewaltiger gekomanderer Beleuchtung gezeigten Mutter- men sind, ist eines der ungelüfteten Gefalter_privatverlage_inserat_herbst_2013.qxd 27.09.2013 12:15 Seite ie Gegenwartshandlung dieses Romans spielt im Jahre 2011. In mehreren Etappen bzw. Abschnitten steuern zwei Frauen, Mutter und Tochter, den heute eingemeindeten Frankfurter Vorort Bergen-Enkheim an. Hier hat die 1920 geborene Margarethe, die jetzt in Basel im Altersheim lebt, ihre Kindheit verlebt, ehe sie von Verwandten nach Wien gebracht wurde. Ihre Tochter Lena, die sie mit 30 bekam, lebt jetzt mit ihrem zweiten Mann in London. Die Erzählungen und Erinnerungen der beiden verlaufen nicht chronologisch geradlinig, sondern stockend, mäandernd und schmerzhaft. Wo ihre Perspektiven konvergieren, wird es bedrohlich. Das Verdrängte und Verschwiegene liegt als schwere Last auf dieser Mutter-Tochter-Beziehung.

heimnisse der Mutter („wozu erzählen, was mich seither innerlich verstummen hat lassen“). Aus diesem Albtraum der Geschichte führt kei-

An ihren drei Hauptfiguren zeigt Breznik, wie im 20. Jahrhundert die Gewalt durch Lebensgeschichten hindurchgeht

Am 16.10., 19 Uhr liest Melitta Breznik im Literaturhaus Wien aus dem besprochenen Roman. Am 17.10., 20 Uhr ist sie in Graz (ebenfalls im Literaturhaus) zu Gast

Melitta Breznik: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen. Luchterhand, 1256 S., € 20,60

ne billige Lösung, und Melitta Breznik ist dafür auch nicht zu haben. Zu den Zeichen einer gelingenden Annäherung zwischen Mutter und Tochter gehört die von Margarethes Mutters unfertig hinterlassene Stickerei „Bild einer lesenden Frau“. Obwohl ungewiss bleibt, ob dieses Erbstück nicht schon von den Motten zerfressen ist, so verweist dieser dezent angedeutete Gang zu den Müttern auf eine Emanzipationsgeschichte, die in diesem Roman nur in Fragmenten und in aller Unvollkommenheit zum Vorschein kommen kann. Zu den Erinnerung Lenas an ihre Kindheit gehören Peter Roseggers „Waldbauernbub“ und Paula Wallischs „Ein Held stirbt“, die in der elterlichen Bibliothek nebeneinanderstanden. Das eine Buch wird als Beschreibung einer „ländlichen, längst vergangenen Idylle“ qualifiziert, das andere als „Bericht“ der Witwe Koloman Wallischs über den 1934 standrechtlich gehenkten Arbeiterführer. Brezniks Erzählung ist auch hier auf der Seite des autodidaktischen Vaters, in dessen politischem Kopf Platz ist für diese Unvereinbarkeit. Noch der von ihm als „Bauernkitsch“ enttarnte Rosegger erinnert ihn „an die Landschaft, in der er aufgewachsen war und an seine Familie, die im Arbeiterstreik des Jahres 1934 auseinandergerissen worden war“. Solche Stellen zeugen nicht nur von der vielgerühmten epischen Gerechtigkeit; sie geben auch preis, dass dieses „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) nicht erzählbar ist, auch nicht im Rahmen einer Familiengeschichte, wie sie zurzeit florieren. Vieles in diesem Roman ist daher „referiert“ statt „erzählt“, um einen alten Vorbehalt gegen Musils „Mann ohne Eigenschaften“ zu bemühen. Melitta Breznik hätte in schlechtere Gesellschaft geraten können. K ARL WAGNER

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Alles ist anders, als man denkt. p Alles, was ist, kommt irgendwoher. p Helen Cerny lebt zurückgezogen in ihrem Stadthaus und widmet ihr Leben dem liebevoll angelegten Garten und ihrer Komposttoilette. Das aktuelle Weltgeschehen interessiert sie nicht mehr, bis ihr gegenüber eine neue Nachbarin einzieht. Berta ist das genaue Gegenteil von Helen, sie will die Welt durch rebellische Aktionen verändern. Bald dringen irritierende Schlagzeilen ins Gartenidyll, ein Waffenlobbyist erleidet einen Jagdunfall, Pensionsvorsorgefonds werden gehackt, die Aufregung nimmt kein Ende. Parallel zum Geschehen in der Gegenwart erzählt Nadja Bucher Helens Familiengeschichte. Eine Generation folgt der nächsten und trägt doch immer schwere Rucksäcke mit den Altlasten der vorigen mit sich. www.milena-verlag.at


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Und ewig funkeln die Fleischermesser Mit seinem illustrierten Roman „Königreich der Schatten“ hat Michael Stavaric ein gut gewürztes Geschnetzeltes angerichtet ichael Stavarics letzter Roman „BrennM tage“ handelte von einem Ritual kollektiver Reinigung: In einem Dorf werden

alljährlich Dinge verbrannt – kleinste Zettel, aber auch ganze Sofas. Der neue Roman ist leichter, spielerischer und wird von den surreal anmutenden Illustrationen von Mari Otberg begleitet, die mit ihren leicht verzerrten Perspektiven und bleistiftfein gezeichneten Ausschnitten passgenau auf dem doppelten Boden tänzeln, den Stavaric für sie bereitet hat. „Königreich der Schatten“ wird zunächst aus der Sicht von Rosi Schmieg erzählt. Bei Otberg sieht sie aus wie eine traurige Holzpuppe aus einem dieser wunderbaren, dunklen Marionettentheater, die eigentlich nichts für Kinder sind.

Rosi ist ein wenig labil. Nachts im Hotelzimmer, das die Wienerin nach ihrem Umzug nach Leipzig bezieht, hört sie ihr eigenes Herz viel zu laut pochen. Überhaupt scheint sie nicht grob genug zu sein für das blutige Handwerk, das sie zu erlernen beabsichtigt und das quasi in der Familie liegt. Denn schon der aus der Tschechoslowakei stammende Großvater war Fleischhauer, bevor er im Zweiten Weltkrieg fiel. Durch Zufall gerät am Ende dieses assoziationsreich strömenden Romans auch die Enkelgeneration sehr blutig in die alten Verstrickungen hinein. Die Geschichte und die wechselnden Fronten sind hier allgegenwärtig. Aber das

alles ist nur der Rahmen einer Prosa, die vor allem vom Fragmentarischen lebt, von den vielen Details und Fantasien, die erst Rosi Schmieg und dann, in der zweiten Romanhälfte und von Amerika kommend, einen anderen Metzgerlehrling bewegen. Zwischen all den schnittig gezeichneten Fleischermessern, Wetzstäben, Kotelettklopfern und Steakhammern geht es von Wien nach Leipzig, von New York über Paris nach Leipzig, wo es dann einen unerwarteten Countdown gibt, und immer wieder rückwärts, zu den Wurzeln dieser weitverzweigten Geschichte. Wie man vom Schlachten übers abgehangene Schwein bis hin zu Regelblutflecken auf dem weißen Bettlaken und Reflexionen über Totenhemdchen gelangen kann, das ist so abenteuerlich und irrwitzig, dass man schon mal die Orientierung verlieren kann – nicht aber die Lust am Lesen.

Spurenleger als ein alles überblickender Erzähler, wobei das Vergehen der Zeit und die Relikte aus einer immer weiter zurückliegenden Vergangenheit für eine luzide Atmosphäre sorgen. Eine leicht wahnhafte Reise durch Städte

Das liegt auch an dem Märchenschatz, der hier

eingebettet ist wie ein geheimer Pfad durch zwei Biografien, die dunkel miteinander verbunden sind. Viel ist von Tod die Rede, vom Töten von Mensch und Tier; von Chemieunfällen, die in Amerika dazu führen, dass die Vögel ausbleiben und andere Tiere wiederum plötzlich die Zoos verlassen, um sich unter Städtern anzusiedeln; exotische Arten, die Amerika verändern. Stavaric erzählt das alles mit sicherer Eleganz, als hätte er selbst großen Spaß am Wandel. Er ist eher Spurensucher und

Michael Stavaric: Königreich der Schatten. Roman. Mit Illustrationen von Mari Otberg. C.H. Beck, 256 S., € 20,60

und Gegenden ist dieses „Königreich der Schatten“, fast ein Familienroman. Stavaric durchmisst das alles im Laufschritt, das Messer gewetzt, mit Sinn für Komik, selbst ein Artenspezialist, ständig zu Abwegen bereit. Und wenn er auf Rosis moderner Antirutschmatte in ihrer neu eröffneten Leipziger Fleischerei Unvorhersehbares geschehen lässt, löst sich manches, aber längst nicht alles. Die einzelnen Romansplitter aber glänzen nach. Hat der Autor, so fragt man sich leicht beunruhigt, eine Parabel geschrieben? (Und wenn ja, worauf ?) Oder wollte er einfach nur alle seine Reisen verarbeiten? Denn wenn Rosi in Leipzig erstmals die Fleischermesse besucht, vermutet man sie eher auf der Buchmesse. Da gibt es zum Beispiel einen Stand mit Fleisch, das von Tieren stammt, die ein Leben lang nur Rotwein zu trinken bekommen haben – ab frühmittags das Messegetränk schlechthin. Und von der Anbetung des Fleisches ist die Rede. Stavarics launige Sätze aber können mitunter ganz schnell kippen. Und genau diese Kippmomente sind es, die seinem Text die rechte Würze verleihen. ANJA HIR SCH

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V.I.C., Hackinger Str. 52 15. Buchkontor, Kriemhildpl. 1 | Thalia Bahnhof City Wien West, Europapl. 1 16. Liber Novus, Sandleiteng. 41 17. Book Point 17, Kalvarienbergg. 30 18. Hartliebs Bücher, Währinger Str. 122 19. Baumann, Gymnasiumstr. 58 | Fritsch Georg, Döblinger Hauptstr. 61 | Stöger, Obkircherg. 43 | Thalia Q19, Kreilpl. 1 20. Hartleben, Othmarg. 25 21. Bücher Am Spitz, Am Spitz 1 | Thalia SCN, Ignaz-Köck-Str. 1 | Kongregation der Schulbrüder, AntonBöck-G. 20 22. Freudensprung, Wagramer Str. 126 23. BH Lesezeit – Liesing, Breitenfurter Str. 358 | Buchhandlung in Mauer, Gesslg. 8A Niederösterreich: Korneuburg, Stockerauer Str. 31, 2100 Korneuburg | Am Hauptpl., Hauptpl. 15, 2320 Schwechat| Morawa, SCS, Top 49A, 2334 Vösendorf | Dietz GmbH, Bahnstr. 1, 2351 Wiener Neustadt | Valthe, Wiener G. 3, 2380 Perchtoldsdorf | Riegler, Kircheng. 26, 2460 Bruck an der Leitha | Bücher-Schütze, Pfarrg. 8, 2500 Baden| Papeterie Rehor, Theodor-Körner-Pl. 6, 2630 Ternitz | Hikade, Herzog-LeopoldStr., 2700 Wiener Neustadt | Thalia, Hauptpl. 6, 2700 Wr. Neustadt| Mitterbauer, Wiener Str. 10, 3002 Purkersdorf | Sydy’s, Wiener Str. 19, 3100 St. Pölten | Thalia, Kremserg. 12, 3100 St. Pölten | Reischl, Hauptpl. 12, 32500 Wieselburg| Schmidl, Obere Landstr. 5, 3500 Krems/Donau | Murth, Wiener Str. 1, 3550 Langenlois| Rosenkranz, Els 127, 3613 Els| Kargl, Hauptpl. 13-15, 3830 Waidhofen/ Thaya| Janetschek, Schulg. 5, 3860 Heidenreichstein | Spazierer, Budweiser Str. 3a, 3940 Schrems| Stark Buch, Bahnhofstr. 5, 3950 Gmünd Oberösterreich: Fürstelber-

ger, Landstr. 49, 4013 Linz| Alex, Hauptpl. 17, 4020 Linz | Buch plus, Südtiroler Str. 18, 4020 Linz | Buchhandlung in der Freien Waldorfschule, Waltherstr. 17, 4020 Linz | Neugebauer, Landstr. 1, 4020 Linz| Thalia, Landstr. 41, 4020 Linz | Buchhandlung Auhof, Altenbergerstr. 40, 4045 Linz-Auhof | Bücher & Geschenke fürs Leben, Oberngrub 10, 4085 Waldkirchen/Weser| Wolfsgruber, Pfarrg. 18, 4240 Freistadt | Wurzinger, Hauptpl. 7, 4240 Freistadt | Hartlauer, Stadtpl. 6, 4400 Steyr| Michael Lenk, Vogelweidepl. 8, 4600 Wels | SKRIBO GmbH, Stadtpl. 34, 4600 Wels | Thalia, Schmidtg. 27, 4600 Wels | Schachinger, Untere Stadtpl. 20, 4780 Schärding | Kochlibri, Theaterg. 16, 4810 Gmunden | Thalia, Pfarrg. 11, 4820 Bad Ischl | Michael Neudorfer, Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck | Schachtner, Stadtpl. 28, 4840 Vöcklabruck | Bücherwurm, Bahnhofstr 20, 4910 Ried | Thalia, Wohlmeyrg. 4, 4910 Ried/Innkreis Salzburg: Bücher-Stierle, Kaig. 1, 5010 Salzburg | Motzko, Rainerstr. 24, 5017 Salzburg | Höllrigl, SigmundHaffnerg. 10, 5020 Salzburg | Morawa – Europark, Europastr. 1, 5020, Salzburg | Morawa SCA, Alpenstr. 107, 5020 Salzburg | Rupertusbuchhandlung, Dreifaltigkeitsg. 12, 5020 Salzburg | UNI-Shop, Hellbrunner Str. 34, 5020 Salzburg | Der Buchladen, Stadtpl. 15-17. 5230 Mattighofen| Engelhart Brandstötter, Marktpl. 15, 5310 Mondsee Tirol: Golf-Verlag, Grassmayrstr. 8, 6020 Innsbruck| Haymon, Sparkassenpl. 4, 6020 Innsbruck| Morawa, Anichstr. 5, 6020 Innsbruck | Studia, Innrain 52f, 6020 Innsbruck | Thalia Wagner’sche, Museumstr. 4, 6020

Innsbruck | Tyrolia, Maria-Theresien-Str. 15, 6020 Innsbruck | Tyrolia Max Media, Maximilianstr. 9, 6020 Innsbruck | Riepenhausen, Langer Graben 1, 6060 Hall in Tirol | Riepenhausen, Andreas-Hofer-Str. 10, 6130 Schwaz | Zangerl, Salzburger Str. 12, 6300 Wörgl| Lippott, Unterer Stadtpl. 25, 6330 Kufstein| Tyrolia, Rathausst. 1, 6460 Immst| Jöchler, Malserstr. 16, 6500 Landeck Vorarlberg: Eulenspiegel, Marktstr. 42, 6845 Hohenems | Ananas, Marktpl. 10, 6850 Dornbirn | Brunner, Rathausstr. 2, 6900 Bregenz | Ländlebuch, Strabonstr. 2a, 6900 Bregenz| Brunner, Dr.-Schneider-Str. 22, 6973 Höchst Burgenland: s‘Lesekistl, Obere Hauptstr. 2, 7122 Gols| Buchwelten, Hauptstr. 8, 7350 Oberpullendorf| Pokorny, Schulg. 9, 7400 Oberwart | Wagner, Grazer Str. 22, 7551 Stegersbach Steiermark: Bücherstube, Prokopig. 16, 8010 Graz | Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfg. 25, 8010 Graz | Leykam, Stempferg. 3, 8010 Graz | Moser Ulrich, Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz | büchersegler, Lendkai 31, 8020 Graz | Leykam, Lazarettgürtel 55, 8025 Graz | Plautz, Sparkassenpl. 2, 8200 Gleisdorf | Buchner, Hauptstr. 13, 8280 Fürstenfeld| Leykam, Hauptpl. 2, 8330 Feldbach | Leykam, Mitterg. 18, 8600 Bruck/Muhr| Mayr, Kurort 50, 8623 Aflenz| Kerbiser, Wiener Str. 17, 8680 Mürzzuschlag | Morawa Buch und Medien, Burgg. 100, 8750 Judenburg | Hinterschweiger, Anna Neumannstr. 43, 8850 Murau |Buch + Boot, Altausse 11, 8992 Altaussee Kärnten: Heyn Johannes, Kramerg. 2, 9020 Klagenfurt| Besold, Hauptpl. 14, 9300 St. Veit/Glan| Tyrolia, Roseng. 3-5, 9900 Lienz


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Remixing die gute alte Himmelsmacht In ihren Erzählungen „Der schaudernde Fächer“ seziert Ann Cotten auf sprachmächtige Weise die Liebe

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an konnte es nach Ann Cottens vor drei Jahren erschienenen ­â€žFlorida-Räumen“ schon erahnen: Der Shootingstar der deutschsprachigen ­Lyrik („FremdwĂśrterbuchsonette“, 2007), „das groĂ&#x;artig-amerikanisch-Ăśsterreichische Landei aus Iowa“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), wĂźrde Ăźber kurz oder lang auf die Prosaschiene wechseln. Ob das mit Markt- oder Verlagszwängen zu tun hat oder aber mit dem Wunsch der Autorin, sich langsam, aber beharrlich an den Roman heranzupirschen, sei dahinge­ stellt. Schon die erwähnten „Florida-Räume“ reichten

jedenfalls in Hinblick auf Umfang und Gattungshybridität an die lange Form der Prosa heran, der eben erschienene Erzählband „Der schaudernde Fächer“ tut dies noch deutlicher. Erreicht der Umfang locker den eines marktgängigen Romans, so ist der erzählerische Bogen hier freilich noch auf die Kurzstrecke gespannt. Die Autorin selbst legt im „Schaudernden Fächer“ ein paar Fährten, die andeuten, in welche Richtung ihr Schreiben geht oder gehen mĂśchte. Der programmatische Eingangstext „Die gelangweilte Combo oder Wie man gut schreibt“ nennt Musil und Doderer als mĂśgliche Gewährsmänner. Und so wie bei diesen beiden GrĂśĂ&#x;en des vorangegangenen Jahrhunderts sind Reflexion und Humor (Ironie) auch wichtige Ingredienzien des Cotten’schen Schreibens. Ausgeprägter aber noch als diese scheint ihr grundsätzlicher Drang zur verschnĂśrkelten Verspieltheit, wodurch Entwicklungslinien der Ăśsterreichischen Avantgarde auf eine genuine Art fortgefĂźhrt werden, insbesondere das von H.C. Artmann virtuos vorgefĂźhrte Spiel mit literarischen Genres und Masken. Wie Pastiches, die auch Proust geliebt hat, zitieren viele dieser Erzählungen literarische Traditionen: sei es die des Romans russischer Herkunft (Gogol und Turgenjew werden an prominenter Stelle genannt)

oder die der philosophischen Erzählung in Dialogform, wie sie etwa ein Voltaire oder Diderot populär gemacht haben. Cotten fĂźllt diese Erzählmuster mit einer eigenwilligen Sprache, die altertĂźmelnde Gewähltheit und zeitgenĂśssischen Cultural Crossover vereint, Fremdsprachiges und Neudeutsches wie selbstverständlich einschlieĂ&#x;t. Und sie fĂźllt diese Erzählmuster mit Inhalten, die einer global operierenden Jugendkultur entnommen, manchmal rĂźhrselig und manchmal grotesk sind oder das Groteske zumindest streifen. Zentrale Thematik der Erzählungen ist Ăźberraschenderweise die Liebe. Wie Cotten diesen vermeintlich verbrauchtesten Topos der Literatur, den ewigen Dauerbrenner auf den Kandelabern der Textaltäre, bearbeitet, remixt und scratcht, das zeugt schon von einer literarischen und intellektuellen Meisterschaft, die Ihresgleichen sucht. Alle Spielarten menschlichen Begehrens wer-

den durchdekliniert, wobei grausam-alltäglichen Situationen unerfĂźllter oder nur einseitiger Liebe ein besonderes Augenmerk gilt. Erheiternd der Dialog zweier Frauen Ăźber die Frage: „Wie kĂśnnen wir durch die Kraft der Kunst eine deprimierende Liebesaffäre in eine vergnĂźgliche verwandeln?“ („Im GrĂźnen Pfau“). Oder die in russischen Birkenidyllen angesiedelte Erzählung in Briefen („Birkenhäuschen“) Ăźber die Liebe zwischen einem homosexuellen Mann und einer transsexuellen Mann/Frau, die sich ihre BrĂźste amputieren und in Alkohol konservieren hat lassen. Wunderbar die Szene, in der die „Frau“ vor der OP ein letztes Mal mit ihren BrĂźsten nackt durch einen See schwimmt, im Vollgenuss ihrer Weiblichkeit, von der sie sich doch danach freiwillig verabschiedet. Die Deutlichkeit und Drastik, mit der von Cotten sexuelle Betätigungen beschrieben werden, steht jener eines Hubert Fichte in nichts nach. EindrĂźcklich auch die Darstellung einer sich anbahnenden les-

Ann Cotten nennt Musil und Doderer als mÜgliche Gewährsmänner, auch H.C. Artmann fiele einem bei dieser Autorin ein

Am 15.10., 19 Uhr liest Ann Cotten in der Alten Schmiede aus den besprochenen Erzählungen

Ann Cotten: Der schaudernde Fächer. Erzählungen. Suhrkamp, 251 S., â‚Ź 22,60

bischen Beziehung, die jedoch nur einseitig betrieben wird und im knappen Dialog „Tu n’aimes pas.“ „No.“ eine abrupte Abfuhr erfährt. Solche Situationen der Ablehnung finden

sich zuhauf in dem Band, und der Autorin scheint es ein besonderes BedĂźrfnis zu sein, das Neinsagen in der Liebe mit GefĂźhl und Verstand gleichermaĂ&#x;en zu erforschen. Als die Icherzählerin in „SeekĂźhe der Kunst“ einem zu klein und zu weich geratenen Amerikaner zu verstehen gibt, dass sie nicht gedenkt, mit ihm ins „Love Hotel“ zu gehen, denkt sie: „Hier, in dem einen Moment, spĂźrte ich etwas, nämlich die Bandbreite der mĂśglichen Reaktionen: mich bei lebendigem Leib zerreiĂ&#x;en, nach einem GefĂźhl fĂźr den Mann suchend wie in der Handtasche auf der StraĂ&#x;e nach dem Portemonnaie; mich verblĂźfft hier hineinfallen lassen und womĂśglich ganz unerwartet von Zuneigungen dieses weichen Mannes erlĂśst werden [...] oder sich mit freundlichen GefĂźhlen verabschieden, wie ich es nun dreist in die Wege leitete, statt an den Menschen einer logischen Illusion von Logik hingegeben.“ Den meisten Erzählungen stellt die Lyrikerin Ann Cotten auch noch ein Gedicht hinzu. Diese im lockeren, reimlosen Enjambement gefassten Texte unterstreichen ihren Drang zum hybriden Sprachkunstwerk, zum sprachlichen Gesamtkunstwerk (neo-) romantischer Prägung. Die Gedichte fallen allerdings hinter die Behändigkeit der formalen Aneignung Ăźberkommener metrischer Schemata zurĂźck, durch welche die beiden vorangegangenen BĂźcher Ăźberzeugt haben. Die formale Experimentierfreudigkeit der Autorin tobt sich aber ohnedies in den Erzählungen aus, wobei „SeekĂźhe der Kunst“ die MĂśglichkeiten der Rahmenerzählung auslotet und als Quadraterzählung gewissermaĂ&#x;en das GegenstĂźck zu Friedrich Achleitners „Quadratroman“ bildet. NICOLE STREITLER-K ASTBERGER

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Suchbefehl: Graublättriger Schwefelkopf In seinem „Versuch über den Pilznarren“ durchleuchtet Peter Handke die Poetik des Schwammerlsuchens

Nach mehreren „Versuchen“, etwa über die

Müdigkeit (1989) und die Jukebox (1990), beschäftigt sich der Autor hier mit einem Thema, mit dem er auch als öffentliche Figur identifiziert wird: Mitunter lädt er Journalisten, die ihn in seinem französischen Landhaus besuchen, zum Pilzesu-

chen ein. Fotos zeigen ihn durch das Unterholz streifend, zugleich weltab- und kamerazugewandt. Handke hat das Image eines Waldläufers Es geht um eine mit

in der Tradition Henry David Thoreaus und Adalbert Stifters. Nun breitet er den Fundus jahrzehntelanger Schwammerlreflexion aus. So erfährt der Leser Wissens­ wertes über die Beschaffenheit von Fundstellen, das Verhältnis zur sammelnden Konkurrenz und zur Konsistenz des Pilz­ fleisches. Die Pilznamen klingeln: Graublättrige Schwefelköpfe, Krause Glucken, Kaiserlinge; das fragile Verhältnis zwischen Wörtern und Dingen scheint hier intakt. Außerdem sind Pilze ein Fest für alle Sinne. Die Geometrie der Blickachsen zwischen Suchendem und den Objekten gehört ebenso zu der skizzierten Schwammerlästhetik wie das Rauschen und Knistern von Laub und Unterholz. In zugewachsenen Bombenkratern leuchten die Gelblinge. Der Rhythmus des Gehens und Innehaltens spiegelt sich im Tempo der Sätze wieder, die manchmal abbrechen – was steht denn da am Wegesrand? –, manchmal in Nebensätze hineinwachsen. Kurzatmige Aufstiege folgen auf mühelose, mäandernde Weg- und Satzstrecken. Auch wenn der Rhythmus des Textes eher an Homer und Vergil als an eine Pilzfibel erinnert, lässt die Erzählung sich auch als Ratgeber verstehen. Dabei geht es weni-

Pilzen eingeübte Lebensführung, um das rechte Zeitmaß und das Verhältnis zur Gemeinschaft

Peter Handke: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Suhrkamp, 217. S., € 19,50

ger um die Frage, ob Pilze aus der Erde zu reißen oder zu drehen seien, sondern um eine mit Pilzen eingeübte Lebensführung – um das rechte Zeitmaß, das Verhältnis zur Gemeinschaft, die Zügelung der Gier. Wer die Natur meint, sucht immer auch das eigene Selbst. Der Anwalt empfindet das Pilzesuchen als ein

Modell eines autonomen Lebens. Er verlässt Frau und Kind und gibt seinen Beruf auf, um in der Wildnis zum „Souverän“ zu werden. Ein von ihm verfasstes Pilzbuch soll die Welt an dieser Erkenntnis teilhaben lassen, kommt aber nicht zustande. Es gehört zu den Stärken von Handkes „Versuch“, dass er die großen Fragen des Lebens lediglich andeutet. Er schildert die Pilzreligion des Protagonisten als Selbstversuch, der die „Schwelle zum Grauen“ überschreitet, gibt den heiteren Grundton aber nie ganz auf. Obwohl der Autor in Sprache und Motivik auf Distanz zur sogenannten „Gegenwart“ geht, erinnert der ruhelose Held auch ein wenig an die irren Manager in Rainald Goetz’ Roman „Johann Holtrop“ oder an jene zappeligen Web-Subjekte, die in den Wäldern des Internet den Nachweis ihrer sozialen Existenz suchen. So old school dieses Buch auf den ersten Blick scheinen mag, lässt es sich auch als Traktat über zeitgenössische Obsessionen lesen. Der Suchbefehl „Ich“ kann zu giftigen Funden führen. MAT THIAS DUSINI

Illustr ation: georg feierfeil

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in erfolgreicher Mann in mittleren Jahren entwickelt eine Leidenschaft für Pilze und verfällt in der Folge dem Wahnsinn. Diesen Plot kennt der literaturaffine Pilzfreund aus Martin Suters Bestseller „Die dunkle Seite des Mondes“. Aber auch wenn Peter Handke in seinem neuen Buch „Versuch über den Pilznarren“ eine ähnliche Geschichte erzählt, grenzt er sich gleich am Anfang von den „sich häufenden Erzählwerken“ mit mykologischem Überbau ab. In der Geschichte solle es weder um den Pilz als Mordwerkzeug noch um dessen psychotrope Potenz gehen. Im Laufe der Erzählung wird sich herausstellen: Wer Stimmen hört, muss keine Drogen genommen haben. Handke entwickelt mit dem Anwalt, den der Ich-Erzähler aus seinem Heimatdorf kennt, eine Figur, für die das Pilzsammeln zunächst eine Ablenkung, dann eine Religion und schließlich eine Obsession darstellt. Die Suche des Pilznarren beginnt bereits in der Kindheit, als er sich mit Pilzen ein Taschengeld verdient, und endet damit, dass er Köpfe mit Pilzkappen verwechselt. Aus Suche wird Sucht.


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Aufstand gegen die abgerundete Welt Oswald Wieners legendärer Essay „verbesserung von mitteleuropa, roman“ wurde endlich wieder aufgelegt

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o rotzig, frech, eigensinnig, anmaßend klug und unausweichlich konnte Literatur einstmals sein. Ursprünglich 1969 bei Rowohlt erschienen und seit längerer Zeit vergriffen, liegt Oswald Wieners „verbesserung von mitteleuropa, roman“ jetzt in einer Neuausgabe vor. Es ist ein Buch aus einer anderen Epoche des Schreibens. Deren Anspruch war riesengroß, denn nicht bloß um eine Verbesserung von Mitteleuropa geht es hier, sondern um den Versuch, die Welt insgesamt anders zu sehen. „Wenn der leser“, so schreibt Wiener in einer Art Nachbemerkung, „einen gewinn aus der lektüre meines buches ziehen kann, so wird das, hoffe ich, ein gefühl davon sein, dass er sich mit aller kraft gegen den beweis, gegen die kontinuität und die kontingenz, gegen die formulierung, gegen alles richtige, unabwendbare, natürliche und evidente richten muss, wenn er eine entfaltung seiner selbst – und sei es auch nur für kurze zeit – erleben will. möge er bedenken, welcher kraft, welchen formats es bedarf, gegen eine im großen und ganzen abgerundete, stimmige, einhellige welt aufzustehen, wie sie uns in jedem augenblick an den kopf geworfen wird.“ Eine provokative Kraft zur Entfaltung eines

anderen und vielleicht auch besseren Selbst eignet der „verbesserung“ bis heute. Längst freilich ist der „roman“, der keiner ist, zu einem „Kultbuch“ der österreichischen Avantgarde geworden. Dabei weiß man nicht wirklich zu sagen, ob es sich dabei eher um ein literarisches Vermächtnis der Wiener Gruppe oder einen ganz neuartigen wissenschaftlichen Essay handelt. Eine bundesdeutsche Literaturprofessorin wollte unlängst wissen, ob der Text nun ernst oder ironisch gemeint sei. Für Österreich und Oswald Wiener kann die Antwort nur lauten: beides – und zwar sehr. Die „verbesserung“ liegt an einem ­Kreuzungspunkt von Literatur und Wissen-

schaft und sieht auch wie eine wissenschaftliche Abhandlung aus: mit Personen- und Sachregister, Vorwort und Literatur­ verzeichnis. Neben einer Unmenge an ­spezifischer Fachliteratur (auch aus der damals noch sehr jungen Disziplin der Kybernetik) finden sich dort auch so liebliche Eine bundesdeutsche Dinge wie „ahörnchen und behörnchen“ Literaturprofessorin wollte unlängst verzeichnet. wissen, ob der Text

Einer der wesentlichen Ansatzpunkte ist die ernst oder ironisch

Sprachphilosophie des frühen Ludwig Wittgenstein. Von der Überzeugung, dass die Probleme der Philosophie sprachliche ­Probleme seien und als solche über eine Analytik der Sprache gelöst werden könnten, setzt sich Wiener hier aber zusehends ab. Auch die Konzepte des späten Wittgenstein, denen zufolge die Bedeutung von Sprache eine Frage ihres Gebrauches sei, lässt Wiener hinter sich. Für ihn stellt sich das Denken selbst als ein nicht-sprachlicher Prozess dar. In „Vorstellungsbildern“, die erst später im Schreiben in Zeichenketten umgewandelt werden und im Akt des Lesens anhand dieser Zeichenketten neu rekonstruiert werden, funktioniert oder misslingt seiner Auffassung zufolge Kommunikation. In seinen späteren, bis heute fortgesetzten kognitionswissenschaftlichen Arbeiten, die auf der Methode der Selbstbeobachtung basieren, entwickelte Wiener eine ganze Theorie. In der „verbesserung“ liegt davon erst ein erster Ansatz vor, aber es reicht, um die Literatur und jenen literarischen Verfahren, die Wiener im ersten Teil des Buches selbst erprobt, einer radikalen Kritik zu unterziehen. Die Ausführungen zum Bio-Adapter verdanken ihre Bekanntheit wohl auch dem Umstand, dass die technische Realisierbarkeit des beschriebenen Apparats zusehends wahrscheinlicher wird. Es handelt sich dabei um einen Anzug, der sich über die Haut seines Trägers legt, sich mit dessen Nerven verbindet und diesem die jeweils ge-

gemeint sei

wünschte Außenwelt simuliert; wobei der Adapter jenen Nutzern, die von ihm und der sofortigen Wunscherfüllung genug haben, auch den Ausstieg aus diesem vorzumachen vermag. Das Nachwort, das der Literaturwissenschaftler Thomas Eder zur Neuausgabe der „verbesserung“ beigesteuert hat, liest sich streckenweise so, als hätte es Oswald Wiener selbst geschrieben. Offenbar hat der ansonsten mit Selbstkommentaren sparsame Autor ausführlichere Gespräche mit Eder geführt, und so erfahren wir auch, dass sich Wiener während der Arbeit an der „verbesserung“ zusehends in einen Wahn des Kontrolliertwerdens, des Sich-nicht-entfaltenKönnens, des Verhindert- und Überwachtwerdens hineingesteigert hat. Auch daraus mag sich der Zorn erklären, der in dem Buch steckt. Tatsächlich ist die „verbesserung“ auch ein

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Mit einem Nachwort von Thomas Eder. Jung und Jung, 220 S., € 22,–

Buch des Aufruhrs und der ungezügelten Gewalt. In dem Kapitel „PURIM. ein fest“, das Heimito von Doderer (wohl als Reverenz vor dessen Choleriker-Roman „Die Merowinger“) gewidmet ist, wird eine Theateraufführung beschrieben, bei der das gesamte Publikum von den Schauspielern, die nichts anderes als eine paramilitärische Einsatztruppe sind, bestialisch verprügelt wird. Wobei in dieser radikalen Variante der Publikumsbeschimpfung die damaligen Exponenten nicht allein der Wiener Kulturszene namentlich genannt werden. Es ist interessant, dass diese Exzesse dann doch wieder in ein explizit literarisches Bezugsfeld gesetzt werden, sodass die „verbesserung“ das Konzept der Literatur nicht nur von außen attackiert, sondern auch von innen aufsprengt. Das verleiht ihr den unverkennbaren Stil: Von Max Stirner borgt das Buch die Respektlosigkeit, von Wittgenstein den Drive und von Konrad Bayer den Witz. Gründe genug, es wieder (und wieder) zu lesen. K L AUS K ASTBERGER


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„Jede Generation braucht ihre Verleger“ Das Verlegerduo Jorgi Poll und Sarah Legler will die Edition Atelier als Literaturverlag neu positionieren

Die Veröffentlichungen waren breit gestreut,

umfassten Literatur, Kulturgeschichtliches und Politisches oder auch ein Sachbuch zum Thema Tarock (Mauthe war ein begeisterter Tarockspieler). 2002 wurde das Wiener Journal mitsamt der Edition Atelier von der Wiener Zeitung übernommen. Bis 2007 blieben Lendl und Axmann an Bord. Nach eine Übergangsphase stieß 2011 Jorghi Poll zum Team und übernahm in diesem Jahr gemeinsam mit Sarah Legler die Führung. Der seit 2004 in Wien lebende Poll hat den mittlerweile wieder eingestellten ­Theaterverlag gleichzeit mitbegründet, war als Produktionsleiter und Lektor tätig und hat auch selbst fürs Theater geschrieben. Sarah Legler studierte Komparatistik, hat für den Metroverlag gearbeitet und gibt die Literaturzeitschrift Keine Delikatessen heraus. Legler und Poll haben sich zum Ziel gesetzt, die Edition Atelier als selbstständi-

gen Verlag mit Schwerpunkt österreichische Literatur neu aufzubauen. „Vorher war das Programm breiter, aber auch diffuser“, erklärt Jorghi Poll beim Gespräch in den Verlagsräumen in der Schwarzspanierstraße. „Wir wollen die Edition Atelier als Literaturverlag etablieren und viel junge Belletristik machen.“ Das ist ein respektables, aber keineswegs unambitioniertes Ansinnen. Denn zum einen gibt es von Picus bis zur Edition Korrespondenzen, von Luftschacht bis Milena schon so einige heimische Kleinverlage, die sich vor allem auf Literatur konzentrieren, und zum anderen – da gibt man sich keinen Illusionen hin: „Debütanten kauft kaum jemand.“

Von den Autoren werde die Reihe dankbar angenommen, so Poll: „Oft wissen sie nicht, wo sie kürzere Texten unterbringen sollen. Sie sehen sich gezwungen, einen Erzählband daraus zu machen. Bei uns können auch einzelne Texte eigenständige Publikationen sein. Man kann in diesem Format etwas ausprobieren, ohne dass sich das erste Buch gleich gut verkaufen muss.“ Dagegen hätte man freilich auch nichts einzu-

Die Not macht zuweilen erfinderisch. Also

­ aben die Jungverleger etwa mit Textlicht h eine auffällige und ambitionierte Taschenbuchreihe gegründet, die das Kleine und Handliche hochhält: Die schlanken Bücher, die sich sehr gut einstecken lassen (und dennoch stabil sind) sollen einen Umfang von hundert Seiten tunlichst nicht überschreiten. Erzählungen und andere kurze Formen sind entsprechend häufig vertreten, das äußerst kurzweilige Schaufenster-Lob „Fensterfummeln“ der jungen Dramatikerin Claudia Tondl ist dort ebenso zu finden wie Thomas Ballhausens apokalyptische Erzählung „Lob der Brandstifterin“.

Jorghi Poll, Jg. 1978, und Sarah Legler, Jg. 1982, leiten seit Anfang des Jahres gemeinsam den Verlag Edition Atelier. Der Schwerpunkt liegt auf junger Literatur

wenden. Bis dato allerdings ist die mit Textlicht erzielte Aufmerksamkeit bei der Kritik und im Buchhandel aber, wie erhofft, hoch. „Wir hatten ursprünglich geplant, damit in den Kassenbereich von Buchhandlungen zu kommen“, erläutert Sarah Legler. „Aber das war wohl etwas naiv. Langsam allerdings bemerken die Händler schon, dass wir spannende Bücher machen.“ Verleger benötigen Durchhaltevermögen und Ideen. Die Edition Atelier will verstärkt an die Öffentlichkeit gehen. Im Herbst veranstaltet man nicht nur zahlreiche Lesungen und Buchpräsentationen, sondern startet auch eine Literatur-trifft-Party-Reihe im Fluc am Praterstern. Neben Autoren aus dem eigenen Haus bietet man dort eine offene Lesebühne, auf der man sich präsentierten kann, ohne dass das gleich in einen Poetry-Slam ausarten muss. Außerdem mischen Poll und Legler bei der neuen Literaturpassage im Museumsquartier mit, wo in Automaten 16-seitige Büchlein feilgeboten werden. Legler: „Es passiert momentan fast schon zu viel. Aber von unseren jungen Autoren kommt ständig jemand mit neuen Ideen daher.“ Dass sie als Verleger selbst noch recht jung sind, finden die beiden weiters nicht bemerkenswert: „Jede Autorengeneration braucht ihre eigenen Verleger“, so Poll. „Ich finde es einfach wichtig, dass man auf Augenhöhe miteinander reden kann.“ Bei aller Konzentration auf junge Literatur soll aber auch das Verlagserbe gepflegt werden. Einige Titel der Backlist laufen noch recht gut, etwa der Roman „Rauchschatten“ des Albaners Ilir Ferra. Alexander Kluys ansprechende Reihe Wiener Literaturen, in der vergessene Bücher neu aufgelegt werden, wird ebenfalls weitergeführt. Und Jörg Mauthes bekanntester Roman, „Die große Hitze“ über den Beamtenstaat Österreich, ist gerade in einer Neuauflage erschienen. Die Ziele, die sich Poll und Legler für die nächs-

ten Jahre gesteckt haben, scheinen realistisch. Sie wollen den eingeschlagenen Kurs weiterverfolgen und nach Möglichkeit ein bisschen wachsen, ohne das Programm zu verwässern. „Wir bekommen auch immer wieder Krimis und Kinderbücher angeboten, aber das machen wir nicht.“ Von E-Books wird man ebenfalls noch die Finger lassen: „Bei Belletristik ist das E-Book noch nicht so bedeutend. Wir blicken dem ganz gelassen entgegen und werden erst später einsteigen“, erläutert Poll. Eines erscheint ihm wichtiger: „Ich hätte gerne etwas Politisches im Programm. Es reicht nicht aus zu sagen, dass heute alles schlecht ist. Junge Autoren sollten sich mehr mit den Strukturen auseinandersetzen, die uns alle umgeben.“ SEBASTIAN FASTHUBER

fotos: Edition Atelier

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ie Edition Atelier blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. 1980 hatte der Schriftsteller und Politiker Jörg Mauthe (1924–1986) die kulturpolitische Zeitschrift Wiener Journal gegründet, fünf Jahre später stellte er ihr einen kleinen Verlag zur Seite. Geführt wurde die Edition Atelier lange Jahre vom Buchhändler Rainer Lendl und dem Kulturjournalisten David Axmann.


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Die heikle Balance von Fetisch und Furcht Gehst du zum Manne, vergiss die Peitsche nicht: Leopold von Sacher-Masochs Klassiker „Venus im Pelz“

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erglichen mit dem Marquis de Sade hat Leopold von Sacher-Masoch postum ein trauriges Schicksal erlitten: Seit der Psychiater Richard von Krafft-Ebing ihm in seiner „Psychopathia sexualis“ (1886) die prekäre Ehre erwiesen hat, ihn zum Namenspatron für eine Form sexueller Perversion zu wählen, wird Sacher-Masochs Name fast ausschließlich mit der Lust zu leiden verbunden – und kaum mit seinem literarischen Werk. Der Autor selbst, 1836 als Sohn des k.u.k. Polizeidirektors in Lemberg geboren, machte zwar kein Hehl aus den autobiografischen Koordinaten seiner Prosa, er inszenierte sich sogar als „Fall“, dennoch wehrte er sich gegen Krafft-Ebings terminologischen Kraftakt, wohl vor allem deshalb, weil er seine erotische Weltanschauung nicht als pathologisch abgestempelt sehen wollte. In nuce enthalten – und dabei sehr wohl auch problematisiert – ist diese Leidenschaft für das Leiden in SacherMasochs berühmtester Novelle, „Venus im Pelz“ von 1870. In der Rahmenhandlung berichtet der Erzäh-

ler seinem Freund, dem galizischen Gutsherrn Severin von Kusiemski, einen Traum. Just bei der Lektüre Hegels ist ihm die Göttin der Liebe erschienen, nackt in einen Pelz gehüllt, um ihm eine ironische Lektion zu erteilen. Angeregt war diese Erscheinung offensichtlich von einem Gemälde in Severins Salon, das den Hausherrn in jüngeren Jahren zu Füßen einer schönen Nackten im Pelz und mit Peitsche porträtiert und sein Gegenstück in Tizians „Venus mit dem Spiegel“ hat; „die pikanteste Satire auf unsere Liebe“, Venus, die „in der eisigen christlichen Welt in einen großen schweren Pelz schlüpfen muß, um sich nicht zu erkälten“. Severin, der sich gegenüber seiner hübschen Dienerin auffällig herrisch verhält, gesteht seinerseits, den Traum der Devotion „mit offenen Augen“ geträumt zu haben, er erklärt sich für „kuriert“ und über-

gibt dem Freund ein Manuskript zur Lektüre – die eigentliche Erzählung handelt von Severins Begegnung mit der schönen, jungen Witwe Wanda von Dunajew in einem Karpatenbad. Der Ich-Erzähler, zunächst heftig in die mar-

morne Venus im Park verliebt, ist sogleich fasziniert, nicht zuletzt von Wandas geradezu revolutionärer Philosophie des Eros, die das christliche Ethos der Treue ablehnt und sich zur antiken Liebe bekennt: „Ich verzichte auf euren heuchlerischen Respekt, ich ziehe es vor, glücklich zu sein.“ Verständlich, dass Severin darauf sinnt, in den Genuss dieser amourösen Großzügigkeit zu gelangen, zumal Wanda ihn durch einen nächtlichen Auftritt im Pelzmantel dazu ermutigt. Severins Heiratsantrag beantwortet Wanda mit dem ungewöhnlichen Gegenvorschlag einer einjährigen Probezeit mit Verehelichung bei Gefallen. Severin wiederum will nun, anstelle der Vereinigung auf Augenhöhe, die totale Unterwerfung unter die Frau. Die Rolle der grausamen Gebieterin behagt Wanda freilich zunächst gar nicht, schließlich setzt sie jedoch einen Kontrakt auf, den er unterzeichnet und nach dem sie ihn als ihren Diener, ja Sklaven behandeln, ihn demütigen, quälen, ja sogar töten darf, wobei ihre Gegenleistung bescheiden ist: möglichst häufiges Erscheinen im Pelz. Man begibt sich nach Florenz, und dass es nun ernst wird, erkennt Severin alias Gregor daran, dass er 3. Klasse reisen muss, wo der Waggon „mit dem niederträchtigsten Tabaksqualm wie die Vorhölle mit dem Nebel des Acheron gefüllt war“. Wanda, zunächst libertär gesinnt, dann probeweise monogam, beginnt Gefallen am sadistischen Spiel zu finden. Sie züchtigt Gregor/Severin nicht nur handgreiflich, sie kokettiert auch mit dem Maler, der sie beide in hierarchischer Zweisamkeit verewigt, und legt sich einen Apollo gleichenden Griechen als Geliebten zu, von dem sie Severin als Krönung auspeitschen lässt. Nun erst er-

Niemand, so urteilte Gilles Deleuze, sei „mit mehr Dezenz so weit gegangen“ wie Sacher-Masoch

Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Fischer Taschenbuch, 172 S., € 9,30

kennt der Erzähler, alleingelassen, das ganze Elend seiner Obsession. Ernüchtert kehrt er auf sein Gut zurück, wo ihn Jahre später ein Brief Wandas mitsamt dem Gemälde erreicht. „Venus im Pelz“ ist eine kluge, symbolistisch aufgeladene, bald humorvolle, bald exaltierte, mitunter auch bizarre Studie über das Verhältnis der Geschlechter, die Macht des Phantasmas und die heikle Balance von Fetisch und Furcht, von Stärke und Schwäche. Die Frage, wer hier eigentlich wen beherrscht,

bleibt offen. Wanda ergreift bald die Zügel, sie verwirklicht dabei jedoch Severins Ideal, indes der Fantast für sie als Mann fürs Leben immer weniger in Frage kommt. Zuletzt entpuppt sie sich als seine Lehrmeisterin – Severin formuliert Sacher-Masochs hellsichtiges Credo, dass nämlich die Frau nur entweder Sklavin oder Despotin des Mannes sein könne, seine Gefährtin erst dann, „wenn sie ihm gleich steht an Rechten, wenn sie ihm ebenbürtig ist durch Bildung und Arbeit“. Severin – vom lateinischen severus, streng – entscheidet sich für das role model des starken Mannes, der Erfolgsautor Sacher-Masoch tat das nicht. Über dessen durcherotisierte Literatur meinte Gilles Deleuze, nie sei jemand „mit mehr Dezenz so weit gegangen“. „Venus im Pelz“ ist auch eine Pioniertat des Ästhetizismus: Wie die Statue unter den Händen des antiken Bildhauers Pygmalion verwandelt sich Kunst in Leben. Und am Ende wird das Leben zu Kunst domestiziert. Die Erläuterungen der neuen Ausgabe sind leider dürftig. Erwähnt wird zwar Sacher-Masochs spätere Frau Angelika Aurora Rümelin, die sich Wanda von Dunajew nannte. Doch die eigentliche Venus im Pelz, Fanny von Pistor, kommt nicht vor: Mit ihr hatte der Schriftsteller tatsächlich einen Vertrag der Grausamkeiten geschlossen, nicht ohne sich darin täglich sechs ungestörte Arbeitsstunden auszubitten. DANIEL A STRIGL


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Umsturz und Ausdruckstanz Wien 2000 und 2015: In „Die Regeln des Tanzes“ geht es Thomas Stangl um das Bemühen, Bewegungsfreiheit zu gewinnen ie Romane von Thomas Stangl sind Sprachkunstwerke. Sie vermitteln, wie D genau man hinsehen kann und in wie viele

Bilder sich noch die kleinste Handlung auflösen lässt. Seine ersten drei Romane haben den Wiener als Liebling der Kritik etabliert und ihm einige Preise eingebracht. Das sogenannte breitere Publikum hat Stangl mit seinen so poetischen wie streckenweise hermetischen Texten allerdings noch nicht erreicht. Mit seinem jüngsten Roman „Die Regeln des Tanzes“ könnte sich das ändern. Könnte, denn an seinem Stil hat der Autor nichts geändert; dafür verfügt das Buch inhaltlich über das, was pfiffig formulierende Kritiker gern „Sprengkraft“ nennen: Teile des Romans sind Anfang 2000 auf den Straßen von Wien angesiedelt und erinnern an die Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung (der Autor war dabei). Eine der Demonstrantinnen ist eine Studentin,

die sich mit ihrer Schwester eine Wohnung teilt, aber nicht viel mehr. Wie man später erfährt – Stangl ist kein Autor, der dem Leser Informationen aufdrängen würde, er hält sie aber auch nicht künstlich zurück –, hat der Vater der Mädchen Selbstmord begangen. Seine Töchter suchen in der Folge nach Möglichkeiten abseits der vorgezeichneten bürgerlichen Lebenswege, kämpfen um eine Erweiterung ihrer Aktionsradien. Während Andrea schon zeitig aus dem Haus läuft, um sich den Protesten gegen

Schwarz-Blau anzuschließen, sich in der Menge verliert und gleichzeitig selbst intensiv spürt, legt sich Mona noch einmal nieder und schläft bis in den Nachmittag hinein. Eines Tages verschwindet sie. Schon früher war sie öfter für einige Zeit abgetaucht, diesmal jedoch kehrt sie nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurück. Den Erzählungen von Andrea und Mona Stanek fügt Stangl noch eine dritte Ebene und Hauptfigur hinzu. 15 Jahre später, wir befinden uns in der nahen Zukunft des Jahres 2015, streift ein Mann namens Dr. Walter Steiner durch Wien. Er ist über 60, pensioniert und scheint sich langsam in Luft aufzulösen. Seine Wohnung wird von seinen Augen langsam immer leerer: metaphorisch, weil die Gegenstände darin keine Bedeutung mehr haben, aber auch ganz real, weil seine Lebensgefährtin auszieht. Wo die Schwestern am Anfang ihres Weges standen und nach ihrem persönlichen Ausdruck suchten, kämpft hier jemand damit, dass ihm alles, was er gemacht und an Besitztümern angesammelt hat, gleichgültig geworden ist. Auch Steiner reagiert darauf mit einer Flucht aus den als beengend empfundenen vier Wänden. Bei seinen ziellosen Streifzügen durch Wien findet er eines Tages alte Filmdosen – mit Fotos, die die beiden Schwestern zeigen, ihre Wohnung und einen Grabstein. Steiner beginnt Nachforschungen anzustellen und findet heraus, dass Andrea Stanek noch lebt und als Tänzerin auftritt.

„Was für eine Schande, durch Fenster auf die Straße, in die Welt zu schauen, statt die ganze Welt in Besitz zu nehmen“

Thomas Stangl: Regeln des Tanzes. Droschl, 278 S., € 22,70

Sie übt sich in japanischem Ausdruckstanz („Ankoku Butoh, das heißt Tanz der Finsternis“). Der Roman kulminiert in einem gemeinsamen Auftritt mit dem älteren Herren, der vom Aussehen her an einer Stelle mit Cary Grant verglichen wird. Im Bühnenlicht beginnt er zu grübeln. Und

schon ist sein Auftritt wieder zu Ende – „er hat es verabsäumt sich zu bewegen“. Auch Andrea hat damals im Frühjahr 2000 nicht gehandelt. Einmal schien der Sturm aufs Kanzleramt unmittelbar bevorzustehen: „Einen Moment lang glaubte sie an die Möglichkeit des Umsturzes und der vollkommenen Freiheit: Was für eine Schande, denkt sie, in einer Wohnung zu wohnen, ein paar Zimmern, zwei oder fünf, egal: immer die gleichen Wege zu gehen. Was für eine Schande, durch Fenster auf die Straße, in die Welt zu schauen, statt die ganze Welt in Besitz zu nehmen. Statt sich die Welt zu nehmen.“ Dann zerstreuen sich die Demonstrationsteilnehmer wieder. Die Regierung redet in der Folge den Widerstand klein, der Protest verebbt. Stangls Roman als eine Erinnerung an das Jahr 2000 zu lesen, wäre eine stark verkürzte Rezeption. Es ist ein außergewöhnlich dichtes Buch über Identität, Abwesenheit und Erinnerung, in dem sich immer neue Details auftun; gewiss keine leichte, aber eine lohnende Lektüre. SEBASTIAN FASTHUBER

Die erotische Dreifaltigkeit erprobter Unmöglichkeiten In „Die Inszenierung“ kommt Martin Walser diesmal ohne Erzähler aus: Der Roman ist eigentlich ein Theaterstück in Krankenhauszimmer als TheaterbühE ne. Mehr braucht Martin Walser nicht für seine Inszenierung großer Gefühle. Der

Regisseur Augustus Baum ist während der Proben für Tschechows „Möwe“ zusammengebrochen und wird nun im Krankenhaus von seiner Geliebten, der Nachtschwester Ute-Marie, und seiner Ehefrau, der Ärztin Gerda, versorgt – von der einen mit Leidenschaft und sexueller Hingabe, von der anderen mit Müsli und unersetzlicher Vertrautheit. Das ist trivial und darf es auch sein, denn schließlich ist alles, was geschieht, Teil einer Inszenierung. Mit beiden Frauen verbindet Augustus ein Verhältnis, das in seiner Unterschiedlichkeit mit dem Begriff „Liebe“ nur ungenau beschrieben wäre. „Liebe gibt es eben in Tonarten, die miteinander nicht verwandt sind“, sagt der gar nicht so krank wirkende Regisseur. Die verschiedenen Tonarten neben- und miteinander erklingen zu lassen, sodass sie sich weniger stören als stützen, das ist fast so etwas wie das Lebensthema des Erzählers Martin Walser, von seinen frühen Romanen der Anselm-Kristlein-Trilogie bis hin zu seinem Spätwerk seit „Der Augenblick der Liebe“ (2004). Immer wieder variiert er seither die erotische

Dreifaltigkeit als Utopie, um nach Lösungsmöglichkeiten für diese konfliktreiche Grundkonstellation zu suchen. Zuletzt, in „Das dreizehnte Kapitel“ (2012), geschah

das in Form eines Briefwechsels. Jetzt, in „Die Inszenierung“, ist es ein Theaterstück, jedenfalls ein Roman in Dialogform. Es ist, als ob Walser die Romanform zu eng geworden wäre, als ob er nicht mehr bereit wäre, die Allwissenheitsillusion einer souveränen Erzählerstimme herzustellen. Stattdessen soll jede der auftretenden Figuren ungebrochen und ungefiltert zur Sprache kommen. Ein philosophisch orientierter Freund des darniederliegenden Regisseurs, der sich brieflich zu Wort meldet, nennt ein mögliches Vorbild: „Platon hat als erster Schluss gemacht mit dem Darüberschreiben. Direkte Rede! Rede und Widerrede! Spruch und Widerspruch! Anstatt die Tonart des jeden Widerspruch erstickenden, monologischmonomanen Behauptens fortzusetzen!“ Es ist klar, dass diese Einsicht Konsequenzen hat. Der konventionelle Roman ist damit obsolet geworden. Walser hebt ihn auf im Theater. Es wäre allerdings schon bedauerlich, wenn es der endgültige Abschied des Erzählers vom Erzählen wäre. „Die Inszenierung“ handelt von einer (scheiternden) Tschechow-Inszenierung, doch auch im Krankenzimmer, wo die Besucher(innen) sich die Klinke in die Hand geben, wird nichts als Theater gespielt. Vielleicht, so eine mögliche Lesart dieses Kammerspiels, ist Liebe nichts anderes als eine Inszenierung, die die Bereitschaft voraussetzt, an die selbst hervorgebrachten Illusionen zu glauben.

Augustus weiß, dass auch der Regisseur den Regisseur immer nur spielt – dass er also Teil seiner theatralischen Versuchsanordnung ist. Das ändert aber nichts daran, dass das, was so entsteht, echt ist und die Gefühle unerbittlich Wirklichkeit beanspruchen. Ehefrau Gerda ist diejenige, die das am ge-

Martin Walser: Die Inszenierung. Roman. Rowohlt, 174 S., € 19,50

nauesten verstanden hat. Sie publiziert ein Buch mit dem Titel „Abhängigkeit, Wahn und Wirklichkeit“, in dem sie Abhängigkeit als Ursache aller Krankheiten bezeichnet. Ihr Gatte bietet ihr dafür genügend Anschauungsmaterial. Martin Walser vergrößert und übersteigert die gegenseitigen Idealisierungen und Spiegelungen der Liebenden im Krankenhaus geradezu genüsslich, um sie bis in den Schmerz des Verzichtenmüssens hinein auszukosten. Das Walser’sche „Unglücksglück“ ist schließlich das einzig mögliche, das „alles enthaltende, alles spendende, alles wendende Glück“. Wenn es am Ende zur großen Versöhnung kommt und zum utopischen Hände-Ineinanderlegen der beiden gegensätzlichen Frauen an Augustus’ Bett, dann ist das reine Inszenierung, Wunschtraum und nichts als Theater. Nur hier, auf der Bühne der erprobten Unmöglichkeiten, kann gelingen, was das Leben nicht vorsieht. Martin Walser beweist das mit diesem radikalen, auf mildernde Umstände ganz und gar verzichtenden Stück. JÖRG MAGENAU


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Funkelnde Sterne, schweigende Berge Monika Zeiner zeigt in ihrem Debütroman keine Scheu vor den letzten Dingen und großen Kulissen

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ibt man auf Youtube den Namen der Band Marinafon in Kombination mit dem Schlager „Love in P ortofino“ ein, hört (und sieht) man Monika Zeiner den etwas schnulzigen Klassiker aus den 50ern von Fred Buscaglione singen. Der Schlager, überhaupt die Musik, spielt auch in ihrem Roman eine Rolle. Und die Liebe sowieso: Die in Würzburg geborene Berlinerin (Jahrgang 1971) hat über die Liebesmelancholie im Mittelalter dissertiert. „Die Ordnung der Sterne über Como“, nominiert sowohl für den Deutschen Buchpreis als auch für den aspekte-Literaturpreis, beginnt dort, wo die Liebe mal wieder endete. Tom Holler wurde gerade von seiner Frau verlassen. Seine Wohnung sieht desolat aus. Zwischen leeren Sixpack-Kartons und viel, viel Staub liegen zerknüllte Notenblätter. Auch die Arbeit berührt den Jazzpianisten nicht mehr. Draußen schneit es, das Leben ist grau. Das Wasserglas mit den Schlaftabletten stand

eigentlich schon bereit. Da meldet sich Betty, die Jugendliebe, und Tom bringt immerhin so viel Energie auf, dass er ihrem Lockruf nach Neapel folgt. Hier, wo die mittlerweile verheiratete Betty mäßig glücklich als Anästhesistin arbeitet, wird er mit seiner Band während der Italientournee Halt machen. Alles könnte wieder beginnen, alles ist wieder da. Tom fährt und fährt Betty entgegen, und der Leser verliert sich mit ihm im Strudel einer Vergangenheit, die immer dunkler, immer schwerer wird, je mehr Details über diese fast verpasste und tragisch verhinderte Liebe preisgegeben werden. Verständlich, dass dieses bevorstehende Treffen belastet ist. Man weiß bald, dass es neben den beiden noch Marc gab, Toms besten Freund, dass Marc damals gestorben ist und seitdem zwischen Tom und Betty kein Kontakt mehr bestand. Tom und Marc verband eine intensive Freundschaft, so, wie sie vielleicht nur in der Studen-

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tenzeit möglich ist, unter Seelenverwandten, die alles miteinander besprechen: die Frauen, die Kunst, die Abhängigkeiten. Marc war der Erfolgreiche, von Stipendien überhäuft; Tom der Träumer, der Gelegenheiten auch in der Liebe ungenutzt verstreichen lässt. Dann trat Betty hinzu, und alles geriet ins Wanken. Sie entschied sich für den zupackenderen Marc, Die Ménage-à-trois bestand aber fort, unter neuer Ordnung. Monika Zeiner lässt diese nachgetragene Erzählung dreier in Berlin lebender Studenten der Musikerszene mit WG-Leben und durchwachten Nächten langsam und immer raumgreifender in die erzählte Gegenwart hineinwachsen – bis zu jenen dramatischen letzten gemeinsamen Stunden einer Wanderung im dichten Schneetreiben. Die Berge des Engadin geben eine grandiose Kulisse für diesen Künstlerroman ab. Alle Fäden kreuzen sich hier, die Liebe, die Musik, der Tod. Wie lebt man weiter nach dieser ohrenbetäubenden Stille? Zeiners Romandebüt handelt von Projektionen. Und von Schuld. Nichts kann aufgelöst werden. Gerade jene Stellen, die die Autorin offenlässt, beflügeln dessen Deutungslust, gerade das Ungefähre ist reizvoll an dieser vielschichtigen Prosa, die im Kern vom Niedergang der Ideale erzählt. Auch Marcs Tod im Gebirge ist letztlich unerklärlich, bleibt der geheime Dreh- und Angelpunkt des Romans, der dessen Architektur zusammenhält, der alles anzieht und bindet. Man müsste schon sehr viel verraten, um genauer darzulegen, dass die Autorin hier die Bedingungen von Kunst überhaupt verhandelt.

Die Berge des Engadin geben eine grandiose Kulisse ab für diesen Künstler- und Liebesroman, der für mehrere Preise nominiert wurde

Zeiner schreibt aber auch sehr schön über Mu-

sik, etwa wenn sie Tom auf der Bühne über eben die Melodie von „Love in Portofino“ selbstvergessen improvisieren lässt – als Teil von Marcs avantgardistischer Komposition, was die Kritiker spaltet. Und trotz dieser Exkurse bleibt der Roman auf Kurs. Man erkennt Tom schnell als einen je-

Monika Zeiner: Die Ordnung der Sterne über Como. Blumenbar bei Aufbau, 607 S., € 20,60

ner Liebeskranken, die im 18. Jahrhundert noch medizinisch behandelt worden waren. Damals firmierte die Liebe durchaus als Krankheit. Dass Monika Zeiner bei allem Künstlerpathos aber auch einen Roman über die Banalität der Liebe vorlegt, zeigt sich immer wieder, unter anderem in den Passagen aus einer Vorlesung über die „Geschichte der Liebe“, die Tom und Marc hin und wieder besuchen. Im Mittelalter, heißt es da beispielsweise, habe man gewusst, dass Liebe nur in der Vorstellung existiere. Mit diesen Bildern der Einbildungskraft wird hier ein virtuoses Spiel getrieben. Und da passt es dann gut, dass Tom in der Erinnerung einiges überhöht, zum Beispiel die Liebesszene in Como, die dem Roman den Titel gibt. Ein solches Sujet läuft Gefahr, in den Kitsch abzudriften. Zeiner kann das weitgehend vermeiden. Manche Nebengeschichte und einige Figurencharakterisierungen sind vielleicht etwas klischeehaft geraten, die ein oder andere Metapher ist unglücklich gewählt und mitunter ist es der Liebesseligkeiten einfach zu viel. Im Großen aber behält die Autorin alle Fäden in der Hand und bleibt auch stilistisch wohltuend variabel: abgehoben, leicht und durchaus amüsiert, wenn es um die taufrische Liebe geht; nüchtern beschreibend, wenn gezeigt wird, was Marcs Tod alles angerichtet hat. Der Ratlosigkeit gegenüber solchen Ereignissen hat Zeiner einen unaufdringlichen, leisen, aber auch spannenden Roman abgerungen. Und so sieht man vor allem Tom, diesen idealistischen Tragiker, inmitten einer zerbrochenen Ordnung schwankend durch die Tage stolpern. Andere seines Alters sind schon auf festen Wegen. Er wird noch Ozeane befahren, vielleicht nie richtig festen Boden finden, obwohl er einer Generation angehört, die längst nicht mehr alles auf eine Karte setzen kann. ANJA HIR SCH

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Frau Brigittes verwilderter Garten In ihrem jüngsten Roman erschöpft Brigitte Kronauer ihre Leser auf das Allererfreulichste

Frau Wäns’ Revier ist ein Biotop, um dessen

Renaturierung sich eine Gruppe von Bürgern unter der Leitung eines gewissen Hans Scheffer kümmert – und der wird ihr zum Schicksal: Sie ist ein bisschen verliebt in ihn, nicht mehr, als es sich für eine Dame dieses Alters gehört. Aber eines Tages steht er mit ihrer Tochter Sabine vor der Tür und die beiden verkünden, dass sie heiraten werden. Das ist dann doch ein bisschen viel für Frau Wäns, obwohl sie sich für ihre Tochter natürlich freut, denn die hat vor Jahren ihren Sohn verloren und es gab Grund genug, sich wegen ihrer Depressionen Sorgen zu machen. Aber ist Hans Scheffer wirklich der Schwiegersohn, den man sich wünscht? Ein bisschen seltsam ist er ja schon, und was hat man eigentlich von seinem Verhältnis zu Adana zu halten, jenem Naturkind, das er aus Alaska in die norddeutsche Tiefebene lockte, von der sie sich freilich nach kurzer Zeit in Richtung Osten verabschiedet?

Das breite Publikum, schreibt der Dichter Pratz in sein Tagebuch, wolle unbedingt sogenannte richtige Geschichten. Der gemeine Leser toleriere eher, „dass sich jemand hundert Seiten lang mit jedem Schatten und Lächeln und Gedankenanflug an Ereignisse seiner Jugend erinnert als den Gewittersturm sporadischer Epiphanien“. In diesem Zitat darf man im Dichter Pratz wohl das Alter Ego der Autorin Kronauer erkennen: Denn wer „richtige“ Geschichten sucht, findet sie bei ihr nur mit Mühe, wird stattdessen aber Zeuge literarischer Epiphanien sonder Zahl. Die Geschichte der Frau Wäns und des Herrn Scheffer kommt noch am ehesten dem Bedürfnis nach einer „richtigen“ Geschichte entgegen, aber sie ist eingewachsen von den beiden Nachbarteilen, in denen es von Figuren und Dialogen, von Rätseln und Beobachtungen nur so wimmelt, eine erzählerische Entropie, in der man verloren wäre, könnte man sich nicht an Elsa Gundlach halten, die in Hamburg als „Krankentherapeutin“, als Physiotherapeutin, praktiziert – und in deren Wartezimmer sich regelmäßig ein großer Teil der Figuren trifft, von denen dieser Roman in hunderten Partikeln erzählt: Herr Brück, der Hundenarr, und die kleine Ilse, Herr Fritzle, den Rosen und dem Schach verfallen, die Herren Sykowa und Wind, der Pechvogel Alex und die schweigsame Eva, der Dichter Pratz und nicht zuletzt Frau Wäns. Sie ist Frau Gundlachs Lieblingspatientin, und schon deshalb ist ihr und ihrer Begegnung mit Hans Scheffer der große Mittelteil dieses epischen Triptychons vorbehalten. Manchmal, wenn Frau Gundlach nachts nicht schlafen kann, gehen ihr die Geschichten ihrer Patienten durch den Kopf und aus diesen Wachträumen und Assoziationen erhebt sich ein Gewäsch und ein Gewimmel, dass es eine Art hat. Aus kleinen Geschichten und Anekdoten, Rätseln, Briefen und Dialogen wuchert Seite für Seite eine ganze Welt. Man kann diese kleinen Stücke für sich studieren, so wie man sich bückt, um eine Blume zu be-

Richtige Geschichten findet man hier nur mit Mühe, stattdessen gibt es Epiphanien sonder Zahl

Am 21.11., 19 Uhr liest Brigitte Kronauer in der Alten Schmiede

wundern. Zu finden sind da einige Meisterwerke der Prosaminiatur, auf Augenhöhe mit Johann Peter Hebel, Robert Walser oder Botho Strauß. Brigitte Kronauer braucht manchmal nur ein oder zwei Sätze, um eine charakteristische Szene aufzubauen, sie spielt mit Klang und Rhythmus der Sprache, verliert sich dabei aber nie im Kunsthandwerklichen oder Ornamentalen, weil sie genauso die Kunst der radikalen Reduktion beherrscht: „Der kleinen Ilse, die ein schüchternes, nur beim Theaterspielen merkwürdig grausames Kind ist, tut kein Mensch was. Sie ist einfach zu dünn.“ Knapper lässt sich ein Abgrund an Elend nicht vorstellen. Nun kann man dieses Buch aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive ­betrachten, als ein großes Prosapatchwork, in dem sich die Details der einzelnen Elemente verlieren. Die Erzählungen breiten sich in alle Richtungen aus, lassen sich nicht auf einen Erzählstrang bringen. Nur den Damen Gundlach und Wäns, die mit allen Figuren irgendwie bekannt sind, ist es zu verdanken, dass das Gewimmel der Ereignisse nicht völlig außer Kontrolle gerät. Ein solches Erzählen widerlegt die Vorstellung,

Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel. Roman. Klett-Cotta, 612 S., € 27,70 Das Buch erscheint am 24.10.

Geschichten bräuchten einen irgendwie logischen Verlauf und dazu einen Anfang und ein Ende, um sich aus dem Gewäsch und Gewimmel der Zeitläufte abzuheben. Kronauer lässt unzählige Geschichten nebeneinander wuchern, verbindet sie mal hier, mal da, züchtet Ableger, gönnt einer Figur einen großen Auftritt, um sie dann in der Versenkung verschwinden zu lassen – vielleicht für immer. So entsteht eine Prosa, von der man manchmal nicht weiß, ob sie nun ­geschrieben oder geträumt ist, ein Universum im Kleinen wie im Großen, eine Herausforderung für den Kopf und für die Sinne: ein Roman, der den Leser im Zustand erschöpfter Zufriedenheit zurücklässt. Ins Regal stellen will er ihn nach so vielen gemeinsam verbrachten Stunden noch lange nicht. TOBIAS HE YL

Illustr ation: georg feierfeil

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an kann sich den neuen Roman von Brigitte Kronauer wie einen verwilderten Garten vorstellen: an den Seiten zwei Beete, in denen die Natur vor sich hin wuchern darf, in der Mitte ein Beet, das wenigstens Ansätze gärtnerischer Bemühungen erkennen lässt. Diese drei Beete entsprechen den drei großen Teilen, aus denen sich dieser mächtige Roman zusammensetzt, der auf einen so irritierend leichten Titel hört: „Gewäsch und Gewimmel“. Man überblickt ihn am besten von der Mitte, vom leidlich gepflegten Beet aus. Dort wuchert die Geschichte der Luise Wäns, einer alten Dame, die vor den Toren Hamburgs, am Rande eines Landschaftsschutzgebiets, wohnt. Sie erinnert an jene rüstigen Pensionistinnen, die zu früher Stunde mit einem altmodischen Regenmantel und einem Rucksack ausgerüstet zu einer Wanderung durch ihr Revier aufbrechen, die jeden Pilz, jede Pflanze mit Namen ansprechen und die Vögel an ihrem Gesang erkennen.


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Odysseus ernährt sich von Pizza Terézia Mora legt mit „Das Ungeheuer“ Teil zwei ihrer Trilogie über den IT-Fachmann Darius Kopp vor

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u bist die Liebe meines Lebens. Und, ach ja, ich bin gefeuert worden“, sagt Darius Kopp zu seiner Frau Flora. Den klassischen Literaturthemen Liebe und Tod fügte Terézia Mora mit ihrem letzten Roman „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009), in dem Kopp seinen ersten Auftritt bekam, ein weiteres hinzu: die Arbeit. In „Das Ungeheuer“, Band zwei der projektierten Trilogie über den übergewichtigen ostdeutschen IT-Fachmann in der Welt von Wirtschafts- bzw. Finanzkrise und McJob, führt sie diese drei Themen eng. Denn Kopps Frau Flora hat sich, nach neun Jahren Ehe und vier Tage vor ihrem 38. Geburtstag, das Leben genommen und damit ihre Gefühle der Ohnmacht und des Schmerzes auf ihren Mann übertragen. Kopp kann nicht mehr arbeiten und frisst sich monatelang durch die Pizzakarte des Hauszustellers, bevor er, um seine Frau zu begraben und womöglich besser zu verstehen, zu einer Reise aufbricht, die ihn von Berlin über Floras Heimat Ungarn quer durch Südosteuropa bis nach Georgien und Armenien und schließlich Athen führt. Mit im Gepäck: die Urne seiner Frau sowie deren Tagebuchaufzeichnungen, die Kopp übersetzen ließ und die Mora uns ebenfalls zur Gänze zu lesen gibt – auf dem unteren Drittel der Buchseiten, die unter einem schwarzen Querbalken allerdings lange frei bleiben. Eigentlich müsste man diesem Buch, dessen

zwei Lesebändchen zunächst Rätsel aufgeben, eine Leseanleitung voranschicken, aber das wäre vermutlich uncool. Die Flora-Kapitel, die konventionell durchnummeriert sind, hätte man getrost auch hintereinander drucken können, allerdings wäre damit Floras Parallelleben, deren düstere Untergrundexistenz nicht auf diese Weise sichtbar und fühlbar geworden. Aus Floras Erinnerungen, Reflexionen und Lektürefrüchten – inklusive seitenweise Zitaten aus psychologischen Handbü-

chern – ergibt sich das Psychogramm einer klinischen Depression, gegen deren Diagnose sich Flora zwar verwehrt, die aber durch ihre Kindheit sowie traumatisierende Erlebnisse als Erwachsene hinreichend motiviert wird. Das gemeinsame Leben, die Ehe, erschließt sich ausschließlich aus den Da­riusKapiteln und die Flashbacks, die den sich auf der Suche oder vielmehr Flucht befindlichen Witwer immer wieder überfallen. In Floras Aufzeichnungen hingegen kommt er so gut wie gar nicht vor – und genau darin besteht das Beklemmende dieser Geschichte einer unerfüllten Liebe.

Darius Kopp

Moras bekannt schmuckloser Duktus hält

sich nicht mit ausführlichen Beschreibungen oder elaborierten Adjektiven auf. Und trotz der durchaus exotischen Schauplätze befindet sich die Hauptbühne im Kopf des Helden. Dass dennoch ein dem Genre der Road Novel angemessener Drive entsteht, verdankt sich nicht nur dem ständigen Perspektivwechsel zwischen erster und dritter Person, sondern auch Kopps innerer wie äußerer Getriebenheit, die nicht von ungefähr an Döblins Franz Biberkopf und Joyces Leopold Bloom erinnert. „Immerhin bin ich kein Nazi. Nein, nur ein gewöhnlicher Feigling.“ Und: „Ich bin etwas einfach gestrickt. Essen, Sex, und schon bin ich befriedet“, sagt Kopp über sich selbst. Als Mann ohne Eigenschaften angelegt, gibt er trotzdem einen glaubwürdigen Schmerzensmann ab, der durch die Unbedingtheit seiner Trauer und die Anteilnahme am Unglück seiner Frau zunehmend an Tiefe gewinnt. Die Depression gehört zu jenen Krankheiten, die die Empathiefähigkeit zerstört, den Menschen auf sein Leiden zurückwirft. „Warum hast du dich vor mir versteckt?“, fragt Darius nach der Lektüre der Aufzeichnungen. So, wie Flora einsam war mit Darius und trotz seiner Anwesenheit, ist dieser nun einsam ohne Flora und in dem vollen Bewusstsein ihrer Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Rücksichtslosigkeit.

Am 21.10., 20 Uhr liest Terézia Mora im Literaturhaus in Graz, am 22.10, 19.30 Uhr ist sie im Stifter-Haus in Linz zu Gast

Terézia Mora: Das Ungeheuer. Roman. Luchterhand, 688 S., € 23,70

Dass Kopp, dieser Widergänger des Odysseus,

in diesem Sumpf, dieser Unterwelt nicht ganz zugrunde geht, hat er nicht zuletzt den zahlreichen Menschen zu verdanken, die er unterwegs trifft, die ihn begleiten, einladen, spiegeln und herausfordern. „Wir sind alle überflüssig“, weiß er zum Schluss. „Langsam, ganz langsam nur, begreife ich. Dass der gelungene Mensch die Ausnahme ist, nicht die Regel, deswegen spricht man ja auch von einem Ideal. Ich liebe dich so, wie du bist.“ In eine Athener Demonstration geraten, kann er schließlich – wenn auch nur aufgrund des von der Polizei eingesetzten Tränengases – sogar weinen und dann auch lachen. „Man kann es sich nicht vorstellen, aber mit der Zeit nimmt die Trauer ab und auch alle anderen Gefühle. Ein Lebendiger kann nicht mit einem Toten leben, so ist das einfach.“ Noch erschöpft von dieser fast 700 Seiten langen Totalabreibung fragt man sich bange, was Mora im dritten Teil mit diesem Ritter von trauriger Gestalt wohl noch vorhaben kann. K IR STIN BREITENFELLNER

Thomas Stangl Regeln des Tanzes Roman

Monika Gruber, begeisterte Buchhändlerin und Leserin, empfiehlt:

Longlist

Buchhandlung Morawa Wollzeile 11 1010 Wien Fon: 01-5137513-450

»Regeln des Tanzes beweist eindrücklich, dass Poesie und Politik einander nicht ausschließen müssen. Der Roman gehört ohne Zweifel zum Besten, was es an neuer deutschsprachiger Literatur zurzeit zu lesen gibt.« (Katja Gasser, ORF) »Thomas Stangls Befunde zur Gesellschaft treffen ins Schwarze, seine Sätze ins Herz. Ein Meisterstück - jede andere Bezeichnung wäre Untertreibung.« (Andreas Puff-Trojan, Der Standard)

© Aleksandra Pawloff

E-Mail: buch@morawa-buch.at Webshop: www.morawa-buch.at

„Ich bin etwas einfach gestrickt. Essen, Sex, und schon bin ich befriedet“

„Wenn du dich schon zerstören musst, dann tue es diskret oder so schnell, dass andere keine Schaden daran nehmen. Den Schmerz, der dir nachfolgt, kannst du aber auch dann keinem nehmen. Verzeih, dass ich dich da hineingezogen habe“, schreibt Flora einmal. Ansonsten gibt es in ihrer fatalen Selbstbezogenheit, die zwischen Selbstverachtung und Arroganz, Selbstverleugnung und harschem Stolz hin und her wechselt, keine sichtbare Lücke. Zu ihrer vermutlich lesbischen Freundin Gaby sagt sie einmal, dass Darius sie schöner sehe, als sie wirklich sei – und dass seine Immunität sie tröste. „Dass er mit jemandem wie mir zusammenleben kann, ohne dass er davon angegriffen wird. Er bleibt stets, was er von Anfang an war.“ Damit wird sie am Ende nicht Recht behalten.

Regeln des Tanzes. Roman 280 Seiten, € 22.-

LITERATURVERLAG DROSCHL www.droschl.com

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Die Schrecken des Egos und der Trockenheit Im Kontext des Lateinamerika-Booms veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag ab den 1970er-Jahren auch einige Werke von Clarice Lispector. Das meiste davon ist längst vergriffen. Umso erfreulicher die Initiative des Schöffling-Verlags, das Gesamtwerk der Autorin neu herauszubringen. Diesen Herbst sind die beiden ersten Romane erschienen, „Nahe dem wilden Herzen“, den Lispector als 22-Jährige verfasste, sowie „Der Lüster“ in einer sorgfältigen, sprachlich kreativen Erstübersetzung von Luis Ruby. Ergänzt wird das Programm von der großartigen Lispector-Biografie Benjamin Mosers, der nicht nur über das angelsächsische Knowhow für ein solches Unternehmen verfügt, sondern auch über ein ungewöhnlich starkes Einfühlungsvermögen

Clarice Lispector: Klappt es mit der Renaissance ?

© Claudia Schumann

Königreich der Schatten „Quentin Tarantino meets Gebrüder Grimm, um einen Roman über industrielle Fleischproduktion und Karrieremodelle im 21. Jahrhundert zu entwerfen. Beunruhigend schön ist das.“ ORF „Schwarzhumorige Schlachtplatte. Achtung! Achtung!“ Tiroler Tageszeitung

Clarice Lispector zog zwei Söhne groß, von de-

nen der eine, hochbegabte, an Schizophrenie erkrankte. Das Schwanken zwischen radikaler Unterordnung unter die Imperative ihrer Kunst, die sie in hermetische Räume und letztlich ins Schweigen führte, und den Anforderungen des Alltagslebens, in denen auf Mitmenschen Rücksicht zu nehmen war, kennzeichnet nicht nur ihre Existenz, es ist eine wesentliche Bewegung ihrer Texte.

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Das Werk der aus der Ukraine stammenden Brasilianerin Clarice Lispector wird bei Schöffling endlich neu aufgelegt

f o t o : M u s e u - A r q u i v o d e L i t e r a t u r a B r a s i l e i r a , F u n d a ç ã o C a s a d e R u i B a r b o s a , R i o d e J a n e i r o . M i t f r e u n d l . G e n e h m i g u n g v o n P a u l o G u r g e l Val e n t e

L

aut dem Biografen Benjamin Moser ist es sehr wahrscheinlich, dass die Mutter der brasilianischen Autorin Clarice Lispector von einer Soldatenbande vergewaltigt wurde, kurz bevor oder während sie mit Clarice schwanger war. Solche Horrorgeschichten spielten sich in der trüben ukrainischen Wirklichkeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution häufig ab. Die Familie Lispector war jüdisch, sie musste sich vom Kleinhandel ernähren und immer wieder den Wohnort wechseln. Es gab Zeiten, in denen sie vom Hungertod bedroht war. Clarices Mutter infizierte sich beim erwähnten Vorfall mit Syphilis. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind gesund zur Welt kommen würde, war gering. Clarice überlebte, die Mutter siechte ein Jahrzehnt dahin, ehe sie starb: in Brasilien, wohin die Familie geflüchtet war, als Clarice noch keine zwei Jahre alt war. Dort brachten es die Lispectors langsam zu bescheidenem Wohlstand, die drei Töchter konnten studieren, aus Clarice wurde die berühmteste Schriftstellerin des Landes. Zeitlebens behielt sie einen seltsamen Akzent bei, auf dem sie beharrte, obwohl sie sich ganz und gar als Brasilianerin fühlte. In Osteuropa war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung verbreitet, Syphilis sei durch eine Schwangerschaft heilbar – ein Aberglaube, der sich auf Clarice übertrug. Immer wieder sollte sie, die sich am Tod der Mutter auf irrationale Weise schuldig fühlte, das eigene Schreiben damit in Zusammenhang bringen: „Ich schreibe, als gälte es, jemandem das Leben zu retten. Wahrscheinlich mir selbst“, notierte Lispector gegen Ende ihres Lebens. Andererseits hatte sie in der Mitte ihres Lebens gemeint, sie sei „als Mutter wichtiger denn als Schriftstellerin“.

C.H.BECK

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Mit zahlr. Illustrationen von Mari Otberg. 256 S. Geb. € 19,95 ISBN 978-3-406-65389-6

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l i t e r a t u r    Ăœber den „Steppenwolf “ fand die 13-jährige Clarice zur Literatur. Auch bei Hesse – und später bei Thomas Mann, etwa in „Doktor Faustus“ – ist dieser Dualismus werkbestimmend und bedingt die Aufspaltung in zwei oder mehrere Figuren, in denen der Autor verschiedene Seiten seines Selbst abbilden kann. Dies geschieht auch in Lispectors erstem Roman, „Nahe am wilden Herzen“, der nun bei SchĂśffling im Rahmen einer Gesamtausgabe der Werke erschienen ist. Joana und LĂ­dia sind zwei Frauen, die denselben

Mann begehren; zwei Lebensformen, deren Widerstreit kein Ende findet. Eine „kleine Familie“ zu haben, das ist, ähnlich wie beim Kafka der TagebĂźcher und der Briefe an seine Verlobte, der unerfĂźllbare Wunsch

„Immer wieder bekundet Lispector das Leiden an der Getrenntheit von der Mutter und von der Welt“

der kalten, auĂ&#x;erordentlich empfindsamen, zugleich naiven und scharfsinnigen Joana, die ihre Gegenspielerin, die schwangere LĂ­dia, zugleich verachtet und beneidet. Diese Spaltungen beschränken sich bei Lispector jedoch nicht nur auf fest umrissene Figuren, sondern finden augenblicklich und wiederholt im Inneren der Figuren statt, die zweifellos die halluzinatorische Innenwelt der Autorin spiegeln. Damit kommt eine philosophische Thematik ins Spiel, die in „Nahe dem wilden Herzen“ durch den Namen Spinoza markiert ist. Auf ihn, den jĂźdischen Philosophen, der die GĂśttlichkeit der Natur und damit letztlich des Menschen postuliert hatte, sollte sie immer wieder zurĂźckkommen. Als sie ihren ersten Roman schreibt, ist Lispector 22 Jahre alt. Ăœber das Miteinander von kindlicher Naivität und kĂźhnem, dabei vollkommen souveränem Denken bei einer unter schwierigsten Bedingungen aufgewachsenen Autorin dieses Alters kann man nicht genug staunen. Lässt man sich auf ihr nicht ganz zu Unrecht als „schwie-

rig“ bezeichnetes Werk ein, wird die LektĂźre zu einem fortgesetzten Prozess solchen Staunens, von einem kleinen Wunder zum nächsten: Wunder der Wahrnehmung, der tänzerischen Denkpirouetten, der schĂśpferischen Sprache. Will man den Kern dieser durch und durch poetischen, nach innen wie nach auĂ&#x;en hellsichtigen Existenz ausfindig machen, stĂśĂ&#x;t man auf das, was Nietzsche als „Schmerz der Individuation“ bezeichnete. Immer wieder bekundet sie das Leiden an der Getrenntheit vom anderen, von der Mutter, von der Welt. Das Werk selbst kann unter diesem Gesichtspunkt als ein einziger, vielfältiger Versuch gelten, die Individuation zu Ăźberwinden. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, wie die Autorin selbst weiĂ&#x;. Während der GroĂ&#x;teil der brasilianische Literatur zu Zeiten Lispectors und im Grunde bis heute damit beschäftigt ist, eine brasilianische Identität zu definieren und zu beschreiben, betreibt diese Autorin eine Akrobatik der Differenzierung von Identischem, schildert ein Schwanken und Oszillieren dessen, was einer (oder eine) sein kann und nicht sein kann. Diese Form des Differenzierens erstreckt sich auch auf die zeitliche Dimension, und so wird die Erzählung selbst zu einem Vorgang, in dem sich ein Ich der Abfolge der Augenblicke aussetzt, um unter den allzu menschlichen Bedingungen grĂśĂ&#x;ere, alternative, letztlich umfassende Einheiten herzustellen. Das anspruchsvolle Hin und Her zwischen Vereinzelung und Ganzheit fĂźhrt dazu, dass sich Lispector auf kĂźnstlerisch vielfältige Weise ausdrĂźckt. Es gibt keinen Lispector-Ton, kein Lispector-Thema, es gibt nur die Suche nach dem idealen Ausdruck, der im Idealfall nichts anderes als ein von auĂ&#x;en kommender Eindruck wäre.

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Welt“ – um ein Wort von Francis Ponge zu gebrauchen, den sie nicht kannte, der ihr aber durch sein Werk sehr nahe steht. Es gibt den Wort und Werk werdenden Wunsch, ein anderer zu sein, ein Stein, eine Kakerlake, die man verspeist. Einverleibung der Wirklichkeit, das ist es: darunter leidet die Autorin und daran ergĂśtzt sie sich bis zur Wollust. In ihrem zweiten, nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Roman „Der LĂźster“ formt die Heldin kleine Statuen aus Ton und Wasser. Es ist unklar, ob sie in diesen Szenen erwachsen ist, ein Kind – oder beides. Die sich immer wieder ins Erwachsenenleben schiebende Kindlichkeit äuĂ&#x;ert sich im Spiel, das zur kĂźnstlerischen Tätigkeit wird. VirgĂ­nia, das Alter Ego von Clarice, knetet „Kinder, Pferde, eine Mutter mit einem Kind, eine Mutter alleine, ein Mädchen, das Dinge aus Lehm formte, einen Jungen, der sich ausruhte, ein Mädchen, das froh war“ usw. Auffällig an dieser Serie ist die Wiederkehr der Mutter und die SelbstbezĂźglichkeit, denn die KnetkĂźnstlerin formt auch ein Abbild ihrer selbst, wie Gott den Menschen nach seinem Bilde. Kinderspiel und mĂźtterliche „Kreativität“ gehen ineinander Ăźber, zusammengefasst werden sie von der Vision eines menschlichen Deus Faber, eines Creator Spiritus.

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Aus dem Portugiesischen von Ray-GĂźde Mertin und Corinna Santa Cruz. 272 S., â‚Ź 20,60 Der LĂźster. Aus dem Portugiesischen und mit einem Nachwort von Luis Ruby. 368 S., â‚Ź 23,60

1977 erkrankt die Autorin an einem Ovarialkar-

zinom, dem sie ziemlich rasch erliegt. Es ist, als wäre sie vom Schicksal ihrer Mutter, die sie nicht hatte retten kĂśnnen, eingeholt worden. Noch in einem Entwurf zu „Aqua viva“, 1973 erschienen, hatte sie „gestanden“, dass sie sich eine kleine Puppe gekauft habe: „Beim Schlafen kuschle ich mich an sie. Ich erwecke die Dinge zum Leben.“ Sie fĂźgt hinzu: „Und damit habe ich nun ein Mädchen – ich hatte ja bisher nur SĂśhne.“ In ihrem FrĂźhwerk tauchen Bilder des inneren Austrocknens von Frauenfiguren auf. Nicht Vernichtung, sondern Unfruchtbarkeit, das Ungeborensein und -bleiben, ist die schrecklichste der zahllosen Visionen in Lispectors BĂźchern. Das eine Werk, an dem sie in unterschiedlichen Tonlagen und Erzählformen arbeitete, stemmt sich gegen die frĂźh gemachte Erfahrung, dass alles dem Untergang entgegenstrebt.

Es gibt die Fremdheit ihrer Sprache, die Abwei-

chung von Normen und Gewohnheiten, den zugleich harten und weichen Akzent, die warme Kälte, paradox wie einst die petrarkistische Poesie. Es gibt die radikale Innenschau, die sich freilich mit jener Hochempfindlichkeit, jenem allzeit bereiten MitfĂźhlen nicht nur mit den Menschen, sondern mit der Kreatur und den toten Dingen verbindet, mit der Neugier auf die „stumme

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Benjamin Moser Clarice Lispector. Eine Biographie. Aus dem Engl. von Bernd RullkÜtter. 584 S., ₏ 38,– Alle: SchÜffling & Co.

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Von der Opiumhöhle zur Heroinhölle Jeet Thayil und Mohsin Hamid erzählen von den menschenverschlingenden Megastädten Asiens

Asien boomt, doch die Dynamik seiner monst­

rös wachsenden Mammutstädte speist sich auch aus Verbrechen, Korruption und Ge­ walt. Auf legalem Wege, so der Lektüre­ eindruck aus den jüngsten Mega-City-Ro­ manen, können junge Habenichtse aus den Dörfern in der Stadt nicht reich werden, ge­ schweige denn stinkreich. Das gilt für den namenlosen armen Dorfjungen, dessen Aufstieg und Scheitern in einer namenlosen Megalopolis Mohsin Hamid in seinem dritten Roman „So wirst du stinkreich im boomenden Asien“ nach­ zeichnet, ebenso wie für die Hauptfiguren im Debütroman des indischen Lyrikers und Musikers Jeet Thayil, der in „Narcopolis“ ein nächtliches Bombay beschreibt, das an der Nadel hängt. Am Beispiel einer Gruppe von Süchti­ gen erzählt Thayil den Übergang von der Opiumhöhle zur Heroinhölle Bombay in den 1990er-Jahren. Kaum je fällt Tageslicht in diesen Dämmerroman, der die schumm­ rigen Schauplätze seiner Schattenwelt fast nie verlässt und erst am Schluss in die schimmernden Nachtklubs der neureichen Hindu-Schickeria von heute wechselt, die Kokain und Ecstasy konsumiert, neue Dro­ gen für ein neues Bombay. Anfangs zieht noch der Opiumrauch durch Raschids finstere Kaschemme in der Shuklaji Street, mitten im verrufensten Rotlichtviertel der Stadt. Der Roman lässt

eingangs die schwarze Legende des alten Bombay, die geheime Geschichte der Dro­ genrituale in den Opiumhöhlen der 1970erund 1980er-Jahre, in unendlichen kreiseln­ den, halluzinatorischen Wortwirbeln aufer­ stehen und erinnert, nicht ohne Wehmut, an üppige Drogenräusche voll verschwiege­ ner spiritueller Pracht – köstliche narkoti­ sche Tagträumereien, genossen im Kokon von Raschids wohlig gepolstertem Etablis­ sement und sorgsam begleitet von den Zeremonien des Eunuchen Dimple, einer transsexuellen Prostituierten, die die Pfei­ fen so kunstvoll zu stopfen versteht. Er/sie ist das Gravitationszentrum des Romans, sein moralischer und emotionaler Mittelpunkt; sein/ihr Schicksal hält die sich über drei Jahrzehnte erstreckende Geschichte zusammen. Die Laster der Stammkunden – ein bunter Haufen von Zu­ hältern, Dealern, Künstlern und Gangstern, bald auch von Hippies und anderen neu­ gierigen ausländischen Touristen – erschei­ nen in milde Nostalgie getaucht. Doch gleichsam über Nacht steigen die Stamm­ kunden – und mit ihnen auch Raschid und Dimple – von der Opiumpfeife auf Heroin um. Verglichen mit dem neuen, harten Stoff wirkt das altmodische Opium geradezu harmlos.

Das opiuminduzierte Rauschglück weicht dem Elend der Abhängigkeit von dreckigem Stoff

Jeet Thayil: Narcopolis. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer, 384 S., € 23,70

Der schwarze Glamour des Opiumkonsums,

genossen als kleiner Freiheitsrausch, als ­zeitweilige chemische Erlösung von der Alltagstrübsal, ist verschwunden. Ersetzt wurde das Rauschglück durch das Elend der Abhängigkeit von dreckigem Stoff und durch den körperlichen Verfall. So driftet der Roman durch seine private Nischen­ welt aus kleinen Erlösungen und großem Grauen. Jeet Thayil, der aus seiner Junkie-Er­ fahrung keinen Hehl macht und seine 20 an die Sucht vergeudeten Jahre in Inter­ views bedauert hat, will sich mit diesem Debüt in die reiche Drogen-Weltliteratur von Thomas de Quincey bis William S. Bur­ roughs einschreiben. Dabei ist es ihm weni­ ger um heroische Junkie-Nostalgie plus mo­ ralischen Entzugskater zu tun als vielmehr

Mohsin Hamid: So wirst du stinkreich im boomenden Asien. Roman Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. DuMont, 223 S., € 19,60

um das Gedenken an die Drogenköpfe, die mit ihm in den Opiumhöhlen der Shuklaji Street auszuschweifen pflegten – die Sücht­ ler, die Abgestürzten, die Kaputten. Ihnen will er mit „Narcopolis“ ein Denkmal set­ zen, in der Erinnerung an eine Welt, die nicht mehr existiert – außer auf den Sei­ ten eines Buches. Ein ganz anderer Erzählton herrscht in Mohsin

Hamids „So wirst du stinkreich im boo­ menden Asien“. Dieser scharfsichtige und bissige Roman verkleidet sich in sarkasti­ scher Absicht als Selbsthilfebuch, indem er zugleich seinen Helden und den Leser in der Du-Form anspricht und nach Art der Ratgeberliteratur mit Karrieretipps ver­ sorgt: Zieh in die Stadt. Verschaff dir Bil­ dung. Meide Idealisten. Der Held bringt es vom armen Nobo­ dy aus der ländlichen Hinterwelt zum kor­ rupten Tycoon in einer Mega-City. Seinen Reichtum verdankt er einer guten Geschäft­ sidee und einer Portion Skrupellosigkeit bei deren Umsetzung: Als findiger Selfmade­ man nutzt er den krassen allgemeinen Trinkwassermangel, steigt mit gefälschtem Mineralwasser (abgekochtem Nutzwasser) ins Tafelwassergeschäft ein und baut sich ein Imperium auf, wobei er auch die im­ mer zynischeren Ratgebertipps beherzigt: Scheue nicht vor Gewalt zurück. Jonglie­ re mit Schulden. Ohne Bestechung, Mord und blutige Re­ vierkämpfe mit Konkurrenten geht es nicht ab. Damit beginnt der geschäftliche Ruin des Helden, denn für die ganz große Ab­ zocke fehlt diesem Außenseiter der Zugang zum Netzwerk der Machtelite, die die ein­ träglichsten Pfründen immer noch unter sich verteilt. Einen weiteren Rat („Verlieb dich nicht“) missachtet der Held. Seine große Liebe ist und bleibt „das hübsche Mädchen“, dessen Aufstieg und Fall parallel zu seiner Karri­ ere verlaufen. Seinen glänzenden Ruf als Seismograf der Umbrüche, die den indi­ schen Subkontinent heute durchrütteln, bestätigt Mohsin Hamid mit diesem Ro­ man aufs Neue. SIGRID LÖFFLER

Illustr ation: georg feierfeil

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an erkennt es erst auf den zwei­ ten Blick: Die eigentlichen Prota­ gonisten der Romane des Inders Jeet Thayil und des Pakistani Mohsin ­Hamid sind die vor sich hin explodieren­ den Megastädte Asiens, und ihr eigentli­ ches Thema ist die Verstädterung. „Zieh in die Stadt“, lautet der Lockruf, der junge Leute vom Land auf der Suche nach einem besseren Leben heute in die Millionen­ städte treibt, wo ihnen, um Fuß zu fassen, jedes Mittel recht sein muss – weshalb die Aufsteigergeschichten in den neuen Großstadtromanen vom indischen Subkon­ tinent meist eine kriminelle Schlagseite haben.


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Plastilinschwäne und Panini-Bildchen Der irre Osten hat nach wie vor Konjunktur – etwa in den Romanen von Tanja Maljartschuk und Lena Gorelik

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ufälle regieren die Welt, wer sie als Tollhaus beschreibt, hat a ­priori recht. Diese Einsicht plus Balkan-Pop und Ostalgie sind verantwortlich für eine Flut von Büchern osteuropäischer Autorinnen, die in den letzten Jahren auf das Erfolgsrezept setzten, um mehr oder weniger erfolgreich auf die Zustände vor der Haustür des westlichen Alltags hinzuweisen. Vordergründig gilt das auch für Tanja Maljartschuk und Lena Gorelik, die auf höchst unterschiedliche Weise daran erinnern, dass der von ihnen beschriebene Karneval der Grausamkeit und des schwarzen Humors nicht allein bloßer Bobo-Ergötzung dient. Irrenhäuser waren im Osten schließlich mehr als Irrenhäuser. Aberwitz herrscht im Romandebü t der seit

zwei Jahren in Wien lebenden Tanja Maljartschuk (Jahrgang 1983) von der ersten Seite an. In „Biografie eines Wunders“ wird die Kindergartentante Frau Dutt von einem Kugelblitz getroffen. Von ihr bleibt nur ein Plastilinschwan, der leitmotivisch durch das ganze Buch treibt. Anstatt sich gut ukrainisch-patriotisch „Olena“ oder „Olenka“ zu nennen – die Geschichte spielt im west­ ukrainischen Iwano-Frankiwsk, Geburtsort der Autorin und Bollwerk des ukrainischen Nationalismus –, beharrt die Protagonistin auf der russifizierten Namensvariante „Lena“. Eigensinn ist es, der Lena ihre rabiate Coming-of-Age-Geschichte vorerst heil überstehen lässt: Sie verteidigt die Kindergärtnerin, ätzt über den Religionsfimmel, der sich nach dem offiziellen Staatsatheismus der Kommunisten im Land breitmacht. Eine typisch ukrainische Biografie in den 1990er-Jahren sieht ohnedies drastischer aus: „Die einen gingen nach Charkiw, um Polizist zu werden und Menschen auszurauben, die anderen schrieben sich für Medizin ein, um Leute umzubringen.“ Kurz: Hinter den Karpaten triumphieren Sex, Crime & Money, und Tanja Maljartschuk lässt nichts davon aus. Als da sind:

der Fleischverkäufer, der Lena nach zehn Dates den ersten Kuss abnötigt; der ewig linkische und depressive Vater, der partout kein Visum in die USA bekommt und es stattdessen mit dem Anbau von Buchweizen versucht; oder der Sportstudent Darwin, der wie ein Affe aussieht und bei nationalistischen Umtrieben eine Buchhandlung abfackelt. In einem Land, in dem ohnehin alles nur abstrus ist, versucht schließlich auch Lena auf einschlägige Weise zu Geld zu kommen – sie schaltet eine Annonce, „Wunder auf Bestellung“, und wird prompt selbst reingelegt. Lenas Wandlung zur Tierschützerin wirkt ob der Witze über Hunde und Chinarestaurants ein wenig altbacken, das lange Finale, in dem sie für die Kindheitsfreundin mit dem merkwürdigen Namen „Hund“ einen Rollstuhl erkämpft, gerät hingegen zu einem fulminant beschriebenen Höllentrip ins Irrenhaus – Kafka und Thomas Bernhard lassen grüßen. „Wer bist du?“, fragt die Erzählerin ihre Protagonistin am Schluss. „Ich bin ein Mensch der fünften Generation.“ Zurück bleiben nur ein gelbes Kopftuch mit dunkelroten Blüten, besagter Plastilinschwan und die Beteuerung der Erzählerin: „Solche Geschichten gibt’s. Aber es gibt natürlich auch noch ganz andere …“ Nicht weniger maximalistisch beginnt Lena Gorelik, 1981 in Leningrad geboren und 1992 samt russisch-jüdischer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland übersiedelt, ihren bislang fünften Roman, „Die Listensammlerin“: „Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst.“ Auch Gorelik konstruiert ihre Erzählung über große Geschichte und kleine Gegenwart zu einem Kreisschluss; anders als Maljartschuk evoziert sie aber keine wie auch immer sarkastisch dargestellte posttotalitäre Kindheit. In der Welt der Ich-Erzählerin Sofia herrscht hysterischer deutscher Alltag. Sofias anstrengende Mutter tauscht mit Schwiegersohn Flox Panini-Bilder, die

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„Die Listen gaben mir Kraft und Ruhe wie anderen das Gebet, Drogen, ein Therapeut und das Shoppen“ Lena Gorelik, „Die Listensammlerin“

Tanja Maljartschuk: Biografie eines zufälligen Wunders. Aus dem Ukrainischen von Anna Kauk. Roman. Residenz, 268 S., € 21,90

Lena Gorelik: Die Listensammlerin. Roman. Rowohlt Berlin,348 S., € 20,60

Großmutter befindet sich auf dem Weg ins Altersheim, Tochter Anna steht eine Herzoperation bevor. Die russisch-deutschen Familienbande entstanden, als Stiefvater Frank seinerzeit in der Sowjetunion Literaturwissenschaft und Tolstoi studierte und – obschon anfänglich überzeugter Kommunist – die drei Frauen in den Westen „errettete“. Seit ihrer Kindheit hat Sofia den Tick, Listen über alles und jedes anzulegen – etwa über „Schimpfwörter der Jungs“, oder eine Liste der „Menschen, die Flox beim Suchen helfen“. „Die Listen gaben mir Kraft und Ruhe wie anderen das Gebet, Drogen, ein Therapeut, die Zigaretten und das Shoppen.“ Listen dienen dabei nicht nur als Ordnungsversuch gegen das Chaos, sie geben auch die Richtung der Erzählung vor. Eine Liste „von Männern mit schönen Händen“ gehört schon zur Welt des ominösen, in der russischen Vergangenheit zurückgebliebenen Onkels Grischa. Auf dessen Außenseitergeschichte stößt Sofia zufällig, als sie im Kasten der Großmutter stöbert – der „Maler aus Berufung, aber ohne Talent“, von Kindheit aufmüpfig, war seinerzeit zum Dissidenten geworden und hatte Sofias leiblichen Vater mit ins Verderben gerissen. Beide landeten in der Psychiatrie. Onkel Grischas Vermächtnis sind Listen – etwa solche von verbotener Literatur von Solschenizyn bis Brodsky. Lena Goreliks Versuch, die Geschichten zweier Generationen über Raum und Zeit hinweg zu synchronisieren, bleibt eigentümlich fahl, die Vergangenheit, auch wenn sie sich in einigen Symptomen zu wiederholen scheint, bleibt vergangen. Die Dramatik des Romans steigert sich nur einmal, als die Großmutter aus der Geriatrie entwischt und die Herzoperation von Tochter Anna erfolgreich verläuft. Flox streicht Sofia über die Schulter, die im Krankenhaus zu schreiben beginnt: „Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst.“ ERICH K LEIn

Skurril, poetisch und originell – ein herausragendes Debüt! Parabelhaft und mit feinem Humor porträtiert Dietmar Krug eine Familie, die sich auf ihrer Suche nach mehr Freiheit zunehmend auflöst. Beiläufig und subtil wird erzählt, wie sich Ignoranz, Unverständnis und Sprachlosigkeit breitmachen. Dass dies durchaus komisch sein kann, ist die Lektion dieses wunderbaren Debüt-Romans, der ein ebenso überraschendes wie fulminantes Ende findet. 320 Seiten, geb., � 22,– ISBN 978-3-7013-1210-8

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Tafeln aus der Enzyklopädie zeigen (von links) Augenchirurgie; Hermaphroditen in Totale und Detail; sowie alles über den Baumwollanbau (aus dem besprochenen Band)

Ein avantgardistischer Bonvivant, gefährlich und gefährdet Denis Diderot, Schriftsteller, Aufklärer und Enzyklopädist, ist anlässlich seines 300. Geburtstags neu zu entdecken

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nter den berühmten „philosophes“ der Aufklärung ist Denis Diderot wahrscheinlich der am wenigsten Gelesene. Von Goethe bis Enzensberger fehlt es nicht an literarischen Kennern, Übersetzern und Bewunderern, aber einem breiten Publikum ist Diderot bloß ein Name geblieben. Gelesen werden heute – wenn überhaupt – eher die beiden anderen aus dem Dreigestirn der französischen Aufklärung, Rousseau und Voltaire. Aus Anlass des 300. Geburtstags Diderots erscheinen einige Bücher, die hier Abhilfe schaffen sollten. Wäre man Zeitgenosse gewesen, hätte man zweifellos am liebsten eine Beziehung mit Diderot unterhalten; von den drei Genannten glich er noch am wenigsten einem Monster. Voltaire: ein scharfzüngiger, herrschsüchtiger Großintrigant. Rousseau: ein aufregender Autor und exhibitionistischer Paranoiker. Diderot dagegen: zugleich umgänglicher Bonvivant und Star der Salons, Avantgardist und unauffälliges, zuverlässiges Arbeitstier. Mit Rousseau verband Diderot eine Freund-

schaft, die sich – wie alle Freundschaften Rousseaus – nach einem Bruch in Gegnerschaft verwandelte. Diderot war gleich zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn einer Publikation wegen verhaftet und ins

Gefängnis geworfen worden; Rousseau besuchte ihn dort und empfing auf dem Weg dorthin die Eingebung zur Beantwortung jener akademischen Streitfrage, die Rousseau berühmt machte, ob nämlich die Kultur die Menschen verbessert habe. Die Vision ist die Rousseau’sche Version des Vorfalls. Diderot hingegen berichtet, er habe Rousseau im Gefängnis die Antwort suggeriert. Die Antwort lautete natürlich Nein. Zum Bruch zwischen beiden kam es aber erst, als Rousseau einen Satz Diderots aus dessen Stück „Der natürliche Sohn“ auf sich bezog: „Nur der Einsame ist böse.“ Der erst durch Goethes Übersetzung bekannt gewordene Aufsatz Diderots über Rameaus Neffen wiederum ist unlängst als gehässig-ironisches Porträt des Freund-Feinds JeanJacques Rousseau gelesen worden – eine durchaus mögliche Deutung. Wir brauchen uns hier nicht mit der Geschichte der Konflikte zwischen Voltaire, Rousseau und Diderot aufzuhalten, alle drei übrigens Autoren der Enzyklopädie, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Die Gefängnisepisode aber ist wichtig, um uns vor Augen zu führen, welchen Mut es brauchte, als Aufklärer in Frankreich, einem absoluten Staat des 18. Jahrhunderts, zu publizieren. Man muss die Schriften der Aufklärer unter dem Vorbehalt lesen, dass sie nicht

Annette Selg, Rainer Wieland (Hg.): Diderots Enzyklopädie. Mit Kupferstichen aus den Tafelbänden. Übersetzt von Holger Fock, Theodor Lück, Eva Moldenhauer und Sabine Müller. Die Andere Bibliothek, 508 S., € 81,30

in allem offen reden konnten. Eine Erwähnung Gottes bedeutet also nicht unbedingt ein Bekenntnis zur Religion, sondern eher eine Schutzmaßnahme gegen die Zensur. Mindestens so sehr wie auf den Primärtext kam es darauf an, in welche Nachbarschaft man welche Begriffe stellte. Gerade die Enzyklopädie zeigt das deutlich. Die Verhältnisse schillerten: Der Zensor Lamoignon de Malesherbes zum Beispiel war ein liberaler Mann, der sich durchaus mit den von ihm Zensurierten in Briefwechseln über Maßnahmen unterhielt, verbotene Werke im benachbarten Ausland und in begrenzter Auflage zum Druck zu befördern; sein Vorgänger hatte Diderot noch einsperren lassen. Einmal habe er, heißt es, sogar Diderot vor einer drohenden Hausdurchsuchung gewarnt und dessen Enzyklopädie-Manuskripte bei sich zu Hause versteckt. Prekäre Verhältnisse von Intellektuellen hatten damals nicht nur einen ökonomischen Beigeschmack. Vom Land nach Paris gekommen, wo er, wie

viele seiner Generation, für eine Laufbahn als Kleriker vorgesehen war – er hatte schon die niederen Weihen –, erlebte Diderot als junger Philosoph, wie eine seiner Schriften öffentlich verbrannt wurde und die andere ihm die erwähnte Festungshaft einbrachte. Diese Haft schwebte fortan als Drohung


l i t e r a t u r    über allem, was er publizierte. Aber sie bedeutete auch Reklame für den Autor Diderot, der fortan berühmt war. Ein zweischneidiger Ruhm, der ihm immer wieder die Flucht in die Anonymität nahelegte. Das Unternehmen der Enzyklopädie ist vielleicht auch deswegen Diderots Hauptwerk, weil er sich als freistehender Autor nie sicher fühlen konnte. Das soll nicht heißen, seine literarischen Werke wären nicht lesenswert – im Gegenteil! Da wäre etwa der pornografische Roman „Die sprechenden Kleinode“, dessen Hauptwitz darin besteht, dass die Geschlechtsteile der Damen in einem afro-asiatischen Staat unter gewissen Umständen beginnen, indiskrete Dinge auszuplaudern und allerhand preiszugeben, was sonst ungesagt bliebe. Aber der Roman ist unbedeutend, ein Scherz, den Diderot in zwei Wochen aufs Papier warf, um zu zeigen, dass er so etwas auch konnte. Durch Gesellschaftskritik in erotischem Gewand brachte sich der Autor nicht in Gefahr. Das schaffte er mit seinem „Brief über die Blinden, zum Gebrauch für die Sehenden“ mit nichts als ein paar Fragen zur Gewissheit wissenschaftlicher Erkenntnis. In der Haft habe er sich „zum surrealen Romancier“ weiterentwickelt, schreibt die Philosophin Ursula Pia Jauch, Kennerin der französischen Aufklärung. In der Tat zeigt der Roman „Jacques le Fataliste“, eine HerrKnecht-Geschichte beinahe Beckett’schen Zuschnitts, einen überaus modernen Autor. Allein der Anfang! „Wie haben sie sich getroffen? Durch Zufall, wie alle Welt. Wie hießen sie? Was spielt es für eine Rolle? Wo kamen sie her? Gleich von nebenan. Wo gingen sie hin? Wer weiß schon, wohin man geht?“ Der Erzähler Diderot ist in einem der nun erschienenen Bücher (Denis Diderot: Vier Erzählungen. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott) kennenzulernen, wenn auch nicht zu fixieren. Denn er zieht sich hinter seine Montagen aus Briefen, Dialogen, Berichten von Berichten zurück, sodass sich die Position des allwissenden Erzählers wie von selbst auflöst. Manchmal hat das Verschwinden des Autors

Diderot literarische Gründe, manchmal auch handfeste. Lange Zeit schrieb man das für die Aufklärung äußerst einflussrei-

che Buch „Die Geschichte beider Indien“ dem Abbé Guillaume Raynal zu; die schöne Neuausgabe des bereits vor Jahren in der Anderen Bibliothek erschienenen Werks nennt aber Denis Diderot als Koautor. Raynal sei mehr eine Art Kompilator gewesen, für die politisch-philosophischen Passagen aber war Diderot verantwortlich, berichtet Herausgeber Hans-Jürgen Lüsebrink. Seinen riesigen Einfluss erlangte das Werk wegen seiner expliziten Anklage von Sklaverei und Unterdrückung. In einem Brief an Friedrich Melchior Grimm, den Herausgeber der einflussreichen Correspondance littéraire, philosophique et critique, verteidigte Diderot Raynals Werk – und wohl auch sich selbst – so: „Und warum hätte denn der Abbé nicht den gemäßigten Ton des Historikers? Weil man unter drei- bis viertausend Seiten vielleicht auch fünfzig Seiten trifft, die von der Begeisterung für die Tugend oder von der Abscheu für das Laster diktiert sind.“ Fünfzig bis sechzig Seiten, das dürfte den Umfang von Diderots Anteil an Raynals Buch ganz gut treffen. Das Werk der Werke Diderots war allerdings

die Enzyklopädie. Er begründete sie zwar nicht, nahm aber von Anfang an als Herausgeber teil. Die Verleger planten die Enzyklopädie als kaufmännisches Unternehmen; das investierte Kapital und die involvierten Manufakturen schützten das ab 1751 erscheinende Unternehmen tatsächlich vor einigen Eingriffen der Zensur; umgekehrt musste sich Diderot, gemeinsam mit seinem Mitherausgeber, dem Mathematiker und Physiker D’Alembert, gegen interne Zensur wehren. „Sie haben die Arbeit von zwanzig Ehrenmännern massakriert“, schrieb er erbost an die Verleger, die wiederum der offiziellen Zensur zuvorkommen wollten. Die Enzyklopädie wurde trotzdem bereits 1752 verboten, aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung aber mithilfe von Ausnahmegenehmigung gedruckt. Am Ende brachte sie ihren Verlegern fette Profite. Diderots Vater, ein Handwerker, entzog dem Theologiestudenten die finanzielle Unterstützung, als dieser heiratete. Der Sohn fand in der Enzyklopädie Lebensaufgabe und Lebensunterhalt. Er redigierte sie, koordinierte deren weit über 150 Autoren

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Günter Berger (Hg.): J. Le Rond D’Alembert, D. Diderot u.a.: Enzyklopädie. Übersetzt von G. Berger, Th. Lücke, I. Schmidt. Fischer Klassik, 400 S., € 12,40

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und schrieb selbst etwa 1500 von insgesamt 72.000 Artikeln. Voltaire und Rousseau trugen nur wenige Artikel bei; D’Alembert zog sich wegen der vor und nach dem Druckverbot einsetzenden Hetze gegen die Enzyklopädisten bald zurück und betreute nur noch die Naturwissenschaften. Diderot aber lebte für die und von der Enzyklopädie. Legendär ist die ökonomische Schlitzohrigkeit Diderots. Er wohnte zwar nur in einer Mansarde, verkaufte aber zum Beispiel der russischen Zarin Katharina II., die er auch beriet, seine Bibliothek, behielt diese aber zur Nutzung und bezog von der Gönnerin dafür gleich noch ein Salär als sein eigener Bibliothekar – das muss ihm erst einer nachmachen. Die Enzyklopädie versammelte nicht nur das

Denis Diderot: Vier Erzählungen. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott. Übersetzt von Raimund Rütten. C.H.Beck, 128 S., € 15,40

Guillaume Reynal/ Denis Diderot: Die Geschichte beider Indien. Ausgewählt und erläutert von Hans-Jürgen Lüsebrink. Extradruck der Anderen Bibliothek, 364 S., € 24,70

Wissen der Zeit, sie diente der Durchsetzung rationaler Vernunft und unterlief das Diktat der Religion, ohne die sich kein Thron lange halten konnte. Inwiefern die Enzyklopädie tatsächlich jene „Kriegsmaschine der Aufklärung“ war, als die sie gerühmt wird, kann man nun an zwei auf Deutsch erschienenen Auszügen überprüfen, an der nüchtern sachlichen Ausgabe des Fischer-Taschenbuchs und an der opulent aufgemachten, mit zahlreichen Original­ tafeln versehenen und der Original-Typografie angepassten Ausgabe der Anderen Bibliothek. Kompetent eingeleitet sind sie beide (des Französischen mächtige Fans können auf die Website mit dem Volltext rekurrieren, die man auf fr.wikisource.org findet). Diderot: ein zugleich bauernschlauer und hocheleganter Autor, ein Geist, der wie kaum ein anderer seine Epoche in mehrfachem Sinn umbrochen hat. Im Schlusswort der „Geschichte beider Indien“ formuliert er selbst, worum es ihm ging: „Dies geringe Werk, welches nur das Verdienst ­haben wird, bessere veranlasst zu haben, wird ­gewiss vergessen sein; aber wenigstens werde ich zu mir sagen können, dass ich zur Glückseligkeit meiner Nebenmenschen so viel beitrug, als an mir war, und dass ich vielleicht von weitem die Verbesserung ihres Schicksals vorbereitete. Dieser süße Gedanke soll bei mir die Stelle des Ruhms vertreten. Er wird die Freude meines Alters und der Trost meiner letzten Augenblicke sein.“ AR MIN THURNHER

PL ATZ 5 DER ORF-BESTENLISTE 2013 930 Seiten, 5-teiliger Romanzyklus in 2 Bänden, gebunden, Lesebändchen, im Schuber EUR 35,00 / sfr 52,00 ISBN 978-3-99029-067-5

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„Wer wirklich leben will, muss dem Leben ausgesetzt sein, von klein auf“ H erber t R en z - P o ls t er u nd G erald H ü t her

Pädagogik: Chinesischkurs für Dreijährige, raus in die Natur oder doch eher Charakter­ bildung? Vier neue Debatten­beiträge

die gute (alte) Kindheit! U

nsere Lebenswelt ist „adultisiert“, sie dient der Produktivität. Der Aktionsradius der Kinder hingegen wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich kleiner, ebenso die Flächen, auf denen sie früher frei – und das heißt ohne pädagogische Vorgaben und Erwachsenenaufsicht – spielen konnten. Die Kinder wurden „verhäuslicht“, die Kindheit verdünnt und verkürzt. Darin sind sich eigentlich alle Teilnehmer der aktuellen Erziehungsdebatte einig. Auch darin, dass Natur für Kinder gut ist. Trotzdem hat im Zweifelsfall immer noch oft der fast schon sprichwörtlich gewordene Chinesischkurs für Dreijährige oder der Geigen- oder Ballettunterricht für Zehnjährige Vorrang.

Naturschutz für Homo sapiens? Naturerfahrung darf aber nicht zu einer netten Ergänzung zum Alltag verkommen, zum Lückenbüßer, wenn sich irgendwo ein Zeitloch im prallen Terminkalender auftut, finden Herbert Renz-Polster und Harald Hüther. Sie haben dem Thema gleich ein ganzes Buch gewidmet, in dem sie mit einem doppeldeutigen Augenzwinkern fordern, den kleinen Homo sapiens unter Naturschutz zu stellen. Kinder brauchen Natur so notwendig wie einen Bissen Brot, meinen der Kinderarzt, Wissenschaftler und Publizist RenzPolster, Autor von „Kinder verstehen – born to be wild: wie die Evolution unsere Kinder prägt“ (2009) und „Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung“ (2011), und der Professor für Neurobiologie und Bestsellerautor Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Der Grund dafür liegt in der Evolution, in der nur überlebt, was auch funktioniert hat. Die Natur stellt für die kindliche Entwicklung eine maßgeschneiderte Erfahrungswelt dar, für die es bis heute keinen Ersatz gibt. In ihr haben sich Kinder seit jeher ihre grundlegenden Lebenskompetenzen „erspielt“, während ihre Eltern dem Lebensunterhalt nachgingen.

Widerstand und Grenzen Anders als viele Eltern heutzutage richtet sich die Natur nicht nach den Wünschen und Vorstellungen der Kinder, die diese Widerständigkeit, dieses Abenteuer und – ja – auch ein gewisses Risiko zum schrittweisen Aufbau von Selbstregulation und Selbstver-

trauen, zur Erweiterung ihrer Grenzen notwendig brauchen. Renz-Polster/Hüther nennen das „selbstbestimmte Draußensein in einer unstrukturierten Umwelt“ ein Grundbedürfnis, weil hier vier Grundprinzipien für Entwicklung unmittelbar gegeben sind: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit und Bezogenheit. Orte mit Dreck, Gebüsch und Gewässer sind frei gestaltbar, sinnlich erfahrbar und vermögen nicht nur Zugehörigkeitsgefühl, sondern auch Initiative zu aktivieren. Natur fördert das Immunsystem, körperliche Fitness, bremst Kurzsichtigkeit, fördert Aufmerksamkeit und Achtsamkeit – und wird damit zum Gegengift zur „schleichenden Enteignung der Kindheit“, zur „maßlosen Anregung durch die Großen“, deren „überdimensionierte Lernportionen“ und „übermotivierte Behütung“. Um diese Thesen zu begründen, widmen die Autoren einen Großteil des Buchs der Beschreibung der kindlichen Entwicklung. „Wie Kinder heute wachsen“ ist kein Ratgeber, was man in der Natur mit Kindern unternehmen kann, sondern eine Theorie darüber, warum Natur auch noch im 21. Jahrhundert eine „unverhandelbare Quelle“ für Kinder darstellt.

„In meiner langjährigen Arbeit hat übrigens noch nie ein Kind gefragt: ,Warum ist der Himmel blau?‘ oder ,Können Seifenblasen auch sternförmig sein?‘ Solche Fragen werden aber gerne in Zusammenhang mit kindlicher Frühförderung angeführt“ (Salman Ansari)

Herbert Renz-Pols­ ter, Gerald Hüther: Renz-Polster hat schon in seinen früheren Wie Kinder heute Büchern die Bedeutung der zusammen mit wachsen. Natur als den unstrukturierten Naturräumen verlo- Entwicklungsraum. ren gegangenen wilden Kinderhorde betont. Ein neuer Blick Denn das Vorbild der Großen, die gute Er- auf das kindliche ziehung und die richtigen pädagogischen Lernen, Fühlen und Maßstäbe sind nach seiner Meinung nicht Denken. Beltz, alleine verantwortlich für eine gelungene 264 S., € 18,50

Selbstwirksamkeit

kindliche Entwicklung. Wenn Kinder sich sicher fühlen, das heißt in verlässlichen, authentischen und feinfühligen Beziehungen leben, drängt es sie dazu, sich auszuprobieren und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Und zwar mit anderen Kindern. Die entscheidende Frage der Autoren lautet deswegen nicht: „Was können wir Kindern beibringen?“, sondern: „Was tragen die Kinder denn selbst zu ihrer Entwicklung bei?“. Soziale Kompetenz, innere Stärke und Mitgefühl kann man nicht vermitteln, „auch nicht durch eine noch so gute Pädagogik“, aber Kinder können sie sich aneignen – so nebenbei auch ein Plädoyer für das früher in jeder Dorfschule bekannte, heute

Salman Ansari: Rettet die Neugier! Gegen die Aka­ demisierung der Kindheit. Krüger, 225 S., € 19,60

wieder zunehmend beliebte gemischtaltrige Lernen in Mehrstufenklassen.

Der Computer und die Intuition Aber wie dieses Erbe in die Jetztzeit übertragen, wo nicht vor jedem Wohnhaus oder Kindergarten ein Wald oder zumindest eine Gstätten liegt? Jedenfalls nicht, indem man mit den Kindern im Wald Biologieunterricht abhält. Schon eher damit, dass man auch in Spielzimmern und auf Spielplätzen unstrukturierte Räume schafft. Im Grunde genommen brauchen Kinder nämlich nicht einmal einen Spielplatz, zitieren die Autoren mit Günter Belzig einen von Deutschlands gefragtesten Spielplatzentwicklern: „Den brauchen die Erwachsenen. (…) Ich habe mal einen Spielplatz gestaltet ohne sichtbare Geräte wie Wippe, Schaukel, Rutsche, der bei den Kindern super ankam. Bei den Eltern allerdings nicht. (…) Nach Protesten ergänzte ich die gewünschten Geräte. Die Kinder spielten immer noch in den Ecken, aber nun waren die Eltern zufrieden.“ Natürlich kann man Kinder auch mit Teppichen, Spielkonsolen und elterlichen Fahrtendiensten aufwachsen lassen, und es liegt auch „durchaus in der Natur des Menschen, dass er ,unnatürliche‘ Dinge schafft“, räumen die Autoren ein. Und sie entdecken zu ihrer eigenen Überraschung einen Kulturraum, in dem Heranwachsende wie in der Natur Selbstwirksamkeit, Freiheit, Kreativität und Intuition entwickeln können: den virtuellen Raum. Der Computer stellt nicht nur zumeist eine elternfreie Zone dar, er bietet auch Spannung, Vernetzung und Gestaltungsmöglichkeiten. Renz-Poster/Hüther geht es also keineswegs darum, die „Welt da draußen gegen die Welt drinnen in Stellung zu bringen“ und schon gar nicht um ein weltfremdes „Zurück zur Natur!“, sondern um eine freiere, von den Kindern „aktiv und selbsttätig mitgestaltete Sozialisation“. Wenn das Alter, Sozialisation und Beziehungen, Maß und Ziel der Mediennutzung stimmen, kann sie durchaus Neugier, Selbstständigkeit und Intelligenz fördern – nicht als Lernmittel für Krippe oder Kindergarten, wo sie bedauerlicherweise immer öfter propagiert wird, sondern ab dem Schulalter und in der Schule, wo neue Medien immer noch ein Stiefkinddasein fristen. Fortsetzung nächste Seite


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Fortsetzung von Seite 33

Natur und Neugier Auch der promovierte Chemiker und Lernpädagoge indischer Herkunft Salman Ansari hat sich der Aufgabe verschrieben, die kindliche Neugier durch Naturerfahrungen anzuregen. „Rettet die Neugier. Gegen die Akademisierung der Kindheit“ fokussiert aber nicht auf selbstorganisiertes Spiel in der Natur, sondern auf angeleitetes Lernen. Auch hier dient der Chinesischkurs für Dreijährige wieder als abschreckendes Beispiel, aber auch Kinderunis für Grundschüler sind Ansari ein Dorn im Auge, sind sie doch stets von Erwachsenensicht aus gedacht und können seiner Meinung nach für die geistige Entwicklung sogar hinderlich sein, indem sie Kindern das Nachdenken über ihre Umgebung vergällen. Vorschulisches Lernen darf nicht der Anhäufung eines Wissensvorrats dienen, sondern muss sich auf Augenhöhe mit den Kleinen bewegen, an ihr Wissen anknüpfen und an sinnlicher Erfahrung ausgerichtet sein, fordert Ansari. Naturerfahrung bedeutet für ihn keine heile Welt, sondern auch deren grausame Seiten von Fressen und Gefressenwerden wahrzunehmen. Die auch unter ehemaligen Schülern noch weitverbreitete Angst vor den Naturwissenschaften könne nicht durch eine noch frühere Einführung in die Materie, sondern nur durch einen kindgerechteren Zugang bekämpft werden, meint er und kann diese Behauptung mit seiner eigenen Erfahrung belegen. Die zahlreichen Beispiele, Ansari nennt sie Forscherdialoge, mit Themen wie „Warum ist im Sandkasten Sand und keine Erde?“ oder „Kann Schnee warm werden?“ wenden sich zwar eher an Pädagogen als an Eltern, können aber auch zu Hause erprobt werden.

Fordern statt Fördern Erziehung und adäquate Förderung sind nicht nur zum Zankapfel der Öffentlichkeit, sondern auch zum Angstobjekt der Eltern geworden. Als Gymnasiallehrer und Schulpsychologe kennt Josef Kraus sie: die Eltern, die sich stets vor ihr Kind stellen, egal, wie es sich verhalten hat, die endlose Forderungen stellen, das Kind aus der Schule nehmen, um früher auf Urlaub zu fahren, und Elternabende zu Inquisitionsveranstaltungen umfunktionieren. Ihm geht es in seinem neuen Buch nicht um die „Null-Bock-Eltern“, die dem Präsidenten des deutschen Lehrerverbands und Autor zahlreicher Bücher die meisten Sorgen bereiten, weil sie unansprechbar sind, sondern um jene manchmal zu engagierten Erziehungsberechtigten, die dazu tendieren, ihre Kinder lieber in den Chinesischkurs zu schicken als in den Wald. Sie schwanken „zwischen erzieherischer Allmachtsvision und Ohnmachtspanik, zwischen sinnvoller Kindorientierung und unreflektierter Kindversessenheit, zwischen Dressur und Verwöhnung, zwischen natürlicher Schutzhaltung und Überbehütung, zwischen liebevoller Zuwendung und Gängelung“. Kraus nennt sie in „Helikoptereltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“ einen „schnelle militärische Eingreiftruppe“ und ihr Konzept einen „pädagogischen Totalitarismus“.

Erziehung als Ersatzreligion Kraus knöpft sich die Mythen und das eigenartige materialistische und reduktionis-

Sachbuch

tische Menschenbild der Überbehüter vor, den Machbarkeitswahn und die Allmachtsfantasien, in denen Erziehung als Ersatzreligion missverstanden wird. Sein dezidiertes Ziel ist es, Eltern zu mehr Bodenständigkeit, Spontaneität und Intuition in der Erziehung zu ermutigen. Mozart im Mutterleib, programmiertes Vorschullernen? „Ein normales Elternhaus mit Vorlesen, Reden, Singen, Naturbegegnung und Verlässlichkeit reicht. Ein Zuviel an inszenierter (Früh-)Förderung ist schädlich.“ Er geht deren Gründen im gesellschaftlichen Wandel und der Entwicklung der Pädagogik im 20. Jahrhundert nach und beklagt ebenfalls die Verkürzung der Kindheit sowie eine Klinifizierung, die Psychologisierung der Pädagogik, die unmittelbare Bedürfnisse und kindlichen Narzissmus zu Leitkriterien erzieherischen Handelns macht, sich dem Kommando des Kindes unterwirft, zuungunsten der Förderung von Frustrationstoleranz, Belastbarkeit, Widerstandfähigkeit und – ja – Leistung. Durch Verwöhnung werden Kinder lebensuntüchtig, unfähig, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist, meint Kraus. Im Gegensatz zur umsichtigen, sachlichen Abhandlung von Renz-Polster/Hüther wird er dabei durchaus polemisch. Die Wurzeln des Förderwahns macht Kraus unschwer in den USA aus, dem Mutterland von „Baby Einstein“-Videos, sowie im Primat der Neurowissenschaften über die Pädagogik, der „Synapsenzählerei und Zeitfensterfolklore“, die innovative Wissenschaft suggeriert und damit mehr Chancen hat, wahrgenommen zu werden, als etwa die Meldung: „Neueste Studien haben ergeben, dass Kinder von alleine groß und intelligent werden.“

Die Logistik des Erfolgs

„Erziehung ist keine große Kunst, sondern eine alltägliche Kleinkunst“ (Josef Kraus)

„Wenn wir die Chancen der Kinder – insbesondere der armen Kinder – erhöhen wollen, müssen wir die Kindheit aus einem neuen Blickwinkel sehen“ (Paul Tough)

Die von Tough vorgestellten Pädagogen kämpfen für die Sprösslinge jener Eltern, an die heranzukommen Josef Kraus die Hoffnung aufgegeben hat. Sie setzen deswegen auch gleich bei den Kindern an. Schulprojekte wie die KIPP Academy Middle School erreichen durch das Training von Empathie, Teamfähigkeit und Durchhaltevermögen sowie einer amerikanischen Portion Optimismus („Du schaffst es, wenn du nur willst!“) bei unterprivilegierten Schülern sensationelle Ergebnisse, und die Schachkurse von Elizabeth Spiegel in einer Brooklyner Mittelschule verbessern nicht nur die Turnierergebnisse, sondern auch die Begeisterung, Einsatzbereitschaft und Frustrationstoleranz ihrer Schüler auf beeindruckende Weise. „Wie beeinflussen Gene und Kindheitserlebnisse unser Erwachsenendasein?“, lautet eine der zentralen Fragen des Schulabbrechers Tough, der erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass der IQ gar nicht so unveränderlich ist, wie er lange dachte, sondern durch simple Testumgestaltungen entscheidend verbessert werden kann. Zwar vermindern frühkindliche Belastungen und mangelnde elterliche Unterstützung Soft Skills wie die Fähigkeit zu Selbstregulierung, aber mit der kognitiven Verhaltenstherapie etwa kann das daraus resultierende (unbewusste) Denken überprüft und verändert werden. In seinem Eifer, die komplizierte „Logistik des Erfolgs“ zu verstehen (und auch zu unterrichten), erweist sich Tough als typischer Vertreter des American Dream, zu dem auch seine zentrale Botschaft passt: Intelligenz und Charakter sind formbar – und somit auch das Schicksal.

Charakter und Intelligenz

Soziale Sicherheit und Tugendterror

In den USA wurde aufgrund von neurobiologischen „Erkenntnissen“ tatsächlich jahrzehntelang unterprivilegierten Eltern empfohlen, mehr Wörter mit ihren Kindern zu sprechen, wurden an Schulen in sozialen Brennpunkten Programme entwickelt, die die kognitiven Kompetenzen der Benachteiligten fördern sollten. Ohne Ergebnisse. Der renommierte Journalist Paul Tough nahm sich eine berufliche Auszeit, um dieses Thema zu recherchieren und begab sich dazu vor Ort. Was ist der Grund für den niedrigeren IQ dieser Kinder? Und was misst der in den USA geradezu vergötterte Quotient überhaupt? Ist er wirklich vererbt und damit kaum veränderbar? Mit „Die Chancen unserer Kinder. Warum Charakter wichtiger ist als Intelligenz“, das es unter die Top Five der New York Times-Bestseller brachte, schlägt Tough nichts weniger als eine Kehrtwende vor – und das nicht nur bei der Pädagogik von Kleinkindern, sondern auch und vor allem bei Schülern und (späteren) Collegestudenten. Denn wie der Titel schon andeutet, zeigen sowohl Schulversuche als auch psychologische Tests, dass die Prozentpunkte des hochheiligen Intelligenzquotienten für den schulischen Erfolg und ein gelungenes, selbstbestimmtes Leben mitnichten entscheidend sind, sondern vielmehr die sozialen Kompetenzen oder das, was man früher Charakter nannte.

Natürlich ist es verdienstvoll zu versuchen, Menschen, die keine Chance auf eine glückliche Kindheit hatten, wenigstens das Rüstzeug für ein befriedigendes Erwachsenenleben mitzugeben. Toughs Diagnose, dass arme Kinder zuallermeist nicht unter der schlechten Finanzlage ihrer Eltern, sondern unter der mangelnden emotionalen Unterstützung und eben Charakterbildung leiden und auch so altmodische Tugenden wie Gewissenhaftigkeit und Einsatzbereitschaft, Fleiß oder Dankbarkeit hier Abhilfe schaffen können, stimmt denn auch hoffnungsvoll. Die in diesem Konzept inkludierte Idee, den Charakter in der Schule ebenso zu benoten wie die „bloße“ Leistung in einem bestimmten Fach, trägt aber auch den Keim eines neuen Gewissens- und Tugendterrors in sich, den man glaubte, mit moderner Bildung überwunden zu haben. Dennoch scheint das Konzept, den Charakter als Ersatz für das mangelnde soziale und emotionale Sicherheitsnetz zu stärken, vielversprechend. Denn es stimmt schon: „Wer ohne solch ein Netz aufwächst – und Kinder aus einkommensschwachen Familien haben es ja schon fast per definitionem nicht –, muss den Mangel anderweitig kompensieren. Um Erfolg zu haben, braucht man mehr Entschlossenheit, mehr soziale Intelligenz und mehr Selbstkontrolle als reiche Kinder.“

Josef Kraus: Helikoptereltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Rowohlt, 224 S., € 19,50

Paul Tough: Die Chancen unserer Kinder. Warum Charakter wichtiger ist als Intelligenz. Klett-Cotta, 380 S., € 22,60

K i r stin B r eitenfellne r


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Protest gegen Putin oder Riot und Religion Russland: Zwei Bücher zeigen die Protestbewegung als Ausdruck des gesellschaftlichen Umbruchs

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igtausende Male auf Youtube angeklickt: Eine schrille Performance im Altarraum der Christ-Erlöser-Kirche katapultiert Russland im Februar 2012, ein paar Wochen vor der Wiederwahl Putins, weltweit in die Schlagzeilen. Seit über einem Jahr sitzt die Punkband, die eigentlich keine ist, im Straflager, der größte Medienhype ist vorbei und Putin zwar angekratzt, aber nicht kaputt. Mit „Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur“ analysiert Mischa Gabowitsch den Protest, der im Winter 2011/2012 hunderttausende Russen auf die Straßen und in Bewegung brachte, weit über seine medienwirksamen Speerspitzen mit Popappeal hinaus, und füllt damit eine Lücke.

Pussy Riot Die feministische, regierungs- und kirchenkritische Punkrock-Band wurde 2011 gegründet. Nach einem 41 Sekunden dauernden „Punk-Gebet“ in der Christ-ErlöserKathedrale in Moskau im Februar 2012 wurden Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Marija Aljochina zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Marija Eine Protestbewegung auf der Suche nach sich Aljochina wurde im selbst: Politisch motivierte Aktionskünstler Oktober 2012 auf waren unter den Ersten, die protestierten. Bewährung freigelasKünstler und Schriftsteller gaben dem Pro- sen, Tolokonnikowa test eine Sprache und ein Äußeres, darun- und Aljochina sitzen ter auch die Aktionskunst- und Politgruppe immer noch in Haft

Pussy Riot. Selbst Demonstrant, macht der Soziologe und Zeithistoriker Gabowitsch die ebenso gewichtige Rolle der vielen aufmüpfigen Beobachter, Geistes- und Sozialwissenschaftler sichtbar, die nicht mehr von den offiziellen, gefälschten Zahlen abhängig sein wollen. Sie zählen die Protestierenden, mischen sich mit Fragebögen unter sie, klären die Öffentlichkeit auf über die tatsächliche Identität und Beweggründe derer, die zornig, aber friedlich gegen das „System Putin“ aufbegehren. Sie liefern Fakten fern von willkürlichen Begriffskonstruktionen wie „Mittelklasse“, „kreative Klasse“ „Hipster“ oder facebookaffine „Internetmeerschweinchen“, die zu Beginn der Protestwelle in russischen, aber auch ausländischen Medien kursierten. Die russische Gesellschaft ist atomisiert, die Protestierenden einen weder gemeinsame Ideen noch Werte. Ihr negativer Konsens: für freie Wahlen, gegen das korrupte System. Aus der Teilnahme am Protest schöpfen sie ein neues Selbstverständnis. Wo vorher kein real existierendes Kollektiv oder Raum zum Austausch vorhanden war, entstehen Zusammenhalt und gemeinsame Stärke. Gabowitsch geht es um die Vielstimmigkeit der neuen Protestkultur und Öffentlichkeit. Sein spannendes Kaleidoskop der Protestbewegung zeichnet ihr Wesen, die Struktur und den politischen Kontext umfassend und quer durch alle Bevölkerungsschichten nach. Es umfasst das politische Oppositionsmilieu, die zahlreichen Kunstaktionen genauso wie Formen dörflichen Protests, beschreibt die langsame Herausbildung gesellschaftlicher Selbstorganisationen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur weltweiten Occupy-Bewegung oder dem arabischen Frühling, dokumentiert die repressiven Reaktionen des staatlichen Gewaltapparats und Verletzungen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Die Studie, in der Joachim Willems das Phäno-

men untersucht, „Pussy Riots Punk-Gebet: Religion, Recht und Politik in Russland“, ist trotz ihrer Ernsthaftigkeit und ihres Seminaristenstils erfrischend, weil sie unbekanntere Aspekte zeigt. Der Theologe und Päda-

goge erzählt die Geschichte der „Band“ inhaltlich, ihren „Skandal“, erklärt, warum die kurze Performance für zwei der Mitglieder in einer unverhältnismäßig hohen, zweijährigen Haftstrafe wegen „Rowdytums aus religiös motiviertem Hass“ endete. Warum und wie beziehen Pussy Riot sich in ihren Performances und Liedern auf die Bibel und die russische Religionsphilosophie? Warum benutzen sie gerade Punk als Ausdrucksmittel? Und warum treffen sie mit ihrem „Aufreger“ im Altarraum gleich Kirche und Staat im Innersten? Willems bemüht sich als Theologe um ein differenziertes Bild der russisch-orthodoxen Kirche. Äußerungen von Patriach Kirill und Hardlinern über das „Vergehen“ der Systemkritikerinnen stellt er jenen von aufgeklärteren, progressiveren Geistlichen gegenüber und erklärt das ambivalente und historisch gewachsene Abhängigkeitsverhältnis der Kirche vom Regime. Den festgenommenen Frauen bekundet er offen seine Sympathie und versucht sie, ganz Pädagoge, mit biografischen Details und Interviewauszügen möglichst menschlich rüberzubringen. Ein Aha-Moment des Buches: Die Wertewelt der Aktivistinnen trägt zwar eindeutig neoanarchistische Züge, aber sie sind weder gottlose Punks noch religionsfeindliche Extremistinnen. Sie prangern lediglich die Institution Kirche an, die sich mit der Politik ins Bett legt und deren Vertreter ein Leben im

Für alle, d ie

Luxus führen, anstatt sich auf die Seite der Protestanten zu stellen. Wer es gern wertfreier hat, ist im Verständnis von Pussy Riot mit Gabowisch oder der im Herbst 2012 im Nautilus Verlag erschienenen Flugschrift von Pussy Riot „Pussy Riot! Ein Punk-Gebet für Freiheit“ besser bedient. Gefängnisbriefe und Interviews gewähren hier direkten Einblick in den philosophischen und theoretischen Überbau von Nadeschda Tolokonnikowa und ihren Mitstreiterinnen. Die Verschränkung von Religion, Recht und Politik in Russland erklärt Willems nicht wirklich schlüssig, dafür ist die Forschungsschrift schlichtweg zu ­schmal. Sein Resümee verwundert nicht weiter: Die größten Mängel der russischen Gesellschaft liegen in der Missachtung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Beide Lektüren beweisen, wie facettenreich und ergiebig die Auseinandersetzung mit Russlands Gesellschaft im Aufbruch sein kann. Die unterschiedlichen Übersetzungsvarianten und -interpretationen des Punk-Gebets verdeutlichen einmal mehr, wie mehrdeutig und nuanciert der Einsatz von Sprache in den russischen Protestaktionen ist, reichen doch die Interpretationen von: „Abschaum, Abschaum, Abschaum Gottes“ bis zu „Mutter Gottes, Jungfrau, vertreibe Putin“. P e t ra S t ur m

es wissen

Wie sta rk schwach? ist wollen.

Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. Suhrkamp, 438 S., € 16,50

Wenn David auf Goliath trifft, hat er die Wahl: Spielt er nach dessen Regeln, verliert er. Bricht er die Regeln der Macht, zwingt er den Riesen in die Knie. Kultautor Malcolm Gladwell zeigt: Underdogs sind Gewinner! Weil Triumph keine Frage der Größe, sondern der inneren Haltung ist.

Joachim Willems: Pussy Riots PunkGebet: Religion, Recht und Politik in Russland. bup, 180 S., € 20,50

2013. 256 Seiten. Gebunden. Inklusive E-Book. Auch als Hörbuch erhältlich.

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Sachbuch

Von Pau Brasil zu Paolo Coelho Brasilien: Zwei Kulturgeschichten porträtieren das lange Zeit „europäische Projekt“ am Amazonas

Kulturgeschichten haben es an sich, dass sie als

„Kultur“ erzählen, was nichts als Barbarei war: Die Lateinamerikahistorikerin Ursula Prutsch, Co-Autor Enrique Rodrigues-Moura sowie der Journalist und „Brasilienliebhaber“ Kersten Knipp konstatieren gleich zu Beginn ihrer höchst ­kurzweiligen Darstellungen der letzten 500 Jahre des Landes eine Art schlechtes Gewissen: Brasilien war längste Zeit ein europäisches Projekt. Die Seelen der Indios durch rasche Taufe zu retten war das kulturelle Rahmenprogramm der Kolonisatoren – tatsächlich galt ihr Interesse Pau Brasil, Brasilholz, das in der europäischen Textilindustrie verwendet wurde; später folgten Gold und Edelsteine, Zuckerrohr und schließlich Kaffee. Die Arbeit wurde von Indios und Sklaven verrichtet. Schon im 17. Jahrhundert beginnt auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Grausamkeiten der indigenen Zwangs­arbeit. Der erste genuin brasilianische Schriftsteller, Jesuitenpater Antonio Vieira, lehnt die Sklaverei ab – und hebt zu einem Lob der Schönheit des Landes an. Sarkastischer im Umgang mit der Terra Brasil ist der Dichter Gregorio de Matos, der Melancholie und Sex, zwei wichtige Bestandteile künftiger Brasiliendiskurse, unumwunden formuliert: Allzu frommen Priestern empfiehlt er von ihren barocken Kirchtürmen herab einen Blick auf die realen Sitten des Landes zu werfen. Das bis heute vielleicht wichtigste Element brasilianischer Kultur war der Import von drei Millionen westafrikanischer Skla-

ven. Schon um 1700 dominieren sie das Aussehen des Landes: 600.000 Schwarzen stehen 100.000 Europäer gegenüber. Im Sinne der Aufklärung verlangen die Söhne wohlhabender Fazendeiros immer wieder deren Befreiung, erst ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1822 erfolgt sie tatsächlich.

irren und findet das „echte“ Brasilien bei den Indianern. Ironie der Geschichte – deren Erzählungen sind den Berichten deutscher Ethnografen entnommen. Stefan Zweig bezeichnete Brasilien, das ihm

Deutlichstes Beispiel für die rasante Moder-

nisierung des Landes Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hauptstadt Rio de Janeiro. Der Diplomat und Schriftsteller Gilberto Amado besingt den Ausbau von Hafen und imposanten Prachtstraßen wie der Avenida Atlantica an der Copacabana: „Unsere Stadt ist die einzige, die Regierungssitz, Indus­trie-, Wirtschafts-, Banken- und politisches Zentrum in einem und zugleich eine vom 1. Januar bis 31. Dezember in Betrieb befindliche Sommerfrische ist.“ Von den direkt daneben entstehenden Favelas ist dabei ebenso wenig die Rede wie von der Niederschlagung des Aufstands der Canudos. Als deklassierte Bauern, ehemalige Sklaven und Mestizen hatten sie im Hinterland, in der kargen Landschaft Sertão, eine Art religiös-kommunistische Stadt, gegründet. Modernisierung wurde dort, in „Belo Monte“, verweigert. Ein regelrechter Boom moderner gesellschaftlicher und künstlerischer Strömungen erfolgt nach dem Ersten Weltkrieg, an dem Brasilien auf Seite der Alliierten teilnimmt. Mit Alberto Santos Dumont hat auch ­Brasilien seinen Luftfahrtpionier; Psychoanalyse und Stummfilm finden rasche Verbreitung; die Malerin Anita Malfatti importierte deutschen Expressionismus. Provokation war selbst in der Musik angesagt. Der Komponist Heitor Villa-Lobos trat mit einem Schuh und einer weißen Sandale vor ein Publikum, das der Dichter Mario de Andrade attackierte: „Ich beschimpfe den Bourgeois! Den PfennigBourgeois / Den Gesäß-Bürger!“ Mario de Andrade lässt in den 1930erJahren den Protagonisten seines epochalen Romans „Macunaíma“ durchs ganze Land

Ursula Prutsch, Enrique Rodrigues-Moura: Brasilien. Eine Kulturgeschichte. Transcript, 261 S., € 25,50

Kersten Knipp: Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens. Suhrkamp, 382 S., € 12,40

1940 Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis gewährte, als „Land der Zukunft“. Neben Bossa Nova und Astrud Gilbertos Welthit „The Girl from Ipanema“ war das spektakulärste Projekt der Nachkriegszeit die Errichtung der neuen Hauptstadt Brasilia mitten im Dschungel. Mit dem Slogan „50 Jahre in 5“ sollte neuer Pioniergeist geweckt und das Land besser integriert werden. Die Vision des ­Architekten Oscar Niemeyer, der zufolge in ­seinen „Superquadras“ Arm und Reich zusammenleben sollten, scheiterte. Die zur selben Zeit mit einer Landreform und Verstaatlichung der Ölindustrie begonnene linke Erneuerung des Landes endete 1964 in einem Putsch der Militärs. Es waren Verfolgte jener Zeit, die 1985, nach dem Ende der blutigen Diktatur, die Macht übernahmen – der einstige Gewerkschaftsführer Lula da Silva ebenso wie die derzeitige Präsidentin Dilma Rousseff. Aus jahrelanger Emigration kehrten der Theater­erneuerer Augusto Boal zurück, auch zahlreiche international erfolgreiche Musiker wie Caetano Veloso oder Gilberto Gil, der Mitte der 2000er-Jahre Kulturminister wurde. Am Ende von dessen Amtszeit standen Korruptionsvorwürfe – bezeichnend für ein Land, das sich als fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ständig am Rande des Chaos bewegt. Eine Million Menschen fiel zwischen 1980 und 2010 Mord und Totschlag zum Opfer. Vielleicht noch bezeichnender sind die beiden wichtigsten kulturellen Exporte der jüngsten Zeit – der Blockbuster „Tropa de Elite“ über Drogen, Polizei- und Mafiagewalt sowie der Schriftsteller Paulo Coelho. Dessen Orgien an spirituellem Kitsch verkauften sich bislang 100 Millionen Mal. Erich k lein

illustr ation: Georg feierfeil

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ls der Portugiese Alvares Cabral am 22. April 1500 in Brasilien an Land ging, notierte ein Besatzungsmitglied über die erste Begegnung mit den Indios: „Ihre Hautfarbe ist braun, etwas rötlich. Sie gehen nackt, ohne irgendeine Bekleidung. Es ist ihnen gleichgültig, ihre Scham zu verhüllen oder zu zeigen.“ Sieben Millionen Indianer lebten vor der Kolonisierung des Landes am Amazonas, heute sind es knapp 500.000.


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Zona Sul und Favela Cantagalo Brasilien: Zwei neue Bücher liefern Einblicke in das von Gegensätzen geprägte Leben in Rio de Janeiro

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itten im Trubel des Karnevals von Rio wartet ein Mann auf seine Geliebte und dreht vor Eifersucht durch. Eine junge Frau versucht sich mit einem unehelichen Kind durchzuschlagen. Ein Rio-Besucher nimmt eine Prostituierte mit aufs Hotelzimmer, die eigentlich ein Mann ist. Eine alte Frau irrt in ­einem unterirdischen Labyrinth unter dem Maracaña-Stadion herum (das in drei Jahren über unsere Fernsehbildschirme flimmern wird, wenn dort die nächsten Olympischen Spiele eröffnet werden). Eine 16-Jährige lernt ihren wohlhabenden Vater kennen und besucht das Grab der Autorin, von der die „Erzählung von der Alten“ stammt. Ein Türsteher erzählt aus seinem Alltag. Über ein Foto einer eleganten jungen Frau werden wir ins Rio der 1920erJahre und in die Geschichte einer erotischen Begegnung gezogen, in der Picasso, Freud und Egon Schiele wichtige Rollen spielen. Diese und weitere Erzählungen von brasilia-

nischen Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts, dazu einen Liedtext des Sängers und Komponisten Caetano Veloso sowie zwei Gedichte versammeln der Schweizer Marco Thomas Bosshard und der Brasilianer Marcos Machado Nunes – beide lehren Romanistik an der Ruhr-Universität Bochum – in ihrem schmalen Band „Rio de Janeiro. Eine literarische Einladung“. Es sind Splitter aus dem Leben in der Metropole, fröhliche und traurige, ­wütende und resignierte, geschildert mal in ­einem traumartig-fantastischen, dann wieder in einem ironischen oder brutal-realistischen Tonfall. Gerade weil die Herausgeber viel Wert auf das Lokalkolorit der Erzählungen gelegt haben, hätten dem Band aber ein paar Erläuterungen oder Fußnoten, vielleicht sogar eine Karte von Rio gutgetan. Denn so steht der sprach- und ortsunkundige Leser oft etwas ratlos zwischen Namen wie São Conrado, Tijuca, Lapa und Madureira herum, zwischen der Zona Sul und der Zona Norte,

der Praça Onze und der Praça Mauá, wo die Menschen Cuícas spielen, ­Feijoadas ­kochen und bei NTRKLOPI arbeiten, und rätselt über Sätze wie: „Ihre Füßchen, im salzigen Wasser der Strände von Bica und Engenhoca getauft und auf der Ilha do Governador – als sie dort wohnten in Cacuia und Morro do Dendê –, vergaßen den Schleichweg nach Rio de Janeiro nie.“

der Brasilianer und ihrer Lebenslust. In einem lapidar-ironischen Tonfall, der – schon weil er sich ebenso auf die Autorin bezieht wie auf die Brasilianer – nie ins Herablassende abrutscht, staunt sie über die brasilianische Ausgeh- und Flirtkultur und die Überschwänglichkeit der Cariocas. „Allein aufgrund der schlichten Menge derjenigen, die, als sie mich gerade kennen­ gelernt hatten, auch schon bereit waren, für mich zu sterben, fragte ich mich, ob es plausibel ist, dass sich innerhalb weniger Wochen fünf Brasilianer in mich verlieben, ­davon zwei Frauen? Seitdem schalte ich bei allem, was man zu mir sagt, ­gedanklich zwei Gänge runter, und bei allem, was ich zu sagen gedenke, einen Gang hoch.“

Weniger literarisch, aber für Rio-Neulinge bes-

ser geeignet ist Frauke Niemeyers ursprünglich 2011 erschienenes und jetzt mit einem Zusatzkapitel neu aufgelegtes Buch „Ein Jahr in Rio de Janeiro. Reise in den Alltag“. Die deutsche Journalistin reiste in die Stadt, um „einzutauchen in das Treiben der Cariocas, der Einwohner von Rio, den Alltag kennenzulernen, die Menschen neben mir im Bus anzuschauen“ und herauszufinden, ob sie die „unerklärliche Energie“, die sie als Touristin in Rio erlebt hatte, „auch mittwochs an der Bushaltestelle auf dem Weg zur Arbeit“ spüren werde „oder ob sie nur aus der Projektion der Reisenden entsteht, die vor lauter Sonne und Samba nicht wissen, wohin mit ihrer Begeisterung“. Niemeyer nimmt den Leser mit auf ihre Entdeckungsreise durch die Stadt: In Sambaclubs, zu einem Junggesellinnenabschied und einer Hochzeit, zur ersten ­Surfstunde und zum Karneval, aber auch zu Gesprächen mit Straßenkindern, Verbrechens­ opfern und Bewohnern der Favelas, der Armenviertel Rios. Weil der Wissensstand des Lesers dabei meist dem der Erzählerin entspricht, kann Niemeyer Erklärungen für Orte, Begriffe und Gebräuche einschieben, ohne den Lesefluss zu stören. Vereinzelte Fußnoten liefern zusätzliche Informationen etwa über die Eigenheiten und die Aussprache des brasilianischen Portugiesisch, über brasilianische Musik oder über die Entstehung und die Sozialstruktur der Favelas. Niemeyer erzählt begeistert von den Stränden und der Natur Rios, von Bossa Nova und Samba, von der Hilfsbereitschaft

Die Autorin berichtet aber auch von der Ge-

Marco Thomas Bosshard, Marcos Machado Nunes: Rio de Janeiro. Eine literarische Einladung. Wagenbach, 144 S., € 16,40

Frauke Niemeyer: Ein Jahr in Rio de Janeiro. Reise in den Alltag. Herder, 192 S., € 13,40

walt, die Teile Rios fest im Griff hat – bei einem früheren Besuch wurde Niemeyer in einem vollbesetzten Bus mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt, auch nun hört sie immer wieder Schüsse –, von der korrupten Polizei und der riesigen Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten. Bald nach ihrer Ankunft zieht sie ins Reichenviertel Ipanema: „Obwohl so viele im Elend leben, gibt es in Rio eine Erste Welt: die Zona Sul. Mit traumwandlerischer Sicherheit habe ich mich in ihren Nukleus gesetzt, Ipanema. Ich kaufe in einem Supermarkt ein, der nichts dabei findet, sich ,Zona Sul‘ zu nennen, weil es da nämlich das Sortiment für meinesgleichen gibt: Balsamico-Essig und Rucola und Nutella.“ Aber direkt hinter dem Hochhaus, in dem Niemeyer wohnt, befindet sich auf einem Berg die Favela Cantagalo. „Ihr wohnt keine 30 Meter voneinander entfernt, aber entscheidend ist: Eles estão no morro, você está no asfalto (Sie sind auf dem Berg, du bist auf dem Asphalt)“, sagt ein Freund der Autorin, und sie konstatiert: „Auf diese zwei Begriffe lässt sich das, was Rio krank macht, herunterbrechen. In einer Stadt zwei Welten: Morro und Asfalto.“ R u t h E i s enre i c h

Bernhard Heinzlmaier/Philipp Ikrath

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Die Werte der Jugend im 21. Jahrhundert ISBN 978-3-85371-361-7, br., 208 Seiten, 17,90 Euro

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Sachbuch

Land der Gegenwart und Gegensätze Brasilien: arm, aber optimistisch. Ruedi Leuthold und Verena Meier erklären das fünftgrößte Land der Welt

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uedi Leuthold ist ein renommierter Journalist und Dokumentarfilmer, der seit einigen Jahren in Rio de Janeiro lebt. In seinem neuen Buch erzählt er in Reportagen vom Alltag der Menschen im Brasilien von heute, einem Riesenland, das von sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unglaublichen Gegensätzen geprägt ist. Es wäre stark untertrieben, Brasilien ein heterogenes Land zu nennen. ­Ruedi Leuthold ist auf der Suche nach dem Grund, warum sich die meisten Menschen in Brasilien offenbar glücklich fühlen, in einem Land, das nach wie vor von großen sozialen Ungerechtigkeiten geprägt ist und, so Leuthold, „vom Idealzustand der Demokratie etwa so weit entfernt wie ein Bordell vom Kloster“.

Die Lüge vom Glück Der Reporter sucht nach einem verbindenden Element, nach etwas, was Brasilianerinnen und Brasilianer mehrheitlich eint, in einem Land, das wirtschaftlich aufstrebt wie nie zuvor in seiner Geschichte. Dazu interviewte er Reiche und Arme, Richterinnen und Hausmeister, skalpierte Frauen im Amazonasgebiet und Drogendealer ebenso wie wohlhabende Witwen und deren Dienerinnen in Rio oder Dramaturgen der berühmten Sambaschulen. Was er herausfand, fasste einer seiner Interviewpartner so zusammen: Die kleine Lüge, unter allen Umständen glücklich, fröhlich und gut aufgelegt zu sein, gehört ebenso zum Brasilianertum wie eine gewisse Spontaneität und die ständige Selbstversicherung, im besten Land der Welt zu leben. Dies mache auch weltweite Umfragen verständlich, in denen sich Brasilianer regelmäßig zu den glücklichsten Menschen erklären. Niemand würde zugeben, unglücklich zu sein. Brasilianer seien klassische Optimisten, die Probleme gerne verdrängten. Außerdem sähe man in Brasilien in einem Fremden eher einen potenziellen Geschäftspartner (den man bei Gelegenheit natürlich auch übers Ohr hauen könne) als einen Feind.

Der harmlose Betrug Auch deshalb sei der öffentliche Umgang miteinander in Brasilien tendenziell friedlich und freundlich. Die andere Seite der Medaille sei das „Jeitinho“, der harmlose Betrug, die ständige Trickserei, die erpresserische Umarmung. Politik in Brasilia funktioniere nicht anders als auf dem Marktplatz: viel Geschrei, eine kleine Erpressung, die erlösende Umarmung. Dessen habe sich auch die allseits bewunderte Regierung des Ex-Gewerkschaftlers Lula da Silva schuldig gemacht, die, anstatt das Land mithilfe des Drucks der Straße grundsätzlich zu verändern, die Stimmen der konservativen Opposition und damit der seit Jahrhunderten tonangebenden Oligarchen kaufte und die seit langem verbreitete Korruption in der brasilianischen Politik so fortsetzte. Diese Inkonsequenz einer ansonsten weltweit bewunderten, fortschrittlichen Regierung, die mithilfe umfangreicher Sozialprogramme Millionen von Menschen aus der Armut holte, war es letztendlich, die

die angesehene Umweltministerin Marina Silva zum Rücktritt veranlasste, ebenso wie der Umgang der Regierung mit dem Regenwald. Dass viele Brasilianer ähnlich denken wie Marina Silva, zeigen die knapp 20 Prozent, die sie bei den folgenden Wahlen als „grüne“ Kandidatin bekam. Der städtisch geprägte ehemalige Gewerkschaftler Lula hatte kein Verständnis für ökologische Anliegen und die Lebensrealität der „Indios“, ebenso wenig wie seine Nachfolgerin Dilma Rousseff, die als ehemalige Energieministerin den weltweit höchst umstrittenen Bau des Riesenwasserkraftwerks Belo Monte genehmigte. Ruedi Leuthold entzaubert das Riesenland Brasilien in seinen Reportagen aber nicht, ganz im Gegenteil. Egal, ob er eine couragierte Richterin am Amazonas porträtiert, die mit einem von ihr initiierten „Justizschiff “ Gerechtigkeit auch in entlegene Regionen bringt, oder ob er der Leserschaft Copan vorstellt, den größten Gebäudekomplex der Welt, der in São Paulo eine Welt für sich bildet – immer wird Leutholds Bewunderung für die Menschen deutlich, die sich oft in widrigsten Umständen behaupten und dabei weder ihren Stolz noch ihr Lächeln verlieren.

Fakten und Analysen Die Wirtschaftsgeografin Verena Meier, ebenso wie Leuthold aus der Schweiz, liefert in „Brasilien – das Land der Gegenwart“ die harten Fakten über Brasiliens Geschichte, Gesellschaft und Wirtschaft und kommt in deren Analyse oft zu ähnlichen Erkenntnissen wie Leuthold. Etwa jener, dass die Idee und der Ehrgeiz, Brasilien könne zu einem weltweit angesehen „großen Land“ werden, alt sei. Diese Idee kam bereits im frühen 20. Jahrhundert auf und manifestierte sich vor mehr als 50 Jahren im Bau der modernistischen Hauptstadt Brasilia, die im Landesinneren praktisch aus dem Boden gestampft wurde. Meier erklärt, warum in den letzten 20 Jahren nach Definition der Weltbank rund 45 Millionen Brasilianer aus der Armut in die untere Mittelschicht (die sogenannte „Klasse C“) aufsteigen konnten; warum das brasilianische Konsumwunder auch millionenfache Verschuldung bedeutet; warum zwar Brasilien schon Anfang 2012 Großbritannien als sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt ablöste, wobei aber das durchschnittliche Jahres-pro-Kopf-Einkommen in Großbritannien 43.700 US-Dollar betrage, in Brasilien aber nur rund 8300 Dollar. Das Durchschnittseinkommen, wohlgemerkt, in einem Land, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer noch extrem sind. Laut Meier hat das ärmste Zehntel der brasilianischen Bevölkerung weniger als ein Prozent des Nationaleinkommens zur Verfügung, das reichste Zehntel nimmt dagegen 43 Prozent davon für sich in Anspruch.

Brasilien Das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2013 ist flächen- wie bevölkerungsmäßig gesehen das fünftgrößte Land der Welt, besitzt eine Fläche von 8.514.215 km² und 192 Milllionen Einwohner. 28,2% sind unter 15 Jahre alt, die Alphabetisierungsrate des Landes lag 2003 bei 88,4%. Brasilien gehört zu den sogenannten BRICS-Staaten, den aufstrebenden Volkswirtschaften Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika

Ruedi Leuthold: Brasilien. Der Traum vom Aufstieg. Nagel & Kimche, 208 S., € 18,40

Entwicklungsland adé Auch die Geburtenraten – ein guter Indikator für Bildung und Wohlstand – klaffen auseinander: 2010 lagen sie im armen ländlichen Norden Brasiliens bei 2,8 Kindern pro Frau, im reichen städtischen Süden da-

Verena Meier: Brasilien – das Land der Gegenwart. Rotpunkt, 250 S., € 30,80

gegen bei 1,67 Kindern pro Frau. Da knapp 85 Prozent der Brasilianer inzwischen in urbanen Räumen leben und ihr Anteil an der Bevölkerung immer größer wird, passe das Klischee von Entwicklungsland und „Bevölkerungsexplosion“ im Zusammenhang mit Brasilien absolut nicht, so Meier. Sie betont zudem, dass der Aufbau der brasilianischen Bevölkerung in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts in ökonomischer Hinsicht sehr günstig sei: Das Verhältnis von Menschen im Erwerbsalter zu denen, die nicht oder nicht mehr erwerbstätig sein können, ist optimal. Die Probleme, die sich für Europa wegen seiner alternden Gesellschaften ergeben, hat Brasilien einfach noch lange nicht. Weil die aktuelle Müttergeneration groß ist und die Menschen auch in Brasilien immer älter werden, wächst die Bevölkerung vorläufig weiter. Während das erste milagre economico, das Wirtschaftswunder Brasiliens in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, ganz an der Nachfrage der damaligen Mittel- und Oberschicht orientiert war und die Militärregierung keine Anstrengungen unternahm, die arme Bevölkerungsmehrheit einzubinden, bemühte sich die Regierung der Arbeiterpartei unter Lula da Silva, durch groß angelegte Sozialprogramme so viele Menschen wie möglich aus der Armut zu holen.

Die Ziele der Zukunft Diese Bemühungen waren bekanntlich erfolgreich und führten zum Wahlsieg von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff. Unter den sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) kommt Brasilien die Rolle des Rohstoff- und Lebensmittellieferanten zu. Das ist ökonomisch und vor allem ökologisch riskant. Präsident Lula legalisierte den Anbau von Gen-Soja, was damit erklärt wird, dass China als Absatzmarkt wichtiger geworden ist als das Gentechnologie-kritische Europa. Auf jeden Fall wurde Brasilien damit noch abhängiger von der internationalen Agrochemie und gefährdet durch die Ausweitung der riesigen Anbauflächen zunehmend den Regenwald und die Existenz der Indigenen und Kleinbauern. Wie Meier betont, regt sich in Brasilien selbst zunehmend Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit, wie erst im Juni 2013 große Demonstrationen zeigten, die international Schlagzeilen machten. Die Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr, auf den viele Brasilianer angewiesen sind, waren nur der Anlass. Auch Umweltschutz im eigenen Land wird bei jungen Brasilianern populärer; so formiert sich auch in den Städten Widerstand gegen den Bau des Wasserkraftwerks Belo Monte. Die Knackpunkte, an denen Brasilien immer noch arbeiten muss, um ein gerechteres Land für alle Bewohner zu werden, spricht Verena Meier direkt an: Land- und Justizreform. Mehr Wohlstand und Bildung für mehr Menschen, die sich nun besser artikulieren können, wo der alltägliche Überlebenskampf nicht mehr im Vordergrund steht, haben das Land diesen Zielen vielleicht näher gebracht. K ar i n C h ladek


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Amerikanische Bäume und Regen in China Globalisierung: Ein fulminantes Buch erklärt die Veränderung der Welt durch die Entdeckung Amerikas

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enn man ein genaues Datum für den Beginn der Globalisierung nennen müsste, wäre es der 16. Jänner 1493. An diesem Tag machte sich Christoph Kolumbus wieder auf den Weg zurück nach Europa. Ein denkwürdiges Datum, denn erst durch seinen Bericht von den Reichtümern, die für Europa jenseits des Atlantiks bereitstünden, formte sich unsere heutige, neue Weltordnung. Die bis dahin getrennten Weltzonen Eurasien

und Amerika mit ihren unterschiedlichen Tier- und Pflanzenarten wurden für biologische Verhältnisse in Sekundenschnelle zu einem einzigen ökologischen System. Durch den Transfer der plötzlich verfügbaren Ressourcen konnte Europa über entscheidende Jahrhunderte die politische Initiative an sich reißen und die Grundlagen unseres heutigen erdumspannenden Wirtschaftssystems mit all seinen Vor- und Nachteilen schaffen. So weit die trockene Theorie. Charles C. Mann ist zu danken, dass er die Geschichte der letzten 500 Jahre im Licht einer ökonomisch-ökologischen Analyse neu aufrollt. China war im 15. Jahrhundert das reichste und mächtigste Land der Erde. In jedem Bereich – Wohlstand, militärische Stärke, kultureller und technischer Entwicklungsstand – war es dem Rest der Welt überlegen. Das durch Sprache, Kultur und Religion zerrissene Europa konnte China nicht einmal Handelswaren oder Technologien anbieten, die für dieses Land im Austausch interessant gewesen wären. Das änderte sich schlagartig, als Spanien über Silber, Tabak und Mais aus den neuen Kolonien verfügte. Anders gesagt: Aus dem Wunsch an Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand Chinas hatte Europa moderne Finanzierungsformen entwickelt, mit denen es Expeditionen zu neuen Ressourcen realisieren hatte können. Und damit begannen Dominosteine zu fallen. Dazu gehörte, dass andere, effizientere Kulturpflanzen wie die importier-

te Kartoffel die Ernährungsbedingungen in europäischen Ländern verbesserten und die Bevölkerung schnell anwachsen ließen. Zudem veränderte sich in dieser Zeit das Klima; Historiker nennen diese Kältewelle mit ihren langen, schneereichen Wintern die Kleine Eiszeit. Theorien für deren Ursache gibt es so viele wie für das Aussterben der Dinosaurier. Der belesene Wissenschaftsjournalist Charles C. Mann favorisiert in diesem Zusammenhang eine der neueren, zunehmend an Akzeptanz gewinnenden Thesen der Paläoklimatologie, die von der Tatsache ausgehen, dass Flächen für die Landwirtschaft von der indigenen amerikanischen Bevölkerung nicht mit Axt und Pflug gerodet, sondern seit vielen Jahrhunderten durch Brand­ rodung erschlossen worden waren.

Aus dem Wunsch an Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand Chinas hatte Europa moderne Finanzierungsformen entwickelt, mit denen es Expeditionen zu neuen Ressourcen realisieren hatte können. Und damit begannen Dominosteine zu fallen

Im Zuge des „Columbian Exchange“, des Im-

und Exports von Lebewesen aller Art, breiteten sich auch eurasische Bakterien, Viren und Parasiten rasant über Amerika aus und töteten eine ungeheure Zahl von Menschen. Als damit auch die Rodungsbrände der Indianer buchstäblich erloschen, gelangte weniger Kohlendioxid in die Atmosphäre, und die offenen Grasgebiete verwaldeten. Diese Umkehrung unserer heutigen Klimaerwärmung bewirkte in Europa mehr Schneefall, in China hingegen ertranken die Ernten in Regenfällen, auf die Phasen trockener Kälte folgten. Die Ming-Dynastie wurde von Hungersnöten und Rebellionen abgelöst, und die einstige Weltmacht verlor in nur eineinhalb Jahrhunderten ihre einstige ökonomische Strahlkraft. Schuld daran waren amerikanische Bäume. Ein weiterer fataler Bio-Import nach Amerika war der Einzeller Plasmodium, der Erreger der Malaria, die bis 1492 nur in Eurasien und Afrika gewütet hatte. In kurzer Zeit wurden die subtropischen Gebiete der Neuen Welt vom Sumpffieber heimgesucht. Europäische Arbeitskräfte weigerten sich zunehmend, auf Plantagen in diesen Zo-

Charles C. Mann: Kolumbus’ Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen. Rowohlt, 807 S., € 36,–

nen zu arbeiten, was zur größten Massenverschleppung von Menschen in der Geschichte führte: 11,7 Millionen versklavter Afrikaner wurden zwischen 1500 und 1850 nach Amerika verschifft. In dieser Zeit emigrierten aber nur 3,4 Millionen Europäer in die Neue Welt. Demografisch war Amerika bis ins 19. Jahrhunderte also eher ein Anhangsgebilde Afrikas als Europas. Diese und viele andere verblüffende Zusam-

menhänge, die wie der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings weitreichende Folgen bis in die Gegenwart zeigen, macht Charles C. Mann abseits der traditionellen Geschichtsschreibung sichtbar. Wie ein Reiseberichterstatter führt er den Leser durch Zeit und Raum, schweift zu kleinen Nebenschauplätzen ab, um das große Ganze der Folgen des kolumbischen Austausches sichtbar zu machen. Ähnlich Peter Watson mit seiner monumentalen Ideengeschichte der Menschheit („Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne“, 2008) erklärt Mann die Welt, ohne je belehrend zu wirken. Staunend folgt man ihm auf seinen faktenreichen Pfaden an die Quellen unserer jetzt globalisierten und homogenisierten Welt, die nur unter Nutzung der Ressourcen Amerikas entstehen konnte. 1713 führte der Forstmeister Hans Carl von Carlowitz erstmals den Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ als Gleichgewicht von Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit ein, der heute als sustain­ able development in aller Munde ist. In Charles C. Manns Buch werden genau diese Auswirkungen ökonomischer Initiativen auf ökologische Systeme sichtbar, die wiederum gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen. Angenehmerweise wird dieser oft missbrauchte und in der Alltagsprache verwaschene Begriff der Nachhaltigkeit nicht einmal andeutungsweise von Mann verwendet. Absolute Empfehlung für das Sachbuch des Jahres! P e t e r I wa n iewicz

Falter KRIMIS s

Jürgen Benvenuti

NEU

LEICHENSCHÄNDER Ein Wiener Kriminalroman Laurenz Breitmaier, ein Zyniker mit düsterer Vergangenheit, ist Fotograf bei der Boulevard-Zeitung Voll Dran! Als eine Serie bestialischer Hunde-Morde die Wiener in Atem hält, wird Breitmaier von seinem Chef auch als Journalist auf den Fall angesetzt. Nachdem ein junger Mann verstümmelt aufgefunden wird, den Breitmaier beiläufig gekannt hat, recherchiert der Reporter auf eigene Faust weiter und kommt einer irrwitzigen Geschichte auf die Spur, die ihn schließlich bis in die höchsten Kreise der städtischen Politik führt.

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Sachbuch

Seefahrer, Galeeren, Handel und Hafen M

ilano Marittima, Grado, Zadar, Kreta, Djerba, Taormina, Marseilles, Mallorca: Sehnsuchtsorte von uns Mitteleuropäern. Das Mittelmeer ist unsere kollektive Badewanne, seine Landschaften, Küchen, Städte und Strände sind Projektionsfläche unserer Sehnsüchte nach Süden. Das Mittelmeer ist auch „unser Meer“. „Mare nostrum“ nannten es die Römer (und Mussolini). Die Römer waren die Einzigen, die das mit vollem Recht tun konnten. Die ersten beiden Jahrhunderte nach Christus herrschte Friede rund ums Mittelmeer. Die Römer hatten alles im Griff – und der Handel blühte. Das war nicht immer so. Meistens wurde das

Mittelmeer von Eroberern und Piraten heimgesucht – seien es in der Antike die Etrusker, im Mittelalter die unter christlicher Fahne segelnden Johanniter (die später Malta gegen die Osmanen verteidigten) oder die Korsaren, eine wilde Meute von Freibeutern aus aller Herren Länder, die sich oft in den Dienst des Halbmonds stellten. Der Sklavenhandel war bis in die Neuzeit ein sehr einträglicher Handelszweig: Immer wieder wurden Inseln und Küsten überfallen, um die Bewohner in die Sklaverei zu verschleppen. All das beschreibt der britische Historiker David Abulafia, dessen sephardische Familie 1492 aus Spanien vertrieben wurde. Berühmt und wegen seiner kritischen Darstellung umstritten ist sein Buch „Herr-

scher zwischen den Kulturen. Friedrich II. von Hohenstaufen“ (1991). Abulafia hat sich mit der italienischen und der spanischen Geschichte beschäftigt. All das fließt in seine über 900 Seiten starke „Biografie des Mittelmeers“ ein – man darf von einem „Opus magnum“ sprechen. Interessant ist die Perspektive: Abulafia beschränkt sich tatsächlich auf das Meer und die unmittelbare Küstenregionen – vor allem Handel und Seeschlachten, der Fischfang gibt historiografisch wenig her. Er beschreibt, wie es auf den berüchtigten Galeeren zuging, versucht anhand spärlicher Quellen auch die ganz frühen Kulturen im östlichen Mittelmeerraum zum Leben zu erwecken, berichtet von einzelnen Händlern oder Piraten, erzählt deren Lebensgeschichte, zitiert aus ihren Briefen und Hinterlassenschaften. Das Ergebnis ist ein sehr lebendiges Bild von den „dunklen Jahrhunderten“ bis zum Zweiten Weltkrieg. Um dieses eigentlich unüberschaubare Material in den Griff zu bekommen, streift er die ganz großen Ereignisse nur kursorisch. „Unser“ Karl der Große taucht bei ihm nur einmal als „inzestuöser Massenmörder“ auf. Detaillierter als über die sattsam bekannten Römer schreibt er über deren Erzfeinde, die Karthager. Statt vom kastilischen Spanien unter den Habsburgern berichtet er vom katalanischen Königreich auf Mallorca. Auch wenn manche Seeschlacht in unappetitlicher Ausführlichkeit vorkommt, hat es ihm eigentlich die friedliche Seefahrt an-

getan: Prägend für die Geschichte (und den Alltag) des Mittelmeers war der Handel, der erst nur küstennah funktionierte. Denn das Mittelmeer kann wesentlich rauer sein, als wir das oftmals von der vor sich hin dümpelnden nördlichen Adria kennen. Je besser die Schiffe und die nautischen Fähigkeiten ihrer Besatzungen wurden, in desto entferntere Welten fuhren die geschäftstüchtigen Händler – von der Levante bis nach Gibraltar. Die seefahrenden Händler sind in der Darstellung von Abulafia die Kulturträger der Geschichte – nicht Generäle und Könige. Sie traten in Kontakt mit fremden Kulturen und sorgten dafür, dass das Mittelmeer immer multikultureller wurde. Hafenstädte wie Saloniki (Tessaloniki), Smyrna (Izmir), Alexandria oder Karthago (Tunis) waren brodelnde melting pots – wovon heute meist nichts mehr übriggeblieben ist. Dafür sorgten Vertreibungen und Pogrome, die sich im Mittelalter vor allem gegen die Juden richteten und später aus nationalistischen Gründen gegen alle möglichen ethnischen Minderheiten. Wer dieses Buch lesen möchte, muss einen

David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biografie. S. Fischer, 950 S., € 35,–

langen Atem mitbringen: Wie in den Romanen Tolstois gibt es eine unüberschaubare Zahl an Handlungssträngen und Protagonisten. Dafür bekommt man ein sehr lebendiges Bild von Zeiten und Regionen, über die man als Mittel- und Nordeuropäer bislang eher weniger wusste. T h o mas A s k a n V i e r i c h

illustr ation: georg feierfeil

Geschichte: David Abulafia legt eine lebendige und umfangreiche Biografie des Mittelmeers vor


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Abyss – eine Reise in die Tiefen des Lebens Meeresforschung: Zwei so schöne wie gut erzählte Bücher berichten von den Tiefen der Meere und ihrer Erkundung er sich schon überlegt hat, auf W E-Books umzusteigen, wird angesichts dieser beiden Bücher über

die Tiefsee und das Leben in ihnen davon Abstand nehmen. Sie verbinden wunderbare Haptik des Einbands, feine Grafiken und Fotos, dezente Schmuckfarben im Text, seidige Lesebändchen und jene betörende Duftmischung aus hochwertigem Papier und Druckerschwärze, die bibliophile Menschen so schätzen. Und auch inhaltlich geht es in die Tiefe. Während Mitte des 19. Jahrhunderts fast alle Regionen der Welt erkundet und kartografiert waren, blieben die Meere weiterhin unergründlich. So glaubte man, dass unterhalb einer Wassertiefe von etwa 500 Metern kein Leben möglich sei, und hatte so gut wie keine Kenntnis von Vielfalt und Verteilung der Meereslebewesen. Auf hartnäckiges Betreiben des Zoolo-

gen Carl Chun genehmigte Kaiser Wilhelm II. die erste große deutsche Expedition zur Erforschung der Tiefsee. Das Forschungsschiff Valdivia, ein für wissenschaftliche Expeditionen umgerüsteter Dampfer, stach 1898 in See und kehrte nach über 32.000 Seemeilen durch den Atlantik und den Indischen Ozean ein Jahr später nach Hamburg zurück. Die Ausbeute an unbekannten Tieren und ozeanografischen Erkenntnissen war so groß, dass das letzte Buch des 24-bändigen wissenschaftlichen Berichts erst 1940 erschien. Andreas von Klewitz erzählt in „Carl Chun, die Valdivia und die Entdeckung der Tiefsee“ anhand von Originalzitaten aus der „gemeinverständlichen“ Ausgabe diese bemerkenswerte Entdeckungsreise nach. Das gelingt ihm mit feinem Gespür für die Filetstücke eines Textes aus dem 19. Jahrhundert, dessen Stil für heutige Lesegewohnheiten in ungekürzter Originallänge eher ermüdend wirken würde. Mit Sachverstand begleitet und kommentiert er den Expeditionsbericht Carl Chuns, der neben den bizarren Tieren der Tiefsee auch interessante ethnologische Betrachtungen und kurze Abrisse der Entdeckungsgeschichte der von ihm besuchten Inseln und Landstriche bietet. Auf diese Weise ermöglicht das Buch neben den eingangs erwähnten ästhetischen Reizen mehrere Rezeptionsebenen: Wege und Irrwege wissenschaftlicher Forschung werden lebendig, man kann sich auch an einem historischen Abenteuerroman erfreuen, und nicht zuletzt rufen manche seltsam anmutenden Ansichten über die indigene Bevölkerung der Inseln die Ära deutscher Kolonialgeschichte in Erinnerung. Hier bekommt man alles, was ein gutes Sachbuch bieten kann.

Ein zweites, optisch fast noch opulenteres Buch darf an dieser Stelle auf keinen Fall fehlen, obwohl es bereits 2012 erschien. „Urmeer“ nennt die Geologin und Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich ihr umfangreiches Werk, das laut Untertitel – und nicht ganz unbescheiden – „Die Entstehung des Lebens“ auf unserem Planeten abhandelt. An einer solch herkulischen Aufgabe kann man leicht scheitern. Entweder langweilt man seine Leser mit endlosen und hypothetischen Beschreibungen der ersten Einzeller, oder man muss sich an preisgekrönten Büchern wie Richard Forteys „Leben – Eine Biografie. Die ersten vier Milliarden Jahre“ (1999) messen lassen. Röhrlich meistert diese Herausforderung,

indem sie textbegleitende Fakten in Infokästen auslagert, es versteht, in exzellenten Illustrationen die Sachverhalte verständlich zu machen, und nicht zuletzt, indem sie einen erzählerischen roten Faden in Gestalt des dänischen Naturforschers Nicolaus Steno anbietet. Dieser Arzt, Anatom und Naturforscher war im 17. Jahrhundert einer der wesentlichen Begründer der Geologie, jener Wissenschaft, die als erste die Zeitangaben der Bibel über das Alter unserer Welt anzuzweifeln wagte. Immer wieder kehrt die Autorin nach Exkursen über das Leben in den archaischen Ozeanen, Problemen der Altersbestimmung und der Ent­ stehung sexueller Fortpflanzung zu ­ihrem historischen Protagonisten und seinem bewegten Leben zurück. ­Anhand seiner Person zeigt sie die Probleme wissenschaftlicher Erkenntnis und die Entstehung von gesellschaftlich akzeptierten Tatsachen auf. Stilistisch elegant verbindet sie fundiertes Sachwissen mit menschlichen Dramen, Forschungsergebnisse mit Sagengeschichten und weist auf aktuelle Probleme wie Artensterben und Meeresverschmutzung hin. Oft werden angloamerikanische Sachbuchautoren für ihren lockeren und kundigen Erzählstil gelobt, Dagmar Röhrlich zeigt mit diesem Werk, dass dies auch im deutschen Sprachraum möglich ist. P eter I w a n ie w i c z Andreas von Klewitz: Carl Chun, die Valdivia und die Entdeckung der Tiefsee. Parthas, 192 S., € 35,80

»Ganz entgegen der alten Wiener Tradition, dass übers Raunzen gar nichts geht, haben engagierte Wiener Buchhändlerinnen und Buchhändler eine wirklich beachtliche Aktion gestartet, um ihre Vorzüge ins richtige Licht zu rücken. Jammern sollen ab sofort die anderen … Respekt!« Martina Schmidt, Verlegerin

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Sachbuch

Was bedeutet Armut in einem reichen Land? Arbeit: Undine Zimmer wuchs in einer Hartz-IV-Familie auf und erklärt, warum Armut nicht nur ein Geldproblem ist ie leben Menschen, die trotz aller W Bemühungen keinen fixen Job finden? Wie bringen sie mit wenigen hundert

Euro im Monat ihre Familie durch? Und was passiert mit Kindern, die in solchen Verhältnissen aufwachsen? Die Öffentlichkeit diskutiert gern über Armut, über Langzeitarbeitslosigkeit und darüber, ob Beihilfen wie die österreichische Mindestsicherung und das deutsche Hartz IV zu lax oder zu strikt gehandhabt werden. Aber die, die diskutieren, sind Politiker und Sozialforscher. Nur selten kommen Betroffene zu Wort, und so bleibt deren Lebenswelt für den Rest der Gesellschaft ein fremdes Universum voller Stereotypen. Undine Zimmer hat dieses Universum hinter sich gelassen. Die Eltern langzeitarbeitslos und Hartz-IV-Bezieher, die 1979 geborene Tochter hat studiert und war 2012 mit ihrem Text „Meine Hartz-IV-Familie“, entstanden während eines Praktikums beim Zeit Magazin, für den renommierten HenriNannen-Preis nominiert. Jetzt hat sie aus dem Essay ein Buch gemacht. Es ist ein sehr persönliches Buch. „Heute weiß ich, dass der Satz ‚Wir haben kein

Geld‘ das ganze Leben und Denken bestimmen kann“, schreibt die Autorin: „Denn letztendlich geht es dabei gar nicht nur um Geld, sondern um Identität und Selbstbewusstsein.“ Und so beschreibt Zimmer nicht nur die materiellen Einschränkungen ihrer Kindheit und Jugend, sie analysiert

auch deren Auswirkungen auf ihr Denken und Fühlen und das ihrer Eltern. Sie verzichtet darauf, den Leser mit allzu emotionaler Sprache bewegen zu wollen. Auch wo sie ihre eigene Gefühlswelt und die ihrer Eltern seziert, bleiben ihre Sätze meist angenehm schlicht und sachlich. Das bewahrt ihr Buch davor, weinerlich zu klingen, wie jene Art von Bekenntnisliteratur, die vor allem der Therapie des Autors dient. Denn über weite Strecken ist „Nicht von schlechten Eltern“ vor allem Autobiografie und Aufarbeitung einer Eltern-Kind-Beziehung – den Untertitel sollte man eher mit Betonung auf „meine Familie“ lesen als auf „Hartz IV“ –, und Zimmer tendiert dazu, die Ursache für alle Probleme, auch für normale Pubertätswirren, in der Armut zu suchen. Sie habe „andere bewundert, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, dass die Souveränität, Schönheit und Unbeschwertheit, um die ich meine Freundinnen so beneidet habe, sich auch den unterschiedlichen finanziellen Lebensumständen verdankten“, schreibt sie und scheint nicht auf die Idee zu kommen, dass die Freundinnen vielleicht auch an sich selbst zweifelten und weniger souverän und unbeschwert waren, als der Teenager Zimmer sie wahrnahm. Die Stärke des Buches sind jene Stellen, die Einblicke in die sozialen und psychologischen Mechanismen geben, die den Alltag armer Menschen prägen. Die genaue Pla-

nung aller Einkäufe etwa – in knappen Monaten müssen nicht nur die eingelegten Artischocken, die Zimmer so gern isst, im Supermarktregal liegen bleiben, sondern auch die 59-Cent-Schokolade – und der Drang, sich gelegentlich doch etwas zu gönnen. Die Scham, von der Mutter der Schulfreundin auf ein Eis eingeladen zu werden. Die Hoffnungsschimmer und Niederlagen bei der Arbeitssuche und die schwierige Kommunikation mit den wohlmeinenden, aber weltfremden Mitarbeitern des Arbeitsamts. Eines der besten Kapitel ist jenes, in dem Zim-

Undine Zimmer: Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie. S. Fischer, 256 S., € 19,60

mer fast kommentarlos das ArbeitssucheTagebuch ihres Vaters wiedergibt. „Was Armut in Deutschland ausmacht, ist Armut im Sozialen, fehlender Glaube an Bildungsund Aufstiegschancen, an langfristige Investitionen und an sich selbst“, schreibt Zimmer. „Ironischerweise fehlt es genau an den Dingen, die bei uns wenig kosten: Zugang zu Informationen, Internet, Büchern, Wissen, Zeit und Platz für Kinder, damit sie sich austoben und entfalten können.“ In Kapiteln wie jenem, in dem die Autorin langatmig all ihre Verwandten vorstellt, hätten ein paar Kürzungen dem Buch nicht geschadet. Aber Undine Zimmer gelingt es, einen Einblick in das Universum ihrer Eltern zu gewähren und abseits von Schuldund Opferstereotypen, das heißt differenziert zu vermitteln, was Armut in einem reichen Land heute bedeutet.

RUTH EISENREICH

Empathie ist unverzichtbar im Angesicht von Gewalt Journalismus: Die Essays von Carolin Emcke ergründen den Zusammenhang zwischen Gewalt, Leid und Sprachlosigkeit s ist die Quadratur des Kreises, die E Carolin Emcke in ihrem neuen Essayband versucht. Sein Thema: Gewalt, das

Verstummen der Opfer dieser Gewalt und die Frage, wie man – ob betroffen oder verschont – von Krieg, Gewalt und Leid erzählen kann. Carolin Emcke unternimmt einen doppelten Versuch: „einerseits die Schwellen des Erzählens zu lokalisieren und andererseits eben diese Schwellen als – gemeinsam – überschreitbare zu behaupten“. Der Buchtitel formuliert bereits Emckes empathisches Glaubensbekenntnis. Es heißt „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ und versammelt ein gutes Dutzend Texte – Essays, Artikel für Zeitschriften, Reden, Radio- und Originalbeiträge –, die die deutsche Journalistin, Kriegsberichterstatterin und Philosophin, Jahrgang 1967, in den letzten acht Jahren verfasst hat. Dabei ist das Buch nicht ganz das, was es vor-

gibt zu sein. Als Leser bemerkt man das erst spät, weil Titel, Verlagswerbung und Klappentext einen thematisch sehr engen Zusammenhang zwischen allen Texten suggerieren, den es so nicht gibt. Das spricht nicht gegen die Essays im Einzelnen. Jeder von ihnen ist wie immer bei Carolin Emcke lesenswert. Aber gut die Hälfte davon kreist nur am Rand um das postulierte Kernthema Gewalt, Sprachlosigkeit und Zeugenschaft.

Das gilt für Emckes exzellenten Essay über Islamfeindlichkeit ebenso wie für ihre drei Texte über das Reisen oder auch für „Haiti erzählen“, in dem sie von ihrer Überforderung angesichts des beispiellosen Ausmaßes von Zerstörung und Leid nach dem Erdbeben auf der Karibikinsel berichtet. Das ist wichtig zu wissen, wenn man das Buch in die Hand nimmt, darf aber nicht den Blick verstellen auf das, was Emckes Essays seit jeher so aufregend macht: die prägnante Klugheit ihrer Analysen, man möchte fast sagen, die Schönheit ihres Denkens und Schreibens – und gleichzeitig die tiefe Menschenfreundlichkeit und der Mut, der sich in ihnen zeigt. Der Zusammenhang zwischen Gewalt und Sprachlosigkeit der Opfer, um den die zentralen von Emckes Texten kreisen, trifft den Kern dessen, womit sich die preisgekrönte Journalistin (u.a. Spiegel, Die Zeit) seit über 15 Jahren beschäftigt; mit von Kriegen und Krisen versehrten Landschaften und Gesellschaften. Emcke hat aus Afghanistan, Pakistan, aus dem Irak und dem Kosovo und immer wieder aus Gaza berichtet. Als Philosophin hat sie sich mit Theorien der Gewalt und mit Kriegsverbrechen beschäftigt. Hier nun beschreibt sie, wie sich extreme Gewalt auf die Intaktheit des Menschen auswirkt, wie vor allem das allererste Gewalterlebnis, das ein Mensch durch Krieg, Folter, Terror oder Vergewaltigung erlebt,

ihn aus einer unausgesprochenen zivilisatorischen Übereinkunft herausschleudert. Sie bezieht sich auf viele Gespräche, die sie selbst in Kriegsgebieten geführt hat, ebenso auf Zeugenaussagen aus den Jugoslawien-Prozessen, auf Holocaust-Literatur von Jean Améry, Primo Levi oder Robert Antelme bis hin zu Natascha Kampusch oder Berichten der Überlebenden von 9/11. Am Anfang, so Emcke, zerrütten extreme Ge-

Carolin Emcke: Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. S. Fischer, 224 S., € 20,50

walterfahrungen das Verhältnis des Ichs zur Welt, danach erst folgt die Verstörung über die Person, zu der man selbst dadurch geworden ist. Das Verstummen sei eine der Folgen: „Wem die eigene Menschlichkeit dauernd abgesprochen wird, der weiß auch kaum mehr als Mensch zu sprechen. Und dieser Bruch stellt auch für nachträgliche Erzählungen ein Hemmnis dar.“ Wie weit solche Erfahrungen für nicht Betroffene nachvollziehbar sind, beschäftigt Emcke besonders. Trotzdem glaubt sie: Das „kategorisch ‚Andere‘“, das zur Gänze unverständlich bliebe, gibt es nicht. Nur wie gibt man die brüchigen, fragmentierten Berichte von Traumatisierten wieder? Die immer gleiche Frage, die Emcke von Gewaltopfern überall auf der Welt gestellt wird, das ängstlich-hoffnungsvolle „Schreibst du das auf ?“, ist ihr ein wichtiges Motiv. Es besagt: Empathie ist nicht nur möglich, sie „ist unverzichtbar, für uns alle“. J ulia K o spach


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Leistung und Leidenschaft Arbeit: Thomas Vašek und Ulrich Renz ziehen aus ihren Kulturgeschichten unterschiedliche Schlüsse

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ex hat im Herbst 2013 als Thema Nummer eins ausgedient – Arbeit ist angesagt. Zwei Autoren suchen nach dem Wesen unseres tätigen Lebens und legen je eine originelle kleine Kulturgeschichte der Arbeit vor. Beide ziehen ähnliche Quellen heran, erkennen die lebenserhaltenden wie die krank machenden Merkmale unserer Maloche – und gelangen zu unterschiedlichen Schlüssen.

Ulrich Renz will mit Maß und Muße arbeiten. „Wie wir die Herrschaft über unser Leben zurückgewinnen“ verheißt er im Untertitel. Der gelernte Arzt und geübte Verleger hatte schon sein Debüt dem Thema Nummer eins gewidmet: „Die Kunst weniger zu arbeiten“ (2001, gemeinsam mit Axel Braig). Das aktuelle Buch beginnt mit autobiografisch. Sehr persönlich schildert er die Leere, die ihn dereinst als Verlagsmanager ergriff: „Mehr Umsatz zu machen, das nächste Jahr wieder 20 Prozent mehr Gewinn, das Konkurrenzprodukt abschießen, expandieren, Marktführer werden. Das soll das Ziel sein, für das ich dieses Sklavenleben führe? Erbärmlich.“ Renz stellt die herrschende Ordnung der Dinge in Frage, nicht die Arbeit als Ding an sich. Die kann Freude machen und Sinn geben – sobald ihre Gestaltung wieder in der eigenen Macht liegt. Sein Beitrag dazu ist eine geistreiche Kritik der reinen Verdingung. Von der eigenen Historie kommt der mittlerweile erfolgreich Ausgestiegene zur Begriffsgeschichte der Arbeit. Diese beginnt mit der etymologischen Verwandtschaft zum galloromanischen Wort für Quälen. Renz macht Martin Luther für die „Heiligsprechung der Arbeit“ verantwortlich, für das Arbeitsethos anstelle eines Ideals der Muße. Weiter geht’s zu Karl Marx und Hannah Arendt. Neben diesen bekannten geistigen Vorarbeitern finden sich hier auch ungewöhnliche Blickwinkel und Zitate – aus Zeiten der industriellen Revolution etwa die „wohlbekannte Tatsache, dass ein Arbeiter seine Le-

benserfordernisse mit drei von sieben Wochentagen bestreiten kann, sich für den Rest der Woche dem Müßiggang und der Trunksucht hingeben wird“. Auch Paul Lafargue mit seinem „Recht auf Faulheit“ kommt zu Wort. Am heutigen Werktätigen diagnostiziert Renz die Infektion mit Identifikation: „Nicht nur dass sich der moderne Arbeitsmensch wie eine Prostituierte kaufen lässt, nein er soll – und will! – in diese Transaktion auch noch Gefühle investieren, er soll – und will! – nicht nur seine Zeit und seinen Körper geben, sondern auch das Herz, er soll – und will! – seine Leistung aus Leidenschaft erbringen.“ Thomas Vašek arbeitet viel und gerne. Der

Identifikation mit unserer Tätigkeit kann er deutlich mehr abgewinnen als Renz. „Dieses Buch ist eine Verteidigung der Arbeit“, legt der Journalist schon in der Einleitung klar: „Es richtet sich gegen die allgegenwärtige Klage über die Zumutungen der Arbeitswelt.“ Bei ihm führt der Weg von Lohnsklaverei zu Selbstverwirklichung. Auf die unterschiedliche Bewertung der Vita activa im Lauf der Zeitalter und Denkrichtungen legt er den Schwerpunkt seines historischen Streifzugs. Stilistisch können die Autoren einander das Wasser reichen: Beide wissen mit feiner Klinge zu fechten und zitattaugliche Aphorismen einzustreuen. Vašek gibt es noch etwas plakativer, wie schon sein Titel „WorkLife-Bullshit“ ahnen lässt. Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit hält der Dauertätige für Schnee von gestern. Die in der aktuellen Burnout-Diskussion so beliebte „Abgrenzung“ sucht man hier vergeblich. Als „völlig entgrenzt“ outet sich der Autor: „Ohne mein Blackberry, mein iPad, mein Kindle und diverse gedruckte Bücher gehe ich nicht außer Haus. Es täte mir leid, auch nur eine Minute potenzieller Arbeitszeit zu verschenken.“ Natürlich darf hier auch der geistige Überbau nicht zu kurz kommen. Immer-

Thomas Vašek: Work-Life-Bullshit. Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt. Riemann, 288 S., € 17,50

Ulrich Renz: Die Tyrannei der Arbeit. Wie wir die Herrschaft über unser Leben zurückgewinnen. Ludwig, 272 S., € 18,50

hin ist der Autor Chefredakteur des Philosophiemagazins Hohe Luft. Die beste aller möglichen Arbeitswelten sieht Vašek dort, wo Müssen und Wollen verschmelzen. Auf dem Weg dorthin zitiert er Plato, Aristoteles und Hegel. Marx’ Vision von „nichtentfremdeter Arbeit“ ist ihm zu wenig konkret. Vašek erarbeitet gleich ein Stück eigene Philosophie. Er definiert seine Kriterien für „gute Arbeit“. In unserer arbeitsteiligen Welt sieht er den „Anspruch auf Arbeit, die zu einem passt“ begründet. Um diese Arbeit plastisch zu machen, streut er zwischen den Kapiteln Interviews mit Menschen der verschiedensten Berufsgruppen über ihre Tätigkeit ein. Die Begeisterung für die Einheit von Leben und Werk kann anstecken. Überträgt man allerdings die hier vorgeschlagene Praxis erfüllter, flexibler Arbeit auf ein Leben mit mehreren Kindern, wirkt manches etwas naiv. Ulrich Renz hat da schon deutlich mehr für familienfreundliche Arbeitsbedingungen übrig. Aber in vielen Dingen treffen sich die Autoren.

Gute Arbeit hängt bei beiden stark von der Arbeitszeit und deren freier Einteilung ab. Vašek bringt hier als Beispiel die Diskussion mit einem Vorgesetzten darüber, wie er auf einer privaten Bahnfahrt Arbeitszeit gewinnen könne. Renz entwirft Alternativen zum „One size fits all“-Lebensmodell, dem zumindest für Männer vorgefertigten Lebensentwurf „Ausbildung, Vollzeitarbeit, Pension“. Beide Autoren suchen das Heil darin, Macht über die Arbeit zurückzugewinnen: Ihr größter gemeinsamer Nenner ist die geglückte Steuerung des Arbeitslebens. Genau dafür liefern sie gute Anregungen. Beide sprechen zu einem mündigen Leser. Diesem wollen sie nicht sagen, was zu tun wäre, sondern fragen, ob nicht vielleicht alles anders sein könnte. Sie regen zum Überdenken und Gestalten des eigenen Arbeitslebens an. Das ist unterhaltsam und gesund. A n dr e as K r e m l a

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Sachbuch

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts Geschichte: Christopher Clark begibt sich auf die Suche nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs

Das 800-Seiten-Opus mit vielen bizarren Ge-

schichten kommt als ehrgeiziges Projekt daher, immerhin will der britisch-australische Historiker die Vorgeschichte des Krieges als „das komplexeste Ereignis der Moderne“ multiperspektivisch nachvollziehbar machen. Alle Historiker sind sich einig, dass der Erste Weltkrieg die „Urkatastrophe des

20. Jahrhunderts“ war, weil er das mörderische Treiben zweier Weltkriege mit Millionen Toten und Verletzten einleitete. Seit den 1960er-Jahren galt als historiografischer Konsens, dass das Deutsche Reich mit seiner auftrumpfenden „Weltpolitik“ besondere Verantwortung für die Auslösung des Ersten Weltkrieges trug. In Berlin wusste man um die möglichen militärischen Folgen sehr gut Bescheid, als man der Habsburgermonarchie den „Blankoscheck“ für den Regionalkrieg gegen Serbien gab. Clark tritt an, an diesen Erklärungsmustern zu kratzen. Er hat darin ja schon Übung. Seine gelobten Bücher „Preußen“ (2008) und „Wilhelm II.“ (2009) haben Klischees über die militaristische Führungskaste Deutschlands entlarvt. Jetzt setzt er diese Arbeit konsequent fort, indem er die deutsche Politik verständnisvoll beurteilt, genau auf die Vorgänge in St. Petersburg, London, Paris, Berlin, Wien, Konstantinopel oder Belgrad fokussiert und sich die Entscheidungssituationen ansieht. Clark verschiebt die Akzente. Nicht mehr der „Blankoscheck“, den sich die Wiener Führung Anfang Juli von Kaiser und Reichskanzler in Berlin geholt hat, gilt ihm als die Initialzündung für die Weltkrieg, sondern die in der Julikrise forcierte Konflikt- und Risikobereitschaft der Machteliten an den europäischen Schaltstellen sowie die Verkettung ihrer Befindlichkeiten und kleinen und größeren Entschlüsse. Es war alles andere als ausgemacht, dass Europas Politiker das Heil in einem Krieg suchten. Weder zielten die (instabi-

len) Bündnisse dezidiert auf einen Krieg ab, noch waren die handelnden Personen auf den militaristischen Crash fixiert. Möglichkeiten, ihn abzuwenden, gab es genügend. Unter den gegebenen Umständen drückte aber niemand entschlossen genug auf die Stopptaste. Clark nimmt vor allem das russisch -französi-

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. DVA, 896 S., € 41,20

sche Bündnis in die Pflicht, betont die eskalierende Wirkung, die die russische Generalmobilmachung vom 30. Juli 1914 hatte. Aus St. Petersburg kam die Aufforderung nach Belgrad, beim Ultimatum gegenüber Österreich-Ungarn standhaft zu bleiben. Es ist schon erstaunlich, wie affirmativ der britische Historiker die österreichische und wie kritisch er die serbische Politik beurteilt. Er unterstellt, dass die serbische Regierung über das Attentat vorweg informiert war (was nicht bewiesen ist). Und hat beinahe Verständnis dafür, dass Österreich-Ungarn den Krieg gegen Serbien beschloss, weil man sonst Schwäche gezeigt hätte. Er behauptet, dass ein ernstlich am Frieden interessiertes Serbien dem österreichischen Ultimatum voll hätte nachkommen müssen (obwohl es so geschrieben worden war, dass es von Serbien nicht angenommen werden konnte), meint gar, dass die habsburgische Regierung nicht unmittelbar nach der Kriegserklärung mit dem Krieg startete, weil sie noch auf eine Verständigung hoffte. Clark braucht einige Verrenkungen, um seine Thesen durchzubringen. Trotzdem empfehlenswert. A l f r ed P f ose r

illustr ation: Georg feierfeil

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hristopher Clark startet sein Buch mit dem spektakulären Doppelmord im Belgrader Königspalast im Juni 1903. Eine Gruppe hochrangiger Verschwörer aus der serbischen Armee verschafft sich Zugang zum Königspalast und metzelt König Alexander und seine Frau Draga nieder. Dem König wird die Hand abgeschlagen, der Leichnam der Königin wird nackt und blutverschmiert in den Garten geworfen. Blutrünstig wird der Regimewechsel bewerkstelligt, das Geschlecht der Karadjordjevic ersetzt das der Habsburger-freundlichen Obrenovic. Mit dabei als einer der nationalistischen Verschwörer: Dragutin Dimitrijevic-Apis, das Mastermind beim Mord am Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914. Das konspirative Netzwerk der Königsmörder schlägt elf Jahre später erneut zu. Gleich vorne weg: „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark ist ein ziemlich gutes, gründlich gearbeitetes Buch, für die Komplexität des Themas erstaunlich plastisch geschrieben, mit Dutzenden eindrucksvollen Porträts, mit sehr lebendig geschilderten Szenen, „wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“.


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Ging der Erste Weltkrieg von Wien aus? Geschichte: Fünf neue Bücher zeichnen ein komplexes Bild der Rolle Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg

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s kommt nicht oft vor, dass zeitgeschichtliche Bücher österreichischer Historiker aus jüngster Zeit hoch begehrt sind und beste Preise in den Antiquariaten erzielen. Trotzdem ist das mit Manfried Rauchensteiners Buch „Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg“ lange Zeit passiert. 1993 bei Styria erstmals erschienen, war es jahrelang vergriffen. Das Werk des früheren Direktors des Heeresgeschichtlichen Museums war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung und ein gut lesbares Standardwerk mit anregenden Details; Militär-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte in einer kompakten Komposition.

Von Hader zu Hass Jetzt gibt es bei Böhlau eine gründlich revidierte und erweiterte Neuauflage. Eigentlich ein mutiges Unterfangen, denn 20 Jahre Forschung haben neue Themen in den Vordergrund gerückt und andere Bewertungen produziert. Rauchensteiner hat das Dilemma in „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918“ so gelöst, dass er lange Strecken fast unverändert übernommen, Fehler beseitigt und neue Kapitel und Textteile eingeschoben hat. Das Ergebnis: Bei diesem Überblick ist man noch immer sehr gut aufgehoben. Wer kürzere, theoretische oder weniger detailreiche Schneisen durch das komplexe Geschehen erwartet, muss sich aber auf andere Autoren stützen. Wer eine radikalere Sicht auf die „Blutpumpe“ des von Wien angezettelten Krieges haben möchte, für den ist eine Erstauskunft bei Karl Kraus darüber, wie dieser Krieg abgelaufen und was von ihm zu halten ist, noch immer unübertroffen – nachzulesen etwa in der gelungenen Kombination von KrausTexten und Fotos in dem von Anton Holzer herausgegebenen Bildband „Die letzten Tage der Menschheit“. Zu Recht betont Rauchensteiner, dass die nostalgische Memorierung der Habsburgermonarchie als Vorläufer der Europäischen Union ziemlich falsch liegt. Denn bei Ersterer ist der Auflösungsprozess unübersehbar. Der Weltkrieg, von dem sich Kaiser und Regierung eine Beseitigung nationaler Probleme erwarteten, erwies sich als deren fataler Beschleuniger. Vor dem Krieg artikulierten sich im österreichischen Parlament unter den Volksvertretern Befremden, Misstrauen und Obstruktion. Während des Krieges entwickelte sich der Hader zu veritablem Hass, zuerst gegen die Serben, Italiener und Ruthenen als „innere Feinde“, später dann gegen die Juden als „Kriegsgewinnler“, gegen die Tschechen als „Hochverräter“, gegen die Ungarn als egoistische „Schweinemagnaten“ usw.

Den Völkern des Habsburgerreichs blieben nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 ohnehin nicht viele Gemeinsamkeiten. Eine solche Klammer, sicherlich die wichtigste, war die k.u.k. Armee. Rauchensteiner skizziert plastisch die inneren Spannungszustände und Auflösungserscheinungen der Armee mit mehr als acht Millionen Soldaten.

Kriegszitterer und Medaillen Nach den herben Verlusten im Herbst 1914 gab es bei den Generälen massenweise Absetzungen, Rücktritte und Selbstmorde, über die nicht geredet werden durfte. Eine Million Soldaten kamen um, fast zwei Millionen kehrten verwundet heim, mussten vielfach als Invalide ein kärgliches Leben fristen, ihre Leiden wurden missachtet und kleingeredet, „Kriegszitterer“ galten als Tachinierer. Mit Dekorationen ging dagegen der Kaiser großzügig um, vier Millionen Tapferkeitsmedaillen wurden verliehen. Seit den Karpatenschlachten 1914/15 war der nationalistische Bazillus des Misstrauens auch ins Heer eingedrungen, Stand- und Feldgerichte wüteten gegen Desertionen und Selbstbeschädigungen, bis im Sommer 1918 der zuerst schleichende Erosionsprozess zu einem offenen wurde. Rauchensteiner diskutiert unter diesem Vorzeichen die hohe Zahl der über zwei Millionen Soldaten, die in vor allem russische Kriegsgefangenschaft gerieten. Bei der deutschen Armee gab es sowohl an der Ost- wie an der Westfront weit weniger Verluste. Ein düsteres Kapitel ist das Schicksal der Internierten, die auf Verdacht als „unzuverlässige Elemente“ behandelt und in Internierungslagern und Konfinierungsstationen festgesetzt wurden. Hinzu kamen die insgesamt 550.000 meist mittellosen Flüchtlinge und „Zwangsevakuierten“ aus den Frontgebieten, die in dem vom Krieg verschonten deutschsprachigen Zentralraum oft als lästige Esser, störende Fremdlinge oder „potenzielle Seuchenherde“ behandelt wurden. Von einer solidarischen Völkerfamilie spürten diese Vertriebenen jedenfalls wenig. Neu im Buch ist auch ein Kapitel über Kriegsgefangene in Österreich, die hungerten, in Erdlöchern wohnten, in Lager gepfercht wurden, an Krankheiten laborierten, an Seuchen starben, Bauern zugeteilt oder zu Bauprojekten herangezogen wurden – sowie eine ausführliche Betrachtung der Rolle von Kaiser Franz Joseph I. Der greise Monarch wollte von Anfang an diesen Krieg, Zögern und Bedächtigkeit gab es nicht. Die Regie sorgte dafür, dass keine friedlichen Lösungen in Betracht kamen, diplomatische Interventionen unterbunden wurden. Franz Joseph administrierte die Kriegserklärung wie andere Schreibstücke.

Der Erste Weltkrieg dauerte von 1914 bis 1918. Er forderte 17 Millionen Tote. 70 Millionen Menschen standen unter Waffen. Als sein Auslöser gilt die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand am 28. Juni 1914

Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Böhlau, 1222 S., € 46,30 Anton Holzer (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit. Der Erste Weltkrieg in Bildern. Mit Texten von Karl Kraus. Primus, 144 S., € 30,80 Wolfram Dornik: Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf. Studienverlag. 279 S., € 24,90 Jean-Paul Bled: Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger. Böhlau. 322 S., € 36,– Edgard Haider: Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrundes. Böhlau. 288 S., € 25,60

Andere Neuerscheinungen befassen sich mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, vor allem dem verhängnisvollen Jahr 1914.

Der ermordete Thronfolger In Wolfram Dorniks „Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf “ gerät der Chef des Generalstabs der k.u.k. Armee ins Visier der Aufmerksamkeit (siehe Rezension in Falter 37/2013). Der ermordete Thronfolger Franz Ferdinand bekommt gleich mehrere Biografien. In „Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger“ porträtiert der französische Historiker Jean-Paul Bled den in seinem Charakter bisweilen bizarren „verhinderten Herrscher“. Wäre Franz Ferdinand wirklich der Monarch gewesen, der dem Vielvölkerreich eine zeitgemäßere Fassung hätte geben können? Bled zweifelt daran. Der Schock, den sein Tod auslöste, war jedenfalls enden wollend. Ganz nahe an der Chronik dieser Tage erzählt Edgard Haiders „Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds“ von frohen Festen und sauren Tagen, von technischen Neuheiten und dem Wandel im Stadtbild, dem Großstadtübel Müllabfuhr und der Obstruktion im Parlament, vom monströsen, luxuriösen Wirbel um die Uraufführung des „Parsifal“ und vom alten, kranken Kaiser in Schönbrunn, um dessen Leben man bangt. Kurzweilig, anschaulich, in übersichtlichen kurzen Feuilletons führt uns Haider durch die 2-Millionen-Metropole, bevor er einschwenkt auf Julikrise und Kriegsausbruch. Haider beginnt sein Buch mit dem Jahreswechsel 1913/14. Wiens bessere Gesellschaft champagnisiert in den Nachtlokalen, fährt auf den Semmering zum Skilaufen, vergnügt sich in den Theatern und Kabaretts und wünscht sich mit Gedichten, Glückwunschkarten und bei den üblichen Nachbarschafts- und Verwandtschaftsbesuchen ein gutes neues Jahr. Der Brauch, dass die Pummerin läutet, hat sich damals noch nicht eingebürgert, aber dennoch ergibt sich zu Mitternacht auf dem Stephansplatz ein so gewaltiges Gedränge, dass die Polizei einschreiten muss. Die große Sensation des Tages ist Wiens erstes Kinetophon in den TuchlaubenLichtspielen; diese weitere Edison-Erfindung macht es möglich, ohne Klavier und Pianisten zum Film eine Tonbegleitung zu produzieren. Die Arbeiter-Zeitung erinnert daran, dass in den Vorstädten Elend und hohe Arbeitslosigkeit grassieren und die Teuerung den Leuten zusetzt. Die Probleme des Balkans sind weit weg. An die Möglichkeit eines großen Krieges denken wohl nur ganz wenige an diesem Jahreswechsel. Im Juli ist es dann so weit.

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▶ gröbchen ▶ miessgang ▶ obkircher ▶ stöger

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FÜNF JAHRZEHNTE MUSIKGESCHICHTE ERZÄHLT VON 130 PROTAGONISTEN Wienpop erzählt die Geschichte der Wiener Popmusik, von den ersten Vorläufern des Rock ’n’ Roll in den Fünfzigerjahren bis hin zum Ausklingen des Hypes um die lokale Elektronikszene kurz nach der Jahrtausendwende. Die Autoren, vier langjährige Beobachter des österreichischen Popgeschehens, haben mit rund 130 Protagonisten gesprochen und fünf Jahrzehnte Wiener Popgeschichte in Form einer Interviewcollage zu einer vielstimmigen Erzählung verdichtet.

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Baseball, Poker und die Wahl des Präsidenten Zukunftsvorhersage: Nate Silver ist ein begnadeter Prognostiker. Doch sein Schmöker ist ein Gewaltmarsch lle anderen Prognosen der US-PräsiA dentschaftswahl 2012 schlug Nate Silver um Längen. Monate vor der Stimmabgabe, als die meisten Romney vorne sahen, legte er sich auf einen Sieg Obamas fest. Für sämtliche US-Bundesstaaten sagte er die Mehrheiten korrekt voraus. Das Tippen übte Silver schon als Kind, als er sich für Baseballstatistiken begeisterte. Auf der Highschool gewann er Rhetorikwettbewerbe und redigierte die Schülerzeitung. Nach dem Wirtschaftsstudium landete er einen Job bei einer renommierten Unternehmensberatung. Im Rückblick nennt er es den größten Fehler seines Lebens. Er pfiff auf die sichere Karriere, hielt sich mit Onlinepoker über Wasser und begann Artikel über Baseball zu schreiben. Nebenbei bastelte er eine Datenbank und einen Algorithmus, um die Entwicklung von Baseballspielern und damit ihren Marktwert vorherzusagen. 2007 begann Silver sich mit Wahlprognosen zu befassen und seine eigenen Vorhersagen zu bloggen. Seine Treffsicherheit

sprach sich rasch herum, und 2010 kaufte die New York Times sein Blog. Einen hochdotierten Buchvertrag hatte er da bereits in der Tasche. Dabei hatte er kein besonderes Geheimnis: Silver führte keine eigenen Befragungen durch, er nutzte einfach jede veröffentlichte Umfrage und Hochrechnung und gewichtete die Daten mithilfe zusätzlicher Informationen. Wahlprognosen sind der typische Fall, wo der Mittelwert von hundert Meinungen jede einzelne Prognose übertreffen kann. Silver macht kein Hehl daraus und widmet seiner Domäne Wahlprognosen nur ein Kapitel neben Baseball und Poker, womit er sich persönlich auskennt, sowie den Finanzmärkten, der Wirtschaftsentwicklung, Sportwetten, Computerschach, Infektionskrankheiten, der Klimaforschung, dem Terrorismus, Erdbeben, dem Wetter etc. Er hat interessante Einsichten über das Herdenverhalten an Börsen und die Unsinnigkeit der allermeisten Hypothesen, die Anleger verfolgen, über die selektive Ver-

Nate Silver: Die Berechnung der Zukunft. Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen. Heyne, 654 S., € 23,70

öffentlichung von Studien, die die Wissenschaft auf Abwege bringt, und über unsere evolutionäre Fähigkeit, Muster zu finden, auch wenn es in Wahrheit gar keine gibt. Doch es ist alles sehr viel und mitunter zu viel des Guten. Um mit dem Autor zu sprechen: Das Rauschen nimmt zu, und das Signal ist noch schwerer zu verstehen. In der deutschen Ausgabe wird das Verständnis durch die Überforderung der beiden Übersetzer und des Redakteurs erschwert. Silver hat für alle Beteiligten einfach zu viele Fachgebiete berührt. Und dann auch noch Baseball. „The Signal and the Noise“, wie das empfehlenswertere und als Taschenbuch halb so teure Original heißt, will seine Leser dazu bewegen, in Wahrscheinlichkeiten zu denken und, wenn neue Informationen relevant sind, die Vorhersage zu ändern. Denn leider neigen wir zu Sturheit und Selbstüberschätzung. Silver ist inzwischen weitergezogen. Sein Blog gehört seit Juli dem Sportsender ESPN. Er kann nun über Baseball schreiben, so viel er mag. S t e f a n L ö f f le r

Erweckungspredigt über die ersehnte Apokalypse Zukunftsvorhersage: Stephen Emmotts programmierter Bestseller prognostiziert den Weltuntergang – das ist zynisch think we’re fucked.“ Ein Buch, das Igelangt mit dieser edlen Einsicht schließt, nicht alle Tage ins Feuilleton. Leitet der Verfasser ein in viele Disziplinen verzweigtes (Microsoft-)Institut in Cambridge und wirft mit Verve eine weitere Erweckungspredigt aufs Papier, um uns allen die wahren Ausmaße und Folgen der Ressourcenknappheit und ökologischen Probleme vor Augen zu führen, dann kann es sich nur um einen lancierten „Bestseller“ handeln. Für eine gesunde Ernährung der prognostizierbaren neun Milliarden Menschenkinder um 2050 bedürfte es einer (unmöglichen) Verdoppelung bestehender Anbauflächen; nennenswerte Steigerungen der Ernten sind nicht nachhaltig erzielbar. 87 Prozent der Weltmeere sind überfischt. 2,6 Milliarden Autos hat die Menschheit bislang produziert, bis 2050 werden weitere vier Milliarden gebaut. Die absehbare Erschöpfung der CO2-Ab-

sorptionskapazität der Flora und der Meere kann katastrophale Konsequenzen haben, und das oft prophezeite peak oil ist keineswegs erreicht; auch die gigantischen Restvorkommen an Kohlenwasserstoffen wird man abbauen und verbrennen. 2025 wird sich der „Verbrauch“ von Wasser gegenüber der Zeit um 1900 auf 6000 Kubikmeter verzehnfacht haben – und wer glaubt, die Green Economy werde eines Tages die technischen Wundermittel bereitstellen, der gibt sich nach Emmott vorsätzlich Illusionen hin. Notwendig wäre letztlich eine karbonfreie Energiewirtschaft bei gleichzeitig dramatisch höherem Output, was Ernährung, Wohnungsbau, Trinkund Brauchwasser und den infrastruk-

turellen Aufbau der Südhälfte der Erdkugel angeht. Das ist schlichtweg unlösbar. We’re fucked. Emmotts Warnungen vor technologischen Machbarkeitkeitsfantasien sind noch der wertvollste Teil des Pamphlets. Ansonsten sucht er aus altbekannten Grafiken, die das exponentielle Wachstum des Ressourcenverbrauchs zeigen, jene heraus, die seiner ziemlich vagen Skizze kommender Katastrophen zupass kommen. Aber auch Apokalypsenfreunde sollten nicht verschweigen, wie viele Vorteile eine globale Erwärmung haben kann, dass ­Extremwetterlagen nicht pauschal auf menschenproduziertes CO2 zurückgeführt werden können, und auch nicht, wie viel es bewirken würde, wenn die Abkehr vom Massentierhaltungsfleisch per Einpreisung der externen Kosten durchgesetzt werden könnte. Zahlen über steigenden Wasser„Verbrauch“ aufzulisten ist irreführend: Wasser wird nicht verbraucht wie Öl und Gas, sondern ist nur ungleich verteilt. Der CO2-Ausstoß alleine durch Verbrennung fossiler Brennstoffe (also ohne Berücksichtigung der Landwirtschaft) ist in 15 Jahren um 30 Prozent gestiegen – doch sogar der (traditionell den Klimamahnern zugehörige) Weltklimarat schätzt mitt-

lerweile, eigene frühere Einschätzungen drastisch korrigierend, die ökologischen Folgen der Emissionen ungleich undramatischer ein. Ironischerweise ist Emmott v ­ orbildlich

undogmatisch beim Erwägen von ­ ösungen, an deren tatsächliche WirkL samkeit er gar nicht glaubt: Wissend um die hohen Folgekosten und die schwierige politische Durchsetzbarkeit plädiert er etwa für Atomstrom als Brückentechnologie und gleichzeitig für die Abkehr vom ­einseitigen Wachstums­prinzip in den entwickelten Industrienationen zugunsten des loka-

len Wachstums in gering ­entwickelten Regionen, die unbedingt mehr konsumieren müssten, mehr Wasser, mehr Nahrung. Emmotts Widersprüchlichkeit demonstriert ungewollt, dass es zynisch ist, vor dem Untergang zu warnen. Die Menschheit wird nicht untergehen, die Natur ohnehin nicht; es werden jedoch immer mehr Menschen im Kampf um Ressourcen und Nahrung sterben, wenn wir so weitermachen wie bisher. Das ist viel konkreter und schmerzlicher als eine vage globale Katastrophe. S eb a s t i a n K ie f e r

Stephen Emmott:

Die10Falter-Buch-Rezensionen. Milliarden. Suhrkamp, 206 S., alle Bücher online bestellen. Nachlesen und € 15,40

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Sachbuch

Die Dorftrottel und das Disparate Neue Medien: Macht uns das Internet besser? Und wenn ja, warum? Zwei neue Bücher geben Antworten

E

s ist ziemlich klar, was sich alles in den letzten beiden Jahrzehnten medientechnisch verändert hat. Aber anscheinend viel weniger, was dies kulturell bedeuten mag. Obwohl die Flut an Erklärungsversuchen nicht abzureißen scheint. Ich gebe unumwunden zu: Ein Buch, in dem, an beliebiger Stelle aufgeschlagen, vom „Internet-fähigen Kühlschrank“ die Rede ist, von „atemberaubender Beschleunigung“ der Digitalisierung und ähnlichen Plattitüden, das macht mich nicht mehr wirklich neugierig. Bei „Digitale Aufklärung“ von Tim Cole und Ossi Urchs ist dies leider so. Geschrieben von zwei „Internet-Gurus“ – nun ja, die Autoren leben von derartigem Brimborium – mit dem Versprechen: „Wir wollen also dazu anregen, die ‚Zeichen der Zeit‘ als wirklich neue zu begreifen, statt sie mittels alter Vorstellungen zu bewerten, egal ob positiv oder negativ.“

Dorftrottel des Global Village Die Zeichen der Zeit also. Quer durch technische Neuerungen galoppiert nun dieser Text, in dem völlig ironiefrei von einer „Revolution in der Kommunikationstechnik“ namens Twitter die Rede ist und wo uns Facebook als ultimative Weisheit nahegebracht wird nebst dem, was man „im kalifornischen Hauptquartier des Dienstes“ so denkt. Erhellend sind die Ausführungen dazu nicht. Zwar wurden im offenbar letzten Moment noch Aktualitäten zum NSA-Skandal in das Buch hineinredigiert, aber die Autoren glauben eher grundsätzlich an die Integrität der Online-Welt. Nebenbei fallen Bemerkungen wie die, dass Arbeitgeber in Deutschland, die für die Arbeitszeit ihrer Angestellten ein Facebook-Verbot ausgeben, „Betonköpfe“ seien. Was soll das? Vieles in diesem Buch ist unglaublich plakativ und durchsetzt mit Diagnosen und Thesen, die ob ihrer Schlichtheit und Banalität zu kritisieren sich kaum lohnt, etwa: Heute wird von Mikroprozessoren mehr gesteuert, als man sich je vorzustellen wagte; Digitalisierung ist ein nicht umkehrbarer Megatrend und moduliert die „reale“ Welt zu einer „augmented reality“; Vernetzung birgt „neue Qualitäten“; die Massenmedien sind nicht länger das, was sie einst waren, und so fort – als gelte es, noch den letzen Dorftrottel des Global Village vom Wandel zu überzeugen. Forderte einst schon Neil Postman mit guten Argumenten eine „Zweite Aufklärung“, wobei die Emphase auf der Überwindung des „Infotainments“ lag, so wartet der Leser denn doch gespannt auf das versprochene Konzept einer „digitalen Aufklärung“. Und so soll es aussehen: Die klassische Aufklärung des 18. Jahrhunderts sei eine Reaktion auf die Überforderung eines

„zwischen klassischer Logik und mittelalterlicher Scholastik gefangenen Denkens“ gewesen, und nur mittels neuer Kategorien könnten wir nun die digitale Welt „kritisch reflektieren und produktiv nutzen“. Das stimmt irgendwie, nur verhält es sich mit dieser These wie mit der üblichen Titelgeschichte eines Nachrichtenmagazins: klingt zunächst mal interessant, die Lektüre erschließt jedoch nichts wirklich Neues zum Thema. Unklar bleibt, was diese Aufklärung sein soll, denn es reicht nicht hin, Dummheiten aus Politik und Wirtschaft über den Umgang mit Netzphänomenen zu zitieren. Was also wären die neuen Kompetenzen? Das Problem von Facebook und Co ist doch, dass wir es zunehmend mit bequemen, aber nicht hintergehbaren, flächendeckenden Oberflächen zu tun haben, bei denen sogar Programmierkenntnisse wenig helfen. Soziale Netzwerke stehen auch im technischen Sinn nicht für Aufklärung, sondern für Unmündigkeit. Wie wäre es mit einem Unterrichtsfach Inferenzstatistik und Algorithmenprogrammierung?

„Das Disparate hat Vorteile, von denen sich die Vernunft nichts träumen lässt“ (Michel Serres)

Begriffe und Oberflächen Solche Vorschläge kommen aber nicht, Cole und Urchs verlangen die Fähigkeit, „in Echtzeit selbstständig zu denken“, um eine offene und transparente Gesellschaft zu erzeugen. Wieder stellt sich die Frage, was das bedeuten soll. Wäre mehr Facebook für alle ein Gewinn an Offenheit und Transparenz? Die Autoren zitieren einen „HarvardProfessor“ hier und einen „Berliner Ordinarius“ dort, reproduzieren zweifelhafte Klischees zur Geschichte des Internets und verlieren in vielen Einzelheiten schon mal den Faden ihrer wohlmeinenden Argumentation. Es fehlt auch nicht das Stoßgebet: Heiliger Habermas, hilf! Sie flüchten sich tatsächlich in normative Begrifflichkeiten. Doch wie in früheren Zeiten schlägt sich auch im Digitalzeitalter Aufklärung nicht im Begriff oder einer Normativität nieder, sondern in tatsächlicher Gebrauchskultur. Und wie sieht es damit aus? Während Codes hinter den Oberflächen und Technik hinter den Anwendungen verschwinden, wächst zwar das ästhetische Gebrauchswertversprechen der Gadgets. Allein, es schwindet die Transparenz, und wenn uns dann auch noch im aktuellen Bewusstsein der Überwachungstechnologien die Gated Communitys der Sozialen Netzwerke anempfohlen werden, dann ist es Zeit, einen Punkt zu setzen. Die klassische Aufklärung wandte sich gegen die Autoritäten, und in diesem Sinne gilt es die Zeichen der Zeit zu erkennen. Michel Serres wagt diesen Versuch in einem aktuellen Essay, in dem der inzwi-

schen recht betagte französische Philosoph sich geistig wieder einmal hellwach zeigt. Den Niedergang des Journalismus, den ubiquitären Zugang zum Wissen, die exponentiell wachsende Verfügbarkeit an Information und die mit entgrenzter Bildlichkeit angereicherte Einbildungskraft – dies alles deutet er als Verlust der autoritativen Stimme und findet es gut so. Es gelte „auf Neuerungen zu sinnen, von denen wir uns noch gar nichts träumen lassen, weil sie den ausgeleierten Rahmen sprengen, von denen unsere Lebensführung, unsere Medien, unsere in der Gesellschaft des Spektakels sich verlaufenden Projekte noch formatiert werden“. Somit sollen sich nicht im Sinne der Aufklärung die Subjekte neu erfinden, denn das Subjekt des Denkens selbst hat sich gewandelt, vom gebildeten Individuum hin zu einem Hybrid aus Technologien und Kollektiven, vom individuellen Denken hin zu einem kognitiven Feld des Prozeduralen. Erkenntnisse lassen sich auch algorithmisch generieren, warum nicht? Konsequent sieht er eine neue Pädagogik im Entstehen, die auf Selbstermächtigung basiert und nicht auf auktorialen Lehrplänen. Wo liegt denn die Sprengkraft, wenn nicht hier! Warum solche Neuerungen nicht als technische, sondern als soziale Innovation noch ausstehen, sei auch Schuld der Philosophen, die sich lieber von der Tagespolitik einnehmen lassen als sich mit visionären Konzepten für die infogene Weltgesellschaft auf das nächste Kapitel der „Hominiscence“ (Menschwerdung) zu konzentrieren.

Der liebende Meister Tim Cole, Ossi Urchs: Digitale Aufklärung. Warum uns das Internet klüger macht. Hanser, 280., € 18,90

Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Suhrkamp, 80 S., € 8,30

Wieder einmal erweist Serres sich als Meister der grandiosen, aber eher subtil eingebrachten Diagnose, verbunden mit einer intellektuellen Flucht nach vorn: Die Emergenz neuer Kompetenzen ist unausweichlich, und Philosophen braucht es dazu gar nicht. Schließlich gibt es jetzt Suchmaschinen. Die Unordnung schafft Möglichkeiten: „Das Disparate hat Vorteile, von denen sich die Vernunft nichts träumen lässt.“ Allerdings gilt einzuwenden: Die Preisgabe unserer Daten und die Delegation unseres Urteilsvermögens an die Apparate ist schon ein Preis, den wir dafür zu zahlen haben. Dieser Blick auf die vernetzte Generation ist der eines gütigen Großvaters, der seine Enkel derart wohlwollend liebt, dass es ihm praktisch egal ist, was diese im Alltag so treiben. Was hier schmerzlich vermisst wird, das wäre eine Geste der, nun ja: Empörung oder gar eine kritische Einlassung zur entpersönlichenden Macht der Algorithmen, zum Big-Data-Fetischismus und zum politisch geduldeten digitalen Verrat an den unbestreitbaren Errungenschaften der bürgerlichen Öffentlichkeit.

F r an k H a r t mann

Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Suhrkamp, 80 S., € 8,30

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Die Wasserstoffbombe, das Wettrüsten und das Wetter Physik: Eine Biografie von Andrej Sacharow erklärt den sowjetischen Wissenschaftsbetrieb ie Entwicklung der Kernwaffentechnik D hat nicht nur die politische Welt verän­ dert, sondern auch Wissenschaftler, die an

diesem System gearbeitet haben. Der promi­ nenteste Protagonist einer solchen Wand­ lung war sicherlich Andrej Sacharow. Als hochbegabter russischer Nachwuchs­ physiker hatte er ab Ende der 1940er-Jahre der geheimen sowjetischen Forschungsan­ lage bei Sarow angehört, die den Tarnna­ men „Objekt“ trug oder oft auch „Arsamas 16“ genannt wurde. Vom 1921 geborenen Sacharow stammen mehrere Grundideen, die 1961 zum Bau der größten jemals ge­ zündeten Wasserstoffbombe führten, dann allerdings begann er daran zu zweifeln, ob ein nukleares Gleichgewicht der Groß­ mächte die Welt tatsächlich sicher machen konnte. Über seine dramatischen Konfrontationen mit

Chruschtschow und anderen Machthabern, wie er seine Privilegien als hochangesehe­ ner Forscher verlor und in die Verbannung geschickt wurde, weil er sich ebenso uner­ schrocken wie vehement für Freiheit und Demokratie in seinem Land einsetzte, hat­ te Andrej Sacharow selbst 1990 ein zwei­ bändiges Werk veröffentlicht. Nun liegt eine Biografie des russischen Physikers Gennady Gorelik vor, der am Center for History of Physics an der Boston University lehrt und zuvor bereits den wis­ senschaftlichen Werdegang der bedeuten­ den Physiker Matwej Bronstein und Lew

Landau nachgezeichnet hatte. Das Buch ist der Schriftstellerin und Dissidentin Lydia Tschukowskaja gewidmet, die mit Sacharow in Moskau eng befreundet war. Gorelik begann über Sacharow, den er als Student noch selbst gehört hatte, zu recher­ chieren, als er in den 1980er-Jahren Tschu­ kowskaja besuchte. Er führte über Jahr­ zehnte mehr als 50 Interviews mit Zeit­ zeugen, Fachkollegen oder Familienangehö­ rigen und sichtete Handschriften akribisch in privaten und öffentlichen Archiven. Er wollte herausfinden, wie der Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe als theo­ retischer Physiker zur Leitfigur der Men­ schenrechtsbewegung in der Sowjetunion und zum ersten Friedensnobelpreisträger Russlands geworden ist. Entstanden ist keine flüssig lesbare wei­ tere Sacharow-Biografie, dafür eine detail­ reiche und äußerst instruktive Rekonstruk­ tion des Wissenschaftsbetriebs eines Staa­ tes, der reich an brillanten Köpfen war, aber bald nach der Oktoberrevolution in einen totalitären Strudel geriet, dessen Nachhall noch im heutigen Russland spürbar ist. „Sacharows Los war es“, schreibt Go­ relik, „dass seine Lebenszeit in das Zeit­ alter der sowjetischen Zivilisierung Russ­ lands mit all ihren scharfen Kontrasten fiel.“ Als weitere „Jahrhundertkräfte“, die Sacha­ row als Sohn eines Physiklehrers prägten, nennt Gorelik die russische Intelligenzija sowie die wissenschaftliche Schule Russ­ lands, in der sich viele akademische Leh­

rer mitten in der Stalin-Diktatur die Frei­ heit herausnahmen, der Stimme ihres Ge­ wissens zu folgen. In seiner Rede zur Verleihung des Nobelprei­

Gennady Gorelik: Andrej Sacharow, ein Leben für Wissenschaft und Freiheit. Birkhäuser, 489 S., € 51,40

ses 1975, die Sacharows Frau Jelena Bon­ ner in Oslo vortrug, schrieb der Preisträger: „Frieden, Fortschritt, Menschenrechte – die­ se drei Ziele sind untrennbar miteinander verknüpft, keines von ihnen ist erreichbar, setzt man sich über die übrigen hinweg.“ Rehabilitiert von Gorbatschow, aber ge­ zeichnet von den fast sieben Jahren Isolati­ on in Gorkij, starb Andrej Sacharow im De­ zember 1989 in Moskau, nur zwei Jahre be­ vor die Sowjetunion aufgelöst wurde. Auch in den USA gab es namhafte Phy­ siker, die sich nach Hiroshima und Naga­ saki vom Kernwaffenprogramm abwandten, etwa Robert Oppenheimer, einst Chef in Los Alamos, oder Hans Bethe, der dort die Theorieabteilung geleitet hatte. Nur Sacha­ rows Pendant Edward Teller, der bei Hei­ senberg promoviert hatte und 1935 in die USA emigriert war, hat die Wasserstoff­ bombe zeitlebens als Garant für die Sicher­ heit verteidigt. In einem der letzten Interviews vor sei­ nem Tod 2003 freilich sprach der gebürtige Ungar in seiner Wohnung in Stanford über­ raschend auch von einer anderen Vision für den Weltfrieden: einer internationalen Ko­ operation zum Aufbau eines weltumspan­ nenden Netzes von Wetterstationen. A n d r é B ehr

Mit dem Bastel-Zeigefinger die Welt retten Nachhaltigkeit: Reparieren statt wegwerfen! Wolfgang Heckl schreibt einen onkelhaften Ratgeber astler“ war für Physiker einst ein B Schimpfwort. In den 1970er-Jah­ ren gewann ein so geheißener Wiener

Physikdozent den Prozess gegen sei­ nen ihn beleidigenden Fachkollegen. Wolfgang Heckl ist Biophysiker und Bastler und stolz darauf. Als Ge­ neraldirektor des Deutschen Museums in München bemüht er sich um Mit­ mach-Vermittlung der Naturwissen­ schaften. Im aktuellen Buch vermittelt er seine persönliche Leidenschaft: das Erhalten und Instandsetzen mechani­ schen und elektronischen Geräts. Die Idee ist gut. Reparieren heißt öko­

logisch handeln. Und: „Das Gelingen eines mit eigenen Händen ausgeführ­ ten Werks erzeugt ein Glücksgefühl und eine unglaubliche Befriedigung.“ Zumindest gilt dies für jene Men­ schen, die sich in der Repair-Bewe­ gung zusammengefunden haben oder in deutschen Reparatur-Cafés treffen, um sich gemeinsam der Instandhal­ tung hinzugeben. Darin sieht Heckl auch gesell­ schaftspolitisches Potenzial und möch­ te deswegen zu einer Debatte aufrufen, „zu einem Nachdenken an einer ent­ scheidenden Stelle“. Vor allem bastelt Heckl selbst. Von seligen Zeiten des Röhrenver­ stärker-Reparierens erzählt der Herr

Professor und von Begegnungen mit alten Handwerksmeistern. Das Über­ gewicht persönlicher Erlebnisse und Meinungen bringt das Buch zuneh­ mend in Schieflage. In einem einge­ streuten Mini-Ratgeber wird der Le­ ser dann noch onkelhaft auf die „Road to Repairing“ geführt.

Wissensvermittlung und gesellschaft­ lichem Diskursanstoß geht’s hier ra­ sant Richtung Ratgeberabgrund. Dem guten Willen und dem nachhaltigen Gedanken sei es gedankt, dass man

sich als Leser nicht völlig verhöhnt fühlt, sondern ein paar Anregungen mitnehmen kann. Die Idee wäre schon gut gewesen.

A n d reas K remla

Dass Heckl für Eigeninitiative plädiert,

gleichzeitig aber dem Leser mit dem Zeigefinger den Weg weist, erscheint paradox. Die Vorstellung eines manu­ ell wenig begabten Menschen, dem Reparatur zwar sinnvoll, jedoch kei­ nesfalls vergnüglich erscheinen könn­ te, liegt außerhalb seiner Welt. Die anfängliche Hoffnung auf ei­ nen neuen Robert M. Pirsig („Zen und die Kunst, ein Motorrad zu war­ ten“, 1974) zerschlägt sich rasch. Da ist Heckl woanders abgebogen: Von

Wolfgang M. Heckl: Die Kultur der Reparatur. Hanser, 208 S., € 18,40

Weil wir uns daran gewöhnt haben, dass mehr Sicherheit mit weniger Freiheit einhergeht, schafft schon die Einschränkung von Freiheit ein gehobenes Sicherheitsgefühl.

Das Feuilletonmagazin Heft 24, „aber sicher“, 88 Seiten, 6 Euro schreibkraft@mur.at, http://schreibkraft.adm.at


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Sachbuch

Gut für angestoßene Zehen und gebrochene Herzen Lebenshilfe: Ella Berthoud und Susan Elderkin haben Romane Lebensthemen zugeordnet – ein Selbsthilfebuchversuch lla Berthoud und Susan Elderkin verE stehen sich als Bibliotherapeutinnen. Die beiden Engländerinnen empfahlen sich

schon während ihres Literaturstudiums in Cambridge gegenseitig Romane, jetzt bieten sie an der Londoner School of Life Sitzungen an. Sie hören sich die Probleme ­ihrer Klienten an und raten diesen zur Lektüre eines bestimmten Romans. Mit „Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben“ haben sie nun auch ein Buch daraus gemacht. „Dies ist ein medizinisches Handbuch der etwas anderen Art“, schreiben sie in der Einleitung. „Zuerst einmal unterscheidet es nicht zwischen körperlichen und seelischen Schmerzen, sondern bietet Ihnen bei einem gebrochenen Herzen ebenso Hilfe wie bei einem angestoßenen Zeh. (…) Und es unterscheidet sich noch in anderer Hinsicht von einem herkömmlichen Gesundheitsratgeber: Unsere Heilmittel bekommt man nicht in der Apotheke, sondern in einem Buchladen und in der Bücherei (oder als E-Book, wenn Sie mögen).“ Und was wird empfohlen? Unter „Herz, ge-

brochenes“ wählen die Verfasserinnen aus dem reichhaltigen Angebot an einschlägigen Werken in der Weltliteratur „Jane Eyre“ von Charlotte Brontë aus, die schmerzende Zehe soll man bei der Lektüre von James Joyces „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ vergessen. Man sieht schon: Große Fragen und Probleme der Lebensführung

finden sich in dem Buch ebenso angesprochen wie Nebensächlichkeiten. Hauptsache, die empfohlenen Romane sind gut – und da hätte man (nicht nur in diesen Punkten) weit schlechtere Bücher wählen können. Ein gewisses Ungleichgewicht bei den kurz vorgestellten Romanen zugunsten angloamerikanischer Literatur lässt sich bei einem Werk von zwei Engländerinnen kaum vermeiden. Für die ­deutschsprachige Ausgabe hat die lit.Cologne-Programm­redakteurin Traudl Bünger deshalb einige Ergänzungen vorgenommen und den Anteil der deutschsprachigen Romane erhöht. Schwerer wiegt, dass das Buch derart uneinheitlich gestaltet ist. Manche Themen werden mit großem Ernst aufgegriffen („Altersdemenz“ – Arno Geiger lesen, klar), bei anderen fragt man sich, ob nicht ein kleines Augenzwinkern mit dabei ist, und an wieder anderer Stelle wird die Ironie überdeutlich klargemacht. Menschen, die unter „Ambitionen, künstlerische“ leiden, etwa empfiehlt man, Thomas Bernhards „Holzfällen“ zu lesen – nach dem Motto: Wenn man die opportunistischen Künstlerdarsteller aus diesem Roman kennengelernt hat, wird man wieder mit einem „Nine-to-five-Job und ein bisschen Aktenstaub“ zufrieden sein. Gut und schön, aber die Auswahl der empfohlenen Medizin wirkt nicht nur an dieser Stelle willkürlich. Es liegt ja auf der Hand, dass der Leser des Buchs bei Themen, die ihm am Herzen liegen, auch auf

andere Romane kommt und manche seiner Favoriten vermissen wird. Das wäre nicht weiter schlimm. Wenn man aber wie bei „Holzfällen“ erst um ein oder zwei Ecken denken muss, um Leiden und Medizin überhaupt miteinander in Verbindung zu bringen, stimmt etwas nicht. Eines stimmt schon: Ein Leben mit Büchern ist

Ella Berthoud, Susan Elderkin (mit Traudl Bünger): Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben. Insel, 430 S., € 20,60

gewiss ein besseres als ein Leben ohne Bücher. Das heißt aber nicht, dass man aufgrund von regelmäßigem Literaturkonsum ein glücklicheres Dasein führt oder zu einem besseren Menschen würde. Und so ist auch zu bezweifeln, dass die empfohlene „Romantherapie“ zuverlässig wirkt. Dass etwa jemand aufgrund der Lektüre eines Romans wie Stephen Kings „Shining“ realisiert, ein Alkoholproblem zu haben, und sich danach in Therapie begibt, erscheint dann doch hochgradig unrealistisch. Im Grunde handelt es sich hier um eine charmante Themenverfehlung. Eigentlich wollen die Autorinnen gar keine Medizin verabreichen, sondern zum Lesen verführen – und damit gehört ihr Buch in eine Reihe mit Kompendien wie Rolf Vollmanns „Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer 1800 bis 1930“ (1997). Man könnte es sogar als Ergänzung dazu empfehlen, ist Literatur aus den letzten paar Jahrzehnten doch sehr stark vertreten. In puncto Leidenschaft und Tiefe reicht das Buch jedoch nicht an Vollmann heran.

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Soll man die Aufführung alter Opern verbieten? Musikgeschichte: Zwei Opernspezialisten präsentieren eine lesenswerte Geschichte der Oper in den letzten 400 Jahren pern können uns verändern: physisch, O emotional, geistig. „Wir wollen erkunden, warum das so ist“, schreiben Carolyn

Abbate und Roger Parker. „Die Oper ist ein Theaterstück, bei dem die meisten Figuren (oder alle) die meiste (oder die ganze) Zeit singen“, definieren sie kurz und bündig. Was dann auf 700 Seiten folgt, ist eine Geschichte dieser Kunstgattung, die kaum umfassender sein könnte: eine Musik- und Werkgeschichte, aber auch eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zum Phänomen der Oper. Die beiden Opernexperten vollbringen das

Kunststück, aktuelle musikwissenschaft­ liche Positionen allgemein verständlich zuzuspitzen und so einem musikalisch bewanderten Leserkreis noch so manches beizubringen, ohne thematische Neueinsteiger im Regen stehen zu lassen. Und sie tun dies mit viel Humor und der Bereitschaft, keinen anscheinend noch so gefestigten Tatbestand unhinterfragt zu lassen. So finden sie es etwa keineswegs selbstverständlich, dass sich in Italien vor rund 400 Jahren eine Kunstform zu entwickeln begann, in der Bühnenhandlungen (fast) ausschließlich gesanglich gestaltet wurden. Dies mache die Oper nämlich von vornhe­ rein realitätsfern: „Die Oper kann nie etwas anderes sein als unwirklich.“ Konsequent verzichten Abbate und ­Parker auf Notenbeispiele, denn Oper bedeu­ tet für sie weniger ­knochentrockene Partitur

als illusionsbeschwörendes Bühnen­ereignis. Außer der Darstellung musikalischer Entwicklungsprozesse widmen sie sich deshalb auch den bühnen- und inszenierungstechnischen und inhaltlich-stofflichen Neuerungen, die die Oper im Laufe ihrer Geschichte erfahren hat. Eckpunkte wären da etwa Mozarts verdichtete Psychologisierung der Figuren, die formalisierte Virtuosität der Gesangssoli bei Rossini oder Wagners Verschwindenlassen des Orchesters im versteckten Graben. Solche Entwicklungen verstärkten zwar die von vornherein bestehende Realitätsferne von Opernwerken. Dennoch wiesen die Opern in ihren ersten 300 Jahren hohe Aktualitätsbezüge auf, da Saison für Saison fast ausschließlich brandneue Kompositionen vors Publikum kamen. Der heutige Repertoirebetrieb begann sich erst im 19. Jahrhundert auszubilden. Zuvor war der Erfolgszwang der einzelnen Werke umso stärker: Jede Oper, ähnlich wie heute der Film, musste „auf Anhieb einschlagen“, weshalb sich ernste und komische Spielarten ausbildeten, um unterschiedliche Publikumsschichten zu bedienen. Die Oper war in früheren Jahrhunderten auch

keineswegs jener ernste Kunsttempel, den wir heute kennen. So konnte das Publikum nebenher Karten oder Schach spielen, dinieren, plaudern oder in sichtgeschützten loges grillées „womöglich auch Dinge tun, über die man als Gentleman nicht sprach“.

Carolyn Abbate, Roger Parker: Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre. C.H. Beck, 736 S., € 39,10

Zunehmend ernsthaft wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ab etwa 1850 begann sich „einhergehend mit der zunehmenden Wertschätzung für die Oper als Kunstwerk“ ein Repertoire aus Klassikern auszubilden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschob sich dieser „Proporz zwischen alten und neuen Werken“ immer rascher zugunsten Ersterer. Doch dies schuf gepflegte ­Langeweile. Davon profitierte nicht das ­zeitgenössische Opernschaffen, sondern die „Wiederbelebung des Alten“, wie sie sich etwa in der Renaissance der lange vergessenen Händel-Opern zeigte. Während Opern-Kompositionsaufträge ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch verschwanden, entwickelte sich die Neuinszenierung von Klassikern zur eigenen Kunst. Was müsste geschehen, um diese „museale Leidenschaft“ zugunsten eines aktuellen Musikschaffens zu unterbinden? Nach Abbate und Parker reicht es nicht aus, bloß „auf dem Ritual zu bestehen, neue Opern in Auftrag zu geben“. Ergänzend dazu wären alte Opern „zu begrenzen, für immer zu vernichten und deren Aufführungsorte zu meiden“. Die Autoren fordern dies natürlich nicht ein, sie haben sich mit dem musealen Charakter der Oper abgefunden. Aber immerhin stellen sie kühne Positionen wie diese zur Diskussion – eine anregende Lektüre ist damit garantiert.

Fritz Trümpi


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Ritualreigen und Spielball der Geschichte Kunstmarkt: Konrad O. Bernheimer erzählt die Geschichte seiner Familie und erklärt damit auch den Kunstmarkt ls Kunsthändler, vor allem als Händler für Alte Meister, bin ich vielleicht A wirklich zu spät geboren worden“, schreibt

Konrad O. Bernheimer in der Einleitung zu seinem Buch, in dem er die ­Geschichte ­seiner Familie als Chronik einer äußerst einflussreichen deutsch-jüdischen Kunsthändlerdynastie über mehr als sechs Gene­ rationen erzählt. Aus seinem Mund mag dieses Bedauern zunächst kokett klingen, denn mit seiner Münchner Kunsthandlung Bernheimer Fine Old Masters gilt der Kunstexperte, Jahrgang 1951, international als einer der führenden Händler für Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts. Trotzdem: „Neid und Wehmut“ ergreifen ihn, schreibt Bernheimer, wenn er einen Blick in die Kataloge der legendären Londoner Galerie Colnaghi aus den 1960er-Jahren werfe und sehe, mit welcher Fülle an großartigen altmeisterlichen Gemälden man noch vor wenigen Jahrzehnten handeln konnte. Inzwischen ist Gutes rar und brandteuer geworden. Vor einigen Jahren hat Bernheimer Colnaghi gekauft. Damit sind zwei wesentliche Kunsthandelsinstitutionen, die eine in München, die andere in London, unter einem Dach. Bei dem eingangs zitierten Seufzer des Bedauerns geht es Bernheimer gewiss nicht um Koketterie. Seine späte Geburt hat eine Kehrseite, derer er sich sehr bewusst ist: erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden zu sein.

dhisattva-Figur gilt in diesem kunstgeprägten Umfeld als passendes Geschenk für einen Sechsjährigen, der eines Tages die Firmenagenden übernehmen soll.

Konrad O. Bernheimer kam auf einer Hazienda in den venezolanischen Anden auf die Welt, wohin seine Familie vor den Nationalsozialisten geflüchtet war, nachdem man ihr das meiste abgepresst und gestohlen hatte, was sie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Besitz und Kunstwerken erarbeitet und ersammelt hatte.

Das Wunderbare an Konrad Bernheimers Buch

Hof, Hochadel, bedeutende Künstler und In-

dustrielle – alle ließen sich ihre Schlösser und Häuser von der Firma Bernheimer einrichten. Der Firmensitz am Münchner Lenbachplatz war mit Stilmöbeln, Kunstwerken, Antiquitäten, Tapisserien und alten Teppichen, Dekorationsstoffen, orientalischen und asiatischen Artefakten gefüllt. Bernheimer zeichnet den Weg seiner Familie vom Kleiderstoffhandel des Ururgroßvaters zum international agierenden KunstGroßunternehmen des Großvaters als Erfolgs- und Aufstiegsgeschichte, die durch die Nazis zerstört wird, um sich nach dem Krieg mit schweren, vor allem emotionalen Brüchen fortzusetzen. Es ist ein dramatisches, farbenprächtiges Familienporträt und zugleich ein zeithistorisches Dokument. Konrad O. Bernheimer kam Mitte der 1950er-Jahre an der Seite seiner venezolanischen Mutter erstmals aus Südamerika nach München. Sein Vater war gestorben, Großvater Otto Bernheimer wird zu der Figur, die ihn am meisten prägt und ihn schon als Kind in alle Aspekte des Kunsthandels einweist. Eine antike bronzene Bo-

Konrad O. Bernheimer: Narwalzahn und Alte Meister. Aus dem Leben einer Kunsthändler­ dynastie. Hoff­ mann und Campe, 382 S., € 25,70

ist die generationenübergreifende Kunstbegeisterung und -leidenschaft, die aus ihm spricht. Ein etwas beherzteres Lektorat hätte dem Buch zwar gut getan, um Bernheimers Neigung zu formelhaften Sätzen aus dem Repertoire von Festansprachen und Danksagungen („Es war fabelhaft, im kleinen Kreis auf Schloss Windsor in Gegenwart von Prinz Charles zu speisen“) etwas einzudämmen. Aber es ist mit Herz, Passion und tiefem Interesse für die eigenen Wurzeln und die Wechselfälle der Geschichte erzählt. Jeder, der sich für die komplexen Mechanismen des Kunstmarkts interessiert, wird es mit großem Gewinn lesen. Den sich aktuell verschärfenden Konflikt zwischen Auktionshäusern und Kunsthändlern macht Bernheimer ebenso zum Thema wie etwa das Prozedere des sogenannten „Vetting“ vor Eröffnung der jährlichen Kunstmesse TEFAF in Maastricht, bei dem riesige Expertenjurys die von den Händlern ausgestellten Kunstwerke auf Echtheit, Zuschreibung und Zustand begutachten. Der Kunstmarkt als großer Ritualreigen und Spielball der Geschichte: Mit diesem Buch kommt man seinem Kern ganz nahe.

J ulia K ospach

Symbol für schlechten Charakter und Anstand Ästhetik: Michel Pastoureau hat mit „Blau“ der Lieblingsfarbe der Menschheit ein etwas blasses Buch gewidmet ie Präsenz der Farbe Blau ist groß. Von Hosen der Gattung Blue Jeans D bis zum melancholischen Musikstil Blues,

vom Blue­box-Verfahren in der Videotechnik bis zu politisch konnotierten Blautönen: Der französische Historiker Michel Pastoureau hatte keine Mühe, seine These zu belegen, wonach Blau die Lieblingsfarbe der Menschheit sei. Auch entsprechende Umfragen geben ihm Recht. In „Blau“ geht er der Frage nach, wie eine über Jahrhunderte hinweg unscheinbare Farbe so in Mode kommen konnte. Die griechisch-römische Antike etwa drückte sich in Rot aus, färbte die für die soziale Wahrnehmung wichtigen Kleiderstoffe in der Farbe des Blutes. Blaue Augen bei Menschen galten als Zeichen eines schlechten Charakters und Schönheitsfehler. Die Abwesenheit des heute so populären Farbtons führte so weit, dass Historiker sich fragten, ob Griechen und Römer „blaublind“ waren. Erst Ende des 12. Jahrhunderts taucht Blau vermehrt in der ka-

tholischen Kirche auf: in Kirchenfenstern, der Kleidung und der Malerei. Zurückzuführen ist das u.a. auf die Produktion der dafür notwendigen Farbstoffe. In Mitteleuropa wurde aus Pflanzen das sogenannte Waid gewonnen, in Asien und Afrika lieferten die Blätter des Indigostrauchs den gleichnamigen Farbstoff. Der Autor verweist darauf, wie ­schwierig es für Farbhistoriker sei, die ­Konjunkturen von Rot, Gelb oder Blau zu rekonstruieren, da die schriftlichen Quellen darüber wenig verraten. So hätten die entsprechenden Begriffe im Griechischen, Lateini­ schen oder Hebräischen oft metaphorische Bedeutungen. In der frühen Neuzeit begann eine Moralisierung der Farben. Bestimmte Stofffarben bleiben Vermögenden vorbehalten, hohen Beamten und Würdenträgern war die Verwendung auffallender und intensiver Farben verboten, ein Pluspunkt für Blau. In der Zeit der Reformation gab es nicht nur einen Bilder-, sondern auch einen „Farbensturm“.

Michel Pastou­ reau: Blau. Die Geschichte einer Farbe. Wagenbach, 176 S., € 11,30

Im Laufe dieser ästhetischen „Säuberungen“ stellten sich nur wenige Farben als anständig und moralisch zulässig heraus: Weiß, Schwarz, Grau und eben Blau. Als Beispiel führt der Autor den calvinistischen Maler Rembrandt an, der mittels dunkler Nuancen eine Art Farbaskese praktizierte. Auch in der Kleiderordnung wurde die protestantische Ethik sichtbar: Die großen Reformatoren zeigten sich in dunklen, unauffälligen, ja sogar trostlosen Gewändern. Schlüssig vermag der Historiker nachzuweisen, dass diese moralisch begründete Freudlosigkeit bis in die industrielle Produktion nachwirkte. Die ersten massenhaft gefertigten Küchengeräte, Schreibmaschinen und Autos waren schwarz, grau, weiß und blau. Eine überzeugende Erklärung für die anhaltende Popularität der Farbe Blau bleibt Pastoureau dem Leser freilich schuldig. Ein wenig Kulturtheorie hätte Farbe in diese doch etwas blass bleibende Historie gebracht.

MATTHIAS DUSINi

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Sachbuch

Grüne Ohren und tropfende Nasen Kulturgeschichte: Hugh Aldersey-Williams untersucht den Nachhall des Körpers in der Sprache. Fulminant!

Der Körper ist eine der wichtigsten Inspira-

tionen für die verschiedenen Sprachen, er wird wie mit einem Suchtrupp durchstreift, „wenn sie neue Ideen brauchen“, schreibt der britische Naturwissenschaftler und Autor Hugh Aldersey-Williams in seinem neuen Buch „Anatomien. Kulturgeschichten vom menschlichen Körper“. Nachdem Aldersey-Williams 2011 einem spröden Fach wie der Chemie mit „Das wilde Leben der Elemente“ eine schwungvolle, inspirierende Kulturgeschichte abgerungen hat, geht es ihm diesmal ums Sammeln von Geschichten zum menschlichen Leib. Im englischen Original heißt sein Buch „The Human Body, Its Parts and the Stories They Tell“, was griffiger ist und genauer als der deutsche Titel beschreibt, worum es hier geht. Ein rein egoistisches Motiv stand am Beginn seiner Recherchen, bekennt AlderseyWilliams unverblümt. Er wollte seine eigene „lückenhafte biologische Bildung“ aufbessern. Das ist zweifellos gelungen. Er stürzt sich rein ins Vergnügen, anfangs eigentlich, weil er nicht weiß, was da genau passiert im Körper, wenn einen die Blase drückt, und forscht am Ende in weitem Bogen nach, was Medizin, Philosophie, Religion und Kunst im Lauf der Geschichte

„über Körper und Körperteile gedacht haben“. So kann, salopp formuliert, am Beginn eines herrlichen Sachbuchs durchaus auch einfach nächtlicher Harndrang stehen. Es dauert ein wenig, bis man sich nicht mehr die Frage stellt, worauf „Anatomien“ eigentlich hinauswill und sich stattdessen dem inspirierten Strom von Aldersey-Williams’ Erzählung hingibt, die mal hierhin, mal dahin springt, einmal meilenweit ausholt, um Rembrandts Gemälde „Anatomie des Dr. Tulp“ zu analysieren, sich kurz bei einer Art Bastelanleitung zur Herstellung von Schrumpfköpfen aufhält, einen kleinen Exkurs über die Erforschung des Errötens einbaut oder vom „schamlosen Mittelfinger“ (Digitus impudicus) berichtet, wobei wir im Vorübergehen lernen, dass der ausgestreckte Stinkefinger schon zu Sokrates’ Zeiten als obszöne Geste galt. Das nächste Mal weiß man sich beim wilden Gestikulieren unter aggressiven Autofahrern damit im Fluss einer jahrtausendealten Tradition.

Zwei, die auf Deutsch ein Herz und eine Seele sind, harmonieren im Spanischen deutlich martialischer wie „Nagel und Fleisch“. Läuft einem hierzulande eine Laus über die Leber, ist man übler Laune. Hat man im Englischen einen „spleen“, was wörtlich übersetzt „Milz“ bedeutet, handelt es sich um eine Marotte oder einen Tick

Mit solchen wunderbaren Einsichten überhäuft

einen dieses Buch großzügig. Kopf, Herz, Gesicht, Blut, Hirn, Ohren, Augen, Hände, Füße, Geschlechtsorgane, Haut, um nur die wesentlichsten zu nennen: Jedem dieser Körperteile widmet Aldersey-Williams ein eigenes Kapitel. Dass der Körper keine bloße Sache ist, auf dem Seziertisch ebenso wenig wie beim Aktzeichnen, ist die Quintessenz dieses Buches. Er ist in jedem seiner Teile aufgeladen mit Symbolik, Glauben, Kulturspezifik, mit Angst, Begierde, Schönheitsidealen oder Hoffnungen. Aldersey-Williams geht etwa der Frage nach, wie ausgerechnet das Herz dazu kam, „den Kern unseres Wesens“ zu verkörpern, oder berichtet zum Thema Blut von der „Ein-Tropfen-Regel“ im US-Süden des frühen 19. Jahrhunderts, die festlegte, wer als schwarz galt. Er erzählt von der zeigenden Hand als einem der ersten „Klischees“, wobei Klischee ursprünglich nichts anderes bedeutete als „ein Sonderzeichen, das der Dru-

Hugh Aldersey-Williams: Anatomien. Kulturgeschichten vom menschlichen Körper. Hanser, 358 S., € 25,60

cker so oft braucht, dass es sich lohnt, eine eigene Druckform herzustellen“. Bis ins 18. Jahrhundert war die Hand ein solches ganz normales Satzzeichen, um dann am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Cursorsymbol ein Revival zu erleben. „Anatomien“ ist ein wunderbares Buch: Es ist

geistreich, humorvoll und prall gefüllt mit Erkenntnissen. Sein Stil besticht durch die unbekümmerte Eleganz, die gerade britische Wissenschaftsautoren häufig so besonders glänzend beherrschen. Selbstbewusst und heiter stehen wissenschaftliche Erkenntnisse neben skurrilen Anekdoten, werden Querverbindungen zwischen der Antike und dem 21. Jahrhundert gezogen, trifft Literatur auf Malerei, Lavater auf „South Park“ und kuriose Kriminalfälle auf medizingeschichtliche Ausführungen. „Mortsafes“, käfigartige Eisengerüste, die Gräber im Edinburgh des 18. Jahrhunderts vor Leichenräubern schützen sollten, exemplifizieren hier auf herrlichste Weise eine große Blütezeit der Medizin, die allerdings den wachsenden Appetit der Anatomen nach sezierbaren Körpern nicht stillen konnte und sie so immer wieder zu illegalen Beschaffungsmethoden greifen ließ. Wer bei „Gray’s Anatomy“ vor allem an eine US-Serie denkt, kann hier nachlesen, wie die legendäre Anatomiebibel, der die Serie ihren gleich klingenden, wenn auch ­anders buchstabierten Namen verdankt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Art Duell zwischen zwei Männern entstand und dass sie von Rechts wegen eigentlich „Gray’s & Carter’s Anatomy“ ­heißen müsste. Aldersey-Williams’ weiter Blickwinkel, seine bewunderungswürdige Belesenheit und sein Talent für kühne Querverbindungen machen dieses Buch zu einer ­Fundgrube rund um die großen Themen Körper, Körperwahrnehmung und Körperbilder. Mit einem ausgeprägten Sinn fürs Skurrile ist man bei ihm an einer besonders guten Adresse. Julia Kospach

illustr ation: georg feierfeil

W

enn einer nichts hat, dann steht er im Deutschen mit leeren Händen da, im Russischen hat er „nur eine Nase“. Als junges, unerfahrenes Wesen ist man in deutsch- und englischsprachigen Landen noch grün oder feucht hinter den Ohren, ein französischer Frischling ist „noch blau“ und einem italienischen tropft die Nase. Zwei, die auf Deutsch ein Herz und eine Seele sind, harmonieren im Spanischen deutlich martialischer wie „Nagel und Fleisch“. Läuft einem hierzulande eine Laus über die Leber, ist man übler Laune. Hat man im Englischen einen „spleen“, was wörtlich übersetzt „Milz“ bedeutet, handelt es sich um eine Marotte oder einen Tick.


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Ein schläfriger Panther von der Kopfnote bis zum Fond Lebenskunst: Mit dem famosen „Kleinen Buch der großen Parfums“ von zwei Kennern der Materie ist gut schnuppern lernen s ist ein schmales Büchlein, in schwarE zes Leinen gebunden, die Autorennamen in geprägten Goldlettern, Titel und Untertitel in einem goldenen Rechteck, aus dem die schlanke Silhouette eines stilisierten Pump-Flacons ausgespart ist. Das Ganze erinnert an den gold-schwarzen Verpackungskarton des berühmtesten aller Parfums, „No. 5“ von Chanel, von dessen Duft es in diesem Büchlein heißt, er vermittle „den unwiderstehlichen Eindruck weicher, kurviger, goldener Materie, die sich genüsslich wie ein schläfriger Panther von der Kopfnote bis zum Fond räkelt“. Unwiderstehlich wie „Chanel No. 5“ ist jedenfalls die Art, wie im „Kleinen Buch der großen Parfums“ über Düfte, genauer gesagt über die „einhundert Klassiker“ unter den Parfüms geschrieben wird: überkandidelt, üppig, fantasievoll, voller heraufbeschworener Bilder. Wein-Rezensionen lesen sich oft ähnlich.

Luca Turin und Tania Sanchez sind in der exklusiven, offenbar bestens vernetzten Welt der Parfümeure, Parfümkenner und -sammler große Nummern, Biophysiker und Buchautor der eine, Parfümsammlerin, -expertin und Journalistin die andere. Gemeinsam haben sie das US-Standardwerk zum Thema verfasst. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie seit Jahrzehnten Parfümkritiken schreiben. Und das ist eine ganz eigene Wissenschaft, die Turin und Sanchez mit Besessenheit und einigem Witz bewältigen.

Über „Kouros“ von Yves Saint Laurent heißt es etwa, es rieche „wie die gebräunte Haut eines Kerls mit Pomade im Haar, der gerade aus der Dusche tritt“, und über „Knize Ten“, es müsse sich heute schrecklich einsam fühlen, „wie der einzige Veteran der Grande Armée, der so lange lebte, dass er fotografiert werden konnte“. Da ist die Rede von Düften, die mit der Kölnischwasser-Idee spielen („Eau sauvage“, „Eau de Guerlain“), oder von der seltenen Parfümeursgabe Humor („Le Feu d’Issey“ von Issey Miyake): „als würde man die Play-Taste eines ausgeflippten Videoclips drücken, in dem einem in rasendem Tempo Objekte an der Nase vorbeifliegen, die nichts miteinander zu tun haben“. Vielleicht liegt es an der flüchtigen Natur von Düften, dass nur diejenigen, die keine Angst haben vor kühnen Vergleichen, wilden Metaphern und den ungebremsten Assoziationen im eigenen Kopf, der Beschreibung von Parfüms überhaupt gewachsen sind. Nicht dass es sich bei diesem Ton um reine Willkür handelte: Wer „Das kleine Buch der großen Parfums“ liest, versteht schnell, dass es großer Kennerschaft und Erfahrung bedarf, einen Duft zu beschreiben, in Beziehung zu anderen zu setzen und zu verstehen, wie er gemacht ist. Er versteht auch, dass große Parfümeure wie große Modeschöpfer als Künstler verehrt werden, die ganze Parfümstile prägen, neue Genres einführen oder etwas begrün-

den, das Luca Turin in Analogie zur Nouvelle Cuisine „Nouvelle Parfumerie“ nennt und damit eine Schule meint, die „sich am ehesten als Abwesenheit der Blechbläser im Orchester beschreiben lässt“, mit einem Wort, eine Schule, die Parfüms hervorbringt, „die niemals laut werden“. Das Buch lehrt auch, dass „Abstraktion immer schon die Seele der großen Parfümerie“ war. Soll heißen: Die Abstraktion in einem Blumenduft ist die größere Kunst als die reine Nachbildung eines solchen Dufts. Mit diesem Buch ist jedenfalls gut schnuppern

Luca Turin, Tania Sanchez: Das kleine Buch der großen Parfums. Die einhundert Klassiker. Dörlemann, 144 S., € 17,40

lernen. Man erfährt auch, dass kaum ein großer Parfümklassiker die letzten Jahre unbeschadet überlebt hat. Strenge Allergievorschriften in Form neuer EU-Richtlinien haben viele klassische (Natur-)Stoffe der Parfümkunst eliminiert, von Eichenmoos bis Birkenpech, von Jasmin bis Bergamotte. Der Duftschaden ist beträchtlich und wird ebenfalls ausführlich beleuchtet. „Mitsouko“ von Guerlain, „ein Meisterwerk, dessen Fülle an die späte Kammermusik von Johannes Brahms erinnert“, darf übrigens als einer der wenigen Überlebenden gelten. Am Ende soll natürlich das Banalste und zugleich Wichtigste nicht vergessen werden. Der große französische Parfümeur Guy Robert formulierte es so: „Un parfum doit avant tout sentir bon“ – zu Deutsch: „Ein Parfum sollte in erster Linie gut riechen.“

J u l i a K ospa c h

Pendeluhr und Unruhe, Chronometer und Stechuhr Wissenschafts- und Kulturgeschichte: Thomas de Padova rekapituliert den Streit um die Zeit von Newton und Leibniz ie Nachwelt war – wieder einmal – ungerecht: Während Sir Isaac NewD ton (1643–1727) gerne unter den Top drei der größten Wissenschaftler aller Zeiten geführt wird (neben Darwin und Einstein), ist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) heute meist nur noch Philosophiestudierenden bekannt. Schlimmer noch: Während Newton als einsames Genie zur Ikone stilisiert wurde, die durch schiere Brainpower ein neues Weltbild erschuf, verkörpert Leibniz mit seiner riesigen Perücke den vormodernen barocken Gelehrten. Diese Zuspitzungen sind irreführend, wie Tho-

mas de Padova in „Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit“ zeigt. Der deutsche Wissenschaftspublizist verortet die beiden Geistesgrößen gekonnt im Europa des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Sein roter Faden ist das Entstehen eines neuen Zeitverständnisses. Das beginnt mit der Hardware: Pendeluhr und Unruhe werden erfunden. Innerhalb weniger Jahrzehnte werden Uhren verlässlicher, genauer, kleiner, mobiler, billiger und daher auch zahlreicher. Auf den Zifferblättern erscheinen Minuten- und schließlich sogar Sekundenzeiger. ding-dong und tick-tack, wohin man hört. In London führt bald jeder Gentleman einen Chronometer in seiner Westentasche spazieren. Lange vor der Industrialisierung dringt die gemessene Zeit in den städtischen Alltag ein. Man kann sich nun exakt

verabreden, im Arbeitsleben taucht erstmals eine Vorform der Stechuhr auf, erst jetzt entsteht die Idee der Pünktlichkeit. Man kann Zeit nun gezielt nutzen, sparen oder eben auch verschwenden. Das Denken von Leibniz und Newton ist ohne diese Normung der Zeit nicht denkbar. Newtons Behauptung einer absoluten, gleichmäßig dahinströmenden Zeit ist das Fundament seines neuen physikalischen Weltbildes. De Padova führt anschaulich vor Augen, wie das neue naturwissenschaftliche Denken der Gelehrten im fruchtbaren Austausch mit dem Handwerk entsteht. Leibniz arbeitet eng mit Pariser Uhrmachern zusammen. Er versucht die Mechanik der Zahnräder zu nutzen, um eine vollautomatische Rechenmaschine zu bauen, und feilt buchstäblich an der Feinmechanik. Leibniz, ein typisch barocker Projektemacher und nimmermüder Quell an Ideen, scheitert mit vielen seiner praktischen Pläne, etwa Windmühlen zur Entwässerung im Bergbau oder auch der Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Wien. De Padova sieht Leibniz auch als Vordenker der Binomialrechnung (1-0-1 etc.) und damit auch der Computerarchitektur. Leibniz war – wie Newton – ein ungemein innovativer Mathematiker. Und damit wären wir beim Prioritätsstreit um den „Calculus“. Wer hat die Infinitesimalrechnung begründet, eines der wichtigsten mathematischen Verfahren überhaupt? Beide haben sie wohl unabhängig voneinan-

der entwickelt, Newton einige Jahre früher als Leibniz, der sie aber zuerst publizierte. Der notorisch misstrauische Newton behielt seine mathematischen Entdeckungen lange für sich und sprach nur in Andeutungen oder verschlüsselt davon. Ab etwa 1690 kocht der Streit immer stärker

Thomas de Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit. Piper, 352 S., € 23,70

hoch. Newton agiert wie immer verdeckt. Seine englischen Bewunderer zeihen Leibniz schließlich offen des Plagiats. Leibniz schießt zurück: Mit anonymen Rezensionen und Flugschriften versucht er den Plagiatsspieß umzudrehen und die europäische Gelehrtenwelt auf seine Seite zu ziehen. De Padova zeigt, dass es bei diesem Prioritätsstreit um mehr als um den Zusammenstoß zweier überdimensionierter Egos geht. Newton wird schon zu Lebzeiten zu einem Nationalhelden, dessen Ehre und Verdienste gegen ausländische Möchtegerngenies unbedingt verteidigt werden müssen. Insgesamt will de Padova etwas zu viel erklären. Doppelbiografie von Newton und Leibniz, Epochenporträt Europas um 1700, technische Neuerungen der Uhrmacherkunst, die neue Mathematik und schließlich auch noch der große Bogen von Leibniz’ relationalem Zeitverständnis (er lehnte Newtons „absolute“ Zeit ab) zu Einsteins Relativitätstheorie: Das ist im Einzelnen schlüssig argumentiert, flott geschrieben, insgesamt aber dann doch, pardon, etwas zu barock. O l i v e r H o c had e l


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Sachbuch

Böse Buben, lässige Väter, alte Hausfrauen Die Kochbücher der Herbstsaison, gelesen und bestmöglich eingeteilt nach Trends und Tendenzen

N

euerdings in immer dichterer Folge tauchen in der Koch(buch)welt solche Figuren auf: böser Bube, Drogenkonsument, Weltenbummler, dann aber doch erfangen, Spitzenkoch geworden, atemberaubende Kreationen, brav, aber noch immer schräg und so weiter. Ich gebe zu, ich lese so was gern, vor allem, wenn es so betörend schön aufgemacht daherkommt wie das Kochbuch des brasilianischen Spitzenkochs Alex Atala. „Der interessanteste Mann der Welt“ oder „Ein Gigant unter den Meisterköchen“, so urteilen Kollegen wie René Redzepi vom vielgerühmten Restaurant Noma in Kopenhagen über ihn. Es fehlen also keine Ingredienzien des Erfolgs – von krimineller Energie bis zum fairen Handel. Atala lernte auf europäischen Wanderjahren, wie man traditionelle Spitzenküche macht, wollte aber ursprünglich kein Spitzenlokal eröffnen. Dann aber hat es sich so ergeben, dass er die von seinen Patrons gewünschten Standardgerichte abwandelte und variierte, mit brasilianischen Zutaten kombinierte – Weltsensation. Das liest sich prächtig, sieht wunderbar aus, hat halt den Nachteil, dass die Blattschneiderameisen auf dem Naschmarkt wieder einmal knapp sind. Immerhin widmet Atala dem Gewürz Ameise eine Doppelseite. Köche Europas, lasst euch inspirieren! Ein Lebensmittel geht uns nämlich sicher nicht aus: Insekten. Einige Kreationen Atalas lassen sich aber dennoch nachkochen – manche sind sogar ganz simpel. Rezepte aber zuerst durchlesen, sonst merkt man mitten im Kochvorgang, dass man gerade keine Süßdolde im Haus hat und das Cariru schon wieder ausgegangen ist. Das Salzburger Restaurant Hangar-7 im Be-

sitz des Austro-Oligarchen Dietrich Mateschitz („Wer uns kennt, der kennt auch die ­Ideen, denen wir nicht widerstehen können: Es sind die, die meist als unmöglich gelten“, Vorwort) hat ein interessantes, enzyklopädisches Konzept. Spitzenköche aus aller Welt werden eingeladen und kochen mit der von Roland Trettl geleiteten Küchenbrigade eine Woche lang auf. Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann agiert als über den Wassern schwebender Kurator. Ja, genau, auch Alex Atala war schon da und hat „Gebratene Gänsestopfleber mit Wildreis, Haselnüssen und Katsuobushibrühe“ gekocht. Die geht ganz leicht: Man braucht bloß die guten, alten Bonitoflocken mit Sojasauce, Ingwer, Wasser, Minze und Petersilie kurz köcheln lassen. Passieren, fertig. Nein, ich mache mich nicht lustig, hier haben wir einen spannenden Almanach mit über 100 Spitzenköchen aus allen Konti-

Alex Atala: D.O.M. Die neue brasilianische Küche. Edel, 390 S., € 51,40

Cuisine. Int.: Hangar-7. Collection. Rolf Heyne, 520 S., € 51,30

nenten. Und damit auch eine Informationsquelle über Kochstile, wie man sie in dieser Dichte und vor allem Vielfalt selten finden wird. Von der Edelküche zu einem anderen Genre,

der sogenannten Casual-Küche. Nicht ohne Stolz nennt sich Roman Klauser den „meistgebuchten Koch Österreichs“. Er ist also einer, der in Haushalte kommt und dort für Ereignisse kocht, auch als Showkoch oder bei Grillworkshops kann man ihn antreffen. Hier gibt’s keine Spompanadln, dafür gibt’s Rindfleischburger (mit Petersilie, aber ohne Weißbrot – das ist ein neuer austro-amerikanischer Kompromiss), Sachen wie Knoblauchstangerln, Dips, Palatschinken, jeweils zu saisonalen Menus arrangiert. Das fordert keinen heraus, überfordert aber auch niemanden. Richtig auf dem Cover steht die Parole „Casual Cooking“ bei Pete Evans. Die Col­ lection Rolf Heyne setzt mit ihm ihre erfolgreiche Reihe australischer Kochbücher fort – die sind einfach casualler down under, Dreitagesbart und alles. Pete Evans ist ebenfalls Seminarkoch, hat aber auch noch ein TV-Show und kommt origineller daher als Roman Klauser. Evans Lässigkeit erprobt sich hier an familientauglichen Rezepten. Wirklich, man kann sich vorstellen, dass Papi mit einem Pastinaken-Sellerie-Gratin bei Mutti und den Kinder punktet. Nein, vegetarisch ist Papi Evans nicht: im Gegenteil, die Fleischgerichte überwiegen. Man muss ja nicht jeden Tag „Krustenschweinebraten mit Möhren“ oder „In Ale geschmortes Knoblauchhuhn mit Kartoffelpüree“ nehmen. Martin Ho, ein vietnamesischstämmiger Wiener Gastronomieunternehmer, hat bei Brandstätter ein schickes Kochbuch herausgebracht, in dem auch diverse Szenefiguren sogenannte Testimonials abgeben. Zwischen harten Kartons kommt das Buch als Buchblock daher und bringt solcherart den herben Zugriff des Machers zum Ausdruck. Der kann – der schicken Gestaltung zum Trotz – am Herd recht handfest werden, siehe „Yoshi’s Frühstückspfanne“ (mit angelsächsischem Genitiv-Apostroph). Bratwurst, Speck und Schinken in die Pfanne, Käse, Gemüse dazu und ein Ei drauf – das wollen wir nicht verachten und gegen das zartere Trüffel-Spargel-Maki ausspielen. Wir kommen zur Gesundheitsgruppe: „Deutschland vegetarisch“, das klingt etwas wenige charmant als „Österreich vegetarisch“, dessen Nachfolgeband es dennoch ist. Es scheint mit manchen Mängeln eines Sequels behaftet (weil man Grundle-

Roman Klauser: Kochfest. Residenz, 200 S., € 24,90

Pete Evans: Casual Cooking. Collection Rolf Heyne, 256 S., € 30,80

Salma Hage: Die libanesische Küche. Edel, 512 S., € 41,10 Haya Molcho: Balagan! Südwest, 192 S., € 25,70 Michaela Hager: Echt bayerisch kochen. Brandstätter, 225 S., € 34,95 Margareta Schildt Landgren: Das Schweden Kochbuch. Gerstenberg, 224 S., € 25,70 Cinzia Armanini, Alberta Magris (Hg): Venezianische Küche. Gerstenberg, 288 S., € 26,80 Richard Rauch: Einfach gut Kochen. Anton Pustet, 192 S., € 29,–

Martin Ho: Dots Cooking. Brandstätter, 210 S., € 34,90

Uli Goschler: Grünes Eiweiß. Kneipp Verlag, 132 S., € 17,99

gendes aus dem Original nicht wiederholen wollte), aber es schielt auf einen größeren Markt. Wir nehmen den Willen fürs Werk, den Blumenkohl mit Butterbröseln und den Kürbisstampf essen wir brav, obwohl sie so heißen. Noch gesünder kann nur ein KneippKochbuch sein. „Grünes Eiweiß“ der Wiener Ernährungsberaterin Ulli Goschler erfreut durch die vorgeschaltete Ernährungskunde (wie kommen Veganer zu Proteinen?) und gibt Antworten auf Ernährungsfragen. Die meisten Gerichte sind denn auch weder lässige noch gar hochgestochene Heuler, sondern einfach zu machen und geeignet für Veganer. Laktose- und Glutenfreiheit wird extra ausgewiesen. Volker Mehl hat mächtig tätowierte Unterarme, Christina Raftery hat ein Kind bekommen. Muss man als Kochbuchleser alles wissen, besser gesagt, man kommt nicht daran vorbei, denn Mehl zeigt uns auf dem Cover alles. Aber er hält auch einige simple Basisinformationen über Ayurveda und zugehörige Nahrungsmittel. Aufkommende Mystizismen kann man überblättern, um zu schlichten, meist durchaus kochbaren und undogmatischen (Backpulver ist kein Problem) Gerichten zu gelangen. In der Untergruppe Geografische Werke kom-

men wir an zwei orientorientierten Büchern nicht vorbei. Die in Wien bestens bekannte Haya Molcho legt schon wieder einen Band vor, „Balagan!“, was so viel bedeutet wie „positives Durcheinander“, vielleicht auch „fröhlicher Pallawatsch“. Ich mag ihre Küche, und schon beim Durchblättern des Bandes kriege ich Appetit. Der „Blumenkohl im Ganzen“, bei uns im Orient auch Karfiol genannt, das Israelische Kichererbsen-Sandwich oder das Hühnchen mit Couscousfüllung werde ich probieren! Ein Monument ist Salma Hages „Die libanesische Küche“, ein Band von klassischeleganter Grafik und – Novität! – mit gezacktem Buchschnitt; es gibt immer wieder Innovationen, selbst beim guten, alten Buch. Dieses Kochbuch hätte keine Zacken nötig, es ist seriös, enzyklopädisch und von diskret zurückhaltender, edler Grafik, was die anregende Vielfalt der Gerichte nur hervorhebt. Die libanesische Küche ist dem Guardian zufolge die feinste Küche des Orients. Glauben wir gern. Und wer ist Salma Hage? Eine libanesische Hausfrau aus den Bergen mit 50 Jahren Kocherfahrung. Wenn die alle solche Bücher schreiben können im Libanon, muss sich die Kochbuchwelt neu orientieren. – Weitere regionale Kochbücher finden Sie in der Marginalspalte. A rmi n thur n her

St. Paul, K. Seiser (Hg.): Deutschland vegetarisch. Brandstätter, 132 S., € 34,90

Volker Mehl, Christina Raftery: So schmeckt Glück. Kailash, 224 S., € 20,60


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