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Die verschissene Zeit“ von Barbi Marković
„Fotz sei Dank!“
Barbi Marković erzählt in „Die verschissene Zeit“ derb und originell vom Belgrad der 90er
Ein Atari-Plakat, bunte Disketten, das nervige Plüschtier Furby und eine Trollfigur mit pinken Haaren zieren die trashig-bunte Frontansicht des neuen Romans von Barbi Marković. But don’t judge a book by its cover: „Die verschissene Zeit“ ist mitnichten eine lustige Nostalgie-Reise durch die 90er-Jahre, sondern ein literarischer Höllentrip.
Die Geschichte führt zurück nach Belgrad, wo die Autorin aufgewachsen ist. Die erzählte Zeit deckt sich in etwa mit ihrer Jugend in den 90er-Jahren, und es ist dem Roman anzumerken, dass Marković die beschriebenen Lebensumstände, Häuser, Parks und Lokale genau kennt. Diesen deshalb mit dem hippen Siegel Autofiktion zu versehen oder die Erzählerin Vanja kurzerhand mit der Autorin gleichzusetzen, würde indes viel zu kurz greifen.
Was sich jedoch sagen lässt: „Die verschissene Zeit“ verfügt bei allem verspielten Hang zum Experiment – die Anleitung zu einem gleichnamigen Rollenspiel liegt dem Buch bei – über eine auf jeder Seite spürbare Direktheit und Dringlichkeit. Ohne die Qualität ihrer Thomas-BernhardÜberschreibung „Ausgehen“ (2009) und des Romans „Superhelden“ (2016) schmälern zu wollen, ist dies der Text, auf den die seit 15 Jahren in Wien lebende Marković wohl immer hingearbeitet hat. Bezeichnenderweise ist es auch das erste Buch, dass sie nach Zusammenarbeiten mit der Übersetzerin Mascha Dabić ausschließlich auf Deutsch verfasst hat. Der Text ist dennoch sehr nah dran am tristen Teenagerleben im Belgrad der 90er und der sprachliche Furor ist beachtlich.
Geschildert werden Abenteuer und Alltag von Vanja, ihrem etwas älteren Bruder Marko und Kasandra, der gemeinsamen Freundin aus der Roma-Siedlung. Den Gepflogenheiten und Klischees des Coming-of-Age-Romans entgeht „Die verschissene Zeit“ schon durch einen erzähltechnischen Trick: Das Trio wird nämlich von einer Zeitmaschine, die vom Mann einer legendenumrankten Schlagersängerin gesteuert wird, kreuz und quer durch die 90er-Jahre gebeamt. Eine Entwicklung im Sinne eines Reifungsprozesses können die Figuren gar nicht durchmachen, da es sie in jedem Moment um ein paar Jahre zurück oder nach vorne schleudern kann.
Marković entsendet die drei auf eine verrückte Mission. Sie müssen den Porsche eines Capos stehlen und ein angeblich magisches Amulett finden. Nur dann können die 90er ein Ende nehmen, andernfalls gibt es kein Entkommen aus der Dekade, die im Pop tatsächlich gerade ein kleines Revival erlebt. In der Musik war damals keineswegs alles schlecht.
Für eine junge Frau in Belgrad sieht die Sache anders aus. Vanja empfindet die „Allneunziger“ (schöne Wortprägung) als einen einzigen Albtraum. Sie wächst an der Peripherie Belgrads im eher armen Stadtteil Banovo brdo auf. Ihre Familie wohnt in einem Hochhaus, das in den 60er-Jahren für pensionierte Soldaten errichtet wurde. Vanja ist die dritte Generation ihrer Sippe, die in der viel zu kleinen Wohnung lebt und sie hat nur wenig Hoffnung, es sich zu verbessern. Die 90er fühlen sich für sie an wie eine Endlosschleife. „Die verschissene Zeit“ besteht für die Protagonisten vor allem aus Warten. Sie warten auf den Bus, der meist viel zu spät kommt, warten in der Schlange, um ein paar Lebensmittel zu ergattern, die den Hunger einer vierköpfigen Familie kaum stillen werden können. Alle warten auf das Ende des Krieges und der Sanktionen, der Inflation, der Bombenalarme, der Zerstörung, der sinnlosen Morde an Privatpersonen.
In der Rollenspiel-Anleitung zum Buch, die wie ein Kommentar zu ihm funktioniert, heißt es treffend: „Es lohnt sich nicht, Energie daran zu verschwenden, etwas zu erschaffen, wenn man nicht weiß, von wo
Die drei jungen Protagonist:innen müssen ein magisches Amule finden, um der Zeitschleife der 90er-Jahre zu entkommen
Barbi Marković: Die verschissene Zeit. Residenz, inkl. Beihe 304 S., € 24,–
die nächste Abrissbirne niedersausen wird.“ Unterbrochen wird das Warten meist nur durch Gewalt. Diese Gewalt bildet die Sprache des Romans trefflich ab.
Vom niederen Ton, derbem Slang und den ständigen Flüchen („Fotz sei Dank!“) darf man sich weder abschrecken noch täuschen lassen. Der Text ist ein sowohl formal als auch thematisch ambitioniertes Unterfangen. Er führt in die jüngere Vergangenheit, ohne diese, wie es o und manchmal vielleicht sogar ungewollt passiert, nostalgisch zu verklären.
Ganz im Gegenteil: Marković verteufelt die 90er-Jahre, die das Trio am liebsten auslöschen würde, in der Hoffnung auf eine bessere Zukun . „Die verschissene Zeit“ ist nach „Die guten Tage“ von Marko Dinić schon der zweite bemerkenswerte Roman aus Österreich binnen kurzem, der auf ganz eigene Weise von Serbien, grassierendem Nationalismus und einer jungen, verlorenen Generation erzählt.
Am Ende brüllt es Vanja voll Zorn in die WELT hinaus: „Es geht nicht um uns in der Welt, weil wir auf Banovo brdo leben, in einem Scheißland. Es geht nicht um uns in den Geschichten, weil unsere Lebenserfahrung eine Nischenerfahrung ist. In den Werbungen werden andere Leute angesprochen, in Filmen andere Schicksale gezeigt. Es GEHT tatsächlich NIEMANDEM UM UNS, ABER UNS, UNS GEHT ES EXTREM UM UNS!“
In diesem Roman geht es ausnahmsweise nur um sie. Das darf man ruhig als kleinen Triumph der Literatur werten. Barbi Marković untermauert mit „Die verschissene Zeit“ ihren Status als – Achtung, verbotenes Wort – „Ausnahmeschri stellerin“. Im Gespräch mit dem Falter mutmaßte sie vor ein paar Jahren: „Ich glaube, ich werde irgendwann eine ganz normale Bestsellerautorin werden.“ Nun, dafür ist ja später auch noch Zeit.
SEBASTIAN FASTHUBER
Michel Jean
Geboren 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac Saint-Jean (Québec). Nach einem Studium der Geschichte und Soziologie arbeitet er seit 1988 als Journalist und Moderator für den französisch-kanadischen Fernseh sender Radio Canada Info und, seit 2005, für TVA Nouvelles. Er ist mit sieben Romanen einer der wichtigsten indigenen Autoren Québecs. Nach Amun (2016) veröff entlichte er unter dem Titel Wapke (Morgen) im März 2021 eine zweite Anthologie mit dystopischen Erzählungen von 14 indigenen Autorinnen und Autoren aus Québec.
Michael von Killisch-Horn
Geboren 1954 in Bremen. Er studierte Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in München und arbeitet als Übersetzer aus dem Französischen und Italienischen. Seit einem dreimonatigen Aufenthaltsstipendium 2013 in Montréal interessiert er sich auch verstärkt für die Literatur Québecs und verbringt jedes Jahr mehrere Wochen in Montréal. Im Herbst 2020 erschien ein von ihm herausgegebenes Heft der Literatur zeitschrift die horen mit aktueller Literatur aus Québec.
220 Seiten, gebunden, EUR 21,00 · ISBN 978-3-99029-470-3 Erscheinungstermin: Oktober 2021
MICHEL JEAN
Michel Jean erzählt in Kukum die Geschichte seiner Urgroßmutter Almanda Siméon, die 97 wurde. Als Waise von Pfl egeeltern aufgezogen, lernt sie mit fünfzehn den jungen Innu omas Siméon kennen, verliebt sich trotz der kulturellen Unterschiede sofort in ihn, sie heiraten, und Almanda lebt von da an mit dem Nomadenstamm, dem er angehört, lernt seine Sprache, übernimmt die Riten und Gebräuche der Innu von Pekuakami und überwindet so die Barrieren, die den indigenen Frauen auferlegt werden. Anhand des Schicksals dieser starken, freiheitsliebenden Frau beschreibt Michel Jean auch das Ende der traditionellen Lebensweise der Nomadenvölker im Nordosten Amerikas, deren Umwelt zerstört wurde und die zur Sesshaftigkeit gezwungen und in Reservate gesperrt wurden, ohne Zukunftsperspektive, ein Leben geprägt von Gewalt, Alkohol und Drogenkonsum. Der Roman wurde im Herbst 2020 mit dem Prix littéraire France-Québec ausgezeichnet. „Ich spüre in mir die Verantwortung, unsere Geschichten zu erzählen, die der Innu und der Mitglieder der Ersten Völker. Denn sie kommen praktisch nirgends vor. In den Geschichtsbüchern nehmen sie nur wenig Raum ein. In Nordamerika beginnt die Geschichte mit der Ankunft von Christoph Kolumbus 1492, diejenige Kanadas mit Jacques Cartier 1534. Aber wir leben hier seit 15 000 Jahren. Wenn wir unsere Geschichten nicht erzählen, wer dann?“