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Antonio Scurati legt Teil 2 seiner Mussolini-Trilogie vor
Die Kotze des Duce
Antonio Scurati legt den zweiten Band seiner Mussolini-Biografie vor. Raffiniert entzaubert er einen Mythos
Der Befehl von General Rudolfo Graziani vom März 1928 bezüglich der Hinrichtungen in Libyen lautete: 1) Art und Weise: Erschießen. 2) Rasche Durchführung, um gefährliche Subjekte nicht unnötig viele Tage am Leben zu lassen. Dann fügte Graziani noch hinzu: „Jede Gefühlsregung ist stra ar.“
Wir befinden uns mitten im zweiten Band von Antonio Scuratis monumentalem Werk „M“, einer Biografie des italienischen Diktators Benito Mussolini (1882–1945). Diesmal geht es um die Jahre 1925 bis 1932, die Phase der Konsolidierung faschistischer Politik. Der Duce will mit den brutalen Weggefährten der Nachkriegszeit brechen und schließt einige Squadristen – so der Name für Mitglieder paramilitärischer Gruppen – aus der Partei aus. Nun geht es darum, städtebauliche und industrielle Großprojekte umzusetzen oder auch einen Ausgleich mit der katholischen Kirche zu finden. Adolf Hitler, damals noch ein unbekannter Münchner Rechtsextremer, blickt zu seinem Vorbild auf und bittet vergeblich um ein persönliches Treffen.
Doch das Morden geht von der Öffentlichkeit unbemerkt weiter. In Libyen versucht Italien, einen Kolonialstaat aufzubauen, und begeht dabei zahlreiche Kriegsverbrechen, Gi gasangriffe und Massenexekutionen. Was bisher kaum Eingang in die Geschichtsbücher fand, ru „M“ detailreich in Erinnerung. Der frühe Faschismus propagierte den Kult der Gefühllosigkeit. Er sollte zur Anleitung zu genozidalen Verbrechen in Afrika werden.
Antonio Scurati hat Philosophie studiert und unterrichtet an einer Mailänder Universität Kreatives Schreiben. Das Schreibprojekt entstand als Reaktion auf den Erfolg der italienischen Rechtspopulisten. Scurati zufolge haben Politiker wie Silvio Berlusconi oder Matteo Salvini von Mussolini gelernt, wie man etwa den Körper politisch instrumentalisiert. In der ersten Phase habe
Scurati entzaubert Mussolinis grandezza. Der Weg in die Diktatur führt nicht auf die umkämp e Straße, sondern ins Sitzungszimmer
Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung. Roman. Übersetzt von Verena von Koskull. Kle Co a, 640 S., € 28,95
Mussolinis erotische Militanz fasziniert, nach der Machtübernahme würden Fotografie, Kino und Massenveranstaltungen den Duce ins Übersinnliche heben. Entsprechend groß ist Scuratis Augenmerk für diese Metamorphose.
Immer wieder unterbricht zwar der Alltag, der Ärger mit Kindern und Geliebten oder der Verrat von Parteifreunden den Höhenflug des Duce. Nach außen hin aber wird die Aura der Unbesiegbarkeit gestärkt. Mussolini überlebt wie durch ein Wunder mehrere Attentate, ein Zufall, der ihn zum „Mann der Vorsehung“ macht, wie der Roman im Untertitel heißt.
Das Epos beginnt mit „grünlich Erbrochenem, das von Blut durchschliert ist“. Während der Duce von Triumph zu Triumph eilt, plagen ihn Verdauungsprobleme. So holt der Autor die überlebensgroße Figur auf den Boden des Stoffwechsels herunter.
Man muss sich auch vor der Übersetzerin Verena von Koskull verneigen, die es schafft, dem Sprung rhetorischer Stilmittel zu folgen: vom unerträglichen vaterländischen Pathos bis zur hilflosen Sprache eines Arbeiters. „Ich bin an geklagt wegen Beleidikung des Duce aber klauben Sie doch, dass ich unschuldig bin“, schreibt ein Maurer aus dem Gefängnis.
Der Autor behält das Schema des ersten Bandes bei. Die Erzählung folgt einer tagebuchartigen Struktur und stellt Mussolini Kameraden, Gegner, Familienmitglieder und faschistische Größen zur Seite. Die Position des Erzählers lässt sich mit einer Drohne vergleichen, die über dem Geschehen schwebt und immer wieder in Szenen hineinzoomt. Der sachliche Ton weist eine ironische Färbung auf, wie man sie von den großen Realisten des 19. Jahrhunderts kennt.
Deren Vorliebe für Spannungsbögen und psychologische Tiefe fließt allerdings nicht in den Roman ein. Der Lauf der Dinge gehorcht nicht dem Prinzip Steigerung, sondern vollzieht sich in mittlerer Geschwindigkeit. Szene reiht sich an Szene, Ereignis an Ereignis, ein Verfahren, das auf die Dauer ermüdend wirkt. Scuratis Addition lässt sich andererseits auch als Versuch werten, die Identifikation mit dem großen Buchstaben zu verhindern. Er entzaubert die propagandistische grandezza.
Exemplarisch dafür sind die vielen Sitzungen, die der Autor mit derselben Detailgenauigkeit schildert wie die großen Au ritte. Der Weg in die Diktatur führt nicht auf umkämp e Straßen, sondern in Besprechungszimmer, in denen kritische Stimmen allmählich verstummen. Im Halbschlaf und dicken Zigarettenqualm nehmen die Parlamentarier ungeheuerliche Entscheidungen zur Kenntnis.
Im Tagungssaal des Parlaments verkündet Mussolini die Ausschaltung der demokratischen Institutionen. Oder er prangert den Niedergang des italienischen Genpools an: „Gehemmt, durchseucht und gelähmt aber ist die Rasse vor allem durch Krankheiten des Geistes“, wettert Mussolini im Mai 1927, nachdem er sich mit der üblichen Geste den Krawattenknoten zurechtgerückt hatte. „Die zunehmende Schwermut der Spezies, die Unfruchtbarkeit und Lebensuntüchtigkeit bereiten am meisten Sorge.“
So lässt sich Scuratis Buch als Archiv betrachten, in dem die Entwicklung eines autoritären Staates für die Nachwelt verzeichnet und au ewahrt wird. Der geplante dritte Teil wird zwangsläufig die Spannung steigern. Der Kolonialkrieg grei auf Abessinien über, Italien steuert auf eine fatale Koalition mit Deutschland zu. Es wird wohl auch von einem Wiener Duce die Rede sein, der Österreich in einen Ständestaat nach römischen Vorbild verwandeln möchte. Die historischen Fakten sind bekannt, aber es braucht einen leidenscha lichen Dokumentaristen wie Scurati, der sie mit Leben erfüllt. MATTHIAS DUSINI
Czernin Verlag
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Christopher Wurmdobler Ausrasten
»Wurmdobler hat keine Scheu vor Klischees und auch keine Hemmungen, diese genüsslich und mit Sprachwitz zu zerlegen.«
Wiener Zeitung
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