Bücher-Herbst 2021

Page 22

LITER ATUR

FALTER 42 ∕ 21

23

Die Kotze des Duce Antonio Scurati legt den zweiten Band seiner Mussolini-Biografie vor. Raffiniert entzaubert er einen Mythos

D

er Befehl von General Rudolfo Graziani vom März 1928 bezüglich der Hinrichtungen in Libyen lautete: 1) Art und Weise: Erschießen. 2) Rasche Durchführung, um gefährliche Subjekte nicht unnötig viele Tage am Leben zu lassen. Dann fügte Graziani noch hinzu: „Jede Gefühlsregung ist strafbar.“ Wir befinden uns mitten im zweiten Band von Antonio Scuratis monumentalem Werk „M“, einer Biografie des italienischen Diktators Benito Mussolini (1882– 1945). Diesmal geht es um die Jahre 1925 bis 1932, die Phase der Konsolidierung faschistischer Politik. Der Duce will mit den brutalen Weggefährten der Nachkriegszeit brechen und schließt einige Squadristen – so der Name für Mitglieder paramilitärischer Gruppen – aus der Partei aus. Nun geht es darum, städtebauliche und industrielle Großprojekte umzusetzen oder auch einen Ausgleich mit der katholischen Kirche zu finden. Adolf Hitler, damals noch ein unbekannter Münchner Rechtsextremer, blickt zu seinem Vorbild auf und bittet vergeblich um ein persönliches Treffen. Doch das Morden geht von der Öffentlichkeit unbemerkt weiter. In Libyen versucht Italien, einen Kolonialstaat aufzubauen, und begeht dabei zahlreiche Kriegsverbrechen, Giftgasangriffe und Massenexekutionen. Was bisher kaum Eingang in die Geschichtsbücher fand, ruft „M“ detailreich in Erinnerung. Der frühe Faschismus propagierte den Kult der Gefühllosigkeit. Er sollte zur Anleitung zu genozidalen Verbrechen in Afrika werden. Antonio Scurati hat Philosophie studiert und

unterrichtet an einer Mailänder Universität Kreatives Schreiben. Das Schreibprojekt entstand als Reaktion auf den Erfolg der italienischen Rechtspopulisten. Scurati zufolge haben Politiker wie Silvio Berlusconi oder Matteo Salvini von Mussolini gelernt, wie man etwa den Körper politisch instrumentalisiert. In der ersten Phase habe

»

Scurati entzaubert Mussolinis grandezza. Der Weg in die Diktatur führt nicht auf die umkämpfte Straße, sondern ins Sitzungszimmer

Mussolinis erotische Militanz fasziniert, nach der Machtübernahme würden Fotografie, Kino und Massenveranstaltungen den Duce ins Übersinnliche heben. Entsprechend groß ist Scuratis Augenmerk für diese Metamorphose. Immer wieder unterbricht zwar der Alltag, der Ärger mit Kindern und Geliebten oder der Verrat von Parteifreunden den Höhenflug des Duce. Nach außen hin aber wird die Aura der Unbesiegbarkeit gestärkt. Mussolini überlebt wie durch ein Wunder mehrere Attentate, ein Zufall, der ihn zum „Mann der Vorsehung“ macht, wie der Roman im Untertitel heißt. Das Epos beginnt mit „grünlich Erbrochenem, das von Blut durchschliert ist“. Während der Duce von Triumph zu Triumph eilt, plagen ihn Verdauungsprobleme. So holt der Autor die überlebensgroße Figur auf den Boden des Stoffwechsels herunter. Man muss sich auch vor der Übersetzerin Ve-

Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung. Roman. Übersetzt von Verena von Koskull. Klett Cotta, 640 S., € 28,95

rena von Koskull verneigen, die es schafft, dem Sprung rhetorischer Stilmittel zu folgen: vom unerträglichen vaterländischen Pathos bis zur hilflosen Sprache eines Arbeiters. „Ich bin an geklagt wegen Beleidikung des Duce aber klauben Sie doch, dass ich unschuldig bin“, schreibt ein Maurer aus dem Gefängnis. Der Autor behält das Schema des ersten Bandes bei. Die Erzählung folgt einer tagebuchartigen Struktur und stellt Mussolini Kameraden, Gegner, Familienmitglieder und faschistische Größen zur Seite. Die Position des Erzählers lässt sich mit einer Drohne vergleichen, die über dem Geschehen schwebt und immer wieder in Szenen hineinzoomt. Der sachliche Ton weist eine ironische Färbung auf, wie man sie von den großen Realisten des 19. Jahrhunderts kennt. Deren Vorliebe für Spannungsbögen und psychologische Tiefe fließt allerdings nicht in den Roman ein. Der Lauf der Dinge gehorcht nicht dem Prinzip Steigerung, son-

Czernin Verlag

Christopher Wurmdobler

Ausrasten

»Wurmdobler hat keine Scheu vor Klischees und auch keine Hemmungen, diese genüsslich und mit Sprachwitz zu zerlegen.« Wiener Zeitung

160 Seiten | Hardcover mit SU | Euro 20,–

dern vollzieht sich in mittlerer Geschwindigkeit. Szene reiht sich an Szene, Ereignis an Ereignis, ein Verfahren, das auf die Dauer ermüdend wirkt. Scuratis Addition lässt sich andererseits auch als Versuch werten, die Identifikation mit dem großen Buchstaben zu verhindern. Er entzaubert die propagandistische grandezza. Exemplarisch dafür sind die vielen Sitzungen,

die der Autor mit derselben Detailgenauigkeit schildert wie die großen Auftritte. Der Weg in die Diktatur führt nicht auf umkämpfte Straßen, sondern in Besprechungszimmer, in denen kritische Stimmen allmählich verstummen. Im Halbschlaf und dicken Zigarettenqualm nehmen die Parlamentarier ungeheuerliche Entscheidungen zur Kenntnis. Im Tagungssaal des Parlaments verkündet Mussolini die Ausschaltung der demokratischen Institutionen. Oder er prangert den Niedergang des italienischen Genpools an: „Gehemmt, durchseucht und gelähmt aber ist die Rasse vor allem durch Krankheiten des Geistes“, wettert Mussolini im Mai 1927, nachdem er sich mit der üblichen Geste den Krawattenknoten zurechtgerückt hatte. „Die zunehmende Schwermut der Spezies, die Unfruchtbarkeit und Lebensuntüchtigkeit bereiten am meisten Sorge.“ So lässt sich Scuratis Buch als Archiv betrachten, in dem die Entwicklung eines autoritären Staates für die Nachwelt verzeichnet und aufbewahrt wird. Der geplante dritte Teil wird zwangsläufig die Spannung steigern. Der Kolonialkrieg greift auf Abessinien über, Italien steuert auf eine fatale Koalition mit Deutschland zu. Es wird wohl auch von einem Wiener Duce die Rede sein, der Österreich in einen Ständestaat nach römischen Vorbild verwandeln möchte. Die historischen Fakten sind bekannt, aber es braucht einen leidenschaftlichen Dokumentaristen wie Scurati, der sie mit Leben erfüllt. MAT THIAS DUSINI


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook

Articles inside

Wissenscha sgeschichte Vom Messen und den Maßen

4min
page 46

Biologie Die Welt der Mikroben und das Prinzip des Lebens

4min
page 50

Klimawandel Vier neue Bücher über die Erderwärmung

4min
page 51

Wissenscha sgeschichte Christiaan Huygens war ein Pionier der Naturwissenscha en und gehört endlich gewürdigt

5min
page 44

Biologie Die Weisheit der Pflanzen und indigener Kulturen

4min
page 47

Geschichte Deutsche Geschichte zwischen Selbstfindung und Selbstreflexion

4min
page 43

Zeitgeschichte Bogumil Balkansky versucht, das Massaker von Srebrenica zu verstehen

4min
page 42

Medien Infokratie und die Datenkrake Facebook

4min
page 37

Soziologie Wie kann man über den Lockdown erzählen?

5min
page 36

Philosophie Fulminante Gruppenbiografie des Wiener Kreises

3min
page 38

Deba enkultur Svenja Flaßpöhler und Lukas Meschik wünschen sich mehr Besonnenheit im Diskurs

4min
page 35

Kunstgeschichte Eine kolossale Monografie über Michelangelo

4min
page 34

Sprachen Zwei Neuerscheinungen zu Schri en und den zwanzig wichtigsten Sprachen

4min
page 33

Philosophie Rüdiger Safranski und Anne Dufourmantelle reflektie- ren das Verhältnis des Ichs zu den anderen

9min
pages 31-32

Jugendbücher Klebt an Schokolade Blut? Wie überlebt man in Südafrika?

3min
page 30

Antonio Scurati legt Teil 2 seiner Mussolini-Trilogie vor

4min
page 22

In den labyrinthischen Welten von Georg Klein

4min
page 20

Colm Tóibín durchwühlt die Wäsche von Thomas Mann

5min
page 25

Der Monumentalroman „Stalingrad“ von David Grossman

4min
page 21

Biber, Haie und die Weltwirtscha skrise der 1930er-Jahre

5min
page 29

Grabreden von Walter Müller und Stefan Slupetzky

4min
page 18

Ilse Aichinger und ihr „Aufruf zum Mißtrauen“

4min
page 16

Die verschissene Zeit“ von Barbi Marković

6min
page 17

AUS HEIMISCHEM ANBAU ........................................................ Eine Begegnung mit dem Wiener Schri steller Gábor Fónyad

4min
page 12

László Krasznahorkai und die Apokalypse nach J. S. Bach

4min
page 11

Aleksandar Hemon legt einen Doppelroman vor

4min
page 8

Um Mobbing, Armut und Sexismus geht’s bei Mieko Kawakami

4min
page 10

Und noch einmal Dri es Reich: Roman von Alois Hotschnig

4min
page 14

Der Country-Noir „Herren der Lage“ von Castle Freeman

4min
page 6
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.