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Philosophie Rüdiger Safranski und Anne Dufourmantelle reflektie- ren das Verhältnis des Ichs zu den anderen
noch nicht einmal den eigenen Gedanken, die man gestern gedacht hat.“ Diesen radikalen Selbstbesitz nannte Stirner Egoismus: „die eigene Existenz zu ergreifen und sie sich nicht rauben zu lassen von überindividuellen Instanzen“.
Denker wie Thoreau oder Emerson hingegen propagierten (zeitweiligen) Rückzug in die Natur als Ausdruck der Autonomie. In einer Demokratie, meint Thoreau, müsse sich der Einzelne zwar der Mehrheit beugen, aber er dürfe sein Gewissen nicht an der Wahlurne abgeben. Der Einzelne als Korrektiv: Die Menge, warnte Gustave le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“, tendiere zu Sündenbockjagden und Verschwörungstheorien. „Nachahmung als Schwarmverhalten, Selbstbestimmung als Selbsttäuschung“, nennt Gabriel de Tarde diese Formen der kollektiven Verblendung.
In Safranskis erhellendem, gut lesbarem Buch fehlen abgesehen von einem Kapitel zu Ricarda Huch und Hannah Arendt die Beträge von Frauen – ein schweres Versäumnis. Auch Ahrendts Verteidigung der öffentlichen Debatte, der Ned O’Gorman in „Politik für alle. Hannah Arendt lesen in unsicheren Zeiten“ (2021) jüngst ein Denkmal gesetzt hat, kommt dabei zu kurz. Als lohnend erweisen sich hingegen Safranskis Reflexionen über Arendts Interpretation von Adolf Eichmann als dem Einzelnen, der sich weigerte, ein solcher zu sein, indem er sich zum „Rädchen und Schräubchen einer gigantischen Mordmaschine“ machte.
Dass Safranski ein Werk mit einer dermaßen aktuellen Thematik mit der „Seinsverdichtung“ eines Ernst Jünger enden lässt, befremdet zum Schluss vollends, und zwar so stark, dass man sich gerne zu Montaigne zurückwendet. „Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten“, zitiert Safranski diesen an einer Stelle, „ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen“ – und liefert damit eine formidable Überleitung zu Anne Dufourmantelles „Verteidigung des Geheimnisses“.
Von der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin, Jahrgang 1964, war zuletzt „Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse“ (2018) erschienen. Sie starb 2017 bei dem Versuch, zwei Kinder vor dem Ertrinken zu retten – und stand so mit ihrem Leben für ihre Philosophie ein.
Dass Dufourmantelle sich nach ihrer Promotion im Fach Philosophie der Psychoanalyse zuwandte, hieß für sie, „sich auf die Seite des Geheimnisses zu begeben. Sich für das Halbdunkel zu entscheiden, für eine heimliche Reise in die Stille, für immer Migrant zu bleiben.“ In der Kindheit bedeute das Geheimnis eine Quelle des Schöpferischen, von Freiheit und Freude, meint Dufourmantelle, und genau deswegen hege unsere Zeit eine „regelrechte Aversion“ gegen diese Reserve. Dufourmantelle liegt es fern, das Geheimnis zu verklären oder sein toxisches Potenzial zu verschleiern. Lebenslügen und verschwiegene Familiengeschichten behindern, das belegt die Psychoanalytikerin auch anhand von Fallbeispielen aus der eigenen Praxis, die persönliche Entwicklung und gehören damit zu den Hauptthemen einer Therapie.
Wer ein Geheimnis hat, behält etwas für sich, aber ist nicht allein. „In gewissem Sinn ist man bei einem Geheimnis immer zu dritt: der Hüter, der Zeuge, der Ausgeschlossene. Diese wesensmäßige Dreiheit kann sich jederzeit entzünden, in Eifersucht, in Machtkämpfen.“ Die ersten Gedanken und Handlungen, die ein Kind nicht mit seinen Bezugspersonen teile, seien aber „entscheidende Wegmarken zu seiner Individuation“. Das Verhältnis zum Geheimnis definiert somit die Beziehung zu anderen Menschen, besonders Liebespartnern. „Wer die Lüste eines Menschen kennt, kommt seinem Geheimnis sehr nahe, der verfügt über die Macht, ihn zu beglücken und zu verwunden.“ Auf der anderen Seite gelte: „Alles über den anderen wissen zu wollen ist eine Krankheit, die zum langsamen Tod dessen führt, was man am meisten beschützen will. Ohne Phantasma ist keine Liebe von Dauer.“
Die Konsumgesellscha verlange maximale Transparenz, um aus dem Menschen einen perfekt funktionierenden, das heißt
Einzeln sein bedeutet, dass man zwar immer irgendwo dazugehört, doch auch imstande ist, für sich allein stehen zu können, ohne seine Identität nur in einer Gruppe zu suchen oder seine Probleme nur auf die Gesellscha abzuwälzen
RÜDIGER
SAFRANSKI
steuerbaren Organismus zu machen. „Warum soll man keine Geheimnisse haben wollen? Um vor sich selbst zu verbergen, dass man kein Leben zu führen vermag, das welche hervorbringt – ein freies Leben?“, fragt Dufourmantelle. Transparenz, betont sie, sei nicht gleichbedeutend mit Wahrheit, denn es komme darauf an, wer die Daten interpretiere. In einer Demokratie führe die Forderung nach totaler Offenlegung des Geschä s der Macht zu einem Dilemma. Um die an die Politiker delegierte Macht „unvoreingenommen ausüben zu können, dürfen die Gewählten nichts zu verbergen haben. Dabei weiß jeder, dass eine transparente Politik unmöglich ist, weil Macht zu ihrer Ausübung das Geheimnis pflegt.“ Sonst – könnte man hinzufügen – würden Demokratien auch nicht des Korrektivs des (Aufdeckungs-)Journalismus bedürfen.
Die Wissenscha , stellt Dufourmantelle fest, ohne diesen Umstand bewerten zu wollen, mache aus dem Mysterium des Lebens und des Menschen ein zu lösendes Rätsel, und heute komme ihr eine Autorität zu wie einst nur der Philosophie und der Religion. Dufourmantelle ist nicht darauf aus, solche Widersprüche aufzulösen. Dem Geheimnis auf der Spur zu sein bedeutet für sie auch, es stehen zu lassen.
Das Geheimnis gehört für sie ins Reich der Ästhetik, dem auch nach dem Ende der Kindheit die Macht des Kreativen innewohnt. Dufourmantelle befürchtet, dass wir am „Beginn einer kleinen Eiszeit“ stünden, „einer Zeit steter und unmerklicher Anästhetisierung. Die Freizeit ist durchorganisiert und die Meinungen sind gesteuert, denn es soll bloß keine Überraschungen, Fehltritte oder größere Veränderungen geben.“ Die andere Seite der Medaille bildet ein „grassierender Verschwörungswahn“, eine paranoide Gesellscha , die überall Geheimnisse sieht, auch dort, wo keine sind. Dufourmantelles kluge und nachdenklich machende „Verteidigung des Geheimnisses“ als Antiau lärung lesen zu wollen, wäre verfehlt. „Nicht alles wissen zu wollen heißt nicht, nicht wissen zu wollen“, betont sie, sondern nur, nicht alles wissen zu müssen. F
Das Geheimnis von Schrift und Sprachen
Sprachen: Zwei neue Bücher erklären, wie Schri und Sprache funktioniert – unterhaltsam und erhellend
Ägäische Philologie – die wenigsten dür en wissen, dass ein solches Fach existiert. Silvia Ferrara lehrt es an der altehrwürdigen Universität Bologna. Das Fachgebiet schließt die großteils unentzifferten vorgriechischen Schriften Kretas und Zyperns ein, doch Ferrara wollte mehr, den Blick aufs große Ganze: Sie wurde Leiterin eines vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts, das die Frühzeit aller Schri en ergründet. In „Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schri en“ präsentiert sie, was sie mit Hilfe von Scharfsinn, Enthusiasmus und einer Kollegenschar entdeckte – und das ist nicht weniger als eine kleine Revolution.
Bis etwa 1980 glaubte man (mehrheitlich), die Schri sei nur einmal entstanden, im Mesopotamien des späten 4. Jahrtausends v. Chr., als man der Verwaltung und dem Handel zuliebe aus dem Zählen und Etikettieren von Waren die Keilschri auf Tontäfelchen entwickelte. Heute muss man davon ausgehen, dass Schri an vier Orten weitgehend unabhängig voneinander entstand: in Ägypten vielleicht sogar etwas früher als in Mesopotamien – Ferrara verweist auf unlängst in Gräbern der vordynastischen Zeit gefundene Proto-Hieroglyphen. Gut drei Jahrtausende alt sind die ersten Zeugen der chinesischen Schri – sie ist hier bereits so ausdifferenziert, dass es ältere Vorstufen gegeben haben muss. Um die Zeitenwende herum benutzten die mittelamerikanischen Maya eine autonom entwickelte, stark piktorale, bis heute rätselha e Schri .
In Ferraras Modell entstand Schri auch in Mesopotamien erst, als bildha e Darstellungen mit Zahlen kombiniert wurden. Entscheidend war nicht das Bedürfnis zu verwalten, sondern der viel ältere Trieb des Menschen, sich durch bildha e Darstellungen zu erkunden und mitzuteilen: 40.000 Jahre alte Höhlenbilder zeigen außer Tieren und Jägern alle möglichen Symbole, von Handnegativformen über Kreise, Zickzacklinien, Dreiecke bis zu Parallellinien. Rückblickend wirken sie wie erste Probeläufe zu schri zeichenha en Abstraktionen.
Schri ist daher auch keine notwendige Bedingung des Entstehens komplexer Gesellscha en: Ganze Reiche wie das der Kusch im heutigen Sudan kamen weitgehend ohne Schri aus. Umgekehrt sind viele Schri en von sehr kleinen Völkern fern von staatlichen Organisationsimperativen erfunden worden. Alle Schri en der Welt machen von elementaren Linienformen Gebrauch (rechte Winkel wie in L oder T), einfache Geometrien (O, X), die von Konturen der die Lebenswelt umgebenden Dinge
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Helga und Ilse Aichinger »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«
Briefe, Wien–London 1939–1947
Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Nikola Herweg, 380 Seiten, € 26,—
Am 4. Juli 1939 kann Helga Aichinger 17-jährig mit einem der letzten Kinder transporte nach England emigrieren, ihre Zwillingsschwester Ilse und ihre jüdischen Verwandten bleiben in Wien zurück. Der während der über acht Jahre dauernden Trennung geführte Briefwechsel ist ein eindrückliches, berührendes Zeugnis der Ho nungen und des Leids der einander vermissenden Zwillinge. Helga Aichingers Briefe bieten ein sehr lebendiges Bild des Schicksals einer Jugend lichen im Exil, während man von Ilse Aichinger viel über ihre Arbeit am Roman »Die größere Ho nung« erfährt. Und die wenigen, kurzen Mitteilungen von maximal 25 Wörtern, die während des Krieges durch das Rote Kreuz übermittelt wurden, zeigen eindringlich, was Krieg und Ver treibung für Familien bedeuten.
Silvia Ferrara: Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schri en. C.H. Beck, 251 S., € 25,95
Gaston Dorren: In 20 Sprachen um die Welt. Die größten Sprachen und was sie so besonders macht. C.H. Beck, 400 S., € 28,80
abgeleitet sind. Der Grund ist die Bauweise unseres Gehirns: Es ist darauf angelegt, primär die Konturen der Dinge wahrzunehmen, erst sekundär Oberflächenbeschaffenheit etc.
Diese Übertragung von Dingkonturen in Schri linien macht für Ferrara die „DNA der Schri “ aus: Nicht das machtorientierte Organisieren, sondern das zeichnend experimentierende Erkunden von Möglichkeiten der Weltvergegenwärtigung und der sozialen Austauschmöglichkeiten liegen am Ursprung unserer Schri en. Sozialpsychologische Experimente bestätigen diese ein wenig romantisch klingende These.
Gaston Dorren ist Niederländer, Journalist und Sprachen-Enthusiast fern allen Universitäten: Seine Datenbasis sind zuallererst die eigenen Mühen im Erlernen naher und ferner Sprachen. Er schenkt dem Leser mit „In 20 Sprachen um die Welt“ einen farbigen Bilderbogen der 20 meistgebrauchten lebenden Sprachen, indem er vermeidet, was herkömmliche Sprachbücher tun: grammatische und vokabuläre Systeme zu referieren.
Dorren gibt kurzweilig knappe Porträts jeweiliger Individualitäten innerhalb der Sprachfamilie. Wir erfahren, wie konventionell das ist, was uns indoeuropäischen Sprechern so natürlich vorkommt – Flektionen, Personalpronomen, Genus, Markierungen der Wortgattungen. Japanische Damen sprechen eine etwas andere, feinere Sprache als Männer – lassen Bindeverben als unschicklich aus, haben eigene Partikel, um Gesinnungen zu zeigen. Spanier hinwiederum kennen gleich sieben verschiedene Modalitäten von „sein“. Vietnamesen differenzieren Personalpronomen je nachdem, wie Sprecher und Hörer dem Alter, der Verwandtscha , dem Geschlecht nach zueinander stehen. Dorren bringt dabei das Kunststück fertig, Laien grundverschiedene Typen des Verschri lichens bis hin zu den aberwitzig komplizierten Systemen der Japaner in unterhaltsamer Kürze nahezubringen. Sprach-Individualitäten sind immer auch Produkte von Kulturkämpfen und politischen Strategien.
Das moderne Türkeitürkisch ist eigentlich eine Erfindung Atatürks, um die eklektizistische Elitensprache des Osmanischen Reichs abzulösen. Das Französische ist bis heute von den barocken Sprachnormierungen der Académie française geprägt, die den homogenen Zentralstaat formieren half. Tamil wurde als göttlich und in nationalistischen Emanzipationskämpfen als Identitätsbildner benutzt. Die hohe, den Eliten vorbehaltene Form des Javanischen wurde erfunden, als eben diese Eliten ihre politische Macht verloren. Die Grammatik des Englischen ist nur deshalb so einfach, weil die Normannen, als sie sich vor 1000 Jahren in England niederließen, sie simplifizierten – und sie wird reduktiver werden, je geringer der Anteil von Muttersprachlern an den Gesamtverwendern wird. Es lässt sich schwerlich ein Buch denken, das uns so anschaulich vorführt, dass wir nichts wissen von der so o beschworenen und in der Tat wunderbaren Vielfalt der Kulturen – und uns durch seinen Witz zugleich darüber tröstet.