Bücher-Herbst 2021

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SACHBUCH

noch nicht einmal den eigenen Gedanken, die man gestern gedacht hat.“ Diesen radikalen Selbstbesitz nannte Stirner Egoismus: „die eigene Existenz zu ergreifen und sie sich nicht rauben zu lassen von überindividuellen Instanzen“. Denker wie Thoreau oder Emerson hingegen propagierten (zeitweiligen) Rückzug in die Natur als Ausdruck der Autonomie. In einer Demokratie, meint Thoreau, müsse sich der Einzelne zwar der Mehrheit beugen, aber er dürfe sein Gewissen nicht an der Wahlurne abgeben. Der Einzelne als Korrektiv: Die Menge, warnte Gustave le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“, tendiere zu Sündenbockjagden und Verschwörungstheorien. „Nachahmung als Schwarmverhalten, Selbstbestimmung als Selbsttäuschung“, nennt Gabriel de Tarde diese Formen der kollektiven Verblendung. In Safranskis erhellendem, gut lesbarem Buch

fehlen abgesehen von einem Kapitel zu Ricarda Huch und Hannah Arendt die Beträge von Frauen – ein schweres Versäumnis. Auch Ahrendts Verteidigung der öffentlichen Debatte, der Ned O’Gorman in „Politik für alle. Hannah Arendt lesen in unsicheren Zeiten“ (2021) jüngst ein Denkmal gesetzt hat, kommt dabei zu kurz. Als lohnend erweisen sich hingegen Safranskis Reflexionen über Arendts Interpretation von Adolf Eichmann als dem Einzelnen, der sich weigerte, ein solcher zu sein, indem er sich zum „Rädchen und Schräubchen einer gigantischen Mordmaschine“ machte. Dass Safranski ein Werk mit einer dermaßen aktuellen Thematik mit der „Seinsverdichtung“ eines Ernst Jünger enden lässt, befremdet zum Schluss vollends, und zwar so stark, dass man sich gerne zu Montaigne zurückwendet. „Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten“, zitiert Safranski diesen an einer Stelle, „ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen“ – und liefert damit eine formidable Überleitung zu Anne Dufourmantelles „Verteidigung des Geheimnisses“. Von der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin, Jahrgang 1964, war zu-

letzt „Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse“ (2018) erschienen. Sie starb 2017 bei dem Versuch, zwei Kinder vor dem Ertrinken zu retten – und stand so mit ihrem Leben für ihre Philosophie ein. Dass Dufourmantelle sich nach ihrer Promoti-

on im Fach Philosophie der Psychoanalyse zuwandte, hieß für sie, „sich auf die Seite des Geheimnisses zu begeben. Sich für das Halbdunkel zu entscheiden, für eine heimliche Reise in die Stille, für immer Migrant zu bleiben.“ In der Kindheit bedeute das Geheimnis eine Quelle des Schöpferischen, von Freiheit und Freude, meint Dufourmantelle, und genau deswegen hege unsere Zeit eine „regelrechte Aversion“ gegen diese Reserve. Dufourmantelle liegt es fern, das Geheimnis zu verklären oder sein toxisches Potenzial zu verschleiern. Lebenslügen und verschwiegene Familiengeschichten behindern, das belegt die Psychoanalytikerin auch anhand von Fallbeispielen aus der eigenen Praxis, die persönliche Entwicklung und gehören damit zu den Hauptthemen einer Therapie. Wer ein Geheimnis hat, behält etwas für sich, aber ist nicht allein. „In gewissem Sinn ist man bei einem Geheimnis immer zu dritt: der Hüter, der Zeuge, der Ausgeschlossene. Diese wesensmäßige Dreiheit kann sich jederzeit entzünden, in Eifersucht, in Machtkämpfen.“ Die ersten Gedanken und Handlungen, die ein Kind nicht mit seinen Bezugspersonen teile, seien aber „entscheidende Wegmarken zu seiner Individuation“. Das Verhältnis zum Geheimnis definiert somit die Beziehung zu anderen Menschen, besonders Liebespartnern. „Wer die Lüste eines Menschen kennt, kommt seinem Geheimnis sehr nahe, der verfügt über die Macht, ihn zu beglücken und zu verwunden.“ Auf der anderen Seite gelte: „Alles über den anderen wissen zu wollen ist eine Krankheit, die zum langsamen Tod dessen führt, was man am meisten beschützen will. Ohne Phantasma ist keine Liebe von Dauer.“ Die Konsumgesellschaft verlange maximale Transparenz, um aus dem Menschen einen perfekt funktionierenden, das heißt

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Einzeln sein bedeutet, dass man zwar immer irgendwo dazugehört, doch auch imstande ist, für sich allein stehen zu können, ohne seine Identität nur in einer Gruppe zu suchen oder seine Probleme nur auf die Gesellschaft abzuwälzen RÜDIGER SAFRANSKI

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steuerbaren Organismus zu machen. „Warum soll man keine Geheimnisse haben wollen? Um vor sich selbst zu verbergen, dass man kein Leben zu führen vermag, das welche hervorbringt – ein freies Leben?“, fragt Dufourmantelle. Transparenz, betont sie, sei nicht gleichbedeutend mit Wahrheit, denn es komme darauf an, wer die Daten interpretiere. In einer Demokratie führe die Forderung nach totaler Offenlegung des Geschäfts der Macht zu einem Dilemma. Um die an die Politiker delegierte Macht „unvoreingenommen ausüben zu können, dürfen die Gewählten nichts zu verbergen haben. Dabei weiß jeder, dass eine transparente Politik unmöglich ist, weil Macht zu ihrer Ausübung das Geheimnis pflegt.“ Sonst – könnte man hinzufügen – würden Demokratien auch nicht des Korrektivs des (Aufdeckungs-)Journalismus bedürfen. Die Wissenschaft, stellt Dufourmantelle fest, ohne diesen Umstand bewerten zu wollen, mache aus dem Mysterium des Lebens und des Menschen ein zu lösendes Rätsel, und heute komme ihr eine Autorität zu wie einst nur der Philosophie und der Religion. Dufourmantelle ist nicht darauf aus, solche Widersprüche aufzulösen. Dem Geheimnis auf der Spur zu sein bedeutet für sie auch, es stehen zu lassen. Das Geheimnis gehört für sie ins Reich der Äs-

thetik, dem auch nach dem Ende der Kindheit die Macht des Kreativen innewohnt. Dufourmantelle befürchtet, dass wir am „Beginn einer kleinen Eiszeit“ stünden, „einer Zeit steter und unmerklicher Anästhetisierung. Die Freizeit ist durchorganisiert und die Meinungen sind gesteuert, denn es soll bloß keine Überraschungen, Fehltritte oder größere Veränderungen geben.“ Die andere Seite der Medaille bildet ein „grassierender Verschwörungswahn“, eine paranoide Gesellschaft, die überall Geheimnisse sieht, auch dort, wo keine sind. Dufourmantelles kluge und nachdenklich machende „Verteidigung des Geheimnisses“ als Antiaufklärung lesen zu wollen, wäre verfehlt. „Nicht alles wissen zu wollen heißt nicht, nicht wissen zu wollen“, betont sie, sondern nur, nicht alles wissen zu müssen. F


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