Bücher-Herbst 2021

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FALTER

Nr. 42a/21

Bücher-Herbst 2021 91 Bücher auf 56 Seiten

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

Belletristik: Bücher zum Thema Rassismus +++ Literatur aus Österreich +++ Biografische Romane +++ Weltgeschichte: Mussolini und Stalingrad +++ Kinderbuch: Reiche Ernte vom Bilder- bis zum Jugendbuch Sachbuch: Das Ich und die anderen +++ Debattenkultur +++ Srebrenica verstehen +++ Jede Menge Geschichte und Natur

Falter Zeitschrift en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2823/2021


INHALT Klaus Nüchtern ist für die schöne Literatur zuständig

Kirstin Breitenfellner betreut das Sachbuch und das Kinderbuch

Belletristik

Sachbücher

Dieser Bücherherbst wird düster! Eine Vergangenheit voller Traumata will nicht ruhen, die 90er-Jahre wollen nicht vergehen, der Rassismus erhebt sein schmutziges Haupt, der Nazi hat immer Saison, und Flaubert war auch meistens muffig. Zum Drüberstreuen gibt’s Grabreden

Die Pandemiepolitik hat das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft verändert. Grund, darüber nachzudenken. Weitere Themen: Raubkunst, die Provinz, Sprache und Schrift, Sensibilität und Resilienz, Biografien, Autobiografien und ganz viel Geschichte. Lesestoff für kalte Abende!

LITER ATUR

KINDERBUCH

AUFMACHER Das Thema Rassismus hat unschöne Konjunktur, wie Neuerscheinungen und Wiederveröffentlichungen zeigen. Sigrid Löffler stellt fünf von ihnen vor .................................

Bilderbücher Stottern, Schatten, Liebemachen, Gefühle und ein Bonsaipottwal . 27

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IN ENGLISH, PLEASE Der Country-Noir „Herren der Lage“ von Castle Freeman ............ 7 Elizabeth Wetmore „Wir sind dieser Staub“ .............................. 8 Mit „Every“ setzt Dave Eggers seine Dystopie „Circle“ fort............ 8 Aleksandar Hemon legt einen Doppelroman vor ....................... 9 „Camondo“, ein Briefroman von Edmund de Waal .................. 10 Gewohnt abgründig: „Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye ..... 10 Um Mobbing, Armut und Sexismus geht’s bei Mieko Kawakami 11 László Krasznahorkai und die Apokalypse nach J. S. Bach ..... 12 AUS HEIMISCHEM ANBAU ........................................................ Eine Begegnung mit dem Wiener Schriftsteller Gábor Fónyad .... 13 Vorlesungen von Marlene Streeruwitz ................................. 14 Didi Drobna über die NS-Zeit: „Was bei uns bleibt“ .................... 14 Und noch einmal Drittes Reich: Roman von Alois Hotschnig .... 15 Bernhard Strobel erzählt „Nach den Gespenstern“ .................. 16 Constanze Scheibs Krimi „Der Würger von Hietzing“ ............ 16 Ilse Aichinger und ihr „Aufruf zum Mißtrauen“ ........................ 17 „Die verschissene Zeit“ von Barbi Marković ............................ 18 Grabreden von Walter Müller und Stefan Slupetzky .................... 19 UNSERE DEUTSCHEN FREUNDE „Kleinstadtfarben“, der neue Roman von Martin Becker .......... 20 Edgar Selge debütiert mit einem Vaterbuch ............................. 20 In den labyrinthischen Welten von Georg Klein ....................... 21 WELTGESCHICHTE, WELTLITERATUR, BIOGRAFIE .................. Der Monumentalroman „Stalingrad“ von David Grossman ........ 22 Antonio Scurati legt Teil 2 seiner Mussolini-Trilogie vor .... 23 Klaus Pohl würdigt Peter Zadek mit einem Theaterroman.......... 24 „Mr. Wilder & ich“, ein Kino-Roman von Jonathan Coe ............ 24 Colm Tóibín durchwühlt die Wäsche von Thomas Mann ............ 26 Gustave Flaubert würde demnächst seinen 200. Geburtstag feiern − eine Publikationsoffensive ............................................ 27

Kinderbücher Biber, Haie und die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre ............ 30 Jugendbücher Klebt an Schokolade Blut? Wie überlebt man in Südafrika? ............ 31

SACHBUCH Philosophie Rüdiger Safranski und Anne Dufourmantelle reflektieren das Verhältnis des Ichs zu den anderen .................................. 32 Sprachen Zwei Neuerscheinungen zu Schriften und den zwanzig wichtigsten Sprachen ............................................................... 34 Kunstgeschichte Eine kolossale Monografie über Michelangelo .. 35 Debattenkultur Svenja Flaßpöhler und Lukas Meschik wünschen sich mehr Besonnenheit im Diskurs .................................................... 36 Soziologie Wie kann man über den Lockdown erzählen? ........... 37 Medien Infokratie und die Datenkrake Facebook ...................... 38 Philosophie Fulminante Gruppenbiografie des Wiener Kreises .. 39 Zeitgeschichte Drei Familienautobiografien aus Wien .............. 40 Mediengeschichte Napoleon war der erste Influencer ............. 42 Kunstraub Sophie Schönberger reflektiert die Rückgabe von Kunstgütern und die Motive dahinter ........................................ 42 Zeitgeschichte Bogumil Balkansky versucht, das Massaker von Srebrenica zu verstehen ........................................................... 43 Geschichte Deutsche Geschichte zwischen Selbstfindung und Selbstreflexion ........................................................................ 44 Wissenschaftsgeschichte Christiaan Huygens war ein Pionier der Naturwissenschaften und gehört endlich gewürdigt ..................... 45 Medizingeschichte Seuchenpolitik und Händewaschen .......... 46 Wissenschaftsgeschichte Vom Messen und den Maßen ......... 47 Biologie Die Weisheit der Pflanzen und indigener Kulturen ........ 48 Naturkunde Der 16-jährige Dara McAnulty ist ein Shootingstar .. 49 Geschichte Kolonisierung und Missionierung liefen parallel ...... 49 Soziologie Eine Ehrenrettung der Provinz ................................ 50 Architektur Das Manhattan der Alpen: Bad Gastein im Porträt .... 50 Biologie Die Welt der Mikroben und das Prinzip des Lebens........ 51 Klimawandel Vier neue Bücher über die Erderwärmung ............ 52 Kochen So schmeckt der Herbst! ............................................ 53

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Eva Menasse

Denis Scheck

Doris Knecht

Michael Köhlmeier

Christoph Ransmayr

László Krasznahorkai

Tomer Gardi

f Out ot n i Jo

Doron Rabinovici

Marlene Streeruwitz

Günter Eichberger

Andrea Scrima

Konrad Paul Liessmann

Com togethee Georg r

Seeßlen

Max Czollek Austrofred

he Unru ren h a bew

Ulrike Haidacher

Barbi Marković

Alida Bremer

Veit Heinichen

f Best ok i r Ly

Herbert J. Wimmer

Stephan Roiss

Florian Klenk

Ferdinand Schmalz

Angela Lehner

Franz Solar

Ivan Ivanji

Elisabeth Bronfen

Illustrationen

I M PR E S S U M

Erika

Monika Pluhar Helfer

Lisa Elsässer

Falter 42a/21 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Klaus Nüchtern Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl, Andreas Rosenthal; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh, Rainer Sigl; Geschäftsführung: Siegmar Schlager; Anzeigenleitung: Sigrid Johler Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar Bücher-Herbst ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.

Florian Neuner

Jonathan Coe

Nora Zapf

PM Hoffmann, Jahrgang 1968, hat Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften studiert, sich aber dann doch für die Kunst entschieden und arbeitet als Illustrator und Comiczeichner – unter anderem für die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und den Courrier International. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig.

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Marica Bodrožić

Raphaela Litera rische Edelbauer

Soiree

Miljenko Jergović

Leo Pinke

Peter Henisch Sabine Schönfellner

Astrid Wintersberger

Sabine Scholl Margret Kreidl

Scienc mee e Poetrtys Alex Peer

Rike Scheffler

Manon Bauer

Herbst/Winter 2021


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m liebsten würden sie aus der Haut fahren. Die Figuren in zahlreichen neuen Herbst-Büchern hadern mit ihrer schwarzen Hautfarbe, die sie in einer Welt der Weißen als anders, fremd, nicht zugehörig ausgrenzt und stigmatisiert. Sie stechen überall heraus, und darunter leiden sie. Wie die Schülerin Emma Lou im Roman „The Blacker the Berry“ von Wallace Thurman, die sich als einzige Schwarze in einer Mädchenklasse bei der Abschlussfeier an ihrer Highschool peinlich unerwünscht und fehl am Platz vorkommt, weil sie „unübersehbar aus dem Rahmen fiel“. Oder wie der Ich-Erzähler in Frank B. Wildersons Afropessimismus“, der sich erinnert „wie mich in der ersten Klasse ein kleines Mädchen geschmäht hatte, das meine Hand nicht halten wollte aus Angst, dass der Ruß meiner Haut sie beflecken könnte“. Auf solche frühen Kränkungen folgt zuerst der kindliche Wunsch – könnte man sich doch der Umwelt angleichen und die schwarze Maske vom Gesicht reißen! – und später dann das Nachdenken über den eigenen Platz als Schwarze in einer weiß dominierten Welt. Und davon handeln im Gefolge der „Black Lives Matter“-Bewegung etliche neue Romane und Lebenserinnerungen aus England und den USA. Sie beschreiben das Ringen um ein menschenwürdiges Framing. Es sind Versuche, die eigene Würde und Selbstachtung zurückzugewinnen angesichts der rassistischen Abwertung, die Schwarzen in einer weißen Umwelt nach wie vor entgegenschlagen.

LITER ATUR

Ohne Weiß kein Schwarz Fünf Bücher zwischen Romanfiktion, Theorie und Lebenserzählung belegen die erschreckende Kontinuität von Rassismus in den USA und England

Allen Reflexionen über Rassismus in diesen

Werken liegt unausgesprochen Frantz Fanons Theorieklassiker „Schwarze Haut, weiße Masken“ von 1952 zugrunde und die Erkenntnis, dass es in einer Welt der Weißen deren Blick ist, der dekretiert, dass Menschen mit schwarzer Haut herabgewürdigt werden: Sie sollen sich hässlich und minderwertig fühlen. Es ist die weiße Gesellschaft, die Blackness konstruiert und damit die Schwarzen in ihrer Epidermis einschließt. Grundthema der hier vorgestell-

ROMANRUNDGANG: SIGRID LÖFFLER ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

ten Bücher ist die unterschiedliche Reaktion ihrer Protagonistinnen und Protagonisten auf solche Zuschreibungen, ist die Frage, ob sie die Kultur der Weißen imitieren und die eigenen Selbstbilder deren Normen angleichen oder ob sie sich selbstbewusst dagegen auflehnen und stolz die Andersheit ihrer dunkel pigmentierten Haut betonen, indem sie Bilder schwarzer Schönheit entwerfen. Und noch eines eint alle besprochenen Bücher: Ihre Protagonisten weisen das Konstrukt einer homogenen schwarzen Gruppenidentität zurück und beharren darauf, als Individuen wahrgenommen und respektiert zu werden. Wie sehr Schwarze sich von ihrer Hautfarbe ge-

peinigt fühlten, darum geht es in zwei literarische Wiederentdeckungen aus dem Umfeld der „Harlem Renaissance“, also der afroamerikanischen Identitätsbewegung im New York der 1920er-Jahre. Wallace Thurmans schon eingangs erwähnter Roman „The Blacker the Berry“ von 1929 gilt geradezu als Harlem-Renaissance-Klassiker. Er erzählt von der jungen Emma Lou, die sich in ihrer Heimatstadt in Idaho so sehr verachtet fühlt, dass sie ihre Haut mit Bleichsalben und Schälkuren malträtiert: „Was sie brauchte, war ein wirksames Bleichmittel, eine magische Creme, die ihr die unerwünschte schwarze Maske vom Gesicht nahm und es den anderen anglich.“ Vor dem weißen Rassismus flüchtet sie an ein College im liberaleren Kalifornien – nur um dort den Rassismus versnobter, weil etwas heller pigmentierter Kommilitonen kennenzulernen, die der „Hottentottin“ stillschweigend den Zugang zu ihren exklusiven Partys und Clubs verwehren. Beinahe verzweifelt Emma Lou an der „Tragik ihres Lebens: Ein so schwarzes Mädchen wie sie konnte niemals ihr Lebensglück finden.“ Als sie ins New Yorker Schwarzenviertel Harlem kommt, das als utopische Wohlfühloase schwarzer Musiker und Künstler gilt, hofft die Heldin, dort auch für sich endlich kulturelle und soziale Inklusion zu finden.


LITER ATUR

Von wegen! Die soziale Hierarchie in Harlem wird einzig von den Nuancen der Hautfarbe bestimmt, und darin zeigen sich Schwarze untereinander womöglich noch erbarmungsloser als weiße Rassisten, gemäß dem Motto: „Selbst der Dunkelhäutigste sucht sich jemanden, der noch schwärzer ist als er selbst, damit er sich über ihn lustig machen kann.“ Und Persons of Color aus der Karibik werden ohnedies pauschal von allen Schwarzen verachtet. Emma Lou findet sich am untersten Ende dieser Hierarchie. Mit der „Kohlenschütte“, dem „Tintenfleck“ mag keiner tanzen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Heldin selbst diese soziale Klassenskala Wallace verinnerlicht hat. Wie besessen erstellt sie Thurmans Roman feinststufige Ranglisten von Farbnuancen „The Blacker the schwarzer Haut und bewertet sich und ihre Umwelt danach. Während sie immer tie- Berry“ beschreibt, fer in Selbstverachtung versinkt, schwelgt wie im Harlem sie selbst in rassistischen Vorurteilen gegen der 1920er-Jahre andere. Sie favorisiert schlanke, hellbraune Männer, auch wenn diese sich als Tau- die soziale genichtse und Schmarotzer erweisen. Im- Hierarchie einzig merhin verordnet der Autor seiner Heldin eine Lernkurve: Am Ende gelangt sie zu von der Nuance der Einsicht, „sich selbst so zu akzeptie- der Hautfarbe ren, wie sie war“. bestimmt wird

»

Ebenfalls im Jahr 1929 erstmals erschienen ist

der jetzt wieder aufgelegte Roman „Seitenwechsel“ von Nella Larsen, Tochter einer Dänin und eines schwarzen Physikers. Larsen treibt das Problem des amerikanischen Rassismus in der Romangestalt einer FakeWeißen auf eine paradoxe Spitze. Ihr Roman spielt im Milieu einer neu entstehenden schwarzen Mittelschicht in New York, die hellhäutig genug ist, um von der weißen Umwelt geduldet zu werden. Protagonistin von „Seitenwechsel“ ist eine Überläuferin, eine schwarze Abenteurerin, der es gelingt, die Seiten zu wechseln und als Weiße durchzugehen. Gleichwohl riskiert sie, jeden Augenblick aufzufliegen, zumal sie einen weißen Rassisten geheiratet hat, der sie mit seinen permanenten Hassreden gegen Schwarze unwissentlich

beleidigt. Ihre Identitätsverleugnung lässt sie zwischen schwarzen und weißen Welten haltlos vagabundieren. Das schmerzliche Gefühl der Entwurzelung treibt auch sie nach Harlem, wo sie als weiße Besucherin auftritt, aber insgeheim die schwarze Komfortzone unter ihresgleichen genießen will. Ein gefährliches Spiel, das der TarnkappenWeißen letztlich nicht gut bekommt. Und ein knappes Jahrhundert später? Mit dem

ersten schwarzen Präsidenten im Weißen Haus schien die systemische Rassenungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft endgültig überwunden und der historische Sieg über den strukturellen Rassismus besiegelt. Heute kann eine schwarze US-Autorin wie Yaa Gyasi, Tochter von Zuwanderern aus Ghana, in ihrem neuen Roman „Ein erhabenes Königreich“ immerhin glaubhaft eine schwarze, an der Stanford University studierende Elite-Doktorandin der Neurowissenschaft zu ihrer Romanheldin machen. Im Labor, wo sie über das Suchtverhalten von Mäusen forscht, ist die junge Frau allerdings immer noch die einzige Schwarze. In ständiger Konkurrenz mit ihren durchwegs weißen und männlichen Kollegen ringt sie sich selbst Spitzenleistungen ab, weiß sie doch, „dass ich immer etwas würde beweisen müssen und dass nichts außer bestechender Brillanz ausreichen würde, um es zu beweisen“. Eine schwarze Erfolgsgeschichte also? Einerseits gewiss, zumal Yaa Gyasi gemeinsam mit Chimamanda Adichie und Amanda Gorman zur gefeierten Garde hochbezahlter afroamerikanischer Starautorinnen zählt, spektakuläre und königlich selbstbewusste junge Frauen allesamt. Im Hintergrund des Romans rumort allerdings weiterhin die Schmerzensklage über rassistische Diskriminierung, besonders in den Südstaaten der USA. Der Roman legt sein Hauptaugenmerk auf die Leidenserfahrungen einer aus Ghana zugewanderten Familie in Alabama. Aus der Perspektive der erfolgreichen Tochter, die das

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vielfältige Unglück der restlichen Familie in Rückblicken rekapituliert, wirkt die Kontinuität der strukturellen Benachteiligung von Schwarzen erst recht fatal. Um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, schuftet die Mutter von früh bis spät als häusliche Pflegerin und muss sich von ihren weißen Patienten auch noch beschimpfen lassen. Auch die weiße Pfingstgemeinde, der sich die Familie als einzige Schwarze anschließt, kann ihre rassistischen Vorurteile kaum verbergen. Noch ärger setzen die alltäglichen Feindseligkeiten dem Vater zu, der sich in der Öffentlichkeit immer klein zu machen versucht und dennoch im Supermarkt in vier Monaten dreimal des Diebstahls bezichtigt wird. Gedemütigt und heimwehkrank gibt er auf, verlässt er die Familie und kehrt nach Ghana zurück. Ein noch größeres Unglück trifft die Restfamilie, als sich der Sohn, ein begabter Nachwuchssportler, beim Basketballspiel verletzt, von dem leichtfertig verschriebenen Schmerzmittel abhängig wird und schließlich an einer Überdosis stirbt. Sein Tod zerrüttet die Mutter, die in eine schwere Depression stürzt. Auf das Gelingen von Integration, Inklusion und Chancengleichheit der US-Schwarzen macht der Roman dem glanzvollen Aufstieg der Ich-Erzählerin zum Trotz wenig Hoffnung. Wie berechtigt solche Zweifel sind, zeigt der ve-

hemente Backlash eines gewalttätigen Anti-Schwarzen-Rassismus seit dem Ende der Obama-Präsidentschaft. Die Reaktion der Betroffenen darauf ist neuerdings am Kampfbegriff „Afropessimismus“ abzulesen, der im Zuge der Proteste nach dem Mord an George Floyd etabliert wurde. Unter diesen Titel stellt Frank B. Wilderson III, Professor für afroamerikanische Studien an der kalifornischen Universität in Irvine, sein jüngstes Werk, das den Blick der Schwarzen auf die Rassenkämpfe in den USA radikalisiert. Fortsetzung nächste Seite


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Fortsetzung von Seite 5

Das Buch, eine hybride Mischung aus Lebenserinnerungen und kritischer Theorie, ist eine radikale Absage an jede Hoffnung darauf, dass die Entwürdigung der Schwarzen in den USA durch politische Reformen überwunden werden könnte. Die Sklaverei wirke in den Köpfen fort, denn, so Wildersons These, diese Diskriminierung habe eine systemerhaltende Funktion in einer Gesellschaft, die sich dadurch stabilisiert, dass sie Schwarze als soziale Subjekte negiert und aus der Kultur ausschließt. Diesseits des Atlantiks wird das Thema Ras-

sismus in einem anderen Ton verhandelt als in Wildersons extremer Begrifflichkeit. Und doch sind die Erzählungen über die diversen Rassismen im britischen Empire, nicht minder schonungslos. Jüngstes Beispiel: Der Roman „Der Geist von Tiger Bay“ von Nadifa Mohamed, die als Kind mit ihren Eltern aus Somaliland ins Exil nach London floh, in Oxford studierte und in ihren bisher drei Romanen das Schicksal realer Menschen aus Somalia zum Thema macht, indem sie deren Geschichten auf Basis von Recherchen, Archivarbeit und journalistischen Interviews in literarische Lebenserzählungen transformiert, bei denen die Grenze zwischen Fakten und Fiktion verschwinden. In ihrem jüngsten Roman greift Mohamed einen historischen Fall von tödlichem britischem Rassismus auf, der sich in einem Satz faktisch zusammenfassen lässt: Am 3. September 1952 wurde Mahmood Mattan, ein arbeitsloser junger Seemann aus Somalia, in Cardiff für einen Mord hin-

Anna Baar Nil Wallstein Verlag

Raphaela Edelbauer Dave Klett-Cotta Verlag

Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. DuMont, 302 S., € 22,–

Nella Larsen: Seitenwechsel. Roman. Aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen. Nachwort von Fridtjof Küchemann. Dörlemann, 224 S., € 19,–

Nadifa Mohamed: Der Geist von Tiger Bay. Roman. Aus dem Englischen von Susann Urban. C. H. Beck, 368 S., € 24,–

gerichtet, den er nicht begangen hatte. Er wurde das Opfer fabrizierter Beweise und schludriger Ermittlungsarbeit rassistischer Polizisten, Opfer der Falschaussagen von Belastungszeugen, der Voreingenommenheit von weißen Richtern und Geschworenen gegenüber einem farbigen Zuwanderer, der nur schlecht Englisch sprach und kaum lesen und schreiben konnte. Vor allem aber wurde Mattan das Opfer seines eigenen naiven Glaubens an die berühmte Fairness des britischen Justizsystems, das, so nahm er an, seine Unschuld in diesem Falle schon erkennen würde. Mattan war ein Herumtreiber, Spieler und kleiner Ganove – aber er war kein Mörder. In Tiger Bay, dem multiethnischen Hafenviertel von Cardiff, wo arme Schlucker aus aller Welt hausten, die die Briten als Ar-

Frank B. Wilderson III: Afropessimismus. Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm. Matthes & Seitz, 416 S., € 28,–

beiterarmee rekrutiert hatten, „um die Tausenden im Krieg gefallenen Seeleute und Hafenarbeiter zu ersetzen“, war rassistische Gewalt an der Tagesordnung. Mattan musste lernen, sich unsichtbar zu ma-

chen, wenn er dort überleben wollte. Die Leute nannten ihn den Geist von Tiger Bay, doch seine ganze Vorsicht nützte ihm letztlich nichts. Mahmoud Mattan war der letzte Mensch, der in Cardiff gehängt wurde, und sein Todesurteil war ein furchtbarer Justizirrtum – der erste, der von einem britischen Gericht korrigiert wurde. 46 Jahre nach der Hinrichtung wurde das Urteil aufgehoben. Zur Wiedergutmachung wurde seiner hinterbliebenen Familie eine Geldsumme zugesprochen. Ein Fortschritt. Immerhin. F

Daniela Chana Neun seltsame Frauen Limbus Verlag

Olga Flor Morituri Jung und Jung Verlag

Wallace Thurman: The Blacker the Berry. Roman. Aus dem Amerikanischen von Heddi Feilhauer und mit einem Nachwort von Karl Bruckmaier. ebersbach & simon, 221 S., € 22,–

Die Shortlist. Ferdinand Schmalz Mein Lieblingstier heißt Winter S. Fischer Verlag

Die idung c s Ent he fällt am ! ber 8. Novem Shortlist Debüt

Anna Albinus Revolver Christi Edition.foto TAPETA

Shortlist Debüt

Anna Felnhofer Schnittbild Luftschacht Verlag

Shortlist Debüt

Clemens Bruno Gatzmaga Jacob träumt nicht mehr Verlag Karl Rauch

oesterreichischer-buchpreis.at | facebook.com/oesterreichischerbuchpreis/

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Ein Hinterwäldler mit Sheriffstern Mit „Herren der Lage“ setzt Castle Freeman die Country-Noir-Serie um Sheriff Wing auf souveräne Weise fort

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as Genre nennt sich „Country Noir“. Aber ist das nicht nur ein weiteres Werbelabel für amerikanische Regionalkrimis? Ein bisschen mehr ist es schon. Die Wurzeln dieses Subgenres reichen zurück bis zur „Southern Gothic“ eines William Faulkner, gefolgt vom frühen Cormac McCarthy. Jim Thompsons zynisch-nihilistischer „Pop. 1280“ zählt ebenso dazu wie die Louisiana-Romane eines James Lee Burke oder Joe Lansdales Burlesken aus den texanischen Badlands. Auch in Europa bekannt ist Daniel Woodrell: Die Verfilmung seines „Winter’s Bone“ machte Jennifer Lawrence zum Star. Mit unseren oft unaushaltbar „lieben“ Regionalkrimis haben diese Bücher nichts zu tun, schon mehr mit den Mörderballaden eines Johnny Cash oder Nick Cave. Ihre Schauplätze sind die verarmten Counties des „American Heartland“. In diesem vom Neoliberalismus ökonomisch abgehängten Hinterhof der USA ist der amerikanische Traum für den „White Trash“ in idyllischer Landschaft längst vorbei. Als Protagonisten dieser Bücher erleben wir misstrauische, verbitterte und oft böse Verlierer, deren Leben von Arbeitslosigkeit, Armut und Kleinkriminalität geprägt ist. Sie schmuggeln, stehlen, konsumieren und verkaufen ihr Metamphetamin oder schwarz gebrannten Schnaps. Einig sind sie sich im Hass und in der Verachtung gegenüber den reichen Städtern in ihren schicken Wochenendhäusern.

Foto: © Leonhard Hilzensauer/Zsolnay

Die Grenze zwischen Gut und Böse bleibt in diesen Romanen meist so unscharf wie im klassischen Film Noir. Die Leitdifferenz lautet „us vs. them“. Zwar wissen die „Eingeborenen“, dass sie im offenen Kampf gegen die großkopferten Reichen aus der Stadt keine Chance haben, aber sie erweisen sich als Meister des passiven Widerstandes: „In der Stadt sind sie große Nummern und sie denken, das heißt, dass sie hier oben auch etwas zu bestimmen haben.

Castle Freeman: Herren der Lage. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 192 S., € 20,95

[…] Wir können sie nicht wegschicken, und wir können sie nicht ändern. Aber wir können sie warten lassen.“ In der ländlichen Community kennt jeder die ebenso ungeschriebenen wie unveränderlichen Regeln. Das erste Gebot lautet: Wir lassen uns von denen gar nichts sagen! Es ist die Grundhaltung einer resignierten, passiv-aggressiven Parallelgesellschaft, die jeder als Fortschritt gepriesenen Veränderung misstrauisch gegenübersteht. So auch in Vermont, wo der Autor Castle Freeman seit 50 Jahren lebt: Der Bundesstaat ist bekannt für Ahornsirup, idyllische Waldlandschaften und den Langzeitsenator Bernie Sanders. In einem grünen Tal Vermonts spielen Freemans Romane mit seinen Alkis, MethHeads, kaputten Veteranen und schrulligen Alten. Sein Held Lucian Wing ist ein „Hinterwäldler mit Sheriffstern“. Dessen „Sheriffing“ ist eine Mischung von Deeskalation, Beobachtung und gelassener NichtIntervention: „Some people do nothing, others do nothing too, but in the right way …“ Freeman selbst beschrieb seinen Helden als „Proponenten des weichen Pfades“, aber auch als xenophoben Reaktionär. Die eingeschworene Gemeinschaft, die so genau weiß, wie sie funktioniert, muss sich gegen neue Eindringlinge wehren. Eine Luxuslimousine mit Chauffeur bringt einen Neuankömmling ins Tal. Ein schmieriger Rechtsanwalt stellt sich als Beauftragter des Milliardärs Rex Lord vor, der in großer Sorge ist, weil seine Stieftochter gemeinsam mit einem jungen Mann aus diesem Tal in Vermont aus ihrer Privatschule verschwunden sei. Sie müsse unbedingt schnell gefunden werden! Mr. Lord werde sich erkenntlich zeigen … Der Sheriff reagiert misstrauisch: erstens prinzipiell (Auswärtige!) und zweitens, weil ihn der Kerl so herablassend behandelt. Er findet das junge Paar mühelos, aber er denkt gar nicht daran, sie Mr. Lords Männern auszuliefern – weil das Mädchen

das nicht will. Die Häscher des Milliardärs aber begeben sich ebenfalls auf die Suche und sie schießen sofort. Dem Sheriff und seinen Kumpanen bleibt nichts anderes übrig, als Romeo und Julia von einem Versteck zum anderen und vor ihren Verfolgern in Schutz zu bringen. Das gibt Gelegenheit für Kurzauftritte der loka-

len Originale. Der Schwiegervater des Sheriffs kennt als reicher, versoffener Anwalt auch die Welt draußen, und Wings uralter Amtsvorgänger balanciert zwischen Demenz und Altersweisheit. Des Weiteren treten auf: eine pensionierte Lehrerin, ein cooler Deputy und ein riesiger wilder Eber, der wie eine Naturgewalt durch die Szenerie tobt. Aber der Sheriff und seine Helfer hätten keine Chance, das junge Paar vor den Killern zu bewahren, wenn nicht im skurrilen Showdown … Aber lesen Sie selbst! Wie sein Protagonist beherrscht auch der Autor den Tempowechsel meisterhaft. Aus dem ländlich-entspannten Idyll beschleunigt er plötzlich innerhalb weniger Sätze bis zur Gewaltexplosion. Die Sprache ist trocken, die Sätze sind meist kurz. Die ruhige Melancholie der Erzählung wird gemildert durch schrägen Humor. „Herren der Lage“ ist Freemans dritter Wing-Roman. Die beiden Vorgänger wurden im Feuilleton vom Guardian über die deutsche Zeit und FAZ als präzise Sozialstudien abgefeiert. Zu Recht wird das Buch vom Verlag nicht als Krimi beworben. Die Übersetzung von Dirk Van Gunsteren kann den Sound des lakonischen Originals weitgehend erhalten. Und im Unterschied zu vielen überlangen pseudo-epischen Krimis braucht Freeman keine 200 Seiten. Dann kann sich sein Sheriff wieder entspannt zurücklehnen, wir können weiterfantasieren vom ruhigen Tal in Vermont. Verfilmung bitte unbedingt von den Coen-Brüdern mit Josef Hader in der Hauptrolle. R AINER GROSS

Ich liebe meinen Kanzler! »Das Buch zerlegt eine Szene, in der Politik als Lifestyle- und Narzissmus-Accessoire funktioniert. Höchstes Niveau!« Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung

256 Seiten. Gebunden Auch als E-Book. zsolnay.at


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Odessa liegt in Texas Elizabeth Wetmores „Wir sind dieser Staub“ erzählt vom Überlebenskampf wehrhafter Frauen in einer kleinen Grenzstadt as allseits bekannte Odessa ist eine Millionenstadt in der Ukraine; das D Odessa dieses Romans ist eine ungleich

kleinere Stadt im Westen von Texas. Sie befindet sich in einer ölreichen Region, die als Permian Basin bekannt ist. Ein trostloses Land, flach wie eine Flunder. Die Menschen hier leben vom Öl und der Viehzucht. Elizabeth Wetmore, die Autorin von „Wir sind dieser Staub“, ist in Odessa aufgewachsen, heute lebt sie in Chicago. Zu ihrer Heimatstadt hat sie ein äußerst ambivalentes Verhältnis, wie sie voriges Jahr in einem Essay zur Entstehung des Buches klarmachte. Aber hey, es geht um Texas, wer kann dieses Land schon bedingungslos lieben? Man denke nur an das aktuelle Abtreibungsgesetz. Der Kulturkritiker Georg Seeßlen hat einmal

festgestellt, der Western sei eine „universale Metapher vom Suchen und Verfehlen von Heimat“. Das lässt sich gut auf Wetmore übertragen – ihr Roman, erschienen 2020 unter dem Titel „Valentine“, kann wohl auch als Aussöhnungsversuch mit einer Stadt verstanden werden, in der Männer (Schlangenlederboots, Stetson) das Sagen haben, Frauen von klein auf lernen, dass sie Männer anzufeuern haben (Cheerleader), sowie Mexikanerinnen und Mexikaner als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. In Odessa also fliegen einem nicht nur mit-

unter die Bohrtürme um die Ohren, auch das über der Stadt liegende Gemisch aus Chauvinismus und Rassismus ist, so wie Wetmore es beschreibt, hochexplosiv. Wie soll man hier Heimat finden? Zumindest ein Perspektivenwechsel kann ein wenig Hoffnung geben. Ist der Westernroman, bei dem Wetmore Anleihen nimmt, traditionell eine männliche Angelegenheit, wird hier der Fokus auf eine Handvoll Frauen und ihre Solidarität untereinander gerichtet. Wir schreiben das Jahr 1976, es ist Valentinstag, die 14-jährige Gloria Ramírez, ein mexikanisches Mädchen, wird von einem Redneck brutal vergewaltigt. Das erste Kapitel also ist ein Frontalangriff auf die Leserin, die Richtung scheint klar: Justizdrama oder Rachekrimi – wird der Täter einer gerechten Strafe zugeführt? Doch dann nimmt Wetmore Dampf und Tempo raus, setzt nach der drastischen Einstiegsszene gewissermaßen eine Zäsur und beginnt von den Leben ganz unterschiedlicher Frauen zu erzählen, deren Wege sich infolge des Verbrechens kreuzen werden. Dass Wetmore die unmittelbar hochgefahrene Spannungskurve abflachen lässt, mag irritieren. Doch es schafft Raum für die behutsame Entwicklung weiblicher Biografien, die nicht nur vor dem Hintergrund männlicher Gewalt und Dominanz, sondern auch aufgrund eigener Verfehlungen gehö-

rig ins Schlingern geraten sind. Trotz der widrigen Umstände sind die Frauen vor allem eines – immens wehrhaft. Zwar entkommen sie weder der Tragik des Verbrechens noch der ihres eigenen Lebens, dafür gelingt ihnen etwas anderes: Überleben. Mit einem hart erkämpften Quantum an Selbstbestimmtheit. Da ist etwa die ehemalige Lehrerin, die nach dem Selbstmord ihres Mannes an der Flasche hängt. Oder die von ihrer Mutter verlassene Elfjährige, die mit einem am Rande der Gesellschaft lebenden Vietnamveteranen Freundschaft schließt. Schließlich die Familienmutter, die dem mexikanischen Mädchen gleich nach der Vergewaltigung Schutz gewährt und beim Prozess aussagen möchte, sämtlichen Anfeindungen zum Trotz. Sie alle haben gröbere, zumeist von Männern

Elizabeth Wetmore: Wir sind dieser Staub. Roman. Übersetzt von Eva Bonné. Eichborn Verlag, 319 S., € 22,70

verursachte Probleme, selbst wenn diese weitgehend eher schemenhaft im Hintergrund lauern. Aber da ist schon auch Empathie für die Kerle spürbar, dafür, dass die sonnenverdorrte Landschaft und die harte Arbeit auf den Ölfeldern sie zu dem gemacht hat, was sie sind. Dafür, dass sie gefangen sind im tradierten Habitus maskuliner Härte. Nicht zuletzt deshalb ist „Wir sind dieser Staub“ ein unaufdringlich feministisches und feines Buch. TIZ SCHAFFER

Die Leute wollen das so Mit „Every“ setzt Dave Eggers seine Medien-Dystopie „The Circle“ fort: Ein Konzern kontrolliert die Menschheit Dave Eggers’ Bestseller „The Circle“ Iternerklimmt Mae Holland die Karriereleides titelgebenden IT-Konzerns. Der US-

Autor beschreibt in dem Roman die düstere Zukunftsvision einer schönen neuen Welt, in der sich die Menschen bereitwillig der Macht der Algorithmen ausliefern und alles von sich preisgeben. Sie wollen es so, weil es praktisch und bequem ist. Noch vor ein paar Jahren war das eine Dystopie, mittlerweile wurde diese von der Realität praktisch eingeholt. Zeit für einen Nachfolger. In „Every“ dreht Eggers die Schrauben noch ein paar Windungen weiter. War The Circle Google und Facebook in einem, so hat sich die mächtigste Internetfirma inzwischen auch noch Amazon einverleibt und ihren Namen in The Every geändert. Die erste Überraschung des an bösen Pointen nicht eben armen Romans ist, dass Mae Holland inzwischen zur schurkischen Chefin des Konzerns aufgestiegen ist. „Every“ treibt die totale Transparenz auf die

Spitze. Die Menschheit geht auf sogenannten Everyphones in Netz. Es werden laufend neue Apps entwickelt, die das Leben noch ein bisschen einfacher und besser machen sollen. Tatsächlich wird durch Anwendungen wie zum Beispiel „Samaritan“ (!) höchstens die Blockwartmentalität befördert. Sie dienen dazu, Menschen zu bewerten und zu beschämen.

Lässt man ungewollt eine Verpackung fallen, wird man schneller von jemandem dabei gefilmt, als man sie wieder aufheben kann. Die Missetat wird umgehend im Netz dokumentiert. „Laute Stöhner in Fitnessstudios, Vordrängler in Louvre-Warteschlangen, Benutzer von Wegwerfplastik und unbekümmerte Eltern, die ihre Kinder in der Öffentlichkeit weinen ließen“ – fast alles gilt als unerwünschtes Verhalten und kann einen den Ruf kosten. Einzig Delaney Wells tritt gegen diese Hölle der Konformität an und sinnt auf Rache. Immerhin hat die Handysucht ihr die Jugend gekostet und der E-Commerce den Bioladen ihrer Eltern zerstört. Ihr Plan besteht darin, sich als scheinbar arglose, hochmotivierte Mitarbeiterin bei Every einzuschleichen und die Arbeit des Konzerns zu sabotieren. Das kann natürlich nicht gut gehen. Am Firmencampus, wo die Beschäftigten nicht nur arbeiten und ihre Freizeit verbringen, sondern auch wohnen, trifft Delaney eine Reihe bizarrer Charaktere; die meisten von ihnen scheinen allem, was Every vorgibt, willenlos zu folgen. Als Delaney einmal einen Ausflug in die Natur organisiert, ist ihre Kollegenschaft von dem plötzlichen Übermaß an Freiheit bei fehlender Reglementierung völlig überfordert. Auch an anderer Front hat sie wenig Erfolg. Sie schlägt ihren Vorgesetzten immer

absurdere Ideen für Apps vor, um ihnen die Augen dafür zu öffnen, dass grundsätzlich etwas schiefläuft. Aber gerade von Anwendungen, die die Menschen knechten sollen, sind die Every-Leute besonders begeistert. Sogar Delaneys Hippie-Freund, der ihr anfangs von außen zuarbeitet, unterwirft sich schließlich dem Konzern. Als beißende Satire auf gegenwärtige Vernet-

Dave Eggers: Every. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, 586 S., € 25,70

zungsverhältnisse funktioniert „Every“ gut. Man erkennt beim Lesen vieles und fühlt sich bisweilen selbst ertappt. So weit, so gut. Die Konstruktion des Romans steht jedoch auf äußerst wackeligen Beinen. Statt einen Plot zu entwickeln, schickt Eggers seine Heldin einfach von einem Meeting ins nächste und hangelt sich von Cliffhanger zu Cliffhanger. Die Interaktion mit anderen Figuren bleibt meist oberflächlich und auch Delaney selbst seltsam schemenhaft, erschöpft sich ihre Funktion doch anscheinend vor allem darin, dem Autor als Sprachrohr seiner Meinung zu dienen. „Every“ stellt sich gegen Vereinheitlichung und Überwachung, will ein Plädoyer für Meinungsfreiheit und Vielfalt sein. Engagierte Literatur muss nicht per se dröge sein. Aber sie sollte schon wilder und unberechenbarer daherkommen als dieser recht eindimensional geratene Roman, der sehr wenig der Interpretation oder gar Fantasie überlässt. SEBASTIAN FASTHUBER


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Glücklich, wer Geschirr zerschlägt Aleksandar Hemon beschreibt in einem Doppelroman die Suche seiner Familie nach Heimat

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n der Mitte des Buches treffen sich die beiden Enden. Nämlich jene der Romane „Meine Eltern“ und „Alles nicht dein Eigen“. Getrennt sind sie durch einige Familienfotos. Um den jeweils anderen Text zu lesen, muss man das Buch wenden. Der 1964 in Sarajevo geborene und seit 1992 in Chicago lebende Schriftsteller Aleksandar Hemon legt ein neues Werk vor, das in Bruchstücke zerfällt. Nicht nur, weil es zwei Anfänge und zwei Enden hat. Auch jeder Roman für sich wirkt wie ein zerbrochenes Ganzes. Erst am Ende fügen sich die Einzelteile Stein um Stein ineinander. Damit wird „Meine Eltern/Alles nicht dein Eigen“ in seiner Form dem Inhalt gerecht. Es geht um Krieg und Vertreibung, Traumata und Hilflosigkeit und um die Suche nach Zugehörigkeit und Heimat. Aleksandar ist der Sohn von Andja und Petar Hemon. Andjas Familie stammt aus Bosnien, Petars Vorfahren waren Ukrainer und kamen aus Galizien sowie der Bukowina. Um das Jahr 1912 verließen sie ihre Heimat und bauten sich in Bosnien, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, eine neue Existenz auf. Die Eltern waren noch Kinder, als der Zweite Weltkrieg endete. Als sie sich kennenlernten, studierten sie beide in Belgrad. Danach lebten sie in Sarajevo. Das sozialistische Jugoslawien war nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ein Projekt, an dem sie mitarbeiten wollten.

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Der täglich konsumierte Wetterbericht erlaubt es den Eltern, mit der Zukunft in handhabbaren Dosen umzugehen

„Meine Eltern“ ist ein sehr persönlicher Text.

1991 brach der Krieg in Slowenien und Kroati-

en aus, 1992 auch in Bosnien-Herzegowina. Zu dieser Zeit befand sich Aleksandar Hemon gerade zu einem Studienaufenthalt in Chicago. Er sollte nicht mehr nachhause zurückkehren. Andja und Petar Hemon schafften es, mit dem letzten Zug Sarajevo zu verlassen. Danach schloss sich der Belagerungsring um die Stadt für mehr als 1400 Tage. Sie flüchteten nach Kanada, wo sie heute noch leben. „Meine Familie zieht einen Schweif von Heimaten hinter sich her, die für sie nur noch in Erinnerungen, Mu-

sik und Geschichten zugänglich sind. Unsere Geschichte ist die einer unstillbaren Sehnsucht nach Heimat, die wir nie haben konnten“, schreibt Hemon. In diesem Rahmen bewegen sich die vielen Kapitel, aus denen sich „Meine Eltern“ zusammensetzt. Sie sind mit „Essen“, „Musik“ oder „Katastrophe“ betitelt und erzählen davon, wie die Hemons mit dem ständig drohenden Unglück umgehen – etwa, indem die Eltern täglich den Wetterbericht schauen, von dem sie regelrecht besessen sind. „Die Vorhersagen erlaubt es ihnen […], mit der Zukunft und der Katastrophe, die sie möglicherweise mit sich bringt, in handhabbaren Dosen umzugehen.“ Am Ende geht es immer um dieselben Fragen: Was kann man retten? Was kann man wiedererlangen, und wie kann man Neues finden, in einem Land, in dem man nur deshalb lebt, weil man aus der Heimat flüchten musste?

Aleksandar Hemon: Meine Eltern/Alles nicht dein Eigen. Doppelroman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Claassen, 416 S., € 24,70

Hemon bleibt ganz nah bei Mutter und Vater und gönnt sich wenig erzählerische Freiheiten. Erst am Ende beginnt er, sich von ihnen zu lösen, indem er von den Problemen ihrer Ehe erzählt und dadurch Distanz gewinnt. So richtig gelingt ihm das aber erst in „Alles nicht dein Eigen“. Anekdotisch und in kurzen Abrissen berichtet Hemon aus seiner Kindheit und Jugend. Vom vielleicht glücklichsten Tag seines Lebens, als er und seine Schwester wie im Rausch altes Geschirr zerschlugen; vom Verliebtsein, von der Musik und von Schlägereien. Zwei Themen kehren ständig wieder: die Erinnerung und der Tod. „Wenn ich mich erinnere, ziehe ich jedes Mal die Schuhe aus, tauche meine Zehen in diese Finsternis, kalt wie im Frühling schmelzender Schnee, bis ich nichts mehr fühle.“ Oder: „Ich erinnere mich an die Geschichte über ein ekstatisches Stinktier, das an einer Feile leckte, hungrig und überzeugt, sie sei die Quelle des stetig fließenden Blutes.“

Hemon wechselt oft die Tonart. Er stürzt sich in tiefe Verzweiflung, erzählt dann wieder eine witzige Episode, dreht sich im Kreis, greift Geschichten auf, die er schon einmal erwähnt hat. So, als würde er an derselben Stelle noch einmal suchen. Vielleicht war ja diesmal etwas zu finden. Mittlerweile schreibt Hemon seine Bücher auf

Englisch. Wörter oder Redewendungen auf Bosnisch setzt er oft in Klammer. Doch immer geht das nicht, weil es für den anderssprachigen Leser zu langwierig werden würde. Also zitiert er Strophen aus „Sarajevo, ljubavi moja“ – „Geliebtes Sarajevo“, einem berühmten Lied des mittlerweile verstorbenen bosnischen Sängers und Liedermachers Kemal Monteno, auf Englisch (respektive, in der Übersetzung, auf Deutsch). Hemon und seine Klassenkollegen sangen es auf einem Ausflug. „Ich sollte diese Verse wieder ins Bosnische bringen“, schreibt er. „Sie, als Leser, können sie dann nicht mehr verstehen, mir aber wären sie näher. Dies ist nicht Ihr Eigen“, paraphrasiert er den Titel seines Romans. „Und jenen, die das Lied auf Bosnisch verstehen, gehört es auch nicht, denn all dies trug sich vor zig Jahren zu, widerfuhr einer Reihe von Kindern, deren spätere Leben bis zum Bersten mit dramatischen Ereignissen angefüllt waren; einige wuchsen nur heran, um den Tod zu finden, manche zu früh, andere zu spät, niemand zu einem angemessenen Zeitpunkt.“ Hemon setzt ein Leben aus Erinnerungsfetzen zusammen, die, wie er meint, auch ganz andere sein könnten. Doch der Kern der Erzählung lässt sich ohnehin auf einen Satz reduzieren. Als Hemon fünf war, verließ er ohne zu fragen eine Familienfeier und ging in der Dunkelheit nachhause. „Der Versuch der Heimkehr ist mein lebenslanges Projekt“, schreibt er. Hier nützt es auch nichts, das Buch umzudrehen. Der Satz bleibt stehen. STEFANIE PANZENBÖCK

Der neue Roman von

Foto: Geri Krischker / © Diogenes Verlag

Marco Balzano

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Von einer Mutter, die in die Ferne geht, um ihre Familie zu retten. Eine Lektüre, die den Blick auf die Welt verändert, vom Bestsellerautor von Ich bleibe hier. Mehr auf: diogenes.ch/marcobalzano

Marco Balzano Wenn ich wiederkomme Roman · Diogenes

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Auch als eBook und Hörbuch

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Exquisiter Staub, der auf Nippes fällt

„Und wenn ich mich täuschte?“

In „Camondo“ rekonstruiert Edmund de Waal einmal mehr die versunkene Welt der jüdischen Belle Epoque

In Marie NDiayes Roman „Die Rache ist mein“ gibt es keine Gewissheiten über die Vergangenheit oder die Liebe

ie erzählt man FamiliengeW schichten? Man kann sie klassisch chronologisch schildern, aus

er Marie NDiaye liest, braucht W starke Nerven oder vielmehr einen stabilen Gefühlshaushalt. Denn

verschiedenen Perspektiven berichten oder man kann sie wie Edmund de Waal in seinem neuen, schlanken Buch „Camondo“ als Briefesammlung anlegen. De Waal ist in Wien ein Begriff, vielleicht sogar mehr als in anderen europäischen Hauptstädten. In seinem bekannten Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, der im November im Rahmen der Gratis-BuchAktion der Stadt Wien verteilt werden wird, erzählt er die Geschichte seiner Familie, der Ephrussis. Sie waren, wie die Rothschilds, eine der berühmten jüdischen Familien der Belle Epoque. Sie besaßen prachtvolle Wohnsitze in Wien, Paris und an anderen Orten der Hautevolee. Sie verstanden sich als Mäzene und Patrioten. De Waal zeichnet den Aufstieg der Ephrussis nach, ihre intellektuellen und sehr weltlichen Leidenschaften, etwa das Sammeln kleiner japanischer Miniaturfiguren, Netsukes oder Netzkes genannt. Eine davon ist der titelgebende Porzellanhase, der im Jüdischen Museum Wien als Dauerleihgabe zu sehen ist. Er steht für eine Welt, deren Bewohner von den Nazis vernichtet und vertrieben wurde. De Waal erzählt die Geschichte als großen Epochen- und Generationenroman, aber die Hauptrolle spielt besagte Sammlung, die ihre jüdischen Besitzer überlebt. Auch in „Camondo“ geht es um das Erinnern einer versunkenen Welt. De Waal tritt als Verfasser von Briefen selbst auf, die er an den jüdischen Bankier Moise de Camondo schreibt. Die Ephrussis und Camondos kannten einander gut. Letztere stammen aus Istanbul, in Paris lebte man im gleichen schicken Viertel in eigens gebauten prachtvollen Palais. Moise de Camondos Wohnsitz in der

Rue Monceau ist ein Juwel der Zeit, ein Denkmal des ausgesuchten Geschmacks, der Weltgewandtheit und des Reichtums seines Besitzers. Bis ins letzte Detail durchkomponiert und ausgestattet mit den feinsten Tapisserien und Möbeln materialisiert sich in ihm Camondos Selbstverständnis als jüdischer und französischer Großbürger. Das Palais ist vollständig erhalten, weil Moise es nach dem Tod seines Sohnes Nissim im Ersten Weltkrieg mehr oder weniger „einfrieren“ ließ. Er erklärte es zum Museum und schenkte es dem Staat, mit der Auflage, es exakt in dem Zustand zu erhalten, in dem er es übergeben hatte. Heute ist es Teil des Kunstgewerbemuseums Paris. De Waal seziert das Museum regelrecht, sein fachlich geschulter Blick – er ist selbst

Keramiker – registriert auch Details, die dem durchschnittlichen Besucher wohl verborgen bleiben. Etwa wenn er über den feinen Staub sinniert, der sich überall niederlässt. Liest man de Waals Briefe, in denen sich dieser vom Lichteinfall und der Gartenbepflanzung begeistert zeigt und seine Rückschlüsse auf die Bewohnerinnen und Bewohner zieht, und betrachtet man die im Buch abgedruckten Fotos und Pläne des Hauses, dann bekommt man unweigerlich Lust, einen

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Die Interieurs des Pariser Wohnsitzes Camondos sind mit feinsten Möbeln ausgestattet und bis ins Detail durchkomponiert. In ihnen materialisiert sich das Selbstverständnis des Besitzers als jüdischer und französischer Großbürger Flug (oder ein Bahnticket) nach Paris zu buchen, um diesen magischen Ort der Verschwendung zu besuchen. Man könnte „Camondo“ also auch als

überaus kunstvollen Museumsführer lesen, aber einen solchen zu verfassen, war nicht die Absicht des Autors. Der wollte vielmehr ein Buch über das Vergessen und Erinnern schreiben, über das Trauern und das Weiterleben. Die Welt Camondos, die de Waal in seinen wunderschön nachdenklichen Briefen auferstehen lässt, wird brutal ausgelöscht. Auf die vielen Seiten, die in Auslassungen über die Kunst der Furnierarbeiten, die passende Service-Auswahl, Nippes und Dragees schwelgen, folgen einige wenige beklemmende Passagen, die nüchtern und präzise die Enteignung, Deportation und den Massenmord der Nazis schildern. Wenn man, am Ende des schmalen Bandes angelangt, einen Blick zurück auf Camondos Museum wirft, dann sieht man Prunk und Pracht, Mord und Schande zugleich. BARBAR A TÓTH

Edmund de Waal: Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen. Deutsch von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay, 192 S., € 26,80

zur Spannung, die ihre Bücher erzeugen, kommt der Faktor des Unheimlichen. Es geht bei ihr um zerstörerische Beziehungen und unsichere Verhältnisse, in denen man nicht mehr zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, wo Erinnerungen stets unzuverlässig sind, Wahrnehmungen beständig angezweifelt werden. Nietzsches Diktum, demzufolge es keine Fakten gebe, sondern nur Interpretationen, könnte als Motto dienen. Der jüngste, bereits 16. Roman der 1967 als Tochter einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters geborenen Autorin gehört in Frankreich zu den Büchern des Jahres. Er kommt als Krimi daher, aber wer NDiaye kennt, weiß, dass am Ende keine klassische Auflösung im Sinne eines „Whodunnit“ folgen wird. Dabei beginnt er mit einer präzisen Verankerung in der Realität, der Angabe eines Datums: Am 5. Januar 2019 bekommt die Anwältin Me Susane Besuch von einem Mann namens Gilles Principaux, der sie mit einem spektakulären Fall beauftragen möchte: der Verteidigung seiner Frau Marlyne, die die drei gemeinsamen Kinder ermordet hat. Die Ich-Erzählerin Me Susane ist überzeugt, dem Mann schon einmal begegnet zu sein, vor 30 Jahren, im Alter von zehn, aber sie ist sich nicht sicher. „Wer war Gilles Principaux für sie?“: Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Der Nachmittag, den Susane gemeinsam mit dem damals 14-Jährigen in seinem Zimmer verbracht hat, markiert jedenfalls einen Einschnitt in ihrer Biografie. Das Mädchen lässt sich danach die langen, glänzenden Haare abschneiden, das einzig Schöne an ihrem großen, robusten Körper, woraufhin sie die Liebe ihres Vaters verliert. Aber was damals genau geschah, daran versucht sie sich vergeblich zu erinnern. Das genügsame, gefühlsarme Leben, in

dem sich Me Susane eingerichtet hat, wird durch den Fall Principaux nachhaltig erschüttert. Das betrifft zunächst das Verhältnis zu ihren kleinbürgerlichen Eltern, das sich wegen ihrer Recherchen in der eigenen Vergangenheit verdüstert, und endet mit ihrer Beziehung zu Lila, der Tochter ihres ehemaligen Lebensgefährten Rudy, die ihre Eltern für ihr eigenes Enkelkind halten. Hinzu kommt die ambivalente Verbindung zu ihrer Putzfrau, einer Mauritierin, die Me Susane aus Mitleid beschäftigt und der sie einen legalen Aufenthaltsstatus zu verschaf-

fen versucht. Nicht zufällig erinnert deren Name Sharon an Charon, der in der griechischen Mythologie die Toten in die Unterwelt begleitet. Me Susane fühlt sich verpflichtet, Sharon zu retten, gleichzeitig hat sie das Gefühl, von dieser verachtet zu werden – eine für NDiaye typische unheilvolle wechselseitige Abhängigkeit, in der die eine ohne den Respekt der anderen nicht existieren kann, wobei es hier eher die Herrin ist, die von der Dienerin abhängig zu sein scheint. Das Lechzen nach Anerkennung spielt

auch in der Ehe von Gilles und Marlyne Principaux eine Rolle, deren Darstellungen der Ereignisse, die dem Mord vorangehen, einander fundamental widersprechen. Marlyne fühlte sich von Gilles ausgelöscht und unterdrückt, nachdem sie ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben und drei Kinder bekommen hat, Gilles hingegen liebt seine Frau auch als Mörderin noch. Obwohl er Marlyne damit akzeptiert, wie sie ist, will diese sich scheiden lassen. Um die Kinder scheint hingegen keiner der beiden besonders zu trauern. In NDiayes Romanen gibt es kein rechtes Maß und keine echte Zuneigung, geschweige denn Liebe, nur einen vergeblichen, krank machenden Durst nach Bestätigung und, weil dieser nie gestillt werden kann, einen – ebenfalls nicht zu befriedigenden – Hunger nach Rache. Marlyne betreut ihre Kinder mit einer maßlosen Liebe, die bis zum Mord führt. Rudy, selbst ein Aufsteiger, findet den Gedanken kränkend, dass Me Susane und er sich aufgrund sozialer Affinität lieben. Me hingegen reicht es, sich zu mögen und Spaß zu haben. Als Rudy sich für einige Jahre von ihr trennte, war sie erleichtert. Jetzt duldet sie ihn und Lila wieder in ihrem Leben. Der menschliche Geist ist auf Verstehen abgestellt. Aber die Bücher von NDiaye verlangen einen undurchsichtigen Schluss, wenn sie ihre Poetik des Unheils und der Ungewissheit nicht verraten wollen. „Die Rache ist mein“ endet folgerichtig mit dem Satz: „Wir glauben es nun zu wissen, gleichwohl sagen wir uns: Und wenn ich mich täuschte?“ K IR STIN BREITENFELLNER .

Marie NDiaye: Die Rache ist mein. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, 237 S., € 22,95


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Himmel und Hölle Mieko Kawakami erzählt auf leichtfüßige Weise von harten Themen wie Mobbing, Armut und Sexismus

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er ein Trauma erlebt hat, nimmt die Welt durch die Brille seiner Ängste wahr. Als der namenlose 14-jährige Ich-Erzähler an einer Sandkiste vorbeikommt, sieht er Hunde- und Katzenkot. Sofort schießt ihm durch den Kopf: „Den musst du nachher vielleicht essen.“ Welche Qualen haben sich seine Peiniger wohl heute für ihn ausgedacht? „Heaven“ betitelt sich der Roman der japanischen Autorin Mieko Kawakami, 45, der von der täglichen Hölle Schule erzählt. Der schielende Junge wird verprügelt, stundenlang in den Spind gesperrt oder als lebender Fußball eingesetzt. Er leidet einsam vor sich hin, bis er eines Tages eine Nachricht in seiner Federschachtel findet: „Wir gehören zur selben Sorte.“ Ist das bloß eine besonders perfide Falle? Oder versucht da tatsächlich eine verwandte Seele mit ihm Kontakt aufzunehmen? Tatsächlich erweist sich die Verfasserin, Kojima, als eine unscheinbare Mitschülerin, die sich nicht wäscht, keine Freunde hat und ebenfalls gemobbt wird. Die beiden treffen sich fortan regelmäßig und heimlich. Klassische Liebesgeschichte wird trotzdem keine daraus, eher eine philosophische Betrachtung darüber, welche verqueren Strategien sich Jugendliche zurechtlegen, um das zu ertragen, was andere ihnen antun. Kojima ist fest davon überzeugt, dass sie an Stärke nur gewinnen kann, wenn sie ihr Leiden freudig annimmt – ein Jesus-Komplex, der sich zusehends in einen gefährlichen Wahn verwandelt.

Mieko Kawakami: Heaven. Deutsch von Katja Busson. Dumont, 192 S., € 22,95

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

Irgendwann stellt der Erzähler einen seiner

Peiniger zur Rede. Warum quält ihr uns, fragt er. „Die Schwachen ertragen es nicht“, antwortet dieser etwas altklug, „dass Leid, Trauer oder das Leben an sich keinen Sinn hat.“ Der Zufall hat sie zum Opfer gemacht. Gewalt ist banal. „Heaven“ ist bereits 2009 erschienen, aber aktuell geblieben, nicht zuletzt, weil der Roman konsequent aus der Innenper-

Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Roman. Deutsch von Katja Busson. Dumont, 496 S., € 12,95

spektive von Außenseitern erzählt ist und einen völlig unsentimentalen Blick auf die japanische Gesellschaft wirft. Kawakami schreibt kritische Heimatliteratur, die keineswegs nur ihre Heimat betrifft. Klar verbeugen sich die Jugendlichen voreinander und sind auch sonst irritierend höflich im Umgang, aber im Grunde erzählt „Heaven“ in glasklarer und unprätentiöser Sprache eine universelle Mobbinggeschichte, deren philosophischer Überbau eine individuelle Geschichte in einen größeren Rahmen stellt und das Recht der Stärkeren als eines der Wohlhabenden entlarvt. Mit ihrer engagierten Popliteratur gilt Kawakami längst als eine der wichtigsten literarischen Stimmen ihres Landes. Sie zeigt ein Japan, das in den Medien kaum vorkommt, erzählt von Menschen, die kaum Chancen auf sozialen Aufstieg haben, von alleinerziehenden Frauen, die sich zu Tode schuften, die gegen das restriktive Bild, das ihnen von der Gesellschaft aufoktroyiert wird, rebellieren. Im Mittelpunkt ihres zweiten, nun als Ta-

schenbuch erschienenen Romans „Brüste und Eier“ stehen zwei Schwestern aus einer armen, zerrüttenden Familie. Ihre Mutter musste mit ihnen vor einem gewalttätigen Ehemann fliehen, sie arbeitete in einer Hostessenbar – so wie einst die Autorin selbst, die ebenfalls in Osaka aufgewachsen ist. Eine der beiden Schwestern schlägt denselben Weg wie ihre Mutter ein, schafft es als Alleinerzieherin nicht, sich aus den prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu befreien. Als Roman ist „Brüste und Eier“ ein Flickwerk, was man beim Lesen aber nicht unbedingt merkt. Der erste Teil geht auf eine Erzählung aus dem Jahr 2007 zurück, zehn Jahre später wurde das Buch dann um die Geschichte der künstlichen Befruchtung der asexuellen Ich-Erzählerin Natsuko Natsume erweitert, die ohne Partner ein Kind bekommen möchte.

Rund ein Drittel des Romans spielt im Sommer 2008, Natsuko bekommt Besuch von ihrer Schwester und deren elfjähriger Tochter, die nichts redet, aber in ihren Tagebuchaufzeichnungen, die eingeschoben werden, davon berichtet, dass sie Angst hat, ihre erste Periode zu bekommen. Sie fragt sich, was am Kinderkriegen so toll sein soll: „Warum bringt man einen neuen Körper auf die Welt, wenn einem der eigene schon so zu schaffen macht? Mich macht der Gedanke jedenfalls trübsinnig.“ Natsukos Schwester wiederum plant eine Brustvergrößerung, obwohl ihr das Geld dazu fehlt. Sie hat zudem eine Obsession mit rosa Brustwarzen. Erneut packt Kawakami gewichtige Themen

auf unterhaltsame und leicht lesbare Weise an, stattet ihre widerständigen Figuren mit viel Witz aus. Männer kommen so gut wie keine vor. „Brüste und Eier“ eröffnet ein breites feministisches Panorama, anhand von drei Frauen wird da von verqueren Körperbildern, veralteten Rollenvorstellungen und patriarchalen Strukturen erzählt. Dennoch ist der Roman sichtlich gealtert, gerade in Sachen Transgender-Theorie und Homosexualität klingen einige Stellen geradezu antiquiert. Im zweiten Teil des Romans nimmt dann die geplante künstliche Befruchtung von Natsuko viel Raum ein. Man erfährt, wie verpönt, aber auch wie schwierig es für alleinstehende Frauen ist, eine Samenspende zu bekommen, weswegen sich Natsuko an eine Klinik in Dänemark wendet. Man kann in „Brüste und Eier“ viel über Japan lernen. Sich mit den Figuren zu identifizieren, fällt indes schwer, weil das Buch doch stark in einer Kultur verankert bleibt, die sich nicht verallgemeinern lässt. Bleibt noch zu erwähnen, wie unpassend das deutsche Buchcover ist: Verkitschte Kirschblüten zieren da einen Roman, der radikal Schönheitsnormen und Geschlechterbilder hinterfragt. K ARIN CERN Y


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Die Apokalypse nach Johann Sebastian Bach In László Krasznahorkais „07769 Herscht“ vergeigt Angela Merkel die Chance, das Universum zu retten

„Die Hoffnung ist ein Fehler“ ist dessen jüngs-

tem Roman als Motto vorangestellt, und dieser verdient genauere Betrachtung auf zwei Achsen: der Thüringen-Achse und der Krasznahorkai-Achse. Krasznahorkais Thüringen baut auf bekannten literarischen Topoi vom wilden Nachwende-Osten auf (man denke an Clemens Meyer, Juli Zeh oder Lukas Rietzschel) und treibt sie noch tiefer ins Extrem. Da sind, nicht unrealistisch, die Rechtsradikalen, mit Florians Ziehvater, dem besonders widerwärtigen „Boss“, an der Spitze. Auf dessen Geheiß und aus völkischen Motiven übt sich ein Laienorchester, die „Kanaer Symphoni-

ker“, mit unzulänglichen Mitteln der BachPflege. Als auf Thüringer Bach-Gedenkstätten Sprayattentate verübt werden, sehen der Boss und seine Getreuen den ersehnten Zeitpunkt für richtig große „Action“ gekommen. Um die zunehmend gewalttätigen Nazis herum

hat Krasznahorkai einen Kranz von treuherzigen Beobachtern gelegt, wahren Ausbünden der Kleinstadtbiederkeit, die sich ewig über die richtige Einkaufsadresse für Kaffeebohnen oder die Vorzüge des „Meininger Rhöntropfens“ unterhalten können. Und schließlich greifen in und um Kana Wölfe ins Geschehen ein, die mitten in der Kleinstadt Menschen angreifen, was wiederum den örtlichen Hass auf die Naturschützer lenkt, die den Wolf auch noch gegen die Menschen verteidigen wollen. Das ist in etwa das Thüringen-Szenario dieses Romans, und man kann nicht behaupten, dass es viel Neues und Erhellendes zu bieten hätte oder auch nur bieten wollte. Eher führt der Roman, womit wir auf der Krasznahorkai-Achse wären, ein von diesem Autor bekanntes und oft gerühmtes Erzählkonzept in einem neuen Setting noch einmal vor. Zu den Auffälligkeiten von Krasznahorkais Prosastil gehört seit jeher die Punktlosigkeit. Auch dieser Roman besteht aus einem einzigen Satz und enthält bis auf ein paar „Regenbogenbänder“ genannte Zwischenüberschriften kaum gliedernde Elemente. Wie die ebenfalls im Roman häufiger auftretenden Steinadler schwebt diese Prosa mit langen Schwingen über dem Geschehen, auf einer Flughöhe, von der aus sich die Kämpfe am Erdboden wie kosmische Anekdoten ausnehmen. Das Erhabene, ja Sphärenharmonische dieser Form verweist auf das motivische Zentrum des Romans, der eine kosmologische Pointe hat. Wenn das Universum tatsächlich ein Fehler ist, dann kann nur Bach es retten, so etwa reimt es sich der ah-

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Florian Herscht, der bärenstarke Bäckergeselle aus Thüringen, weiß, dass nur Bach den Weltuntergang aufhalten kann

Die Komik solcher Ereignisse und Reden ent-

László Krasznahorkai: 07769 Herscht. Florian Herschts Bach-Roman. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer, 416 S., € 26,80

Ich will keine Hilfe Ich bin gern am Boden Ich ertrinke in meinem Egoismus Das ist wundervoll

Pedersen beweist sowohl Mut als auch sprachliche Sicherheit. (…) Es hat etwas Befreiendes an sich, über verrückte unsympathische Frauen zu lesen, die vögeln, fluchen und sich berauschen, so wie männliche Romancharaktere es seit Jahrhunderten zur Gewohnheit haben. DAGBLADET

nungslose, aber irgendwie auch spekulativ begabte Florian zusammen: „und in Bachs Kunst gab es keinen Zufall, aber nicht vor ihrer Entstehung nicht, sondern von dem Zeitpunkt an, da sie geschaffen worden war, es gab und gab ihn nicht und würde ihn nie geben, nichts Zufälliges, keine Veränderung würde mehr auftauchen, denn Bach war STABILE STRUKTUR und würde das auf ewig bleiben“. Mit Bachs Kantaten („Falsche Welt, dir trau ich nicht“) und der Matthäuspassion im Ohr begibt sich Florian sodann auf eine Rache- und Sühnemission von kolossalen Ausmaßen. Wenn niemand, auch die Kanzlerin nicht, die „Bach-Frage“ verstehen will, dann soll die Welt eben in einer Katastrophe enden. steht ein bisschen vorhersehbar aus der Konfrontation von hohen (Bach, Merkel, das Universum) mit eher niederen Gegenständen (Hooligans und ihre Lieblingsbiersorten, Postbedienstete mit Schweißfüßen, unbedarfte Bäckergesellen aus dem Plattenbau). Ein wenig zu routiniert hat der Autor des „Sátántangó“ und anderer literarischer Großtaten hier mit den Bausteinen seines eigenen Universums gespielt. Auf der Thüringen-Achse bleibt der Roman in literarisch präfigurierten Ansichten von Land und Leuten stecken und ist damit offenbar zufrieden. Auf der Krasznahorkai-Achse variiert der Autor an einem neuen Schauplatz die apokalyptische Provinzposse, die man von ihm kennt, zuletzt aus dem vielgelobten Roman „Baron Wenckheims Rückkehr“. Das ist bestimmt nicht wenig, aber gemessen an den Erwartungen, die man inzwischen an Krasznahorkai hat, vielleicht auch nicht genug. Wie der späte Thomas Bernhard musiziert Krasznahorkai hier mit Elementen aus dem eigenen Repertoire und entwickelt beim Remix der eigenen Bestände eine neue, immer noch ziemlich schwarze, Heiterkeit. CHRISTOPH BARTMANN

© Håkon Borg

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erscht 07769“ schreibt FlorianHerscht aus 07769 Kana ins Absenderfeld seiner Briefe an die Bundeskanzlerin in Berlin. Der junge Mann aus Thüringen will Angela Merkel von einem „naturphilosophischen Alarmsignal“ in Kenntnis setzen. Im Volkshochschulkurs „Die Physik auf modernen Wegen“ hat er Herrn Köhler, den Kursleiter, so verstanden, dass, kurz gesagt, das Universum aus quantenphysikalischer Sicht ein Fehler und deshalb dem Untergang geweiht sei. So hat Herr Köhler das zwar nicht gemeint, aber Florian lässt nicht ab von seinem Weltrettungsplan, der ihn nach Berlin vors Kanzleramt führt und regelmäßig an den Bahnhof von Kana, stets in der Hoffnung, Angela Merkel hätte sein Gesprächsangebot erhört. Aber das ist nur der Anfang in einer stürmischen Eskalation der Ereignisse, in deren Zentrum Florian Herscht steht, der ziemlich naive, wenn auch bärenstarke Bäckergeselle aus Kana. Seiner Einfalt zum Trotz geht Herscht den Welträtseln auf den Grund und findet deren Lösung bei niemand anderem als Johann Sebastian Bach. Das und noch viel mehr ist „Florian Herschts Bach-Roman“, eine aberwitzige, rabenschwarze Thüringer Apokalypse, wie sie wohl nur László Krasznahorkai ersinnen konnte.

Aus dem Norwegischen von Andreas Donat Roman, Hardcover, 192 Seiten ISBN 978-3-903081-90-1 € 20.00 [D], € 20.00 [A]


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Gott wohnt in Heiligenwurm Der Wiener Autor Gábor Fónyad geht den Auswüchsen des ungarischen Größenwahns auf den Grund Heiligenwurm), ins Zentrum der Urmagyaren, um ihn der Gemeinde früher oder später als Messias zu präsentieren. „Wie soll man so etwas widerlegen?“, fragt Fón-

FOTO: HERIBERT CORN

In seinem zweiten Roman „Als Jesus in die

Puszta kam“ spinnt Fónyad die irre Theorie weiter. Wie der Autor ist der Ich-Erzähler des Romans Wiener mit ungarischen Wurzeln. Ludwigs Eltern sind gestorben, seine Freundin hat ihn verlassen. Den lustlos verrichteten Job im Spielwarengeschäft hat er nur deswegen, weil dessen Besitzer es interessant findet, dass er Ungarisch kann. Trotz seines österreichischen Akzents meint eine Gruppe Männer, in Ludwig den „wahren“, den ungarischen Jesus zu erkennen. Sie laden ihn nach Szentkukac ein (zu deutsch:

David Edmonds schildert die Geschichte der Philosophen des Wiener Kreises, dessen Oberhaupt Schlick gewesen war, und stellt sie in den Kontext seiner Zeit. «Ein mustergültiges Beispiel für eine intellektuelle Geschichte, die ebenso sorgfältig den Ideen gerecht wird wie den Persönlichkeiten, die an ihnen beteiligt waren.»

Alan Ryan, New Statesman

Gábor Fónyad: Als Jesus in die Puszta kam. Roman. Elster & Salis Wien, 272 S., € 24,95

352 Seiten | 23 Abbildungen | Gebunden | € 27,80 [A] | ISBN 978-3-406-77409-6

Gábor Fónyad: „Ich will wirklich kein UngarnBashing betreiben, aber es wird Ungarn geben, die das in die falsche Kehle kriegen“

yad. „Wenn dir jemand sagt, du seist Jesus? Oder Bill Gates habe dir einen Chip implantiert?“ Die Mechanik grassierender Verschwörungstheorien ist mittlerweile allzu bekannt. Auch jene rund um die Corona-Pandemie kommen im Roman vor, die Urmagyaren bauen sie mühelos in ihre wirre Argumentationslinie ein. Ludwig wird freundlich empfangen, fühlt sich aber beobachtet und hat im Ort nur auf eine begrenzte Zahl Webseiten Zugriff. Die Männer lächeln seine Beteuerungen, nicht der Heiland zu sein, freundlich weg, wobei einige jüngere ihre Gewaltbereitschaft deutlich zu erkennen geben. Bei aller Skurrilität der Situation kann der Leser das Dilemma des Protagonisten gut nachvollziehen. In Szentkukac halten ihn Neugier und die Überzeugung, den Irrtum bald aufklären zu können. Dazu kommen die deftig-üppige Küche der übel antisemitischen Pfarrersfrau und Ludwigs aufkeimendes Interesse für deren Stieftochter Tina, die im „liberal verseuchten“ Budapest studiert – ein Skandal, über den aus Rücksicht auf den Familienfrieden wenig geredet wird. Das Verhalten, Politik besser erst gar nicht anzusprechen, kennt Fónyad aus der eigenen Verwandtschaft. Die Einstellung zu Viktor Orbán spaltet in Ungarn viele Familien. Der mit absoluter Mehrheit regierende rechtskonservative Ministerpräsident sät geschickt Hass gegen alle, die nicht „wahre“, katholische Ungarn sind. „Dabei ist Orbán selbst kein Antisemit, aber er toleriert den grassierenden Antisemitismus einfach“, erklärt Fónyad. „Ursprünglich war er liberal, eher links der Mitte und unreligiös. 1994 hat er eine Wahl verloren, erkannt, dass er so nicht weit kommt, und sich seine Ehe nachträglich kirchlich absegnen lassen.“

Im Roman selbst erwähnt Fónyad den selbsternannten Retter der Christenheit freilich mit keinem Wort. Und in seinem Debüt „Zuerst Tee“ (2015), der herzigen Geschichte eines verklemmten Sprachwissenschaftlers, vermied er Ungarn-Bezüge ganz, um nicht in der Schublade „Migrantenliteratur“ zu enden. Ungarn kam dennoch auf ihn zu: Auszüge wurden übersetzt, Fónyad war als Gast zur Budapester Buchmesse geladen. Vor Lesungen aus dem Puszta-Roman fürchtet sich Fónyad ein wenig. „Ich will wirklich kein Ungarn-Bashing betreiben, dennoch wird es Ungarn geben, die das Buch in die falsche Kehle kriegen.“ Mit einer Mischung aus Unbehagen und Vorfreude erfüllt ihn die Vorstellung, der landesweit bekannte Journalist und OrbánKumpane Zsolt Bayer könnte das Buch in seiner Fernsehsendung verreißen. „Der würde sagen, schaut, dieser Österreicher schimpft über uns. Gute Werbung wäre es immerhin.“ Fónyad kombiniert Innen- und Außensicht zu

einer eigenen Perspektive. Er bringt manche schwer nachvollziehbare Eigenheiten heutiger Ungarn auf den Punkt, zieht gängige Ungarn-Klischees unaufdringlich durch den Kakao. Mit dem Exotikeffekt kokettierend nennt Ludwigs Chef im Wiener Spielwarengeschäft ihn vor Kundinnen gern László. Das heißt aber Ladislaus, Ludwig wäre Lajos. Umgekehrt kommt der ungarische Minderwertigkeitskomplex zum Ausdruck, der besteht, seit das Land nach dem Ersten Weltkrieg Territorium einbüßte. Das sogenannte „Friedensdiktat“ von Trianon 1920 begründete Opfermentalität wie Größenwahn. All das in einer Sprache, deren Funktionsweise sich der großteils indogermanischen Nachbarschaft so gar nicht erschließen will. Die Ungarn versteht einfach niemand. Nicht einmal die Finnen. MARTIN PESL

Von März bis November 1945 folgte George Orwell als Kriegsberichterstatter den alliierten Streitkräf Streitkräften durch Deutschland und Österreich. «Die kurzen, sachlichen Reportagen lassen das erzählerische Talent des Autors auch in diesem kurzen Genre aufscheinen.»

Dirk Schümer, WELT am Sonntag

«Wirkt nach 75 Jahren noch erstaunlich aktuell, in einer Zeit, als das Konzept des Nationalstaats offenbar neue Anhänger findet.» Tagesspiegel

111 Seiten | Pappband | € 16,50 [A] | ISBN 978-3-406-77699-1

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inst zog ein Volk über den Ural gen Europa. Eine Hälfte ging ins heutige Finnland, die andere nach Ungarn. Ersteren wurden alle Vokale zugesprochen, Letzteren die Konsonanten. Diese in Legendenform gebrachte Abstammungslehre ist wissenschaftlich belegt, wird aber in Ungarn zusehends bezweifelt. Ist ja auch kaum zu glauben, dass die Ortsnamen Uusikaupunki und Szentgyörgyvölgy auf dieselbe Sprachfamilie zurückgehen. „Die Ungarn sind etwas Besonderes. Das denken zumindest überproportional viele von ihnen“, meint der 1983 in Wien geborene Autor, Gymnasiallehrer und Universitätslektor Gábor Fónyad. „Die neuen ungarischen Geschichtsbücher führen die Verwandtschaft mit dem Finnischen als nur eine von mehreren Thesen“, erklärt er. „Dafür rückt die Beziehung zu den Hunnen in den Vordergrund, die aber eher in den Bereich der Mythologie gehört. Und irgendwann landest du dann bei Jesus.“ Mit der Idee, Gott habe zuerst die Ungarn geschaffen, Ungarisch sei die Ursprache der Menschheit, wird seit dem frühen 20. Jahrhundert geliebäugelt, Exilanten auf der Flucht vor dem religionsfeindlichen Kommunismus verbreiteten die Mär und verkauften erfolgreich ihre entsprechenden Schriften. Das Buch „Der Gott der Ungarn“ eines gewissen János Borbola ist allerdings gerade vergriffen.


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„Literatur als die Kriegswichtige Wissenschaft vom Leben“ Patronenfrau Marlene Streeruwitz bleibt in ihren Vorlesungen ihren Lebensthemen Sprache und Macht, Männer und Frauen treu

In Didi Drobnas Roman „Was bei uns bleibt“ wirken die Traumata der Nazi-Zeit bis in die Enkelgeneration fort

elche Auswirkungen hat die W Pandemie auf das Schreiben? Während die einen bereits im ersten

nd irgendwas war immer, das man noch verlieren konnte.“ U Klara ist nur der Enkel geblieben.

Shutdown im Frühjahr letzten Jahres begannen, ihre Tagebücher zu veröffentlichen, wurde andere von einer Schreibblockade heimgesucht. Marlene Streeruwitz schrieb einen Roman über den Lockdown („So ist die Welt geworden“, 2020) und zählte zu den wenigen, die sich explizit politisch zu den Maßnahmen geäußert haben. Der Umgang der Politik mit Covid-19 stürzte sie in eine Krise, in der sie ihr gesamtes bisheriges Werk zu hinterfragen begann. „Ich muss ganz neu anfangen“, meinte sie im Dezember 2020 in einem Interview mit der Zeit. Und sie fügte hinzu, dass die Krise die bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nur verstärke. „Geschlecht. Zahl. Fall“ lautet der Ti-

tel einer Sammlung von Vorlesungen, die Streeruwitz im Frühjahr 2021 im Rahmen der neu gegründeten JosephBreitbach-Poetikdozentur in Koblenz hielt. Auch sie drehen sich um Streeruwitz’ Lebensthemen. Der Zusammenhang von Literatur und Realität wird bereits in der Vorrede thematisiert: „Wie so ganz und insgesamt und in jedem Augenblick das Leben gelebt werden muss. Wie das Leben in jedem Augenblick immer alles meint. Dieses Wissen und das Bewusstsein davon. In der Literatur. In der Zeit des Romans. Die Literatur als die ursprüngliche Wissenschaft vom Leben gründet auf diesem Bewusstsein auch als dem Wissen voneinander.“ Unter dem Titel „Singular und Herrschaft“ untersucht Streeruwitz im Anschluss die Strukturen sprachlicher Macht. „Herrschaft drückt sich singulär gegen die Vieldeutigkeit von Freiheiten aus.“ Folgerichtig habe die „politisch eingesetzte Sprache in der Pandemie den Singular der Abstrakta in neuer Form zurückgebracht“. Im Anhang des Bandes finden sich die Minidramen „Le Lavabo. Oder. Der Wert des Lebens“ und „Reigenversuch“ sowie der Prosatext „Fabian. Der Kanzler“. Die diesen zugrundeliegende Poetik erläutert die Autorin in den Vorlesungen – insofern ist es vielleicht hilfreich, diese zuerst zu lesen. Streeruwitz analysiert die patriarchalischen Strukturen des Regietheaters, die sie als Dramatikerin am eigenen Leib erfahren hat, etwa die „gängige hegemoniale Vorgehensweise, jüngeren Frauen Platz zu geben, damit diese jüngeren Frauen wiederum älteren Frauen den Platz wegnehmen“. Macht bedeutet den Ausschluss der Ohnmächtigen. Das betrifft nach Streeruwitz auch den weiblich kon-

notierten „Kosmos der Pflege“ – das Gegenteil von Herrschaft und Gewalt. Dessen Abwertung führe nicht nur zu schlechter oder ausbleibender Bezahlung von Pflegearbeit, sondern manifestiere sich auch in der hierzulande besonders hohen Rate von Frauenmorden, der äußersten Form häuslicher Gewalt. Deren Ursprung macht Streeruwitz im Habsburgerreich aus, in dem sich das Individuum Autoritäten widerspruchslos unterzuordnen hatte. Das Werk des Aufklärers Immanuel Kant wurde hier 1804 ganz einfach verboten Da Sprache qua ihrer Grammatik Macht

abbildet, versucht Streeruwitz diese seit Beginn ihres Schreibens durch elliptische Sätze, Aufzählungen, Ausrufe und Beschwörungen aufzubrechen. Der Roman stellt für sie „die innigst mögliche Verständigung zwischen einander unbekannten Personen“ dar. Während die Politik eine singulä-

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Marlene Streeruwitz war noch nie leise. Sie ist immer noch wütend. Und sie hat den Glauben an die Literatur noch nicht verloren

re Wahrheit mit Kriegsmaßnahmen herzustellen versuche, lade der Roman dazu ein, für die Dauer des Lesens an der Komplexität der inneren Welt einer anderen Person teilzuhaben. Am Ende könne aber nur die Lyrik „den Selbstverständlichkeiten der Herrschaften entkommen“, da sie weniger als die Prosa von ganzen Sätzen dominiert sei. Marlene Streeruwitz war noch nie leise. Sie ist immer noch wütend. Und sie hat den Glauben an die Literatur noch nicht verloren. Gerade in Zeiten von großem Konformitätsdruck braucht es solche unerschrockenen, widerborstigen, vom öffentlichen Urteil wenig beeindruckbaren Autorinnen. K IR STIN BREITENFELLNER

Marlene Streeruwitz: Geschlecht. Zahl. Fall. Vorlesungen 2021. S. Fischer, 140 S., € 22,95

para bellum ist an Verlogenheit schwer zu überbieten. Das Rüstungswerk im Triestingtal ist natürlich keine Fiktion. Erst 2019 verkaufte die Hirtenberger Holding die Sparte Munition nach Ungarn. Drobna hat die Firmengeschichte genau recherchiert und mit Zeitzeuginnen in der Slowakei und in Österreich gesprochen. Nach den ersten Fliegerangriffen der Alliierten und dem Nahen der Ostfront wurde die

Der stille Luis arbeitet hart, um die gemeinsam bewohnte Keusche vor dem Verfall zu retten. Dann tritt er beim Heidelbeerbrocken in eine alte Fuchsfalle. Die Großmutter mobilisiert ein letztes Mal ihre Kräfte, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. So beginnt eine Geschichte in rustikalen Settings, die auch ihre beschaulichen Seiten hat. Mit der neuen Sehnsucht nach dem Leben im Grünen hat Didi Drobnas dritter Roman aber zum Glück wenig zu tun. Man lebt in einem niederösterreiDora ist die Enkelin einer chischen Dorf mit Garten, Hühnern und Wäldern. An Luis’ Rettung sind „Wolfsfrau“, eines Flüchtlings– auch der Nachbar Horst und seine kindes, das sich nach Kriegsende Tochter Dora beteiligt. Der Wildfang ist die Enkelin einer „Wolfsfrau“, ei- drei Jahre lang allein in den nes Flüchtlingskindes, das sich nach Wäldern durchschlug. Ihre der Vertreibung der Deutschen 1945 Rohheit tritt in der zwölfährigen drei Jahre lang allein in den Wäldern durchgebracht hatte. Ihre RohDora wieder zutage heit überspringt eine Generation und tritt nach der Trennung der Eltern in der Zwölfjährigen zutage: „Ein Fabrik evakuiert. Der Sonderzug volPack wilder Hunde wohnte in diesem ler Munition und Maschinen hat die „Alpenfestung“ nie erreicht, sondern Mädchen.“ Dora ist von scharfem Verstand. wurde beim Bombardement AttnangAngesichts des ans Kreuz geschlage- Puchheims zerstört. nen Messias über dem Bett der Nachbarin denkt sie: „Aber so wie Klara Didi Drobna, 1988 in Bratislava geboren, waren doch viele alte Leute: Sie fan- lebt seit 1991 in Wien, arbeitet als den sich nicht im Schönen, sondern Schriftstellerin und in einem IT-Forim Schweren wieder.“ schungszentrum. Ihr Roman ist konVier Menschen mit je eigenen Pro- ventionell, aber gut erzählt. Das Sujet blemen beginnen sich umeinander zu ist nicht neu, aber relevant und um kümmern. Alle Generationen sind auf feministische Aspekte erweitert. Der ihre Art erschöpft. Eine billige Versi- Titel verweist auf eine Ambivalenz: on von „Zusammen ist man weniger Es bleiben die Traumata, es bleiben allein“ wird daraus aber nicht. Klara aber auch die Menschen. lässt immer mehr nach. „Bald bin ich Drobnas Literatur kreist immer neugierig auf etwas anderes.“ wieder um Familien und ihr ScheiJe weiter sie sich aus der Gegen- tern, um das Alleinsein in der Gewart zurückzieht, desto stärker wer- meinschaft. Viel ist schon über das den die Erinnerungen. Rückblenden dunkle Erbe geschrieben worden, sehr erzählen von ihrer Jugend, als sie in lange wurde unterschätzt, dass sich der Munitionsfabrik Hirtenberg das das Erleben des Krieges psychisch Todeshandwerk der Wehrmacht un- und epigenetisch bis in die Enkelterstützte. Zuerst ohne zu klagen, generation auswirkt, deren Eltern denn „den Hunger los zu sein, war ja von den Nazis und deren Opfern eine Freude, die sich nicht abnutzte“. „erzogen“ worden waren. Tröstlich: Die Generationen X und Y werden Hier ist sie „kriegswichtige Patronen- die ersten sein, die keine alten Nazifrau“ und hilft, das tägliche Plan- Opas mehr in ihr Familienbild intesoll von einer Million „Parabellum“ grieren müssen. zu erfüllen. Als 1944 auf dem Ge- D O M I N I K A M E I N D L lände die Waffen-SS ein Außenlager von Mauthausen errichtet und Klara die Zwangsarbeiterin Lujza zugeteilt wird, gehen ihr endlich die Augen auf. Den finalen Kollaps des Regimes und den fanatischen Willen, die Frauen auf einem Todesmarsch ins KZ zurückzutreiben, bekommt sie am eiDidi Drobna: genen Leib zu spüren. Was bei uns Wenn du Krieg willst, produziere bleibt. Roman. Waffen; das für die Parabellum-PatPiper, 256 S., ronen namensgebende si vis pacem, € 20,60

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Der Nazi hat immer Saison In „Der Silberfuchs meiner Mutter“ verarbeitet Alois Hotschnig schweren Stoff auf schwerfällige Weise

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ie Schatten des Dritten Reiches sind lang, und so kommt es, dass sich nicht nur Eva Menasse und Didi Drobna (siehe Rezension auf Seite 14) an den Verbrechen und Folgen der Nazi-Zeit abarbeiten, sondern auch Alois Hotschnig. Im Falle des gebürtigen Kärntners findet diese Auseinandersetzung in Form einer Ich-Erzählung statt, in der Fakten, Fikti- In Norwegen ist onen, verbürgte und erfundene Biografien die mit einem miteinander verschnitten, verknüpft und in Wehrmachtssoldaeinem Arrangement ausgebreitet werden, in dem man selbst auf dem relativ begrenz- ten liierte Mutter ten Raum von 220 Seiten leicht einmal den des Protagonisten Überblick und den Faden verliert. Im Zentrum steht, so viel kann immer- die „Nazi-Hure“, hin mit Sicherheit gesagt werden, Heinz in Vorarlberg die Fritz, 1942 als Sohn einer Norwegerin und „Norweger-Hure“ eines aus Hohenems stammenden Wehrmachtssoldaten ebendort geboren. Den Nachnamen hat Heinz von seinem gutaussehenden, aber kaputten, weil bereits im Ersten Weltkrieg verschlissenen Stiefvater, der die skandinavische Schönheit mit dem für deutsche Ohren irritierend maskulin klingenden Vornamen Gerd sitzen lässt, nachdem er ihr zwei Kinder gemacht hat – Heinz’ Halbbruder und -schwester.

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Dieser vornamenlose Fritz, der vor den Au-

gen des Stiefsohns Kaninchen bei lebendigem Leib zu häuten und deren Herz zu verzehren pflegt, affiziert diesen mit seiner Tötungswut. Den leiblichen Vater mit dem sinnreichen Namen Anton Halbsleben, der in Hohenems eine Metzgerei betreibt, während dessen Ex mit dem gemeinsamen Sohn in Lustenau lebt, erspäht Heinz zum ersten Mal im Alter von 16 Jahren, lernt ihn, nachdem dieser sich jede Kontaktaufnahme per Anwalt verbeten hat, aber erst als 60-Jähriger tatsächlich kennen. „Du darfst Vater zu mir sagen“, sind die ersten Worte, die er während einer gemeinsamen Autofahrt an den Sohn richtet, von dem er immer wieder behauptet hat, dass er in Wirklichkeit von einem ertrunkenen Russen stamme.

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 220 S., € 20,60

Die Beziehung zur Mutter ist deutlich inniger, aber auch alles andere als ungetrübt. Der Transfer der schwangeren Gerd vom norwegischen Kirkenes in den Herkunftsort des zukünftigen Vaters wird gemäß den Zielen des rassenhygienischen LebensbornProgramms organisiert, obgleich diese als Schwester eines Kommunisten nicht zweifelsfrei als „rassisch und ideologisch wertvoll“ eingestuft werden kann. Heinz wächst vorerst auch in einem Heim und bei Zieheltern auf, ist erst ab 1946 mit der Mama zusammen, die mit ihren Zweifeln – der Bub könnte gleich nach der Geburt ja auch vertauscht worden sein – gegenüber diesem auch nicht hinterm Berg hält. Ihre Epilepsie, die sie zu einem potenziellen Eugenik-Opfer macht, vererbt sie diesem zwar nicht, ihre suizidale Disposition aber schon. Kurz und gut, der weggelegte und verleugnete

Sohn der als „Nazi-“ und „Norweger-Hure“ doppelt stigmatisierten Mama hat einen Rucksack aufgepackt bekommen, unter dessen Gewicht selbst robustere Naturen einknicken würden. Tatsächlich kippt die Akkumulation all des Elends mitunter fast schon in die unfreiwillige Selbstparodie. Sturzbesoffen liegen wahlweise die Mutter oder der kleine Heinz im Keller und versuchen sich umzubringen: „Ich wollte mir den Schädel spalten […] und habe mir eine unglaubliche Wunde beigebracht. Mit dem Beil. Die Mutter ahnte schon nichts Gutes und kam die Treppe herunter, ich höre noch ihre Schritte. […] Die Mutter rief und rief. Wer rannte die Tür ein? Mein bester Freund, der sich dann aufgehängt hat. Vor sechs Jahren. Wir wären jetzt beide gleich alt.“ Gleich alt sind sie vermutlich immer schon gewesen, aber dem übersteuerten Pathos fällt dann mitunter auch solch schlichte Logik zum Opfer. Der Überschaubarkeit der Handlung und des Ensembles an realen und erfundenen Figuren, von denen vie-

le bedeutsam nach vorne geschoben werden und dennoch konturlos bleiben, sowie der ästhetischen Stimmigkeit ist dieses ohnedies abträglich. An den Realien und Motiven, mit denen der

Roman behängt wurde wie ein überdekorierter Christbaum, hat der Roman schwer zu tragen. Nazi-Terror, Identitäts- und Vatersuche, Humanität versus Unmenschlichkeit, individuelles Aufbegehren versus kollektives Mitläufertum sind gewichtige Themen, die freilich eher angetippt und abgewickelt als stringent durchgespielt werden. „Der Silberfuchs meiner Mutter“ – im Übrigen ein Geschenk Antons, mit dem Gerd beim Kirchgang in Hohenems einen eindrucksvollen Auftritt hat – ist eher konfus als komplex ausgefallen. Und das Argument, dass gewaltsam fragmentierte Biografien und Identitäten sich einheitlicher ästhetischer Gestaltung entzögen, kann die stilistische Generalkonfusion auch nicht legitimieren. Vom gehetzten Hauptsatzstakkato bis zu weitschweifigen bernhardesken Sentenzen ist vieles im Angebot, am anstrengendsten aber das preziös kursivierte, anaphernarmierte ritartando molto depressivo: „Ich habe dann auch erfahren, von meiner Halbschwester in Hohenems, ihre Großmutter, also von meinem vermeintlich richtigen Vater die Mutter, meine Großmutter, die hat mich gehasst. Die hat mich gehasst, und die hat meine Mutter gehasst.“ Das ließe sich ohne Sinnverlust auch kürzer und in deutschlehrerapprobierter Sprache sagen. Der Danksagung ist zu entnehmen, dass der Schauspieler Heinz Fritz es dem Autor erlaubt hat, „entlang seiner Lebens-Geschichte diesen Roman frei zu entwickeln“. Nach der Lektüre bleibt freilich ein schaler Geschmack und der Verdacht zurück, dass die Lizenz vorschnell erteilt wurde und der Verzicht auf Fiktionalisierung der angemessenere Zugang gewesen wäre. K L AUS NÜCHTERN

Bestseller »Präzise, unterhaltsam, überzeugend. Erkenntnisfördernd und wachrüttelnd.«

NDR Kultur »Die Politologin liefert denjenigen Hinweise, die sich fragen, wie es in Deutschlands Mitte nach dem Unionsdebakel weitergeht.« Handelsblatt

edition suhrkamp

Taschenbuch. 192 Seiten. € 16,–


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Mit Ibsen auf dem Friedhof

Hamdrahn in Hietzing

Bernhard Strobels Erzählungen „Nach den Gespenstern“ handeln vom Zugriff der Toten auf die Hinterbliebenen

In Constanze Scheibs „Der Würger von Hietzing“ hat neben den Ermittlerinnen das Wienerische einen Bombenauftritt

or 140 Jahren, im Dezember V 1821, veröffentlichte der große Dramatiker Henrik Ibsen sein zum

ie Klatschpresse findet schnell eiD nen Namen für den Serienmörder, der im 13. Wiener Gemeindebe-

modernen Klassiker gewordenes Familiendrama „Die Gespenster“, in dem aber keine Schauergestalten auftreten, sondern überwunden geglaubte Denk- und Verhaltensweisen früherer Generationen im Heute mächtig nachwirken. Der österreichische Autor Bernhard Strobel, der auch norwegische Literatur übersetzt, greift dieses zeitlose Ibsen-Thema auf und lässt in 13 Geschichten Männer und Frauen, Ehepaare, Geschwister sowie einander Unbekannte auftreten. Allgegenwärtig ist der in mannigfaltiger Gestalt auftretende Tod, der unter den Hinterbliebenen zu kuriosen und bitteren Auseinandersetzungen führt. „Nach den Gespenstern“ heißt Strobels wohldurchdachter, sehr ernsthafter Erzählband. Es ist bereits der vierte des gebürtigen Wieners (Jg. 1982). Seine Geschichten zeichnen sich dadurch aus, dass deren Personal ständig zwischen realen, fast banalen Alltagssituationen und dem totalen Absturz changieren.

holte, hörte er sie rufen: ,Gespenster, Gespenster!‘“ Strobels Protagonisten sind fast alle namenlose einfache Menschen, Arbeiter oder Pensionisten, Wirtshausgeher. Der Erzähler nähert sich ihnen auf skizzenhafte, aber zärtliche Weise und schreibt über sie stets in der dritten Person. Die zugleich knappe und kunstvolle Sprache wird mitunter aggressiv oder kippt ins Zynische. Kein Wort ist zu viel. Strobel erweist

sich als Meister der Leerstellen und der offenen Enden, die in diesen Geistergeschichten dem Unheimlichen Raum geben. Sie verrücken die Ordnung der Welt, wenn auch fast unmerklich, wie in „Café Post mortem“, wo zwei Friedhofsgeher ins aufwühlende Gespräch über den Verlust der längst verstorbenen Frauen kommen: „Ich komme wegen der Knochen“ – behauptet der eine, um dem Verdacht entgegenzuwirken, den Friedhof aus religiösen Gründen aufzusuchen. Auf die Frage, wie die Toten die Lebenden beschäftigen, geben die Erzählungen von „Nach den Gespenstern“ literarisch überzeugende Antworten. SEBASTIAN GILLI

Unter der Oberfläche brodeln Gewalt

und Konflikte, die aus einer längst versunken geglaubten Vergangenheit langsam nach oben kriechen – etwa in der titelgebenden Geschichte über ein Ehepaar, das nach dem Besuch einer Aufführung von Ibsens „Gespenstern“ mit der Straßenbahn heimfährt. Sie will ihm die Tiefe des Stücks erklären, er fühlt sich herabgewürdigt. „Und als er die Hand erhob und schon aus-

Bernhard Strobel: Nach den Gespenstern. Erzählungen. Droschl, 176 S., € 20,–

zirk alleinstehende, ältere Damen in ihren Häusern ausraubt und stranguliert. Entsprechend lautet auch der Titel des Krimidebüts der Wiener Autorin und Schauspielerin Constanze Scheib „Der Würger von Hietzing“. Man schreibt das Jahr 1972. In der Staatsoper inszeniert fleißig Otto Schenk („als ob die keinen anderen finden“), Karl Schranz wird bei seiner Rückkehr aus Sapporo am Ballhausplatz wie der Heiland empfangen, die Gründung eines neuen „Ministeriums für Gesundheit und Umweltschutz“ sorgt für Unverständnis und „gnä’ Frau“ ist eine noch weithin gebräuchliche Anrede. Und genau eine solche „gnä’ Frau“ hat sich Constanze Scheib auch zur Amateur-Ermittlerin erkoren. Helene Ehrenstein ist eine höhere Hietzinger Tochter Anfang 30 mit steinreichem Ehemann und einer großen Villa voller Tradition und uniformiertem Personal. Fadesse, Zufall und ein Faible für Agatha-Christie- und Edgar-Wallace-Verfilmungen bringen sie auf die Idee, ihre Nase nicht nur ins Whiskey-Glas, sondern auch in die Würger-Ermittlungen zu stecken; zumal die Tante eines ihrer Dienstmädchen zu den Mordopfern zählt. Die Verstrickungen und Verwicklungen,

die folgen, sind zahlreich. Es geht um Hehlerei, Bassenaklatsch und einen zugeknöpften Polizei-Hofrat ebenso wie um Hippie-Kommunen, Favoritener Hinterhof-Festln oder verdächtige Immobiliengeschäfte.

… ein denkbar aktueller Roman. Andreas Platthaus, FAZ

Vor allem aber geht es um ein Schnüfflerinnen-Duo, welches die Autorin nach einem Wienerischen Cervantes-Modell aus Herrin und Dienstmädchen zusammenfügt, wobei das soziale Gefälle jede Menge Witz und Handlungsimpulse hervorbringt. Streetwise ist in dieser Doppel-Konstellation natürlich vor allem das Dienstmädchen, während die „gnä’ Frau“ im Lauf der Geschichte Gelegenheit erhält, eine persönliche Entwicklung durchzumachen. Eigentlicher Star dieser spannend-ver-

spielten Kriminalgeschichte sind aber die Dialoge und das Wienerische in all seinen farbenprächtigen Spielarten. Dass der Schweizer Kampa-Verlag auf ein Glossar am Buchende verzichtet hat, ist zwischen „rumsudern“, „Oasch kräulen“, „Wappler“, „Budel“, „tramhappert“, „Kölch“ oder „abschaseln“ zumindest erstaunlich. Sprachlich Eingeweihten aber geht das Herz über vor Vergnügen, und ein kleiner Cliffhanger am Ende lässt darauf hoffen, dass Constanze Scheib ihre „gnä’ Frau“ als Serien-Ermittlerin anlegt. Leiwand! JULIA KOSPACH

Constanze Scheib: Der Würger von Hietzing. Die gnä’ Frau ermittelt. Oktopus im Kampa Verlag, 288 S., € 17,40

Subtil und unaufgeregt leuchtet Schneider mit psychologischem Feingefühl den Prozess einer Entfremdung aus. Das Gehen wird zum herausfordernden Schnitt, die Ambivalenz bleibt. Maria Renhardt, Die Furche

Nadine Schneiders Texte entfalten ihre Wucht auf unspektakuläre Weise.

Nadine Schneider WOHIN ICH IMMER GEHE Beide wollten sie weg aus Rumänien, aber dann war David verschwunden und Johannes musste alleine fliehen. Aus einer Rückkehr in die Vergangenheit wird eine Spurensuche, an deren Ende die Entdeckung eines fatalen Fehlers steht. Roman, 240 Seiten, € 22,-

Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung


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„Sie sollen ja nur geimpft werden“ Rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger erscheint der Band „Aufruf zum Mißtrauen“

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eruhigen Sie sich, armer bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht! Sie sollen ja nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit Sie das nächste Mal umso widerstandsfähiger sind!“ Der Titel dieser Neuerscheinung zu ihrem 100. Geburtstag stammt von einem der bekanntesten Texte Ilse Aichingers: Ihr legendärer „Aufruf zum Mißtrauen“ erschien 1946 in der radikal modernen Zeitschrift PLAN und erregte Aufsehen. Wie die anderen etwa 100 hier konzentrierten „Verstreuten Publikationen 1946–2005“ nahm die Autorin ihn nicht in eines ihrer Bücher auf, er war ihr „nicht gut genug geschrieben“. Die Leserinnen und Leser sollten, so die 25-Jährige damals, nach den Jahren der Nazi-Herrschaft, zuallererst sich selbst misstrauen: „Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten!“ Keine halben Sachen zu akzeptieren, sich nicht zu fügen und zu begnügen, diese Haltung ist bezeichnend für Aichingers gesamtes Werk. Gegen die falsche Selbstsicherheit des beginnenden Wiederaufbaus bringt sie das Geschütz ihrer Literatur in Stellung: „Und wir beruhigen uns wieder. Aber wir sollen uns nicht beruhigen!“

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Gegen die falsche Selbstsicherheit des Wiederaufbaus optiert Aichinger für eine Haltung der Renitenz

Misstrauen, Trotz und Aufmüpfigkeit prägen

Aichingers Schreiben in 60 Jahren, von den ersten Veröffentlichungen voll jugendlichem Pathos bis zu den absichtslos wirkenden, angriffslustigen Kurztexten des Alterswerks. „Ich habe mir meine Renitenz bewahrt“, meint die Autorin in einem Interview. Diese richtet sich nicht allein gegen den Zwang sozialer Übereinkünfte, sondern gilt dem Auf-der-Welt-Sein an sich und dem Einverständnis damit. Mit dem ihr eigenen unbarmherzigen Witz ist Aichinger davon überzeugt, „dass positiv zu denken das Gegenteil von Denken ist“. Ihr Misstrauen gilt der eigenen Sprache wie dem Staat, etwa in Ge-

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005. Hg. v. Andreas Dittrich. S. Fischer, 320 S. € 25,95

stalt der „Beamtenlogik“, die sich in den 1990er-Jahren der Reform der Rechtschreibung annimmt. Vehementer noch ist ihre Absage an den literarischen „Austrokoffer“ der schwarz-blauen Regierung zum Gedenkjahr 2005 als drohenden „Scheintod im von Schüssel konzipierten, handbemalten Gesamtkunstwerk – zugleich mit 130 Autoren und Autorinnen“. Der Band enthält aber auch charakteristische Erzählungen, Prosaminiaturen, szenische Dialoge und Gedichte. „Fräulein Kafka“ war Aichingers früher Spitz-

name, später wandte sie sich mit ihrem Bekenntnis zu den „Schlechten Wörtern“ von dieser Nachfolge ebenso ab wie vom Exquisit-Poetischen. Die Erscheinungsorte der beim Erstellen des „Digitalen Ilse Aichinger Literaturverzeichnisses“ (dial) gemachten Textfunde hat der Herausgeber im Anhang sorgfältig nachgewiesen und den Kontext erläutert. Nicht zuletzt ergibt sich aus etlichen autobiografischen Splittern in diesem Band ein Porträt oder doch eine Porträtskizze. Wir erfahren etwas über Aichingers Diskriminierung und Verfolgung als „Halbjüdin“, über das Heimweh nach der Geborgenheit in der Klosterschule der Ursulinen, über die Mutter, die als jüdische Ärztin ihre Stelle verlor, die Zwillingsschwester Helga, die mit einem Kindertransport nach England entkam und dort blieb. Haarsträubend ist die Geschichte vom freundlichen Nazidoktor und Euthanasieverbrecher Jekelius, die Aichinger in „Reise in den Antisemitismus“ anlässlich der Debatte über Martin Walsers Reich-Ranicki-Abrechnung „Tod eines Kritikers“ erzählt; tiefschürfend sind ihre Beobachtungen zur Literatur, zum Beispiel über Gert Jonke oder Hugo von Hofmannsthal, der ihr in seiner aristokratischen Attitüde mit guten Gründen suspekt ist. Durchaus dankbar resümiert Ilse Aichinger ihre Zeit in und mit der karriereentscheidenden „Grup-

pe 47“, wobei sie gegen die Konkurrentin Ingeborg Bachmann und deren Werk eine gar nicht kollegial verbrämte Abneigung hegt. Ein hintergründiges Gedicht schreibt Aichinger 1998 zum Tod von Ernst Jünger, der sich von seiner Marschetappe gemeinsam mit den Nazis nie distanzierte: „Wie stirbt man im Schlaf – / und vor allem: Wie lebt / man im Schlaf ?“ Wirklich beeindruckt war die Dichterin vom Beispiel der Geschwister Scholl, denen sie einen längeren Essay mit Briefzitaten und Zeugenberichten widmet – staunend über deren uneitle Konsequenz und unerschütterliche Fröhlichkeit bis zur Hinrichtung. Dieser tastende Versuch, die extreme Mutprobe ihrer Altersgenossen zu verstehen, macht den Band ebenso lesenswert wie die irrlichternd sprunghaften und dabei stets präzisen Räsonnements einer rebellischen Zeitgenossin. Als Einstieg in Aichingers Werk sollte man sich

aber vielleicht doch eher aus der achtbändigen Ausgabe des früh verstorbenen Literaturkritikers Richard Reichensperger bedienen, die „Aufruf zum Mißtrauen“ ideal ergänzt. Reichensperger ist es auch zu verdanken, dass die kinosüchtige Dichterin sich nach langem Schweigen wieder zu Wort meldete, unter anderem mit hellsichtigen Essays zu Größen der Filmgeschichte, etwa zur bewunderten Katherine Hepburn oder zum ins moralische Zwielicht geratenen Heinz Rühmann. Auf die Frage nach ihrem Debüt bekennt Aichinger 2005, sie habe den Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) begonnen, weil sie für das Medizinstudium handwerklich zu ungeschickt war. „Ich könnte noch schreiben, weil ich eben nichts anderes kann, aber es genügt mir, so lange als möglich nicht zu schreiben – der schwierigere und eigentliche Teil der Arbeit. Denn es ist sich nicht das Vergehen von Zeit, sondern das der eigenen Person, auf das es ankommt.“ DANIEL A STRIGL


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„Fotz sei Dank!“ Barbi Marković erzählt in „Die verschissene Zeit“ derb und originell vom Belgrad der 90er

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in Atari-Plakat, bunte Disketten, das nervige Plüschtier Furby und eine Trollfigur mit pinken Haaren zieren die trashig-bunte Frontansicht des neuen Romans von Barbi Marković. But don’t judge a book by its cover: „Die verschissene Zeit“ ist mitnichten eine lustige Nostalgie-Reise durch die 90er-Jahre, sondern ein literarischer Höllentrip. Die Geschichte führt zurück nach Belgrad, wo die Autorin aufgewachsen ist. Die erzählte Zeit deckt sich in etwa mit ihrer Jugend in den 90er-Jahren, und es ist dem Roman anzumerken, dass Marković die beschriebenen Lebensumstände, Häuser, Parks und Lokale genau kennt. Diesen deshalb mit dem hippen Siegel Autofiktion zu versehen oder die Erzählerin Vanja kurzerhand mit der Autorin gleichzusetzen, würde indes viel zu kurz greifen. Was sich jedoch sagen lässt: „Die verschissene Zeit“ verfügt bei allem verspielten Hang zum Experiment – die Anleitung zu einem gleichnamigen Rollenspiel liegt dem Buch bei – über eine auf jeder Seite spürbare Direktheit und Dringlichkeit. Ohne die Qualität ihrer Thomas-BernhardÜberschreibung „Ausgehen“ (2009) und des Romans „Superhelden“ (2016) schmälern zu wollen, ist dies der Text, auf den die seit 15 Jahren in Wien lebende Marković wohl immer hingearbeitet hat. Bezeichnenderweise ist es auch das erste Buch, dass sie nach Zusammenarbeiten mit der Übersetzerin Mascha Dabić ausschließlich auf Deutsch verfasst hat. Der Text ist dennoch sehr nah dran am tristen Teenagerleben im Belgrad der 90er und der sprachliche Furor ist beachtlich. Geschildert werden Abenteuer und Alltag von

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Vanja, ihrem etwas älteren Bruder Marko und Kasandra, der gemeinsamen Freundin aus der Roma-Siedlung. Den Gepflogenheiten und Klischees des Coming-of-Age-Romans entgeht „Die verschissene Zeit“ schon durch einen erzähltechnischen Trick: Das

Trio wird nämlich von einer Zeitmaschine, die vom Mann einer legendenumrankten Schlagersängerin gesteuert wird, kreuz und quer durch die 90er-Jahre gebeamt. Eine Entwicklung im Sinne eines Reifungsprozesses können die Figuren gar nicht durchmachen, da es sie in jedem Moment um ein paar Jahre zurück oder nach vorne schleudern kann. Marković entsendet die drei auf eine verrückte Mission. Sie müssen den Porsche eines Capos stehlen und ein angeblich magisches Amulett finden. Nur dann können die 90er ein Ende nehmen, andernfalls gibt es kein Entkommen aus der Dekade, die im Pop tatsächlich gerade ein kleines Revival erlebt. In der Musik war damals keineswegs alles schlecht. che anders aus. Vanja empfindet die „Allneunziger“ (schöne Wortprägung) als einen einzigen Albtraum. Sie wächst an der Peripherie Belgrads im eher armen Stadtteil Banovo brdo auf. Ihre Familie wohnt in einem Hochhaus, das in den 60er-Jahren für pensionierte Soldaten errichtet wurde. Vanja ist die dritte Generation ihrer Sippe, die in der viel zu kleinen Wohnung lebt und sie hat nur wenig Hoffnung, es sich zu verbessern. Die 90er fühlen sich für sie an wie eine Endlosschleife. „Die verschissene Zeit“ besteht für die Protagonisten vor allem aus Warten. Sie warten auf den Bus, der meist viel zu spät kommt, warten in der Schlange, um ein paar Lebensmittel zu ergattern, die den Hunger einer vierköpfigen Familie kaum stillen werden können. Alle warten auf das Ende des Krieges und der Sanktionen, der Inflation, der Bombenalarme, der Zerstörung, der sinnlosen Morde an Privatpersonen. In der Rollenspiel-Anleitung zum Buch, die wie ein Kommentar zu ihm funktioniert, heißt es treffend: „Es lohnt sich nicht, Energie daran zu verschwenden, etwas zu erschaffen, wenn man nicht weiß, von wo

Michael von Killisch-Horn Geboren 1954 in Bremen. Er studierte Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in München und arbeitet als Übersetzer aus dem Französischen und Italienischen. Seit einem dreimonatigen Aufenthaltsstipendium 2013 in Montréal interessiert er sich auch verstärkt für die Literatur Québecs und verbringt jedes Jahr mehrere Wochen in Montréal. Im Herbst 2020 erschien ein von ihm herausgegebenes Heft der Literaturzeitschrift die horen mit aktueller Literatur aus Québec. 220 Seiten, gebunden, EUR 21,00 · ISBN 978-3-99029-470-3 Erscheinungstermin: Oktober 2021 ◆

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Die drei jungen Protagonist:innen müssen ein magisches Amulett finden, um der Zeitschleife der 90er-Jahre zu entkommen

Für eine junge Frau in Belgrad sieht die Sa-

Michel Jean Geboren 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac Saint-Jean (Québec). Nach einem Studium der Geschichte und Soziologie arbeitet er seit 1988 als Journalist und Moderator für den französisch-kanadischen Fernsehsender Radio Canada Info und, seit 2005, für TVA Nouvelles. Er ist mit sieben Romanen einer der wichtigsten indigenen Autoren Québecs. Nach Amun (2016) veröffentlichte er unter dem Titel Wapke (Morgen) im März 2021 eine zweite Anthologie mit dystopischen Erzählungen von 14 indigenen Autorinnen und Autoren aus Québec.

Wıeser

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die nächste Abrissbirne niedersausen wird.“ Unterbrochen wird das Warten meist nur durch Gewalt. Diese Gewalt bildet die Sprache des Romans trefflich ab. Vom niederen Ton, derbem Slang und den ständigen Flüchen („Fotz sei Dank!“) darf man sich weder abschrecken noch täuschen lassen. Der Text ist ein sowohl formal als auch thematisch ambitioniertes Unterfangen. Er führt in die jüngere Vergangenheit, ohne diese, wie es oft und manchmal vielleicht sogar ungewollt passiert, nostalgisch zu verklären. Ganz im Gegenteil: Marković verteufelt die 90er-Jahre, die das Trio am liebsten auslöschen würde, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. „Die verschissene Zeit“ ist nach „Die guten Tage“ von Marko Dinić schon der zweite bemerkenswerte Roman aus Österreich binnen kurzem, der auf ganz eigene Weise von Serbien, grassierendem Nationalismus und einer jungen, verlorenen Generation erzählt. Am Ende brüllt es Vanja voll Zorn in die WELT

Barbi Marković: Die verschissene Zeit. Residenz, inkl. Beiheft 304 S., € 24,–

MICHEL JEAN

hinaus: „Es geht nicht um uns in der Welt, weil wir auf Banovo brdo leben, in einem Scheißland. Es geht nicht um uns in den Geschichten, weil unsere Lebenserfahrung eine Nischenerfahrung ist. In den Werbungen werden andere Leute angesprochen, in Filmen andere Schicksale gezeigt. Es GEHT tatsächlich NIEMANDEM UM UNS, ABER UNS, UNS GEHT ES EXTREM UM UNS!“ In diesem Roman geht es ausnahmsweise nur um sie. Das darf man ruhig als kleinen Triumph der Literatur werten. Barbi Marković untermauert mit „Die verschissene Zeit“ ihren Status als – Achtung, verbotenes Wort – „Ausnahmeschriftstellerin“. Im Gespräch mit dem Falter mutmaßte sie vor ein paar Jahren: „Ich glaube, ich werde irgendwann eine ganz normale Bestsellerautorin werden.“ Nun, dafür ist ja später auch noch Zeit. SEBASTIAN FASTHUBER

Michel Jean erzählt in Kukum die Geschichte seiner Urgroßmutter Almanda Siméon, die 97 wurde. Als Waise von Pflegeeltern aufgezogen, lernt sie mit fünfzehn den jungen Innu Thomas Siméon kennen, verliebt sich trotz der kulturellen Unterschiede sofort in ihn, sie heiraten, und Almanda lebt von da an mit dem Nomadenstamm, dem er angehört, lernt seine Sprache, übernimmt die Riten und Gebräuche der Innu von Pekuakami und überwindet so die Barrieren, die den indigenen Frauen auferlegt werden. Anhand des Schicksals dieser starken, freiheitsliebenden Frau beschreibt Michel Jean auch das Ende der traditionellen Lebensweise der Nomadenvölker im Nordosten Amerikas, deren Umwelt zerstört wurde und die zur Sesshaftigkeit gezwungen und in Reservate gesperrt wurden, ohne Zukunftsperspektive, ein Leben geprägt von Gewalt, Alkohol und Drogenkonsum. Der Roman wurde im Herbst 2020 mit dem Prix littéraire France-Québec ausgezeichnet. „Ich spüre in mir die Verantwortung, unsere Geschichten zu erzählen, die der Innu und der Mitglieder der Ersten Völker. Denn sie kommen praktisch nirgends vor. In den Geschichtsbüchern nehmen sie nur wenig Raum ein. In Nordamerika beginnt die Geschichte mit der Ankunft von Christoph Kolumbus 1492, diejenige Kanadas mit Jacques Cartier 1534. Aber wir leben hier seit 15 000 Jahren. Wenn wir unsere Geschichten nicht erzählen, wer dann?“ 07.10.21 17:16


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„Liebe Hinterbliebene …“ In Büchern von Stefan Slupetzky und Walter Müller wird der Grabrede die ihr gebührende Ehre erwiesen

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ic sunt leones, schrieben die Geografen früherer Zeiten in geschwungenen Lettern quer über jene Leerräume ihrer von Hand gezeichneten Landkarten, welche die noch unerforschten Gebiete der Erde darstellten, und versahen diese auch noch mit fantastischen gehörnten oder doppelköpfigen Kreaturen. Die monströsen Wesen sind aus den Karten verschwunden, seit alles vermessen und bis ins Detail kartiert ist. Gibt es denn gar kein unerforschtes Land mehr? Stimmt, was der Wiener Schriftsteller, Musiker und Zeichner Stefan Slupetzky gleich auf der ersten Seite seines neuen Buchs „Nichts als Gutes“ schreibt, nämlich „Unsere Welt hat keinen Arsch mehr, ihre Karte keinen weißen Fleck“? So pointiert kann man es formulieren. Doch Rettung naht, wenn auch eine sehr unheimliche, denn eine große Terra incognita existiert bis in alle Ewigkeit. Sie ist allerdings, so Slupetzky, „kein Wunschziel, und doch werden wir sie alle ausnahmslos bereisen“. Aufbruchstermin: ungewiss, und um eine Gruppenreise handelt es sich ganz bestimmt nicht. Ein jeder und eine jede geht den letzten Weg allein. Dass er gegangen werden muss, ist sicher, obwohl wir es – einem berühmten Zitat Sigmund Freuds zufolge – partout nicht wahrhaben wollen: „Im Grunde glaubt niemand an seinen eigenen Tod.“

Stefan Slupetzky. Nichts als Gutes. Grabreden. Picus Verlag, 159 S., € 20,–

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

Um das Ende des Lebens ist gut ein bisschen

Wind machen. Darum sind die Rituale, mit denen die Lebenden die Toten auf die Reise schicken, so mannigfaltig. Eins davon ist, jedenfalls in der westlichen Welt, die Grab- oder Trauerrede. Und es trifft sich, dass in diesem Buchherbst gleich zwei Bände mit solchen Reden erscheinen: Jene in Stefan Slupetzkys „Nichts als Gutes“ sind fiktiv; jene aus „Lasst uns über die Liebe reden“ aus der Feder des Salzburger Journalisten und Dramaturgen Walter Müller sind tatsächliche solche, die Müller im Lauf

Walter Müller. Lasst uns über die Liebe reden. Trauerreden. Otto Müller Verlag, 262 S., € 22 ,–

der Jahre gehalten hat, und zwar in seinem zweiten Beruf als professioneller Trauerredner, welcher ihm unübersehbar auch Berufung ist. Es handelt sich bereits um das zweite solche Buch, das Müller veröffentlicht. Dieser Umstand allein lässt auf Bedarf schließen. 22 Grabreden und damit auch Viten versammelt er diesmal: Es sind gefühlvoll, detail- und facettenreich komponierte Tours d’Horizon durch die Lebensläufe, Errungenschaften und Charakterlandschaften Verstorbener; vom hochbetagt dahingeschiedenen Mondseer Faktotum und Ex-Weltmeister im Barfußwasserski bis zu einer japanisch-österreichischen Frau mit Beeinträchtigung, die ihre Umgebung ein bedächtigeres Lebenstempo und Wertschätzung des Glücks im Kleinen lehrte. Müllers Devise: Jedes Leben ist einzigartig und wert, erzählt zu werden. Zweifellos können sich alle Hinterbliebenen glücklich schätzen, die Müller als Trauerredner verpflichtet haben. Wer wissen möchte, wie eine achtsame, respektvolle Grabrede gelingt, ist gut beraten, sich an Müllers Können zu orientieren. Ums Literarische geht es hier weniger. Auf die literarischen Aspekte der Grabrede

legt umgekehrt Stefan Slupetzky sein Augenmerk, der dieses Genre als sträflich vernachlässigte Kurzform des biografischen Erzählens identifiziert und für sich entdeckt hat. Der Buchtitel „Nichts als Gutes“ bezieht sich natürlich auf den allseits bekannten lateinischen Lehrspruch „de mortuis nihil nisi bene“ (Von Verstorbenen soll man nichts als Gutes sagen). Und natürlich macht sich Slupetzky einen Mordsspaß daraus, sich genau an diese Devise nicht zu halten. Der Reiz besteht für ihn unverkennbar auch darin, den Toten einmal ins Grab nachspucken zu dürfen, sie zu enttarnen und zu entblößen und etwaigen zu Lebzeiten angesammelten Rachegefühlen und Ressentiments gegenüber einem Verstor-

benen endlich, endlich und sozusagen auf großer Begräbnisbühne und vor Publikum nachgeben zu dürfen. Deshalb geht es in Slupetzkys Grabreden auch mindestens so sehr um die Grabredner selbst wie um die Verstorbenen. Sie sind schließlich noch quietschlebendig und können ihren Gefühlsanwandlungen Ausdruck verleihen. Ein bisschen funktionieren die Grabreden bei

Slupetzky wie in manchen Hollywoodfilmen, wo sie als dramaturgische Momente immer wieder für Knalleffekte und Enthüllungen gut sind. Tabubruch macht Spaß und hat auch etwas Entlastendes. So zum Beispiel, wenn Slupetzky einen seiner Grabredner dazu anstiftet, seinen verstorbenen langjährigsten Freund als Verräter zu enttarnen („Du warst mit einem Schwein verheiratet ...“), um im nächsten Atemzug der Witwe einen Heiratsantrag zu machen. Auf die satirische Spitze getrieben wird zudem so ziemlich alles, was man in zarten Ansätzen auch von echten Begräbnisreden kennt – vom belanglosen Blabla bis zur leb- und lieblosen Aufzählung: Da ist die Grabrede des Chefs, der eigentlich rein gar nichts über den verstorbenen Kollegen zu sagen weiß; der Stand-up-Comedian, der in seiner Trauerrede mit dem Neid auf die Pointen des toten Kollegen nicht hinterm Berg halten kann; oder der Funktionär, der seine Trauerrede als Parteiveranstaltung missversteht. Manches davon ist ziemlich lustig. Einige von Slupetzkys Versuchsanordnungen (wie etwa die Grabrede auf einen verstorbenen Fußballer, der zum Samenspender wurde) sind hingegen so sehr an den Haaren herbeigezogen, dass man nicht mehr recht weiß, warum man dem Klamauk folgen sollte. Das wirklich Tolle an Slupetzkys Grabreden-Band sind nämlich weniger die fiktiven Grabreden selbst als seine kurzen essayistischen Einleitungen, die er jeder einzelnen von ihnen vorangestellt hat. JULIA KOSPACH


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Zwischen Schubert und Schmeißfliegen Martin Becker zeichnet in „Kleinstadtfarben“ das tragikomische Porträt eines Mannes am Rande des Nervenzusammenbruchs ls Gott Schönheit, Anmut und Glück A auf der Erde verteilte, ging einer leer aus: Peter Pinscher, Anfang 40, Ischiaspro-

blemen, „ein massiges, gekrümmtes Häufchen Elend“. Hinzu kommen noch allerlei Laster: „Er frisst, statt zu essen, er säuft, statt zu trinken, er quarzt, statt zu rauchen. Wenn er verliebt ist, dann im Wahn, wenn er sich was wünscht, dann unbedingt. Er arbeitet nicht, er ackert, er ist nicht traurig, er krepiert vor Kummer.“ Wer den Protagonisten in Martin Beckers tragikomischem Roman „Kleinstadtfarben“ als einen Mann der Extreme auffasst, liegt goldrichtig. Für jede Enttäuschung gibt es einen Cheeseburger oder eine Fettbombe aus dem Thai-Imbiss. Und an Enttäuschungen herrscht kein Mangel. Nachdem Pinscher die Polizeilaufbahn einschlägt, bleibt er auf der Karriereleiter schon bald als Leichenbeauftragter seines Dezernats hängen. Und als wären tote Menschen als tägliche Begleiter nicht schon genug des Unglücks, wird er zudem von seinen Kollegen und Kolleginnen verspottet. Erwartbar brennen dem Workaholic irgendwann die Sicherungen durch. Prompt folgt die Versetzung, zurück in das Provinznest, in dem er geboren wurde. So beginnt der Text, der von Anfang an als ein dichtes Charakterporträt komponiert ist. Ausführlich schildert der 1982 im

Sauerland geborene Autor den Alltag seines verkrachten Kommissars und gewährt uns zahlreiche Einblicke in eine versehrte Seele. Neben diesen Introspektionen weiß Becker durch seine herausragenden Milieuskizzen zu bestechen. Sie reichen vom mit Schmeißfliegenpopulationen übersäten Tatort bis zu detailreichen Schilderungen des Kleinstadtlebens. Für Komik sorgen dabei insbesondere die Polizeisprechstunden, aber auch kuriose Einsätze wie etwa die Befriedung eines von Einbildungen heimgesuchten Dorfschrecks. Was in dem ländlichen Gebiet (im Gegensatz

zur Großstadt) nicht mehr funktioniert, ist die stete Ablenkung von den eigenen Dämonen. Indem sich Pinscher wieder zu seinen geografischen und familiären Wurzeln begibt, muss er sich gleichsam den Gründen seiner Ängste stellen. Warum traut er sich abends kaum noch auf die Straße? Und was treibt ihn dazu an, sich beruflich ständig mit Verstorbenen zu befassen? „Ich will nicht sterben, unter gar keinen Umständen, also gucke ich der Sterberei der Anderen zu und lerne und lerne“, so der Held von der traurigen Gestalt. Als Urtrauma entpuppt sich der frühe Tod des Vaters, den Pinscher nie richtig verwunden hat. Da nun auch seine Mutter schwächelt, muss er endlich ein Verhältnis zum Tod finden. Unterstützung findet er

Martin Becker: Kleinstadtfarben. Roman. Luchterhand, 288 S., € 20,95

dabei bei einer alten Schulfreundin, in die er sich unglücklich verliebt. Auch die Aufklärung eines Mordes in der ach so friedfertigen Provinz trägt dazu bei, dass der in Dysbalance geratene Protagonist schlussendlich doch zu sich finden wird. Obgleich Becker seine Geschichte – ein wenig behäbig – in eine streng lineare Erzählung packt, weiß er doch so manchen ästhetischen Funken zu zünden – etwa die Kriegsrhetorik, mit der die inneren Konflikte der Hauptfigur beschrieben werden. Dem entgegen steht das Streben nach Freiheit, sinnbildlich geworden in den von Pinscher in Obhut genommenen und am Schluss in die Natur entlassenen Wellensittichen. Am eindringlichsten wirken allerdings die subtilen melancholischen Töne, die die Einsamkeit des Protagonisten unterstreichen. Schuberts „Winterreise“ oder Mahlers Rückert-Vertonung „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ verleihen dem immer wieder mit grellem Humor aufwartenden Roman überraschende Tiefe. Sie eröffnen einen romantischen Sehnsuchtsraum jenseits der glanzlosen und von Routinen gezeichneten Realität. Wer also schreibt hier? Ein verkappter Träumer? Ein Eskapist? Ein Ästhet oder Psychologe? In jedem Fall ein exzellenter Erzähler, der die Form und die Darstellung von Gefühlslagen gleichermaßen beherrscht. BJÖRN HAYER

Mit der Stimme des Vaters In seinem beeindruckenden literarischen Debüt arbeitet sich Edgar Selge an Leid an und Liebe zu seinem Vater ab er Sinn fürs Schöne ist dem GefängnisD direktor nicht abhandengekommen, bei allem Elend, das ihn den ganzen Tag um-

gibt. Regelmäßig setzt er sich ans Klavier und übt für Hauskonzerte, die er immer zweimal zur Aufführung bringt: nachmittags vor den Häftlingen, die ihn bei dieser Gelegenheit in seiner Wohnung besuchen dürfen, abends vor den Honoratioren der kleinen Stadt. Mitten im Publikum: sein Sohn Edgar, vielleicht zwölf Jahre alt, hinund her gerissen zwischen der Musik und den Gedanken, die ihm beim Anblick des Publikums durch den Kopf gehen. So provinziell-grotesk beginnt Edgar Selges erster Roman und man wird auf den ersten Seiten ganz süchtig nach noch mehr drolligen Anekdoten aus den frühen Jahren der Bundesrepublik. Das Setting scheint perfekt: ein Vater, der in der selbst auferlegten Rolle des Familienoberhaupts immer wieder knapp an der Lächerlichkeit vorbeischrammt; eine Mutter, die es irgendwie allen recht machen will und am Ende zwischen allen Stühlen sitzt; fünf Söhne, jeder in seiner Art eigenwillig und ungewöhnlich begabt. Aber schon bald schlägt die Erzählung ganz an-

dere Töne an. Immer häufiger kommt Edgar auf Ideen, die nicht immer zu dem passen, wie sich seine Eltern einen Sohn vorstellen. Können sie sich überhaupt vorstellen, dass ein Sohn eigene Ideen hat? Edgar schum-

melt, lügt, lässt mal ein bisschen Geld mitgehen, und sobald ihm sein Vater auf die Schliche kommt, ist die Strafe fürchterlich – bestialisch auch nach Maßstäben der damaligen Zeit, die an der Prügelstrafe nichts Schlimmes finden konnte. Nun ist dieses Buch gar nicht mehr drollig, und es wird klar, wie diese Familie generell unter dem Gesetz der Gewalt steht. Der Vater war im Krieg in Weißrussland, wo die Deutschen die sowjetische Bevölkerung systematisch aushungerten. Von seinem Tagebuch aus dieser Zeit sind nur ein paar Seiten erhalten geblieben, der Rest wurde vernichtet. Nach dem Krieg wird die Familie aus Königsberg nach Westfalen vertrieben, wo Flüchtlinge überhaupt nicht willkommen sind. Seine erste Stelle hat der Vater im Kriegsverbrechergefängnis Werl, wo prominente Häftlinge wie Generalfeldmarschall Albert Kesselring bei ihm mit milder Behandlung rechnen können. Ein tiefer Hass nistet sich ein in diesem Mann. Das Trauma des Krieges mag eine Rolle spielen, noch mehr aber die Demütigung durch Kapitulation und Vertreibung. Dieser Hass verschanzt sich hinter einer bildungsbürgerlichen Fassade und wird domestiziert vom Wissen, Herr über 400 Gefangene zu sein. Aber er bricht in der Familie hervor, sobald deren fragile Ordnung in Frage gestellt wird: wenn sich etwa Edgar, fast Kind noch, dem väterlichen Willen entzieht, oder wenn der ältere Bruder

von den Eltern wissen will, was sie eigentlich vom Genozid wussten und en passant Celans „Todesfuge“ zitiert. Es ist noch gar nicht lange her, da gab es viele

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden. Rowohlt, 302 S., € 24,70

Familien wie die Selges – und es gibt auch schon eine ganze Reihe Bücher, die deren Geschichten festhalten. Edgar Selge hat sie vergleichsweise spät aufgeschrieben, und er erzählt auch von einem Mann, den diese Erfahrungen noch 60 Jahre später umtreiben, kann er doch bis heute nicht verstehen, warum er seinen Vater, der ihm bis hin zu intimen Annäherungen im Badezimmer so viel angetan hat, trotzdem geliebt hat. Und als seine alte Mutter nach dem Besuch der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zusammenbricht, macht er sich Vorwürfe: Hat er vielleicht doch zu viel mit ihr über die Juden geredet? Eines Tages entdeckt er ein Tonband mit der Stimme seines verstorbenen Vaters und erschrickt: Sie klingt wie seine eigene. Die Wissenschaft nennt das Phänomen transgenerationale Weitergabe. Als Autor hat Edgar Selge seine eigene Stimme gefunden. Aus ihr hört man jene Mischung aus Respekt und Hochmut heraus, mit der heranwachsende Söhne bisweilen mit ihren Vätern sprechen, aber auch Selbstzweifel und Selbstironie. Darin war sein Vater völlig unbegabt, und sie haben ihm einen Weg aus dem Gefängnis der Familie gezeigt. TOBIAS HE YL


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Vogelflug ins Futur II Georg Kleins „Bruder aller Bilder“ legt Leitungen ins Jenseits und spielt mit übersinnlichen Fähigkeiten

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chon am Anfang, wenn die junge, wortkarg-coole Journalistin MoGo mit der Reporterlegende Addi Schmuck loszieht, um einem Taubenproblem im örtlichen Stadion nachzuforschen, klingen die Sätze in Georg Kleins neuem Roman verlockend vieldeutig. Nein, es geht in „Bruder aller Bilder“ nicht nur um Tauben oder Fledermäuse, die eine Sportstätte heimsuchen. Traumtiere aller Art bevölkern das Geschehen, und ein schräger Vogel in Menschengestalt bringt das Diesseits mit dem Jenseits zusammen: Der sogenannte „Auskenner“, den Addi und MoGo um Rat fragen, lebt in einer alten Werkhalle am Stadtrand und erweist sich als genialer Tüftler, der über Tiere und Pflanze genauso Bescheid weiß wie über historische Geräte und ihre Schaltkreise. Dazu kommt auch noch MoGos tote Mutter, die über einen Röhrenfernseher mit ihrer Tochter Kontakt aufnimmt: Sie sei „muttergespenstallein“, sagt sie, und dass sie mit der Fernbedienung nicht klarkomme.

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Labyrinthische Unterwelten und das Lichtjahre Entfernte kennzeichnen Kleins Bücher, die mit Realismus nichts am Hut haben

Vom schrullig-verspielten Setting des Romans

sollte man sich aber nicht täuschen lassen: Der Tod ist sein Thema oder, genauer gesagt: das vermeintlich Unbelebte und Unbeseelte, das die Schleusen zur Zwischenwelt überwinden kann. Medien, im altmodisch spiritistischen Sinn, öffnen dabei die magischen Kanäle. Dass man es mit einer Geistergeschichte zu hätte, wäre dabei nur die halbe Wahrheit. Denn Addi Schmuck und Monique Gottlieb, wie die entkürzelte Schreiberin heißt, leben in einem sehr handfesten Hier und Jetzt – als Teil einer Mediensatire, die den alten Zeitungssprech genauso aufs Korn nimmt wie die neue Ära mit ihren immer kürzeren Texten. Addi und MoGo arbeiten für die Allgemeine, bei der man an die Augsburger Allgemeine denken könnte, nicht zuletzt, weil Georg Klein, Jahrgang 1953, in Augsburg aufgewachsen ist und bereits sei-

Georg Klein: Bruder aller Bilder. Roman. Rowohlt, 269 S., € 22,70

Die Geschichte einer Befreiung: Saschas Leben beginnt, als ihre Eltern sie zurücklassen.

nen „Roman unserer Kindheit“ von 2010 dort angesiedelt hatte. Aber nicht Augsburg, sondern eher das Allgemeine am Zeitungswesen sind gemeint. Die Medienmogulin, eine ostentativ gütige Gräfin Eszerliesl, schlägt vor, gleich drei Ressorts zusammenzulegen, zu „Kultur, Sport und Leben“. Um die vermeintliche Wirklichkeit geht es in Georg Kleins Romanen aber nur sehr bedingt. Er wolle nichts abbilden, hat der Autor schon vor 20 Jahren erklärt, als er gerade mit „Libidissi“ und „Barbar Rosa“ bekannt geworden war, seinen fantastischen Agenten- und Detektivromanen, die mit den gängigen Realismen rein gar nichts zu tun haben. Labyrinthische Unterwelten kennzeichnen Kleins Bücher ebenso wie das Lichtjahre Entfernte: In „Sünde Güte Blitz“ (2007) landet ein Außerirdischer auf der Erde, und in „Die Zukunft des Mars“ (2013) entstehen neue Kulturen fern vom Mutterplaneten. Kleins Roman „Miakro“ (2018) erzählt von grauen in Untergrundbüros hausenden Männern, die von gebärmutterähnlichen Wänden ernährt werden – vielleicht ein verzerrtes Abbild der gegenwärtigen Arbeitswelten, als Allegorie aber nie dingfest zu machen. Die wahre Protagonistin aller Klein-Romane ist sowieso die Sprache: klangvoll, rhythmisch und voll abgründigem Witz. Das Label „schwarze Romantik“, das man diesem ironischen Spiritisten angeheftet hat, war vielleicht nicht ganz falsch, aber es hat den Blick verstellt auf eine andere Facette, die in „Bruder aller Bilder“ deutlicher zutage tritt: Bei all der Schauerromantik schwebt milde Melancholie über Addis und MoGos Abenteuern. Es sind die lieben Untoten, die ihre Lebenden nicht in Ruhe lassen – und umgekehrt. Auch Addi schleppt wohl einen unerlösten Toten mit sich herum: War das Taubenproblem im Stadion nur ein Vorwand, mit dem er seine jenseitsbegabte Kollegin zum Auskenner gelockt hat? Inszeniert der alte

Reporter, der so stilvoll retro im Ford Mustang durch die Stadt cruist, eine Art ReEnactment, wenn er mit MoGo und dem Auskenner vor der Halle sitzt und Mohnkuchen isst? Anscheinend jährt sich ein geheimnisvoller Unfall, bei dem eine Taube in die Verandascheibe gekracht ist. Wäre der Auskenner damals beinah gestorben, oder ist die Taube jetzt erst auf dem Weg? Zeitschleife, Déjà-vu, Vogelflug ins Futur II: Der Reporter scheint den ominösen Unfall nachzuspielen, bei dem die Tiere als Sonderbotschafter des Übersinnlichen mitmachen. „Und’n toter Vogel / kommt vorbei und stirbt“, könnte man mit der 80erJahre-Band Spliff denken, aber musikalisch wäre man damit im falschen Jahrzehnt gelandet. Addi und der Auskenner sind Kinder der Sixties und Seventies, die sich die Beatles- oder Doors-Zitate nur so um die Ohren hauen. Ihr knarziger Alter-KnabenSound ist nicht nur entwaffnend komisch; er ist auf eine seltsam anrührende Weise nicht mehr von dieser Welt – genau wie die ausgemusterten Geräte, vom Röhrenfernseher bis zum Videorekorder, die den Roman mit ihrer Steampunk-Aura durchziehen. Es gibt eine rostige Mechanik, bei der immer wieder das wilde Leben durchschlägt, und diese unheimlichen Überblendungen vom erstarrten Toten zum wuchernd Lebendigen vollziehen sich auch von den beweglichen Menschenmienen zu den maskenhaften Tierfratzen. „I’m looking through you“, meint die Mut-

ter aus ihrem Fernseher heraus mit den Beatles: Sie kann mit ihrem Röntgenblick wortwörtlich durchschauen, „ob irgendeinem irgendein anderer innewohnt“. Wie solche alten Geister durch uns hindurchwachsen und dabei hierhin und dorthin morphen, davon erzählt Georg Kleins „Bruder aller Bilder“ so ansteckend psychedelisch, dass man sich von MoGo und ihren Oldstylern nur schwer trennen kann. JUT TA PER SON


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Im Fleischwolf der Weltgeschichte Wassili Grossmans Monumentalroman „Stalingrad“ weist unter 150 Figuren auch einige Pappkameraden auf

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talingrad ist ein Mythos. Nach der Schlacht an der Wolga zwischen Herbst 1942 und Winter 1943 verzeichnet die deutsche Seite über eine Million Tote, die sowjetische Seite über eineinhalb Millionen. Russische und deutsche Autoren haben sich daran abgearbeitet – von Viktor Nekrassow bis Walter Kempowski. Als spektakulärster Wurf gilt heute Wassili Grossmans monumentale Epopöe „Leben und Schicksal“, der ultimative Roman über die psychologisch kriegsentscheidende Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Die Welt schaute auf die Metropole Stalingrad und wartete auf die Wende an der Wolga. So lautete auch der Titel von Grossmans erstem, 1952 erschienenem Stalingrad-Roman. Und hier beginnt auch das Problem: Anders als der ob der vehementen Kritik am Stalinismus in Sowjetzeiten verbotene zweite Teil der Dilogie „Leben und Schicksal“ ist der nunmehr neue übersetze erste Teil purer sozialistischer Realismus. Und zwar nicht im besten Sinn. Wassili Grossman, 1905 im ukrainischen Berditschew geboren, stammte aus einer bürgerlich-jüdischen Familie; sein literarisches Debüt, der Bergarbeiterroman „Glückauf “, blieb systemkonform. Die Bürgerkriegserzählung „Die Stadt Berditschew“ (als „Die Kommissarin“ von Alexander Askoldow verfilmt) errang trotz „Abweichungen“ von der offiziellen sozialistischen Ästhetik das Lob Maxim Gorkis. Den Großen Terror Stalins bekam Grossman selbst zu spüren: Seine Frau wird als „Volksfeind“ verhaftet, kommt aber nach Bittbriefen des Autors wieder frei. Am 5. August 1941 meldet sich der 36-Jährige als Korrespondent der Armeezeitung Krasnaja Swesda freiwillig an die Front. „Stalingrad“ beginnt mit einem nach authentischen Quellen geschilderten Treffen von Mussolini und Hitler am 29. April 1942 in Salzburg Kleßheim, das rasch ins Komische kippt. Die beiden Achsen-Diktatoren schwadronieren über Weltherrschaft,

Es ist der Sommer 2018. Jakob Horak, Mittvierziger, Romanautor, ist mit seiner Freundin auf Lesetour durchs österreichische Hinterland. Letzter Stopp: Heidenholz, Waldviertel. Hier hat er die Sommer seiner Jugend verbracht. Als sein Verleger ihm eine schlechte Nachricht überbringt, hat die Landidylle aber schnell ein Ende. Horak begibt sich mit seinem Jugendfahrrad auf Wanderschaft – und neue und alte Begegnungen leiten eine neue Ära ein.

ihre nächsten Kriegspläne und „lächeln wie immer breit und gefällig mit allem Gold und Porzellan ihrer falschen Zähne“. Eine Seite später erfährt man noch, dass Hitlers ununterbrochenes Sprechen einen „süßlichen Geschmack in seinem Mund“ erzeugt. Bei so viel Karikatur verwundert es nicht, dass der Gröfaz die wahren Probleme des Unternehmens „Barbarossa“ verkennt: den Widerstand der Sowjets nämlich, die „Kraft eines großen Volkes, das bereits das Fundament einer künftigen Welt gelegt hatte“. Bisweilen erstrecken sich derartige hymnische Tiraden des auktorialen Erzählers über mehrere Seiten. Zum Glück geht es nicht immer so weiter. Wo Krieg herrscht, muss es im Roman auch Frieden geben, so prekär der auch sein mag. Die ziemlich große Familie Schaposchnikow trifft sich noch einmal in ihrer geräumigen Wohnung in Stalingrad: Im Zentrum steht Alexandra Wladimirowna Schaposchnikowa, gelernte Chemikerin, die vor der Revolution im Ausland Chemie studiert hatte und jetzt technische Literatur für den Krieg übersetzt. Wir befinden uns im Reich der alten Sowjetintelligenzija.

und Paulus abwärts. Großartig beschreibt Grossman das Bombardement Stalingrads durch die Deutschen, den ersten Einsatz des Schaposchnikowa-Enkels Anatoli oder die Luftkämpfe zwischen „Jaks“ und „Messerschmitts“; es finden sich zahlreiche eindringliche Beschreibungen der Stadt und der Steppenlandschaft vor und nach der Schlacht. Das Feld ist mit Leichen von Rotarmisten übersät. Doch dann tritt mit dem SS-Offizier Lenard, „mit hoher weißer Stirn und reglos blauen Augen“, eine Pappfigur auf den Plan: „Wir haben nicht nur die Bolschewisten und den russischen Raum besiegt – wir haben uns selber von der Ohnmacht des Humanismus befreit.“

Da sind weiters drei Töchter sowie die Schwie-

gersöhne, die im Roman eine wichtigere Rolle spielen. Und da sind schließlich Sofja Lewinton, Chirurgin, die sehr viel später im Konzentrationslager ermordet wird, sowie der Enkel Anatoli, der gerade unterwegs zur Front ist. Als wär’s ein Stück von Tschechow wird noch über Gott und die Welt geredet, eine gewisse Unruhe angesichts der näher rückenden Front macht sich allerdings bemerkbar. Dass die Deutschen bis an die Wolga vorstoßen, werde, so denkt man, die sowjetische Luftwaffe schon verhindern. Es sind insgesamt um die 150 Figuren, die in Grossmans Roman in den Fleischwolf der Weltgeschichte an der Wolga geraten – Parteifunktionäre, Arbeiter und Ingenieure, sowjetische und deutsche Militärs aller Ränge, von den Generälen Jeromenko

Ein sehr stimmungsvoller Roman über das Waldviertel, das Älterwerden und die Liebe. Ein sehr humorvoller Roman über das Schriftstellersein und überraschende Wendungen im Leben. milena-verlag.at

Wassili Grossman: Stalingrad. Roman. Aus dem Russischen von Christian Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe. Claassen, 1275 S. , € 36,–

DER NEUE ROMAN VON JAN KOSSDORFF! Jan Kossdorff HORAK AM ENDE DER WELT Roman

ISBN 978-3-903184-77-0

Noch weiß der Übermensch nichts von den Verteidigungsplänen der Sowjets, die im Oktober einen mächtigen Gegenangriff planen. Bevor Generaloberst Krymow die Wolga in einer Barke übersetzt, wird noch einmal innegehalten: „Der gewaltige Himmel mit seinem Sternenstaub wölbte sich hell und leicht über den Fluss und weite Landschaften, die sich nach Osten und Westen hin ausbreiten.“ Der Feuersturm beginnt, Krymow geht in die Schlacht. Der letzte Satz lautet: „Er schritt über die Erde Stalingrads.“ Wassili Grossman beendete nach eintausend Tagen an der Front und als einer der prominentesten sowjetischen Kriegsreporter den Krieg in Berlin. Unmittelbar danach folgten sieben Jahre Arbeit am „Stalingrad“Roman, der bei seinem Erscheinen 1952 – trotz zwischenzeitlicher Kritik, die Rolle von Partei und Stalin nicht ausreichend gewürdigt zu haben – zum Erfolg wurde. Den erhofften Stalinpreis erhielt Grossman dennoch nicht, stattdessen begann er, die eigentliche Geschichte der Schlacht von Stalingrad in „Leben und Schicksal“ gänzlich umzuschreiben. Allein dort wurde klar, dass die Sieger leer ausgingen. Dieses Buch wurde verboten und ist tatsächlich lesenswert. ERICH K LEIN


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Die Kotze des Duce Antonio Scurati legt den zweiten Band seiner Mussolini-Biografie vor. Raffiniert entzaubert er einen Mythos

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er Befehl von General Rudolfo Graziani vom März 1928 bezüglich der Hinrichtungen in Libyen lautete: 1) Art und Weise: Erschießen. 2) Rasche Durchführung, um gefährliche Subjekte nicht unnötig viele Tage am Leben zu lassen. Dann fügte Graziani noch hinzu: „Jede Gefühlsregung ist strafbar.“ Wir befinden uns mitten im zweiten Band von Antonio Scuratis monumentalem Werk „M“, einer Biografie des italienischen Diktators Benito Mussolini (1882– 1945). Diesmal geht es um die Jahre 1925 bis 1932, die Phase der Konsolidierung faschistischer Politik. Der Duce will mit den brutalen Weggefährten der Nachkriegszeit brechen und schließt einige Squadristen – so der Name für Mitglieder paramilitärischer Gruppen – aus der Partei aus. Nun geht es darum, städtebauliche und industrielle Großprojekte umzusetzen oder auch einen Ausgleich mit der katholischen Kirche zu finden. Adolf Hitler, damals noch ein unbekannter Münchner Rechtsextremer, blickt zu seinem Vorbild auf und bittet vergeblich um ein persönliches Treffen. Doch das Morden geht von der Öffentlichkeit unbemerkt weiter. In Libyen versucht Italien, einen Kolonialstaat aufzubauen, und begeht dabei zahlreiche Kriegsverbrechen, Giftgasangriffe und Massenexekutionen. Was bisher kaum Eingang in die Geschichtsbücher fand, ruft „M“ detailreich in Erinnerung. Der frühe Faschismus propagierte den Kult der Gefühllosigkeit. Er sollte zur Anleitung zu genozidalen Verbrechen in Afrika werden. Antonio Scurati hat Philosophie studiert und

unterrichtet an einer Mailänder Universität Kreatives Schreiben. Das Schreibprojekt entstand als Reaktion auf den Erfolg der italienischen Rechtspopulisten. Scurati zufolge haben Politiker wie Silvio Berlusconi oder Matteo Salvini von Mussolini gelernt, wie man etwa den Körper politisch instrumentalisiert. In der ersten Phase habe

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Scurati entzaubert Mussolinis grandezza. Der Weg in die Diktatur führt nicht auf die umkämpfte Straße, sondern ins Sitzungszimmer

Mussolinis erotische Militanz fasziniert, nach der Machtübernahme würden Fotografie, Kino und Massenveranstaltungen den Duce ins Übersinnliche heben. Entsprechend groß ist Scuratis Augenmerk für diese Metamorphose. Immer wieder unterbricht zwar der Alltag, der Ärger mit Kindern und Geliebten oder der Verrat von Parteifreunden den Höhenflug des Duce. Nach außen hin aber wird die Aura der Unbesiegbarkeit gestärkt. Mussolini überlebt wie durch ein Wunder mehrere Attentate, ein Zufall, der ihn zum „Mann der Vorsehung“ macht, wie der Roman im Untertitel heißt. Das Epos beginnt mit „grünlich Erbrochenem, das von Blut durchschliert ist“. Während der Duce von Triumph zu Triumph eilt, plagen ihn Verdauungsprobleme. So holt der Autor die überlebensgroße Figur auf den Boden des Stoffwechsels herunter. Man muss sich auch vor der Übersetzerin Ve-

Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung. Roman. Übersetzt von Verena von Koskull. Klett Cotta, 640 S., € 28,95

rena von Koskull verneigen, die es schafft, dem Sprung rhetorischer Stilmittel zu folgen: vom unerträglichen vaterländischen Pathos bis zur hilflosen Sprache eines Arbeiters. „Ich bin an geklagt wegen Beleidikung des Duce aber klauben Sie doch, dass ich unschuldig bin“, schreibt ein Maurer aus dem Gefängnis. Der Autor behält das Schema des ersten Bandes bei. Die Erzählung folgt einer tagebuchartigen Struktur und stellt Mussolini Kameraden, Gegner, Familienmitglieder und faschistische Größen zur Seite. Die Position des Erzählers lässt sich mit einer Drohne vergleichen, die über dem Geschehen schwebt und immer wieder in Szenen hineinzoomt. Der sachliche Ton weist eine ironische Färbung auf, wie man sie von den großen Realisten des 19. Jahrhunderts kennt. Deren Vorliebe für Spannungsbögen und psychologische Tiefe fließt allerdings nicht in den Roman ein. Der Lauf der Dinge gehorcht nicht dem Prinzip Steigerung, son-

Czernin Verlag

Christopher Wurmdobler

Ausrasten

»Wurmdobler hat keine Scheu vor Klischees und auch keine Hemmungen, diese genüsslich und mit Sprachwitz zu zerlegen.« Wiener Zeitung

160 Seiten | Hardcover mit SU | Euro 20,–

dern vollzieht sich in mittlerer Geschwindigkeit. Szene reiht sich an Szene, Ereignis an Ereignis, ein Verfahren, das auf die Dauer ermüdend wirkt. Scuratis Addition lässt sich andererseits auch als Versuch werten, die Identifikation mit dem großen Buchstaben zu verhindern. Er entzaubert die propagandistische grandezza. Exemplarisch dafür sind die vielen Sitzungen,

die der Autor mit derselben Detailgenauigkeit schildert wie die großen Auftritte. Der Weg in die Diktatur führt nicht auf umkämpfte Straßen, sondern in Besprechungszimmer, in denen kritische Stimmen allmählich verstummen. Im Halbschlaf und dicken Zigarettenqualm nehmen die Parlamentarier ungeheuerliche Entscheidungen zur Kenntnis. Im Tagungssaal des Parlaments verkündet Mussolini die Ausschaltung der demokratischen Institutionen. Oder er prangert den Niedergang des italienischen Genpools an: „Gehemmt, durchseucht und gelähmt aber ist die Rasse vor allem durch Krankheiten des Geistes“, wettert Mussolini im Mai 1927, nachdem er sich mit der üblichen Geste den Krawattenknoten zurechtgerückt hatte. „Die zunehmende Schwermut der Spezies, die Unfruchtbarkeit und Lebensuntüchtigkeit bereiten am meisten Sorge.“ So lässt sich Scuratis Buch als Archiv betrachten, in dem die Entwicklung eines autoritären Staates für die Nachwelt verzeichnet und aufbewahrt wird. Der geplante dritte Teil wird zwangsläufig die Spannung steigern. Der Kolonialkrieg greift auf Abessinien über, Italien steuert auf eine fatale Koalition mit Deutschland zu. Es wird wohl auch von einem Wiener Duce die Rede sein, der Österreich in einen Ständestaat nach römischen Vorbild verwandeln möchte. Die historischen Fakten sind bekannt, aber es braucht einen leidenschaftlichen Dokumentaristen wie Scurati, der sie mit Leben erfüllt. MAT THIAS DUSINI


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„Ihr spielt ja wie für Peymann“ 20 Jahre nach Peter Zadeks Wiener „Hamlet“-Inszenierung hat Klaus Pohl einen Theaterroman über die Proben geschrieben ie wahren Dramen finden im Theater D nicht selten hinter der Bühne statt. Wir verdanken diesem Umstand das Sub-

genre der Backstage Comedy. Klaus Pohls Theaterroman „Sein oder Nichtsein“ heißt zwar wie die vielleicht berühmteste Backstage Comedy überhaupt, hat mit Lubitsch aber nichts zu tun und ist auch nicht auf Pointe geschrieben. Dennoch. Wer sich nur halbwegs für Theater interessiert, wird das Buch mit Vergnügen lesen. Es geht um eine Inszenierung, die am 21. Mai 1999 im Wiener Volkstheater Premiere hatte. Als internationale Koproduktion hatte der deutsche Regisseur Peter Zadek Shakespeares „Hamlet“ in einer AllStar-Besetzung inszeniert: Eva Mattes, Otto Sander, Ulrich Wildgruber, Hermann Lause, Uwe Bohm. Die Titelrolle, den dänischen Prinzen Hamlet, spielte – ganz großartig – Angela Winkler; als Hamlets bester Freund Horatio war Klaus Pohl dabei. „Berichte von mir und meiner Geschichte“, bit-

tet der sterbende Hamlet am Ende der Tragödie den Freund. Pohl, der Schauspieler und Schriftsteller ist, hat das als Auftrag verstanden; er führte während der Probenzeit ein Tagebuch, aus dem anlässlich der Premiere Auszüge im Stern erschienen sind. Bis aus den mehr als 1000 Seiten Notizen ein Roman wurde, hat es dann halt noch zwei Jahrzehnte gedauert.

Die Proben zu „Hamlet“ finden in Straßburg statt und nehmen drei Monate in Anspruch. Pohl schildert sie wie eine Klassenfahrt, mit Zadek als strengem Lehrer und dem Ensemble als seinen ungezogenen Schülern, die ihre Hausübungen nicht machen und heimlich Alkohol trinken. Uwe Bohm, der den Laertes spielt, hat ausgerechnet, dass er insgesamt nur genau dreieinhalb Minuten Text hat: „Meine Rolle ist ein Witz!“ Bei Angela Winkler ist es umgekehrt: Sie hat große Textschwächen und weiß nicht, wie sie ihre enorm umfangreiche Rolle jemals bewältigen soll. Bald ist „Horror“ ihr Lieblingswort, und obwohl Horatio Pohl seinem Hamlet jeden Morgen eine Rose – und einmal sogar ein rotes Fahrrad – schenkt, büxt Winkler zweimal aus und taucht jeweils für ein paar Tage unter. Nach dem zweiten Fluchtversuch erlaubt Zadek seiner Hauptdarstellerin, ihre Textangst mit einem Ohrenstöpsel zu besänftigen, über den sie direkt mit der Souffleuse verbunden ist. Den damals 72-jährigen Peter Zadek zeichnet Pohl als einen der letzten Vertreter einer Zeit, als Theaterregisseure noch Halbgötter waren. Die weißen Wände der Probebühne lässt er erst schwarz übermalen und dann – „in diesem Schwarz kann ich keine Zeile inszenieren!“ – umgehend wieder weiß streichen. Wenn ihm nicht gefällt, was ihm seine Schauspieler anbieten,

schimpft er: „Ihr spielt ja wie für Peymann.“ Wenn er Angela Winkler zum Weitermachen überreden will, wird er so persönlich, dass er damit heute womöglich Probleme bekäme: „Diese Rolle ist eine Liebeserklärung an dich.“ Und nach der Generalprobe sagt er: „Wenn ihr das Stück morgen Abend so spielt wie heute, dann ist diese Inszenierung nicht von mir.“ Die Genrebezeichnung „Roman“ lässt darauf

Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Roman. Galiani Berlin, 288 S., € 23,70

schließen, dass der Autor sich erzählerische Freiheiten herausgenommen hat. Das betrifft vor allem wohl den zweiten, den tragischen Hamlet im Ensemble: Ulrich Wildgruber, der in Zadeks erster „Hamlet“-Inszenierung, 1977 in Bochum, den Prinzen gespielt hat und jetzt darunter leidet, dass er in der vergleichsweise läppischen Rolle des Polonius besetzt ist. Die Spannung zwischen den zwei Hamlets ist der zentrale Nervenstrang des Romans. Pohl entschädigt den unterforderten Kollegen mit ein paar schönen, wahrscheinlich erfundenen Szenen im Buch; etwa jener, in der Wildgruber der jungen Köchin aus seinem Hotel eine Schauspielstunde gibt. Leider nicht erfunden ist das bittere Ende der Geschichte: Im November, nach der letzten Vorstellung der Berliner „Hamlet“-Spielserie, fährt Ulrich Wildgruber nach Sylt und geht in die Nordsee. WOLFGANG K R ALICEK

Die Jungs mit den Bärten haben jetzt das Sagen In „Mr. Wilder & ich“ inszeniert Jonathan Coe die vergnügliche Begegnung Billy Wilders mit einer cineastischen Ignorantin ein, der Mister im Titel hat den Film N mit dem Wagenrennen nicht gemacht. Das war Wyler, nicht Wilder. So geht’s,

wenn man seine Zeit überlebt hat. Kaum einer weiß noch, wie bedeutend man einmal war, die großen Namen von einst sagen niemandem mehr etwas. Marlene Dietrich? Ernst Lubitsch? Faye Dunaway? Nie gehört! Der Einfall, eine ziemlich unbedarfte Figur ins Zentrum zu rücken, ermöglicht es einer Nonfiction Novel, der Leserschaft auf denkbar bequeme Weise einen beträchtlichen Wissensvorsprung einzuräumen. Im Fall von Jonathan Coes „Mr. Wilder & ich“ heißt die Ich-Erzählerin Calista, stammt aus Griechenland und blickt aus einem Abstand von über 40 Jahren auf ihre Bekanntschaft mit dem Regisseur Billy Wilder zurück. Als sie ihn, Zufall über Zufall, bei einem privaten Abendessen in Beverly Hills kennenlernt, sagt ihr dieser Name freilich nichts. Und natürlich hat sie bis dahin auch keinen seiner Filme gesehen. Billy und Iz, sein langjähriger Co-Autor I.A.L.

Diamond, nehmen ihr diese Ignoranz nicht weiter krumm, sondern zeigen – wie ihre gleichfalls anwesenden Ehefrauen – freundliches Interesse an Calista. Dass diese ein Gähnen nicht unterdrücken kann, findet sogleich Eingang ins Drehbuch zu „Fedora“, jenes – vorletzten – Films, den Wilder 1977 in Griechenland, Paris und München gedreht hat.

„Fedora“ ist ein Film übers Filmemachen, eine Art verspätetes Remake von „Sunset Boulevard“ (1950), und handelt wie dieser von einer alten Leinwanddiva, die längst zum Gespenst ihrer selbst geworden ist. Beide Filme werden in Rückblende erzählt, die Off-Stimme gehört der männlichen Hauptfigur, welche da wie dort von William Holden verkörpert wird. Hier nun spielt er den abgemeldeten Hollywoodproduzenten Detweiler, der eigens nach Korfu reist, um die legendäre Fedora (Hildegard Knef ) aus dem Ruhestand zurück auf die Leinwand zu locken. Calista ist bei den Dreharbeiten mit dabei, zunächst als Dolmetscherin, später als Assistentin von Mr. Diamond. Dieses langsame Vertrautwerden mit der Filmwelt gehört zu den witzigsten Passagen des Buchs. Die vormalige Kinoverächterin hat ein Exemplar von „Halliwell’s Film Guide“ erstanden, es auswendig gelernt und weiß ihre Umgebung nunmehr mit kritischen Einlassungen zu verblüffen (wobei die Betroffenen gegen den Unsinn, den sie da nachbetet, nie protestieren). Der Roman könnte fast genauso gut „Mr. Diamond & Me“ heißen, denn in der ersten Hälfte ist Iz für die Erzählerin und damit für den Leser der wesentliche Bezugspunkt. Wilders genialer Schreibpartner wirkt immerzu leicht mürrisch. Wohl nicht nur, weil ihn sein Rücken plagt, sondern weil er sich längst eingestanden hat,

dass ihre Art des Filmemachens nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist, sondern die von Spielberg und Scorsese: „Die Jungs mit den Bärten“, wie Detweiler im Film sie einmal nennt, „haben jetzt das Sagen.“ Iz muss sich einfach nichts mehr beweisen, das macht ihn zum sympathischeren der beiden alten Herren. Mit einem lapidaren „Warum nicht?“ pflegt er höchste Zustimmung zu signalisieren. Irgendwann übersiedelt das Filmteam nach

Jonathan Coe: Mr. Wilder & ich. Roman. Aus dem Englischen von Cathrine Hornung. Folio, 280 S., € 22,–

Deutschland, und der Roman nimmt eine andere Tonalität an. Die Schlüsselszene spielt diesmal im Bayerischen Hof, wo neben der Filmprominenz (u.a. auch Al Pacino) auch ein junger Deutscher mit am Tisch sitzt, der den Holocaust für eine maßlose Übertreibung hält. Worauf Wilder von seiner Vertreibung durch die Nazis und von den Filmdokumenten aus den Vernichtungslagern erzählt, die er tagelang nach bekannten Gesichtern abgesucht hat. „Die Frage lautet: Wenn die Konzentrationslager und die Gaskammern nur Einbildung waren, wo ist dann meine Mutter?“ Wie so vieles in „Mr. Wilder & ich“ ist auch dieses Zitat verbürgt. Es stammt aus einem Gespräch mit dem Regisseur 1994 anlässlich des Films „Schindler’s List“; Billy Wilder hatte sich jahrelang um die Rechte an dem Stoff bemüht, Steven Spielberg schließlich den Zuschlag erhalten. MICHAEL OMASTA


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Im Hosenstall von Thomas Mann Der Ire Colm Tóibín legt einen Thomas-Mann-Roman vor, der sich gut liest und nichts Neues bringt

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auberer stehen derzeit hoch im Kurs. Martin Mosebach hat seinen Roman „Krass“ mit dem Auftritt eines Zauberers beginnen lassen, so wie auch Daniel Kehlmann in „F“. Wolfram Eilenberger machte gleich eine ganze philosophische Epoche, die 1920er-Jahre, zur „Zeit der Zauberer“. Und nun legt der irische Schriftsteller Colm Tóibín einen Roman über Thomas Mann mit dem unausweichlichen Titel „Der Zauberer“ vor. Schließlich hat Mann seine Kinder mit kleinen Zauberkunststückchen erheitert, wovon im Buch auch mehrmals die Rede ist. Das Bild des spröden, unnahbaren und viel mehr mit dem Werk als mit den Kindern beschäftigten Großschriftstellers, wie Tóibín es zeichnet, hat mit diesem leichthändigen Trickser aber nichts zu tun. Die Kinder haben Angst vor ihrem Vater. Golo träumte angeblich noch in höherem Alter davon, dass der Vater an sein Bett trete und ihn mit einer Nadel steche. Passender als „Der Zauberer“ wäre der Titel „Der Zauderer“ gewesen, denn Tóibín führt uns einen Mann vor, der zu all seinen Entscheidungen und politischen Positionierungen gedrängt und getrieben werden musste, von seiner Frau Katia zumeist, aber auch von den Kindern Klaus, Erika oder Golo. Noch nicht einmal Telefonate mit der resoluten Washington Post-Besitzerin Agnes Meyer war er in der Lage, selbstständig zu beenden, wenn sie ihn nervte.

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Das Begehren schöner Jünglinge erzeugt erotische Energie, die Manns literarische Produktivität antreibt

Die Mann-Verzwergung, die Tóibín vermutlich

gegen die eigene erzählerische Absicht bewirkt, hat auch damit zu tun, dass er seinen Romanhelden ausschließlich und bei allen Gelegenheiten „Thomas“ nennt. Thomas erhält den Nobelpreis, Thomas ist zu Gast bei Präsident Roosevelt, Thomas hält seine Goethe-Rede. Der Erzähler tritt seinem Helden immer ein bisschen zu nah. Besonders die literarische Ausschmückung erotischer Fantasien und schwuler Erfahrungen haben etwas unangenehm Voyeuristisches. Diese etwas klebrige Nähe ist jedoch –

Colm Tóibín: Der Zauberer. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini. Hanser, 558 S., € 28,95

abgesehen von der leichten Lesbarkeit – der einzige Mehrwert des Romans. Thomas Mann ist vermutlich der am gründlichsten erforschte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der in seinen Tagebüchern Auskunft sowohl über die verborgensten Seelenbewegungen als auch über seine Verdauung zu geben pflegte. Da gibt es keine Geheimnisse mehr. Und doch: Der literarische Stoff ist gewaltig. Manns politische Biografie reicht vom Kaiserreich über zwei Weltkriege, von Weimar übers Exil bis in den Kalten Krieg über alle Abgründe des 20. Jahrhunderts hinweg. Die Familiengeschichte ist schon deshalb spannungsreich, weil das gediegen bürgerliche Paar Thomas und Katia nicht nur Manns homoerotische Neigungen integrieren musste, sondern auch Kinder, die – drogensüchtig, bisexuell, schwul – immer auf die gelassene Liberalität ihrer Eltern zählen konnten. So auch die jüngste, Elisabeth, als sie mit 20 zum Entsetzen der Eltern den um 36 Jahre älteren Historiker Giuseppe Antonio Borgese heiratete, den Thomas Mann laut Roman verabscheute. Tóibín, hat sich offenbar schon lange mit dem Plan eines Mann-Romans getragen, und als Schwulen interessiert ihn vor allem Manns latente, an der Grenze zur Pädophilie angesiedelte Homosexualität. Immer wieder sind es Jünglinge, die dem Schriftsteller zu einem Augenglück, einem Genießen der Gegenwart des schönen Körpers verhelfen. Das Begehren erzeugt erotische Energie, die wiederum in literarische Produktivität umgewandelt wird. Über das Schreiben selbst erfährt man allerdings nur wenig. Immer wieder führt Tóibín Romanszenen oder Figuren auf reale Erlebnisse zurück. Dass Mann mit den Buddenbrooks die eigene Familie in Lübeck porträtiert hat, dass dem „Tod in Venedig“ eigenes Erleben zugrunde liegt und dass der Komponist Adrian Leverkühn im „Dr. Faustus“ sowohl Selbstporträt ist als auch Züge von Arnold Schönberg besitzt,

wird minutiös herausgearbeitet. Man weiß das alles freilich längst. Letztendlich bedient Toíbín ein oberflächliches Literaturverständnis, das in jedem Text nach der versteckten Realität sucht, als ginge es nur um Eins-zu-eins-Abbildungen zwischen Literatur und Wirklichkeit. Womit ein so versierter Autor wie Toíbín, der es doch besser wissen müsste, unter seinen Möglichkeiten bleibt. „Der Zauberer“ hat immer wieder szenisch

starke Passagen. Besonders die Gespräche am Familientisch prägen sich ein, von dem aus die schwankende Weltordnung beobachtet wird. Und schließlich rafft sich der Zauderer, der Jahre brauchte, um sich aus dem Exil heraus öffentlich gegen die Nazis zu positionieren, doch noch zu einer Tat auf. In Amerika dominiert bereits der Antikommunismus der McCarthy-Ära, das FBI verhört Erika und auch Thomas, unterzieht sie einer Gesinnungsprüfung und fordert sie zur Denunziation verdächtiger Zeitgenossen wie Bert Brecht auf, was die beiden verweigern. Thomas Mann erhält zudem die Direktive, beim geplanten Deutschlandbesuch im Goethejahr 1949 auf keinen Fall Weimar und den Osten zu besuchen. Man gibt ihm zu verstehen, dass er dann seine Koffer packen und die USA verlassen könne. An dieser Stelle wird der Roman richtig spannend. Mann bezieht Haltung und macht klar, dass Deutschland eine einheitliche Kulturnation mit einer gemeinsamen Sprache ist. Dieser Einheit gilt sein Werk und also auch der Besuch. Wer nichts oder nur wenig über Thomas Mann weiß, ist mit „Der Zauberer“ vielleicht ganz gut bedient, weil der Roman in der Fülle des Stoffs durchaus zu unterhalten weiß. Zumindest macht er Lust darauf, sich die Bücher Manns wieder einmal vorzunehmen. Denn da ist viel mehr zu holen, als es der „Thomas“, der „Zauberer“ und auch der große Zauderer vermuten lassen würde. JÖRG MAGENAU

E L I S A B E T H S C H M I DAU E R

FA N Z I

Als dritter Sohn auf einem Bauernhof in der Zwischenkriegszeit ist Franz keine besondere Rolle zugeschrieben. Erst die Verantwortung für seine geliebte kleine Schwester Elfi scheint seinem Leben eine Perspektive zu bieten. Doch die Verheerungen des Krieges und der Naziherrschaft legen sich wie ein Schatten über die Familie, der Franz ein Leben lang begleiten wird.

»Ein großartiges Buch!« Johannes Kössler, ORF Guten Morgen Österreich 272 S., gebunden, Ð 22,-

www.picus.at

Picus

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Sammeln, Streichen, Brüllen, Toben Der 200. Geburtstag von Gustave Flaubert wird mit zahlreichen Veröffentlichungen gewürdigt

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as Schlimmste an der Gegenwart ist die Zukunft!“ Ob Gustave Flaubert (1821–1880), der dies als immer schon ein wenig greisenhafter Jüngling mit Nestroy’schem Grimm schrieb, der Nachruhm ausgesöhnt hätte? Eher nicht: Kurz vor seinem Tod verlangte er, „dass man mich vergisst, mich in Ruhe lässt, nie wieder über mich spricht“. Dessen ungeachtet feiert Frankreich den Bicentenaire (12.12.2021) ausführlich, auch im deutschsprachigen Raum wird er mit zahlreichen Publikationen gewürdigt. Den Anfang machte die umfangreiche Biografie des Historikers Michel Winock: Seine detaillierte Chronik bettet den Lebenslauf in die politische Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft ein. Sie reicht von der Restaurationszeit der letzten Bourbonen über die Erhebungen von 1830 und 1848 bis in die Farce des Zweiten Kaiserreichs und die dramatische Niederlage von 1871. Der Wegbereiter des modernen Romans steht diesen Entwicklungen voller Pessimismus und in größtmöglicher Distanz gegenüber. Einzig die preußische Besatzung macht ihn dann zum Patrioten. Flaubert stilisiert sich zum Einzelgänger aus dem provinziellen Rouen; wenn ihm Isolation und mühsames Ringen um das richtige Wort zu bedrückend werden, wirft er sich mit der ihm eigenen Wucht in das Treiben der Pariser Salons, unternimmt im Zeitgeist des Orientalismus ausgedehnte Reisen nach Nordafrika und Kleinasien. Ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen zur Weiblichkeit – von der platonischen, von Verehrung geprägten zu George Sand bis zu „gefährlichen Liebschaften“, in denen die Partnerinnen höchstens Rollen von Mätressen spielen – nimmt ihn in Anspruch. Schon in jungen Jahren befällt Flaubert eine

nie recht ausdiagnostizierte Krankheit (meist als Epilepsie umschrieben). Sie trübt seine soziale Existenz. Hinzu kommt ein finanzieller Abstieg, der ihn aus den begüterten Verhältnissen der Familie in existenzielle Nöte führt. Das alles bleibt bei Michel Winock im Kontrast zur lebendigen Schilderung des intellektuellen Lebens und der politischen Konflikte eher blass, wie auch dessen eher summarische Würdigung des literarischen Schaffens. Gerade die Meisterwerke nach „Madame Bovary“ werden nur nebenbei erwähnt. Das hat zum einen mit dem Autor selbst zu tun, dessen Stil an einen „Chronisten der Intellektuellen“ à la Brüder Goncourt erinnert, die in Winocks Biografie und in den Salons von damals allgegenwärtig waren. Andererseits ist der (auch körperlich) „große Normanne“ in seiner Widersprüchlichkeit schwer zu fassen. Julian Barnes hat dies

in seinem Roman „Flauberts Papagei“ eindrücklich dokumentiert. Dennoch ist das Buch als Quelle für Hintergrundinformationen hilfreich, vor allem im Zusammenhang mit anderen Neuerscheinungen, die lebendigere, aber nur punktuelle Einblicke erlauben. Aus der schier unfassbaren Fülle der Korrespondenz Wesentliches und Repräsentatives auszuwählen, ist eine Herausforderung – in der Pleiade-Ausgabe nehmen die 4000 Briefe immerhin 6600 Seiten ein. Das gelingt Cornelia Hasting mit dem hübschen Band „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit“ gut; die „Albernheit“ ist immerhin Flauberts populärste Erzählung „Ein schlichtes Herz“. Die Erläuterungen dazu bleiben allerdings spärlich – und hier kann Winock eben weiterhelfen. Von hochtrabenden Erwartungen erfährt man aus einem Brief des Neunjährigen, der dabei ist, eine Eloge auf Corneille zu verfassen; von der Langeweile des Jurastudiums in Paris, die sich zum Hass auf alle Wissenschaft steigert – ein Thema, das sich bis zu „Bouvard und Pécuchet“ durchziehen wird. Den schlaganfallähnlichen Ausbruch seiner Krankheit nimmt Flaubert zum Anlass, alle bürgerlichen Berufspläne zu verwerfen und sich ganz auf „das Büchermachen“ zu konzentrieren. Die wechselnden Stimmungen zwischen Schreibeinsamkeit, tumultuösen Liebesverhältnissen, von Eitelkeit nicht freien gesellschaftlichen Auftritten und den Sorgen eines liebevollen Familienmenschen lassen ein facettenreiches, widersprüchliches Bild entstehen, zusätzlich verwischt durch Selbstironie und gelegentliches Posiergehabe. Die komplizierte Entstehungsgeschichte der Werke wird greifbar: Nur „Madame Bovary“ entsteht in einem zwar langen, aber kontinuierlichem Entwicklungsgang. Alles andere wird ent- und verworfen, wieder aufgenommen und ineinandergeschoben. „Sammeln und Streichen“ ist die Maxime der literarischen Arbeit: Aus einem ungeheuren Materialblock wird das Wesentliche herausgeschlagen und das treffende Wort gesucht, um es an der einzig passenden Stelle festzuschreiben. Ein Bemühen um „Genauigkeit und Seele“, wie es später Robert Musil formuliert. Hinzu kommt noch der Anspruch des richtigen Klanges: Jeder Satz muss, laut gelesen, absolut und fühlbar überzeugend sein. Das Schreibzimmer des Landhauses wird zum „ gueloir“ („Brüllraum“), einem Resonanzraum, in dem Flaubert die Wortfolgen akustisch auf die Probe stellt. Kein Wunder, dass der Tagesertrag des schriftstellerischen Ringens bisweilen einen einzigen Satz ausmacht.

Ebenso wenig erstaunlich sind die Probleme, die das bei der Übertragung in eine andere Sprache bereitet. Wie anspruchsvoll diese Arbeit ist, weiß die Flaubert-erfahrene Elisabeth Edl, Übersetzerin und Herausgeberin des soeben erschienenen frühen Textes „Memoiren eines Irren“. Sie hat zuletzt die „Éducation sentimentale“ ins Deutsche übertragen und die inzwischen achte Übersetzung („Lehrjahre der Männlichkeit“) für einen Titel vorgeschlagen, der eigentlich auch ohne Französischkenntnisse verständlich ist. Die Romanminiatur des 17-Jährigen, stilistisch noch geprägt von Byron- und Werther-Lektüre, gibt in hohem, lyrischem Ton Einblick in das Seelenleben eines Jünglings. Er erinnert sich an die zwei Jahre zurückliegenden Momente der ersten Verliebtheit. Höhepunkt: eine Bootsfahrt mit der wesentlich älteren Herzensdame samt Gatten. Sie wird in der nächsten Saison nicht zurückkehren.

Michel Winock: Flaubert. Aus dem Franz. von Horst Brühmann und Petra Willi. Hanser, 655 S., € 37,10 Gustave Flaubert: „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit“. Ausgewählte Briefe 1832–1880. Ausgewählt und übersetzt von Cornelia Hasting. Mit einem Nachwort von Rainer Moritz. Dörlemann, 319 S., € 27,80 Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Neu übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser, 240 S., € 28,80 Guy de Maupassant: Über Gustave Flaubert. Aus dem Franz. von Ernst Wilhelm Fischer. Mit einem Nachwort von Elisabeth Edl. Alexander, 136 S., € 15,95

Man kann über den Gefühlsüberschwang des Textes lächeln, im Kern enthält er aber schon das ganze Flaubert’sche Programm: Entschwunden Geglaubtes durch literarische Gestaltung zurückzuholen. Das kluge Nachwort von Wolfgang Matz verweist zu Recht auf Proust. Edl kommentiert ihrerseits den Essay „Über Gustave Flaubert“ von Guy de Maupassant (1850–1893). Seinem jungen Verwandten begegnete Flaubert mit Sympathie wie sonst nur George Sand und Iwan Turgenjew. Ihn akzeptierte er als einzigen Schüler, obwohl er noch 1875 versicherte, er plage sich mit dem Versuch, keine Schule zu haben. Maupassant bedankt sich 1874 mit einer Hommage. Er entwirft einprägsame Bilder seines Mentors: Man sieht ihn nachts auf die Seine blicken, wo die Schiffer „sich der Fenster als Leuchtturm bedienten“ − sonntags kamen die Bürger von Rouen „enttäuscht heim, wenn sie nicht vom Dampfer aus dieses Original, den Herrn Flaubert, in seinem hohen Fenster hatten stehen sehen“. Zwei Höhepunkte des literarischen Schaffens hebt er hervor: die wundervolle Erzählung „Sankt Julian der Gastfreie“ als „Meisterwerk an Farbe und Stil, ein Meisterstück großer Kunst“; und „Bouvard und Pécuchet“. Hier zeigt er tiefe Einsicht in die Kontinuität des Œuvres: „Was Flaubert für die antiken Religionen und Philosophien in der ‚Versuchung des heiligen Antonius‘ getan hat, das hat er wiederum für alles moderne Wissen in diesem Buch vollführt. Es ist der Turm des Babels des Wissens ...“ Als „Enzyklopädie der menschlichen Dummheit“ blieb das Hauptwerk ob der Unendlichkeit seines Gegenstandes Fragment ... THOMAS LEITNER

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BILDERBÜCHER

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Wenn Bilder den von ihnen illustrierten … Der Herbst bringt eine Reife Ernte an Bilderbüchern mit sich, die zum Teil von jungen Autorinnen und Illustratorinnen stammen. Dabei geht es um Freundschaft und Mobbing, Realität und Fantasie, Gefühle und sogar den Geschlechtsverkehr eng Soun Ratanavanh lebt in Frankreich und hat ihre familiäS ren Wurzeln in Laos. Ihre Bildsprache

vereint beide Welten: filigran und opulent, farbenfroh und voller Details, ornamentreich und plakativ. Dieses Buch ist eine Augenweide und erzählt eine nicht neue, aber immer wieder herzerfrischende Geschichte. Ein Junge namens Kaspar liegt im Bett und kann nicht schlafen. Da ertönt unter seinem Bett die Stimme einer Maus. Sie heißt Anna und erklärt Kaspar, dass er, falls er einen Freund sucht, diesen wohl noch nicht gefunden habe, weil er zu sehr mit den Augen suche. Anna nimmt Kaspar mit auf eine Reise durch das nächtliche Haus. In jedem Zimmer entdecken sie ein weiteres Tier und erleben eine Geschichte mit ihm: einen Maulwurf, einen Hasen, einen Pinguin, einen Panda und ein rosa Schweinchen. Mit ihnen zaubert Raranavanh überraschende Bildwelten, die den Text nicht nur illustrieren, sondern auf eine höhere Ebene heben: in das Reich der Kunst. Und klar: So nebenbei lernt Kaspar dann natürlich auch, wie man Freunde findet. K IR STIN BREITENFELLNER

Seng Soun Ratanavanh: Freunde sind das Funkeln in der Nacht. Knesebeck, 40 S., € 15,95 (ab 4)

Bücher sind Reisen im Kopf – Illu-Ausschnitt aus „Freunde sind das Funkeln der Nacht“

uch bei Sydney Smith übertrifft A die Bildkraft seiner Illustrationen die Geschichte. Diese kann man trotz-

dem kaum als Nebensache bezeichnen. Worum es geht, versteht man erst zum Schluss, wie schon in Smiths gefeiertem Bilderbuch „Unsichtbar in der großen Stadt“ (dt. 2020). Um über „Ich bin wie der Fluss“ schreiben zu können, muss man diesen leider verraten: Es geht um das Stottern, und die Geschichte ist autobiografisch. Der Junge mit dem Sprachfehler ist Smith selbst, und der Mann, der ihm den rettenden Vergleich mit dem Fluss schenkte und damit dem Buch seinen Titel, sein Vater Jordan Scott. Mit Aquarellen zaubert Smith eine berückende Atmosphäre, so melancholisch wie poetisch, so berührend wie – ja, hier passt das altmodische Wort: schön. K B

ea-Lina Oppermann, geboren 1998, L debütierte 2017 mit dem Jugendroman „Was wir dachten, was wir ta-

Jordan Scott, Sydney Smith: Ich bin wie der Fluss. Aladin, 44 S., € 18,95 (ab 5)

ten“, der es auf Anhieb zur Schullektüre brachte. Nach einem zweiten Jugendroman folgt nun ein Bilderbuch. Sina will ihren Schatten loswerden, aber das geht nicht so einfach. Sie muss sich dafür zur großen Schattenkonferenz begeben und den Schatten mit der Nummer 593.577.501 danach grausam ins Meer werfen. Wenig überraschend kommt bald darauf die Reue. Aber es ist gar nicht so leicht, den Schatten zurückzubekommen. Die Illustrationen von Maren Profke kommen herrlich flapsig daher und geben der Geschichte einen frechen Touch. Auch dass man aus der Story keine platte Moral ziehen kann, trägt dazu bei. Vergnüglich und zum Nachdenken. K B

Lea-Lina Oppermann, Maren Profke (Illustrationen): Sinas Reise in die Welt der Schatten. Beltz & Gelberg, 32 S., € 14,95 (ab 5)

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BILDERBÜCHER

… Geschichten neue Dimensionen erschließen

Helen Stephens: Huhu, Herr Schuhu. Annette Betz, 40 S., € 15,95 (ab 4)

Anna Grabener, Christiane Dunkel-Koberg (Illustrationen): Der Bonsaipottwal. Kunstanstifter, 44 S., € 22,95 (ab 5)

Hans-Christian Schmidt, Andreas Németh (Illustrationen): Liebe machen. Klett, 48 S., € 13,95 (ab 4) Tina Oziewicz, Aleksandra Zajac (Illustrationen): Die Freude springt aufs Trampolin, Knesebeck, 72 S., € 15,95 (ab 4)

in Junge denkt sich einen Euleneschlechtsverkehr ist eine archaber Gefühle zu sprechen ist eute dürfen Kinder oft mit den E freund aus, dem er die Schuld an G ische Sache. Genauso wie das Ü schwer. Tina Oziewicz lässt sie H Erwachsenen mitfeiern, zuminso manchen eigenen Vergehen gibt, Kinderkriegen. Deswegen wählt Anin Aktion treten, als ob es Lebewesen dest, bis sie ins Bett müssen. Früher

ISBN 978-3-85256-835-5 · Hardcover mit zahlreichen Abb. · 248 S. · € 28,–

etwa einen Keks stibitzt oder auch einen Handschuh geklaut zu haben. Seine Eltern glauben ihm nicht, aber Ben besteht darauf, dass es Herrn Schuhu wirklich gibt. Als der Baum, in dem Herr Schuhu angeblich lebt, gefällt werden soll, schreitet Ben ein. Und beweist seinen Eltern, Freunden und der Frau mit der Kettensäge in der darauffolgenden Nacht, dass in dem Baum nicht nur eine einzige Eule wohnt. Eine sympathische Geschichte in einem schönen (Feder-)Kleid über die Grenzen von Fantasie und Realität, die auf einer Erinnerung von Helen Stephens beruht. Auf der letzten Seite sieht man die Eule, die sie mit acht Jahren gemalt hat, und erkennt nicht nur die Dringlichkeit der Geschichte für Stephens, sondern auch, dass ihr das Talent zum Illustrieren bereits in die Wiege gelegt wurde. K B

dreas Németh für die Illustrationen zu diesem Büchlein Mammuts jagende Urmenschen als Protagonisten. Seine Strichmanderln sehen aus wie von Kinderhand gezeichnet und ein bisschen auch wie steinzeitliche Höhlenmalerei. Das verleiht ihnen eine dem Thema guttuende Harmlosigkeit. Unter diesem „Deckmantel“ geht es dann um die nackten Tatsachen: das Küssen, die harten Brustwarzen und den steifen Penis. Letzterer „steht nach vorn, / als wäre es ein großes Horn“. Aber dann lässt ihn die Frau, die auf der Zeichnung oben sitzt, „ganz verschwinden / knapp unterm Bauch in ihrer Scheide“. Die Texte sind gereimt, auch das macht es leichter, ansonsten mit Scham besetzte Dinge zu benennen. Netter kann man Kinder im Vorschulalter schwerlich über die wichtigste Sache der Welt aufklären. K B

e st-hav Ein Mu Mirafür alle s ky-Fan Valens

Folio_Rossmann_Anzeiger.indd 1

„Ein Universalkochbuch!“

wären. Jede Emotion bekommt einen Satz auf einer Doppelseite. „Dankbarkeit verbreitet Wärme.“ „Neid zertrampelt alles Schöne.“ „Mitgefühl sammelt Schnecken vom Gehweg auf.“ „Geduld hat den schönsten Garten.“ „Sorge muss viel jonglieren.“ Die Bilder dazu stammen von Aleksandra Zajac. Da Gefühle unsichtbar sind, erfindet sie für jedes ein ganz eigenes kleines graues Monster. Dieses originelle Buch vermag zwar nicht das Sprechen über Gefühle zu ersetzen, denn Gefühle werden hier nicht erklärt, sondern dargestellt. Aber es kann einen in die Lage versetzen, deren Unterschiedlichkeit besser wahrnehmen zu lernen und sich auch mit den unangenehmen so weit anzufreunden, dass man sie nicht mehr verleugnen muss. Ein Wurf mit Potenzial zum Kinderbuchklassiker von zwei jungen Polinnen. K B

wurden sie ins Kinderzimmer abgeschoben und mussten sich dort selbst die Zeit vertreiben. Das passiert auch dem kleinen Henry, der zur Party seiner Eltern einen Übernachtungsgast beschert bekommt, den er nie zuvor gesehen hat. Enzo heißt er und hat eine Katzenhaarallergie und Angst vor Hamsterhaaren. Es scheint ein vermasselter Abend zu werden, bis Enzo von seinem Bonsaipottwal zu erzählen beginnt und damit Henrys Fantasie in Beschlag nimmt. Während die Jungen im rechten unteren Bildrand im Bett bzw. auf der Matratze liegen, spielt sich die Geschichte im Großformat hinter ihnen ab. Mit charmanten, farbenfrohen Bildern von Tauchgängen zum Meeresgrund und einem Unterwasseraquarium. Gibt es Bonsaipottwale überhaupt? Zum Schluss bekommt Henry jedenfalls einen Beweis dafür! K B

Das Kochbuch für alle Fälle: mehr als 200 Rezepte – kreativ, einfach, schnell.

ORF 2, Johannes Kössler

www.folioverlag.com www.evarossmann.at 08/10/21 12:08


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KINDERBÜHCER

Vor 100 Jahren war die Welt nicht in Ordnung

Ein Sommer mit Hirschkäfern und Bibern

Ein Kinderkrimi über die Weltwirtschaftskrise in den USA

Ein gut geschriebener, sympathischer Naturschutz-Roman

er Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ D war gestern. Der amerikanische Autor

ie österreichische Autorin Bettina Balàka ist bekannt dafür, anD sprechende Unterhaltung zu liefern,

und Journalist A.E. Hotchner starb im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren. Kurz zuvor hatte er mit 100 noch eine Detektivgeschichte verfasst, die in der Zeit der Großen Depression angesiedelt ist. Hotchner war während der Weltwirtschaftskrise selbst Kind und hat seine eigene Story bereits früher niedergeschrieben, Steven Soderbergh verfilmte sie als „Der König der Murmelspieler“. Auch „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ lebt von der unglaublich lebendigen Erinnerung des Autors an diese so schwierige wie turbulente Zeit. Atmosphäre und Ton stimmen einfach, Straßenslang inklusive. Held der Geschichte ist der nicht ganz 13-jährige Aaron Broom. Nach einem Raub in einem Juwelierladen wird durch ein Missverständnis sein Vater inhaftiert, wo der doch nur harmloser Vertreter für Uhren ist. Aaron ergreift gleich die Initiative. Zum einen hat er genug einschlägige Bücher verschlungen, um zu wissen, wie er „detektivieren“ muss, damit der wahre Schuldige gefasst wird. Unter-

stützung erhält er außerdem von einem Zeitungsjungen, einem Hausmeister und einem ehemaligen Boxer. Die kann er auch gebrauchen, bekommt er es doch mit üblen Zeitgenossen zu tun. Eine packende und zugleich berührende Geschichte, die nebenbei historisches Wissen vermittelt. SEBASTIAN FASTHUBER

A.E. Hotchner: Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom. Illustrationen von Tim Köhler. Gerstenberg, 256 S., € 16,50 (ab 10)

Karin Jeromin / Jochen Stuhrmann (Illustrationen)

Alleswisserbuch zur Bibel

Die 135 wichtigsten biblischen Erzählungen werden ergänzt durch Sachinformationen rund um die Personen und Lebenswelten der Bibel. Mit rund 400 farbigen Illustrationen, Fotos und Karten. Direkt beim Verlag bestellen:

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SEBASTIAN FASTHUBER

Bettina Balàka: Dicke Biber. Ein Naturschutz-Krimi. Illustrationen von Raffaela Schöbitz. Leykam, 256 S., € 17,– (ab 8)

Kommen die weißen Haie nach Rockport zurück? Ein Roman über Freundschaft, Verluste und das Meer

Anschaulicher Zugang zur Bibel:

durchgehend vierfarbig, gebunden

ohne ihre Leserschaft zu unterfordern. Da war es naheliegend, sich einmal an einem Roman für eine jüngere Zielgruppe zu versuchen. Das Schöne an „Dicke Biber“: Es ist für alle Altersstufen ab frühestens acht zu empfehlen, auch für Erwachsene. Bàlaka versteht ihr Handwerk als Erzählerin und präsentiert eine Geschichte mit spannender Thematik und liebenswerten Figuren, die mit ihren Eigenheiten und Widersprüchen lebensnah gestaltet sind. Held von „Dicke Biber“ ist Pico, der eigentlich nach dem Falco-Song Amadeus heißt, aber sich lieber einen eigenen Namen gewählt hat. Nach der dritten Klasse Gymnasium hätte er sich einen Urlaub am Meer gewünscht. Stattdessen verbringt er den Sommer mit seinen Eltern in einem modrigen Gartenhaus an einem Donau-Altarm. Ohne WLAN! Die Enttäuschung weicht bald Faszination über die Fauna. Als Stadtkind hat Pico zunächst keine Ahnung von den vielen Tieren, die ihn hier umgeben. Gemeinsam mit ihm

lernt man von Hirschkäfern, Graureihern oder von den titelgebenden Bibern, die beileibe nicht bei allen beliebt sind. Ein Krimi wird aus dem Buch zwar erst ganz am Schluss, von dem Etikettenschwindel abgesehen ist es ein rundum gelungenes Buch, das ohne Zeigefinger auf die Bedeutung von Naturschutz hinweist.

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH Deckerstraße 39 • 70372 Stuttgart Telefon: 0711 / 6 19 20-0 • Telefax: 0711 / 6 19 20-44 E-Mail: vertrieb@bibelwerk.de

14.10.2021 14:44:14

ucy lebt in Rockport bei Boston. Vor fünf Jahren hat sie ihre MutL ter verloren. In dem Sommer, in dem

Kate Allens Debütroman spielt, wird hier ein riesiger weißer Hai aus dem Wasser gezogen. Lucy und ihr bester Freund Fred, beide zwölf Jahre alt, laufen sofort hin. Sind die Haie zurück in Rockport? Folgen sie den Robben, die sich neuerdings wieder vermehren? Lucy und Fred planen einen Eintrag über den weißen Hai für ihren selbstgestalteten Naturführer. Doch dann stirbt Fred bei einem Badeunfall. Wie soll Lucy einen zweiten Verlust verkraften? Und kann man mit einem solchen Setting ein aufbauendes Buch schreiben? Kate Allen gelingt es mit Bravour. Dabei lernt man nicht nur einiges über Schmerz, Trauer, Freundschaft und gegenseitige Unterstützung, sondern auch über die Natur und ihre fragilen Ökosysteme. Lucys Mutter Helen war nämlich Haiexpertin, und ihre Tochter begibt sich nun auf die Spuren ihrer Forschungen. Dazu sucht sie zusammen mit ihrem Vater, dem Fischer Sookie und dem alten Nachbarn Mr. Patterson Helens ehemaligen Professor auf, der mittlerweile dement

ist und Lucy für Helen hält. Groß gesetzt und aufgelockert in 36 Kapitel mit je einer Haizeichnung zum Beginn liest sich dieser Roman nicht nur flüssig, sondern, je tiefer man in die Fragen über Haie hineingezogen wird, auch beinahe wie ein Krimi. K IR STIN BREITENFELLNER

Kate Allen: Tage der Mondschnecke. Mit Illustrationen von Xinggye Jin. Woow Books, 459 S., € 18,95 (ab 11)


JUGENDBÜCHER

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Wo Schokolade keinen Trost bieten kann

„Du siehst die Dinge, wie sie sonst keiner sieht“

Ein Jugendroman über die Folgen des Kolonialismus

Eine Odyssee durch Südafrika als Schule des Überlebens

n Europa gehört Schokolade zu den Ifühlprodukt, beliebtesten Süßigkeiten, ein Wohldas, wie Peer Martin in

enn die Kiefern im Wind wieW gen, die Krähen davonfliegen und der Staub in der Luft tanzt,

seinem neuen Jugendbuch schreibt, häufig mit „Trost“ oder „Kindheit“ assoziiert wird. Dass allzu oft schlechte Entlohnung, Kinderarbeit und Umweltschäden in den Erzeugerländern in Kauf genommen werden, um ihren Kakaobedarf zu decken, ist vielen Konsumenten hingegen kaum bewusst. Diese Problematik nimmt der studierte Sozialpädagoge in seinem umfangreich recherchierten Roman in den Blick. Die Diskrepanzen ebenso wie die vielfältigen Verbindungen zwischen den Lebensrealitäten der westlichen Welt und der kakaoanbauenden Länder Westafrikas manifestieren sich in dem Buch dabei im Rahmen mehrerer, auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpfter Erzählperspektiven. Wir folgen der 18-jährigen Manal, die auch symbolisch für diese komplexen Verflechtungen steht: Sie ist Berlinerin mit afroamerikanischer Mutter und deutschem Vater und jobbt in einem Schokoladegeschäft. Als Manal vom über viele Ecken mit ihr verwandten Mamadou an die Elfenbeinküste eingeladen wird, besucht sie ihn, um mehr über den Kakaoanbau, aber auch ihre eigenen Wurzeln zu erfahren. Ein weiterer Erzählstrang berichtet aus dem Blickwinkel des Maliers Issa, eines jungen Mannes, der zusammen mit seinem kleinen Bruder und weiteren Kindern unbezahlte Schwerstarbeit auf einer ivorischen Kakaoplantage leisten muss. Diese liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Mamadous Farm, und die Wege

von Manal und Issa kreuzen sich, als die junge Frau das Umland erkundet. Zwischen den beiden Figuren entspinnt sich eine Freundschaft, und trotz der Warnungen Mamadous, sich von den brutalen Plantagenbesitzern fernzuhalten, hilft Manal, Issa und den Kindern zu fliehen. Typografisch von diesem Haupthandlungsstrang abgehoben sind noch zwei weitere Perspektiven eingewoben: Manals Vater, der Schriftsteller Pieter, schreibt die Familiengeschichte seiner Tochter nieder. Er berichtet, wie ihre Vorfahren Idriss und Awa im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels nach Kuba und später in die USA verkauft wurden. Durch deren Geschichte werden jene unterdrückenden Strukturen begreifbar, die die Basis der modernen Ausbeutung bilden und die Manals und Issas Erfahrungen auf der Kakaoplantage historisch kontextualisieren. LENA BR ANDAUER

Peer Martin: Blut und Schokolade. Dressler, 448 S., € 20,95 (ab 14)

könnte das in Mitteleuropa sein, aber Kirsten Miller versetzt uns nach Südafrika, wo es schon lange nicht geregnet hat und hinter den Dünen auch Silkybark, Milchholzbäume und wilde Oliven gedeihen. Die Leute im Dorf sind abergläubisch und misstrauisch. Sie bewundern Yanela nicht dafür, dass sie sich alleinerziehend mit drei Kindern durchschlägt, sondern misstrauen ihr. Kurz nach ihrer Tochter stirbt auch die Mutter. Die Söhne sind auf sich allein gestellt. Die Lage ist deprimierend, und so macht sich der 17-jährige Ash mit Zuko auf den Weg zum wohlhabenden Vater in die Stadt. Zuko ist acht und kann nicht sprechen. „Was andere sahen, spürte er. Was andere hörten, sah er“, heißt es an einer Stelle. „Du siehst Dinge, die sonst keiner sieht. Du kennst dich aus mit Schönheit. Mit Licht. Und Mustern“, an einer anderen. Kirsten Miller fängt hier gekonnt eine Form von Autismus als eine besondere, synästhetische Wahrnehmung ein. Die Autorin, die in Durban ein Zentrum zur Frühförderung autistischer Kinder leitet, zeigt mit ihrem einfühlsamen Stil voll feiner Zwischentöne und in träumerischer Sprache, dass man Autismus als Störung, aber auch als Begabung begreifen kann. Gespannt begleiten wir die beiden Brüder auf ihrer Odyssee hin zu Verantwortung und Menschenkenntnis – eine Geschichte über Urvertrauen, das Verlieben und Verlieren. Sie spüren die rohe Natur und die furchteinflößende Stadt und treffen auf seltsame, verrückte, hilfs-

bereite oder mutige Typen sowie die Lebensretterin Ela, die Leichtigkeit und Lebensfreude schenkt und sie in Fragen verwickelt, etwa, was Familie bedeutet. Das zieht sich durch den Roman, der auch Themen wie Landraub, ungleiche soziale Chancen und Zwangsheirat streift. Die Burschen erleben Scham, Wut und Hoffnung. Sie müssen ständig abwägen: Wem vertrauen? Was ablehnen? Was annehmen? Sie schützen einander und merken: Jemanden zu lieben, das heißt ihn/ sie annehmen, wie er/sie oder auch das Seepferdchen-Stofftier ist, heißt, Kraft für Entscheidungen zu geben. Denn die Gesellschaft mag die Welt vielleicht in Schwarz und Weiß teilen, sie ist aber in Wahrheit „so viel größer als wir. Aber was wir daraus machen, haben wir selbst in der Hand. Unsere Entscheidungen können wir selbst wählen.“ JULIANE FISCHER

Kirsten Miller: Hörst du, wie der Himmel singt? Ein Roman aus Südafrika. Baobab, 268 S., € 22,95 (ab 15)

Bilder und Geschichten zum Träumen und Weitererzählen 40 Erzählbilder und 40 kurze Texte verführen Kinder und Erwachsene zum genauen Gucken, Träumen und Loserzählen. Mal schelmisch, mal tiefgründig, magisch und beseelt sind die Federzeichnungen von Erwin Moser, die hier erstmals vollständig in Farbe zu sehen sind.

Der

Träu mer

Da s

in der die Fliegen summen im die Bienen und die Frösche und Die Grillen zirpen, ümpel quaken vor luft. Im Wassert r und träumt heißen Sommer sitzt der Träume kleinen Baumes Schatten eines . Vor seinen Gesicht gezogen sich hin. t hat er übers Strohhu und breit zu sehen. Den großen Mensch ist weit dunkel. Kein Augen ist alles chlaf. und ihren Mittagss Plätzchen, Jetzt halten alle an diesem ruhigen der Träumer seltsamen, Jeden Tag sitzt er Tausende von schließt, sieht Bildern. wenn er die Augen und lustigen eine en, wunderbaren jedes Bild erzählt schönen, komisch n zu leben und Die Bilder beginne

B urg s c h i f f

im Jahr. achher al zehn Monate regnet es regnet es manchm Im egenland n Jahren wieder wemmt. In manche cknet. In einem ist alles übersch and ist ausgetro des Königs und das ganze al bis zur Burg überhaupt nicht im das Wasser manchm zu den Knien egenjahr steigt der König bis kam es vor, dass hinauf, und oft schon Thron saß. zornig, da er Tages Wasser auf seinem eines , rief der König der egen Schluss damit n spürte. Als in seinen Knoche fo r t a n , e in o s ismus r e e t e d n den heumat ie d e r s a n k , o r d a s W a s s e r w n a c h lie ß u n d zu bauen. fertig. riesiges Schi das Schi war Burg bauen. dauerte es und Sechs Monate jedoch die neue ließ der König ersten Tropfen In das Schi hinein . nd als die sechs Monate vergnügt die Das dauerte weitere sich der König res elen, rieb Das ganze des neuen egenjah und sichere Burg. umher. jetzt eine trockene i auf dem Wasser ände. r hatte h fuhr das Burgsch sank, ließ egenjahr hindurc das Wasser wieder dass sich merkte, steuern, wo es nd als der König n zwei steile Felsen besaß der König er das Schi zwische trocken war, das and wieder den steilen Feind konnte einklemmte. Als jederzeit Burg, denn kein jedoch hmbare Burg eine uneinne er konnten die n. Die Bewohn Felsen besteige ter verlassen. mit einer Stricklei

Geschichte.

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ie Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie bedeuteten den seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs radikalsten Bruch im Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Freiheit und Selbstbestimmung wurden mit den Menschen in den Lockdown geschickt. Selbstisolierung und Solidarität lauteten die Wörter der Stunde. Die Verbindung mit anderen erhielt eine unheilvolle Konnotation – Stichwort: Ansteckung –, und die derzeitige Impfkampagne stellt die Bedürfnisse des Kollektivs ein weiteres Mal über die Entscheidung des Einzelnen. Auch in Hinblick auf die Klimakrise scheint es notwendig, die Handlungsoptionen des Einzelnen im Namen des Überlebens der Menschheit zu beschränken. Neigt sich das Zeitalter des Individualismus seinem Ende zu? Diese Frage mag verfrüht sein. Aber sie kann als Anlass dazu dienen, die komplexe Beziehung des Ichs zur den anderen einer Überprüfung zu unterziehen.

Ich und die anderen Zwei neue Bücher erkunden das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Die Pandemie spielt dabei keine Rolle

Zwei neue Bücher tun das aus unterschiedli-

chen Blickwinkeln, ohne dabei auf Lösungen à la „Wie wir das Virus unter Kontrolle bringen“ oder „Wie wir den Planeten retten“ abzuzielen. Im Gegenteil, sie streifen – was der Lektüre zum Vorteil gereicht – diese alles dominierenden Themen nicht einmal. Hier geht es zur Abwechslung einmal nicht um moralische Vorwürfe oder Maßnahmenvorschläge im Großen oder Kleinen, sondern schlicht um die Reflexion eines Themas, das die Kulturgeschichte von Anfang an begleitet. Der Autor hochgelobter Biografien Rüdiger Safranski tritt in „Einzeln sein“ eine Erkundungsreise durch die Geschichte der Philosophie an. Die Psychoanalytikerin und Philosophin Anne Dufourmantelle untersucht in „Verteidigung des Geheimnisses“ das Spannungsfeld zwischen Privatsphäre und öffentlicher Kontrolle. „Einzeln sein bedeutet, dass man zwar immer irgendwo dazugehört, doch auch imstande ist, für sich allein stehen zu können, ohne seine Identität nur in einer Gruppe zu suchen oder seine Probleme nur auf die Gesellschaft abzuwälzen“, definiert Safranski seinen Untersuchungsgegenstand.

K IR STIN BREITENFELLNER ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

Anne Dufourmantelle: Verteidigung des Geheimnisses. Diaphanes, 167 S., € 20,60

Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. Hanser, 285 S., € 26,80

In der Moderne begnüge sich der Einzelne, der auf seiner Eigenheit bestehe, aber nicht mit dem bloßen Dazugehören, er wolle auch in dem anerkannt werden, was ihn von den anderen unterscheide. Ein Dilemma. Der Autor von Monografien über große Einzelne von E.T.A. Hoffmann über Schopenhauer, Goethe und Schiller bis zu Nietzsche, Heidegger und zuletzt Hölderlin wagt sich in seinem neuen Buch an Grundsatzfragen. Dabei will er aber weder eine durchgehende Geschichte erzählen noch eine Theorie aufstellen. „Das wäre wohl auch paradox, denn wenn man den Einzelnen wirklich ernst nimmt, dann gibt es eben nur Einzelfälle, die jeweils zu denken geben.“ Sein Denkfutter bezieht Safranski im Folgen-

den von den großen Denkern der Individualität. Der Paradigmenwechsel, sich als unverwechselbarer Einzelner zu fühlen, wurde für ihn in der Renaissance mit Künstlern wie Da Vinci und Michelangelo vollzogen. Begonnen hatte diese Entwicklung aber schon mit dem spätmittelalterlichen Nominalismus und dessen Motto: „Was existiert, ist individuell.“ Martin Luther revolutionierte nicht nur die Beziehung des Einzelnen zu Gott, sondern stellte sich mit den Worten „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ auch im Alleingang gegen die geballte Macht der katholischen Kirche und bewies damit, dass es nicht notwendigerweise die Mehrheit sein muss, die Recht hat. Mit dieser Selbstbehauptung erwarb er sich aber auch selbst Macht. Zu Safranskis Lieblingsdenkern gehört Michel de Montaigne, der sich mit der Crux beschäftigte, dass es einfacher ist, mit anderen übereinzustimmen, als sich vom „Herdentrieb in unserem Inneren“ abzukehren und selbst zu denken. Tugend, meinte Montaigne, sei oft nur verkleidete Eitelkeit. Als Mittel zur Distanz von kollektiven Fanatismen propagierte Montaigne die Skepsis – und natürlich die Vernunft. Rousseau, Diderot, Stendhal und Kierkegaard bieten Safranski beileibe nicht so viel Stoff. Interessant wird es wieder bei Stirner, der einen radikalen Individualismus verfocht. „Man sollte, so Stirner, keinem dienstbar sein,


SACHBUCH

noch nicht einmal den eigenen Gedanken, die man gestern gedacht hat.“ Diesen radikalen Selbstbesitz nannte Stirner Egoismus: „die eigene Existenz zu ergreifen und sie sich nicht rauben zu lassen von überindividuellen Instanzen“. Denker wie Thoreau oder Emerson hingegen propagierten (zeitweiligen) Rückzug in die Natur als Ausdruck der Autonomie. In einer Demokratie, meint Thoreau, müsse sich der Einzelne zwar der Mehrheit beugen, aber er dürfe sein Gewissen nicht an der Wahlurne abgeben. Der Einzelne als Korrektiv: Die Menge, warnte Gustave le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“, tendiere zu Sündenbockjagden und Verschwörungstheorien. „Nachahmung als Schwarmverhalten, Selbstbestimmung als Selbsttäuschung“, nennt Gabriel de Tarde diese Formen der kollektiven Verblendung. In Safranskis erhellendem, gut lesbarem Buch

fehlen abgesehen von einem Kapitel zu Ricarda Huch und Hannah Arendt die Beträge von Frauen – ein schweres Versäumnis. Auch Ahrendts Verteidigung der öffentlichen Debatte, der Ned O’Gorman in „Politik für alle. Hannah Arendt lesen in unsicheren Zeiten“ (2021) jüngst ein Denkmal gesetzt hat, kommt dabei zu kurz. Als lohnend erweisen sich hingegen Safranskis Reflexionen über Arendts Interpretation von Adolf Eichmann als dem Einzelnen, der sich weigerte, ein solcher zu sein, indem er sich zum „Rädchen und Schräubchen einer gigantischen Mordmaschine“ machte. Dass Safranski ein Werk mit einer dermaßen aktuellen Thematik mit der „Seinsverdichtung“ eines Ernst Jünger enden lässt, befremdet zum Schluss vollends, und zwar so stark, dass man sich gerne zu Montaigne zurückwendet. „Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten“, zitiert Safranski diesen an einer Stelle, „ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen“ – und liefert damit eine formidable Überleitung zu Anne Dufourmantelles „Verteidigung des Geheimnisses“. Von der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin, Jahrgang 1964, war zu-

letzt „Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse“ (2018) erschienen. Sie starb 2017 bei dem Versuch, zwei Kinder vor dem Ertrinken zu retten – und stand so mit ihrem Leben für ihre Philosophie ein. Dass Dufourmantelle sich nach ihrer Promoti-

on im Fach Philosophie der Psychoanalyse zuwandte, hieß für sie, „sich auf die Seite des Geheimnisses zu begeben. Sich für das Halbdunkel zu entscheiden, für eine heimliche Reise in die Stille, für immer Migrant zu bleiben.“ In der Kindheit bedeute das Geheimnis eine Quelle des Schöpferischen, von Freiheit und Freude, meint Dufourmantelle, und genau deswegen hege unsere Zeit eine „regelrechte Aversion“ gegen diese Reserve. Dufourmantelle liegt es fern, das Geheimnis zu verklären oder sein toxisches Potenzial zu verschleiern. Lebenslügen und verschwiegene Familiengeschichten behindern, das belegt die Psychoanalytikerin auch anhand von Fallbeispielen aus der eigenen Praxis, die persönliche Entwicklung und gehören damit zu den Hauptthemen einer Therapie. Wer ein Geheimnis hat, behält etwas für sich, aber ist nicht allein. „In gewissem Sinn ist man bei einem Geheimnis immer zu dritt: der Hüter, der Zeuge, der Ausgeschlossene. Diese wesensmäßige Dreiheit kann sich jederzeit entzünden, in Eifersucht, in Machtkämpfen.“ Die ersten Gedanken und Handlungen, die ein Kind nicht mit seinen Bezugspersonen teile, seien aber „entscheidende Wegmarken zu seiner Individuation“. Das Verhältnis zum Geheimnis definiert somit die Beziehung zu anderen Menschen, besonders Liebespartnern. „Wer die Lüste eines Menschen kennt, kommt seinem Geheimnis sehr nahe, der verfügt über die Macht, ihn zu beglücken und zu verwunden.“ Auf der anderen Seite gelte: „Alles über den anderen wissen zu wollen ist eine Krankheit, die zum langsamen Tod dessen führt, was man am meisten beschützen will. Ohne Phantasma ist keine Liebe von Dauer.“ Die Konsumgesellschaft verlange maximale Transparenz, um aus dem Menschen einen perfekt funktionierenden, das heißt

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Einzeln sein bedeutet, dass man zwar immer irgendwo dazugehört, doch auch imstande ist, für sich allein stehen zu können, ohne seine Identität nur in einer Gruppe zu suchen oder seine Probleme nur auf die Gesellschaft abzuwälzen RÜDIGER SAFRANSKI

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steuerbaren Organismus zu machen. „Warum soll man keine Geheimnisse haben wollen? Um vor sich selbst zu verbergen, dass man kein Leben zu führen vermag, das welche hervorbringt – ein freies Leben?“, fragt Dufourmantelle. Transparenz, betont sie, sei nicht gleichbedeutend mit Wahrheit, denn es komme darauf an, wer die Daten interpretiere. In einer Demokratie führe die Forderung nach totaler Offenlegung des Geschäfts der Macht zu einem Dilemma. Um die an die Politiker delegierte Macht „unvoreingenommen ausüben zu können, dürfen die Gewählten nichts zu verbergen haben. Dabei weiß jeder, dass eine transparente Politik unmöglich ist, weil Macht zu ihrer Ausübung das Geheimnis pflegt.“ Sonst – könnte man hinzufügen – würden Demokratien auch nicht des Korrektivs des (Aufdeckungs-)Journalismus bedürfen. Die Wissenschaft, stellt Dufourmantelle fest, ohne diesen Umstand bewerten zu wollen, mache aus dem Mysterium des Lebens und des Menschen ein zu lösendes Rätsel, und heute komme ihr eine Autorität zu wie einst nur der Philosophie und der Religion. Dufourmantelle ist nicht darauf aus, solche Widersprüche aufzulösen. Dem Geheimnis auf der Spur zu sein bedeutet für sie auch, es stehen zu lassen. Das Geheimnis gehört für sie ins Reich der Äs-

thetik, dem auch nach dem Ende der Kindheit die Macht des Kreativen innewohnt. Dufourmantelle befürchtet, dass wir am „Beginn einer kleinen Eiszeit“ stünden, „einer Zeit steter und unmerklicher Anästhetisierung. Die Freizeit ist durchorganisiert und die Meinungen sind gesteuert, denn es soll bloß keine Überraschungen, Fehltritte oder größere Veränderungen geben.“ Die andere Seite der Medaille bildet ein „grassierender Verschwörungswahn“, eine paranoide Gesellschaft, die überall Geheimnisse sieht, auch dort, wo keine sind. Dufourmantelles kluge und nachdenklich machende „Verteidigung des Geheimnisses“ als Antiaufklärung lesen zu wollen, wäre verfehlt. „Nicht alles wissen zu wollen heißt nicht, nicht wissen zu wollen“, betont sie, sondern nur, nicht alles wissen zu müssen. F


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Das Geheimnis von Schrift und Sprachen Sprachen: Zwei neue Bücher erklären, wie Schrift und Sprache funktioniert – unterhaltsam und erhellend

Ä

gäische Philologie – die wenigsten dürften wissen, dass ein solches Fach existiert. Silvia Ferrara lehrt es an der altehrwürdigen Universität Bologna. Das Fachgebiet schließt die großteils unentzifferten vorgriechischen Schriften Kretas und Zyperns ein, doch Ferrara wollte mehr, den Blick aufs große Ganze: Sie wurde Leiterin eines vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts, das die Frühzeit aller Schriften ergründet. In „Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften“ präsentiert sie, was sie mit Hilfe von Scharfsinn, Enthusiasmus und einer Kollegenschar entdeckte – und das ist nicht weniger als eine kleine Revolution. Bis etwa 1980 glaubte man (mehrheitlich), die Schrift sei nur einmal entstanden, im Mesopotamien des späten 4. Jahrtausends v. Chr., als man der Verwaltung und dem Handel zuliebe aus dem Zählen und Etikettieren von Waren die Keilschrift auf Tontäfelchen entwickelte. Heute muss man davon ausgehen, dass Schrift an vier Orten weitgehend unabhängig voneinander entstand: in Ägypten vielleicht sogar etwas früher als in Mesopotamien – Ferrara verweist auf unlängst in Gräbern der vordynastischen Zeit gefundene Proto-Hieroglyphen. Gut drei Jahrtausende alt sind die ersten Zeugen der chinesischen Schrift – sie

ist hier bereits so ausdifferenziert, dass es ältere Vorstufen gegeben haben muss. Um die Zeitenwende herum benutzten die mittelamerikanischen Maya eine autonom entwickelte, stark piktorale, bis heute rätselhafte Schrift. In Ferraras Modell entstand Schrift auch in Me-

sopotamien erst, als bildhafte Darstellungen mit Zahlen kombiniert wurden. Entscheidend war nicht das Bedürfnis zu verwalten, sondern der viel ältere Trieb des Menschen, sich durch bildhafte Darstellungen zu erkunden und mitzuteilen: 40.000 Jahre alte Höhlenbilder zeigen außer Tieren und Jägern alle möglichen Symbole, von Handnegativformen über Kreise, Zickzacklinien, Dreiecke bis zu Parallellinien. Rückblickend wirken sie wie erste Probeläufe zu schriftzeichenhaften Abstraktionen. Schrift ist daher auch keine notwendige Bedingung des Entstehens komplexer Gesellschaften: Ganze Reiche wie das der Kusch im heutigen Sudan kamen weitgehend ohne Schrift aus. Umgekehrt sind viele Schriften von sehr kleinen Völkern fern von staatlichen Organisationsimperativen erfunden worden. Alle Schriften der Welt machen von elementaren Linienformen Gebrauch (rechte Winkel wie in L oder T), einfache Geometrien (O, X), die von Konturen der die Lebenswelt umgebenden Dinge

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SprachIndividualitäten sind immer auch Produkte von Kulturkämpfen und politischen Strategien

Helga und Ilse Aichinger »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe« Briefe, Wien–London 1939–1947

Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Nikola Herweg, 380 Seiten, € 26,—

Am 4. Juli 1939 kann Helga Aichinger 17-jährig mit einem der letzten Kindertransporte nach England emigrieren, ihre Zwillingsschwester Ilse und ihre jüdischen Verwandten bleiben in Wien zurück. Der während der über acht Jahre dauernden Trennung geführte Briefwechsel ist ein eindrückliches, berührendes Zeugnis der Hoffnungen und des Leids der einander vermissenden Zwillinge. Helga Aichingers Briefe bieten ein sehr lebendiges Bild des Schicksals einer Jugendlichen im Exil, während man von Ilse Aichinger viel über ihre Arbeit am Roman »Die größere Hoffnung« erfährt. Und die wenigen, kurzen Mitteilungen von maximal 25 Wörtern, die während des Krieges durch das Rote Kreuz übermittelt wurden, zeigen eindringlich, was Krieg und Vertreibung für Familien bedeuten.

Edition Korrespondenzen www.korrespondenzen.at

Silvia Ferrara: Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften. C.H. Beck, 251 S., € 25,95

Gaston Dorren: In 20 Sprachen um die Welt. Die größten Sprachen und was sie so besonders macht. C.H. Beck, 400 S., € 28,80

abgeleitet sind. Der Grund ist die Bauweise unseres Gehirns: Es ist darauf angelegt, primär die Konturen der Dinge wahrzunehmen, erst sekundär Oberflächenbeschaffenheit etc. Diese Übertragung von Dingkonturen in Schriftlinien macht für Ferrara die „DNA der Schrift“ aus: Nicht das machtorientierte Organisieren, sondern das zeichnend experimentierende Erkunden von Möglichkeiten der Weltvergegenwärtigung und der sozialen Austauschmöglichkeiten liegen am Ursprung unserer Schriften. Sozialpsychologische Experimente bestätigen diese ein wenig romantisch klingende These. Gaston Dorren ist Niederländer, Journalist und

Sprachen-Enthusiast fern allen Universitäten: Seine Datenbasis sind zuallererst die eigenen Mühen im Erlernen naher und ferner Sprachen. Er schenkt dem Leser mit „In 20 Sprachen um die Welt“ einen farbigen Bilderbogen der 20 meistgebrauchten lebenden Sprachen, indem er vermeidet, was herkömmliche Sprachbücher tun: grammatische und vokabuläre Systeme zu referieren. Dorren gibt kurzweilig knappe Porträts jeweiliger Individualitäten innerhalb der Sprachfamilie. Wir erfahren, wie konventionell das ist, was uns indoeuropäischen Sprechern so natürlich vorkommt – Flektionen, Personalpronomen, Genus, Markierungen der Wortgattungen. Japanische Damen sprechen eine etwas andere, feinere Sprache als Männer – lassen Bindeverben als unschicklich aus, haben eigene Partikel, um Gesinnungen zu zeigen. Spanier hinwiederum kennen gleich sieben verschiedene Modalitäten von „sein“. Vietnamesen differenzieren Personalpronomen je nachdem, wie Sprecher und Hörer dem Alter, der Verwandtschaft, dem Geschlecht nach zueinander stehen. Dorren bringt dabei das Kunststück fertig, Laien grundverschiedene Typen des Verschriftlichens bis hin zu den aberwitzig komplizierten Systemen der Japaner in unterhaltsamer Kürze nahezubringen. Sprach-Individualitäten sind immer auch Produkte von Kulturkämpfen und politischen Strategien. Das moderne Türkeitürkisch ist eigentlich eine

Erfindung Atatürks, um die eklektizistische Elitensprache des Osmanischen Reichs abzulösen. Das Französische ist bis heute von den barocken Sprachnormierungen der Académie française geprägt, die den homogenen Zentralstaat formieren half. Tamil wurde als göttlich und in nationalistischen Emanzipationskämpfen als Identitätsbildner benutzt. Die hohe, den Eliten vorbehaltene Form des Javanischen wurde erfunden, als eben diese Eliten ihre politische Macht verloren. Die Grammatik des Englischen ist nur deshalb so einfach, weil die Normannen, als sie sich vor 1000 Jahren in England niederließen, sie simplifizierten – und sie wird reduktiver werden, je geringer der Anteil von Muttersprachlern an den Gesamtverwendern wird. Es lässt sich schwerlich ein Buch denken, das uns so anschaulich vorführt, dass wir nichts wissen von der so oft beschworenen und in der Tat wunderbaren Vielfalt der Kulturen – und uns durch seinen Witz zugleich darüber tröstet. SEBASTIAN K IEFER


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Sich vom Schönen verzücken lassen Kunstgeschichte: Horst Bredekamp feiert Michelangelo mit einem Kulturidealismus, der glücklich macht

Der Traum von Buch kommt seinen Lesern mit einem aus der Zeit gefallenen Kulturidealismus entgegen, der zuerst wehrlos und am Ende glücklich macht. Wir werden zu dankbaren Studenten, die einem geborenen Lehrer lauschen dürfen. Bredekamp lebt geradezu vor, was er einst (in prekärer theoretischer Begrifflichkeit) als „Bildakt“ zu fassen suchte: Idealerweise gewinnen beide, Deuter und Bild, im Prozess der Rezeption. Die meisten Abschnitte können als separate Werkmonografien gelesen werden. Verbunden werden sie äußerlich durch die Lebensgeschichte, innerlich durch hermeneutische Leitmotive, etwa jenes der körperlichen Berührung. Es verbindet die heidnisch-sinnenfrohen Karyatidenpaare der Sixtinischen Kapelle mit dem „Noli me tangere“ für Vittoria Colonna und den beiden späten „Pietás“ Michelangelos. Nicht erst Bredekamp sieht Michelangelos Größe darin, affektive und ideelle Gegensätze in der künstlerischen Gestalt sinnbetörend ausleben zu können, ohne die Gegensätze zu harmonisieren. In der sublim antikisierenden Büste des Tyrannenmörders Brutus pries Michelangelo den politischen Attentäter im Namen republikanischer Ideale – und machte diesen insgeheim zu einem Wiedergänger des Caligu-

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Das Physische wird zum Tanz, zur Arabeske, zur Choreografie von Energien jenseits des individuellen Körpers und aller theologischen Programme

la, Inbegriff des eigenmächtigen Verbrechers auf dem Thron. Bredekamps Beschreibungen, wie Michelangelo das Antagonistische in Nuancenverschiebungen der leiblichen Gestalt und sogar im leblosen Stein der Kapellen, Paläste und Portale betörend versinnlicht, gehören zu den Gipfelleistungen heutiger Kunstschriftstellerei. Staunend lernt man, dass Motive der zunächst für die Freskierung der Altarwand der Sixtinischen Kapelle vorgesehenen luziferische Engelsrebellion noch insgeheim den Aufbau des tatsächlich ausgeführten Jüngsten Gerichts mitbestimmten. Dass Bredekamp in theoretischer Hinsicht wenig glücklich verfährt, wiegt dagegen wenig. „Panempathie“ tauft er den energetischen Grundzug des Jahrtausendgenies, doch Sich-verzücken-Lassen vom Schönen hat ebenso wenig mit Mitgefühl zu tun wie die Fähigkeit, konträren Kräften eine suggestive sinnliche Gestalt zu verleihen. Der Michelangelo-Kosmos war zum Erstaunen

Horst Bredekamp: Michelangelo. Wagenbach, 816 S., € 91,50

und oft zur Empörung schon seiner Zeitgenossen immer auch ein Drama des inszenierten Leibes, der Nacktheit, der unversöhnbaren Triebkräfte des Menschen. Seine choreografierten Körper wollen versinnlichende Medien für etwas anderes, Unsinnliches, Unerreichbares sein und sind doch immer auch ein künstlerischer Zweck an sich. Die sexuelle Aufladung sehnt sich nach Transzendenz durch den Leib hindurch, und umgekehrt fährt „proteisches“ körperliches Begehren zu beiderlei Geschlechtern in Heilige und Heroen, in Maria und ihren Sohn (und Geliebten) allemal. Nichts könnte, stimmt man Bredekamp zu, moderner sein als das. Ein Zweig des imponierenden Bredekamp’schen Lebenswerkes widmet sich im Geiste Aby Warburgs dem Versuch nachzuweisen, dass Denken in Bildern eine autarke Erkenntnisquelle sei, die gegenüber dem Begrifflichen und Empirischen zu Un-

»vielleicht der einzige sogenannte pornographische roman eines deutschsprachigen autors, den man zur weltliteratur rechnen muss.« oswald wiener »Es handelt sich um den Schlüssel(loch)roman der Wiener Jahrhundertwende, der lange vor Wolf Haas aus dem Wiener Dialekt eine Kunstsprache machte. Die Mutzenbacher zeigt uns – buchstäblich – die Kehrseite der Ära Wiens um 1900, indem sie manisch von dem spricht, wovon der literarische Kanon jener Zeit schweigt: ein fröhlicher Kinder- und Sozialporno des Vorstadt-Elends der ›entrischen Gründe‹ von Ottakring – eine ebenso artistische wie bedenkliche Parallelaktion zu Schnitzlers Reigen und Freuds Theorie einer infantilen Sexualität. Deshalb verdient die unzüchtige Mutzenbacher eine anständige Edition, die einen kritischen Diskurs über sie ermöglichen soll. Es gilt, ein literaturwissenschaftliches Versäumnis wettzumachen.« Clemens Ruthner

Josefine Mutzenbacher Kritische Ausgabe nach dem Erstdruck, mit Beiträgen von Oswald Wiener, Stellenkommentar und einem Nachwort hg. von Clemens Ruthner, Melanie Strasser und Matthias Schmidt 424 S., Klappenbroschur in Bütten, Fadenheftung, 16,5 × 23 cm ISBN 978 3 85449 575 8 € 34,–

recht geringgeschätzt werde. Dieser Zweig ging diverse Male irre, so in der buchlang vorgetragenen These, das Bild der Koralle sei ein entscheidender Katalysator der Entwicklung der Darwin’schen Evolutionstheorie gewesen. Diese Überzeugung spielt in das Michelangelo-Buch nur marginal hinein, aber wo sie es tut, wird es schnell prekär. Michelangelos Entwürfe zur Befestigung von Florenz waren kein Produkt bildkombinatorischer Fantasie, sondern eines physikalischen Kalküls: Es galt, Bauformen zu finden, die verteidigenden Kanonen freies Schussfeld ließen, angreifenden dagegen möglichst wenig plane Flächen boten, die frontal getroffen werden konnten. Mit dem frühen Biografen Condivi sieht Brede-

kamp in der Fähigkeit, sich von jedwedem Schönen quasi-erotisch bis hin zur Selbstgefährdung verzücken zu lassen, einen schöpferischen Energiequell Michelangelos. Das bringt Bredekamp in Konflikt mit der eigenen ikonografischen Schulung: Wenn der Grund und das Erfüllungsziel der Kunst das sinnlich verzückende Schöne ist, sind intellektuelle Botschaften allenfalls Mittel, keine Letztziele des ästhetischen Erlebens. Auch ein Meister der sinndeutenden Kunstwissenschaft stößt hier wohl an Grenzen seiner Disziplin. Die sinnliche Suggestivität und körperliche Wucht vieler Findungen Michelangelos geht über jede Art Bedeutungsinhalt hinaus. Kein Ikonograf kann beschreiben, weshalb, sagen wir, bis heute der Jonas über der Sixtinischen Altarwand mit seiner fauvistisch kolorierten Spiralbewegung bis heute eine solch ungebrochene sinnbetörende und zugleich enigmatische Präsenz ausstrahlt, die selbst Gottvater im Deckenzentrum übertönt. Das Physische wird zum Tanz, zur Arabeske, zur Choreografie von Energien jenseits des individuellen Körpers und jenseits aller theologischen Programme. SEBASTIAN K IEFER

sonderzahl

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orst Bredekamp verleiht als Kunsthistoriker von Weltruf und programmatischer Kopf des Humboldt Forums im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss der preußischen Gelehrtentradition neuen Glanz. Ein halbes Jahrhundert hat er den Kosmos Michelangelo ergründet und ungezählten Studenten in zweisemestrigen Vorlesungen nahezubringen versucht. Nun erfüllte er sich und der Leserschaft einen Traum und legt „seinen“ Michelangelo vor. Der Wagenbach Verlag mobilisierte alle Ressourcen, um den Prachtband mit der hauseigenen Liebe zu distinguiertem Satz, schönem Papier und großzügiger Illustration zu edieren.


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Verurteilen oder Zuhören? Debattenkultur: Svenja Flaßpöhler und Lukas Meschik legen kluge Überlegungen zum aktuellen Diskurs vor

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler stellt bei-

de Thesen einander gegenüber. Das beginnt plastisch mit einem Tag im Leben des Ritters Johan im 11. Jahrhundert, der mit den Fingern isst, auf den Boden kackt, Frauen nach Bedarf missbraucht, seine Gefolgschaft quält und durch kaum etwas zu erschüttern ist, das nicht unmittelbar sein Leben bedroht. Dem gegenüber stellt sie einen Tag im Leben des Pädagogen Jan, 21. Jahrhundert, der Wert auf gesunde Ernährung und ein gepflegtes Äußeres legt, achtsam mit den Bedürfnissen seiner Lebensgefährtin und seiner Kinder umgeht. Ökologie und Gender-Gerechtigkeit beschäftigen ihn sehr. Anfangs sieht es recht unversöhnlich aus zwischen dem Groben und dem Feinen: „Während die einen sagen: Ihr stellt euch an, seid hypersensible ,Schneeflocken‘!, entgegnen die anderen: Ihr seid verletzend und beleidigend, an eurer Sprache klebt Blut!“ Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie Magazin und leitet das Programm des Kölner Philosophie Festivals phil.COLOGNE. Sie hat zu kontroversiellen sozialpolitischen Themen publiziert, etwa mit „Mein Tod gehört mir“ (2013) über Sterbehilfe und „Die potente Frau“ (2018), in dem sie meinte, dass die #MeToo-Kampagne zwar gut gemeint sei, aber die Frauen in einer passiven Rolle festhalte.

Svenja Flaßpöhler: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Klett-Cotta, 240 S., € 20,60

Lukas Meschik: Einladung zur Anstrengung. Wie wir miteinander sprechen. Limbus, 64 S., € 8,–

In „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ liefert sie eine kleine Ideengeschichte zu den Themen Feinfühligkeit und Resilienz. Sie zitiert ausführlich Norbert Elias zur Verfeinerung unseres Sozialverhaltens im Zuge unserer Zivilisierung. Sie lässt Jean-Jacques Rousseau als Entdecker unserer Sensibilität auftreten. Friedrich Nietzsche darf im fiktiven Streitgespräch mit Emmanuel Lévinas die Robustheit gegen die Verletzlichkeit verteidigen. Bei der anschließenden Gegenüberstellung zeigt sich Argument für Argument eine Schnittmenge, ein gemeinsamer Raum, in dem etwas Neues entsteht. Am Ende gelangt Flaßpöhler etwas überraschend zu einer Synthese, zur Vereinigung der beiden Standpunkte. Was der Autorin hier gelingt, besteht nicht darin, nur Meinungen und Erkenntnisse zu sammeln, sondern für den Leser anschaulich und nachvollziehbar selbst Philosophie zu betreiben. Der junge Wiener Autor Lukas Meschik hat eine

„Einladung zur Anstrengung“ geschrieben. Darin zeigt er, wie er denkt: Konsequent und mit absoluter Ehrlichkeit verarbeitet er Selbstbeobachtungen zu treffenden Sätzen. Wie bei einem Selbstexperiment beschreibt der Autor, was sich in ihm abspielt, wenn er Ereignisse der Außenwelt bis zum Ende mitfühlt: etwa wenn eine bekannte Politikerin sich berechtigterweise gegen die obszöne Meldung eines Lokalbesitzers zur Wehr setzt, dann aber alle ihr zu Gebote stehenden Mittel ausnützt, um den Wirt anzuprangern. „Bin ich hier unfair oder gar selbstgerecht? (…) Ich weiß es nicht“, fragt sich Meschik. Der letzte Satz ist einer, den der Autor gerne öfter hören würde zwischen all den Gewissheiten, die wir einander entgegenschleudern. Meschik plädiert für eine Balance zwischen dem Robusten und dem Feinfühligen, auch was den Umgang mit gendergerechter Sprache betrifft. Wie wir miteinan-

der und mit uns selbst sprechen, steht am Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Sein Anliegen ist es, sich mit den Inhalten des Gegenübers wirklich auseinanderzusetzen, in Beziehung zu gehen, nicht bloß „in zugespitzten Happen und launigen Statements“ zu kommunizieren. Lukas Meschik, Jahrgang 1988, singt und textet, vormals für die Band Filou, jetzt für Moll. Er schreibt Lyrik, Erzählungen und Romane. Zuletzt erschien sein Gedichtband „Planeten“ (2020). Mit seinem ProsaStück „Vaterbuch“ war er 2019 zum Wettlesen um den Bachmannpreis eingeladen. Auch die vorliegende „Einladung“ zeichnet sich durch eine dichte, präzise Sprache aus, die einen von Anfang bis zum Ende in das schmale Buch hineinzieht. Was an den vorgestellten Gedanken überrascht, ist, dass sie nicht schon längst jemand ausgesprochen hat. Faul seien wir geworden, meint Meschik. In Wahrheit hätten wir keine Lust mehr, miteinander zu sprechen, weil es anstrengend ist. Genau dazu ermutigt er: „Ich lade ein zu einer neuen Offenheit, gesprächsbereit und durchlässig zu sein.“ Dazu gehöre es auch, über Konfliktthemen zu streiten, statt gegeneinander zu hetzen – und sich zu mäßigen, wo man den Fehltritt eines anderen bewertet. Meschiks Einladung funktioniert. Man denkt.

Man will mit dem Autor sprechen. Die Bereitschaft für einen echten Dialog wächst, in dem man sich die Mühe macht, die Argumente des Gegenübers wirklich zu verstehen und sich von ihnen auf Kosten der sorgsam behüteten eigenen Meinung auch einmal überzeugen lässt. Man versteht, warum Meschik eine Anstrengung fordert. Sein Buch zu lesen bereitet hingegen ein müheloses Vergnügen. Eines haben beide Werke gemeinsam: Sie machen Hoffnung auf einen echten gesellschaftlichen Diskurs – und stellen selbst einen Beitrag dazu dar. ANDREAS K REML A

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

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ensibilität ist gefragt. Um nach Jahrhunderten brutaler patriarchalischer Prinzipien zu einem menschenwürdigen Miteinander zu gelangen, braucht es ein feines Gespür dafür, was geht und was sich nicht mehr ausgeht: vom Vereinnahmen präjudizierter Personengruppen über anlassiges Anbandeln bis zum N-Wort. Oder brauchen wir mehr Widerstandskraft? Sollten wir gerade in Zeiten, wo von Pandemie bis Klimawandel gesellschaftlicher Zusammenhalt gefragt ist, ein Stück weit auf die eigenen Befindlichkeiten verzichten und uns mit Resilienz stärken, um all die Krisen zu bewältigen?


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Kann man über den Lockdown erzählen? Soziologie: Ein Sammelband mit Interviews zur Corona-Pandemie als Gefahr und als Gleichmacher

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ür eine kurze Zeit machte die CoronaPandemie unsere Erfahrungen gleich. Im Lockdown zu sein bedeutete, sich in einer „gesamtgesellschaftlichen“ Situation wiederzufinden, die paradoxerweise darin genau bestand, das In-Gesellschaft-Sein zu unterbinden. Dieser Zustand steigerte das Mitteilungs- und Lesebedürfnis enorm, war Anlass für tonnenweise produzierte Corona-Tagebücher, ist aber auch ein gefundenes Fressen für soziologische Forschung. Eine Gruppe deutscher Nachwuchswissenschaftler machte sich bereits im April 2020 daran, narrative Interviews über die Erfahrungen mit dem ersten Lockdown und über gefühlte Risiken der Pandemie zu führen. Dass das Buch mit den Ergebnissen erst jetzt erscheint, ergibt einen interessanten verfremdenden Effekt, denn die frühe Zeit der Pandemie, ohne Impfung und Medikamente, scheint fast schon vergessen und wirkt im Rückblick noch einmal bedrückender klaustrophob: „Und dann die ganze Nacht über hatte ich eigentlich nur darüber nachgedacht, was ist, wenn sie irgendwie ansteckend ist?“, erzählt eine 28-jährige Lehrerin über ein geplantes Treffen mit einer Freundin, das sie schließlich absagt. 60 Interviews haben die Soziologinnen und So-

ziologen geführt, 25 davon sind im Buch zu Porträts beziehungsweise Situationsbeschreibungen ausgearbeitet und von theoriegeleiteten Essays flankiert, die sich etwa kritisch mit der Heroisierung bestimmter Berufsgruppen beschäftigen oder mit der Bevorzugung traditioneller Familienformen bei den Corona-Maßnahmen. Als Leitfaden für die Interviews dient Ulrich Becks fast in Vergessenheit geratene Theorie der „Risikogesellschaft“ aus den 1980er-Jahren, derzufolge technischer Fortschritt in der Moderne immer neue Risiken schafft, die zu weiterer Modernisierung zwingen, wobei manche Bevölkerungsgruppen mehr und manche weniger unter den Folgelasten der Innovation zu leiden haben.

Covid-19 lasse sich als eine Facette der „Risikogesellschaft“ verstehen, lautet das Fazit. Die Frage nach der Gefahreneinschätzung und dem persönlichen Risikoverhalten spielt folglich eine zentrale Rolle in den Porträts. Wie stehen die Befragten zu den Pandemiemaßnahmen der Regierung, wie versuchen sie sich zu schützen? Eine Studentin im Sample etwa hat zu Beginn der Pandemie einen Job in einem Supermarkt angenommen, sich aber bereits nach dem ersten Arbeitstag vom Kassendienst wieder befreien und für kontaktärmere Tätigkeiten einteilen lassen. Eine Managerin arbeitet unbeeindruckt im

Sarah Lenz, Martina Hasenfratz (Hg.): Gesellschaft als Risiko. Soziologische Situationsanalysen zur Coronapandemie. Campus, 311 S., € 35,95

Homeoffice weiter und hatte ihr Leben schon vor der Pandemie krisenstabsmäßig im Griff, inklusive Toilettenpapiervorrat, „noch bevor es die Witze darüber gab“. Die Mutter eines chronisch kranken Kindes bleibt gelassen, weil sie die Angst um ihren Sohn schon seit Jahren kennt. Ein Krankenpfleger sieht sich aufgrund seines Risikoberufs selbst als Gefahr für andere und fordert die „harte Tour“ vom Staat. Ein Ladenbesitzer hält, nachdem Bekannte in seinem Umfeld symptomlos erkrankt sind, Covid-19 für eine statistische Verirrung. Krankenpfleger, Assistenzärztin, Student, Schauspielerin, Schülerin, Geflüchteter in einer Wohngemeinschaft, Tanzlehrerin, Manager mit Arbeitsplatz in Tokio, Altenpflegerin, Verkäuferin, Malerin, Lehrerin, pensionierter Verfahrensmechaniker – das Sample der Befragten ist weit gestreut, die Lebensrealitäten und Lebensalter sehr verschieden, und doch lesen sich diese Berichte auf fast erstickende Weise ähnlich. Das liegt zum einen an dem frühen Zeitpunkt der Interviews im April und Mai 2020, der Lockdown war da gerade ein paar Wochen alt und die Aussagen zur Pandemie fielen entsprechend unsicher und abwartend aus. Zudem kommt trotz des weiten Interviewspektrums hier nur die Mittelschicht in ihren Aussagen vor – wirkliche

Extreme und Ausreißer gibt es nicht. Dass alles ähnlich klingt, liegt aber auch an der Forschungsmethode. Diese Pandemieerfahrungen sind keine direkten Icherzählungen von Betroffenen, sondern Berichte, gefiltert und geformt durch den Blick der Soziologen und Soziologinnen, die ihrerseits als Ich im Text auftauchen und sich in ihrer Rolle als Beobachterinnen beobachten: „Ich komme mir ein bisschen wie ein Schaulustiger vor, der in eine Art Terrarium glotzt.“ Die 25 Porträts sind also auch Forschungstagebücher, Corona-Erzählungen zweiter Ordnung sozusagen. Die Rechnung geht an manchen Stellen auf, an anderen wiederum scheint es, als störten sich die beiden Perspektiven oder dämpften sich gegenseitig ab. Wie müssen wir erzählen, um mehr zu erfahren, als wir schon wissen? Diese aus narrativen Interviews gewobenen „soziologischen Geschichten“ jedenfalls sind im Ton noch viel zu zaghaft. Vielleicht haben wir aber auch, bereits abgestumpft, zu viele Corona-Erzählungen gehört und gelesen. Der Überdruss am Thema spielt dem Buch

nicht gerade in die Hände. Wichtig aber ist vor allem der Versuch, einen in Vergessenheit geratenen kritischen Diskurs über „Risiko“ wieder zu beleben. In einem der Essays im Band erinnert Michael Grothe-Hammer an Niklas Luhmann. Der Gegenbegriff zu „Risiko“ sei nicht „Sicherheit“, hat der gesagt, denn Sicherheit sei eine Fiktion. Anders als die „Gefahr“, die einem von außen zustoße, sei Risiko durch eigenes Verhalten beeinflussbar, wenn auch niemals ganz zu vermeiden. Warum wird in unserer Gesellschaft Covid-19 vornehmlich als vermeidbares Risiko wahrgenommen, nicht als Gefahr?, fragt Grothe-Hammer. Auch darüber, wie „Gesundheit“ zum politischen Thema und „Krankheit“ zum Risiko geworden ist, lohnt es sich, weiter nachzudenken. ANDREA ROEDIG

GERHARD RÜHM

Epigramme und Epitaphe

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LITERATUR

136 Seiten brosch. ISBN: 978-3-85415-627-7

Gerhard Rühms poetische Kalküle und sein lakonischer Humor konterkarieren den Irrglauben und Gewalt-Eskalationen heutiger Wirklichkeit. Mitreißende Sprachartistik und vom Autor entwickelte Verfahren sprachmusikalischer Transgression eröffnen Wege zu einem intensiveren, gleichsam leibbasierten Verstehen. RITTER VERLAG www.ritterbooks.com

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Auf dem Weg zu Big Data zerfällt die Wahrheit Medien: Byung-Chul Han reflektiert das Informationsregime und das Ende von verbindlichen „Tatsachen“ n seinem neuen Essay „Infokratie“ Ilosoph schreibt der 1959 in Seoul geborene PhiByung-Chul Han ganz am Ende ei-

nen Satz, bei dem einem angst und bange wird: „Im totalitären Staat, der auf einer Totallüge aufgebaut ist, ist das Wahrsprechen ein revolutionärer Akt. (…) In der postfaktischen Informationsgesellschaft hingegen geht das Pathos der Wahrheit gänzlich ins Leere. (…) Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird. Sie wird eine kurze Episode gewesen sein.“ Das klingt nicht zufällig wie ein Echo jenes be-

rühmten Satzes von Michel Foucault, mit dem dieser einst dem Menschen nachgerufen hat. Der Mensch sei eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeige, schrieb Foucault, womöglich auch das baldige Ende. Dann könne man sehr wohl wetten, „dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Byung-Chul Han verabschiedet nicht den Menschen, sondern eine bestimmte Form des menschlichen Miteinanders, die sich mit der Demokratie entwickelt hatte: rationale Kommunikationsweisen, die auf Basis eines gemeinsam geteilten Wahrheitsgrundes zu Willensbildung führten. In der Informationsgesellschaft gebe es diesen gemeinsamen Boden der Tatsachen nicht

mehr. Argumente würden durch Meinungen ersetzt, Informationen per Algorithmen und künstlicher Intelligenz über digitale Plattformen geteilt und verbreitet. So gingen Sinn und Ordnung verloren. Ein Informationsregime entstehe, das alle politischen Entscheidungen beeinflusse. „Im Gegensatz zum Disziplinarregime werden nicht Körper und Energien, sondern Informationen und Daten ausgebeutet.“ In klarer, pointierter Sprache lässt Han all die Schreckensszenarien einer schönen digitalen Big-Brother-Gesellschaft an uns vorbeiziehen. Das ist nicht neu. Aber in der suggestiven Zusammenstellung wird einem der Bruch mit unserer ehemals vertrauten Lebenswelt doch drastisch bewusst. Was Foucault als Disziplinarregime beschrieben hat – die Herrschenden setzen auf Überwachen und Strafen –, weicht nun einer ganz anderen Logik: „Im Informationsregime bemühen sich die Menschen von sich aus um Sichtbarkeit, während das Disziplinarregime sie ihnen aufzwingt.“ Die Konsequenz daraus: Die Menschen, so Han, legen sich selbst Fesseln an, indem sie fortwährend kommunizieren und Daten produzieren. Freiheit werde suggeriert, und doch seien wir gefangen in einer vermeintlichen Wohlfühlgesellschaft. Selbstverwirklichung sei aber nur ein anderes Wort für die Preisgabe jeglicher Intimität. Han führt aus, welche politischen Folgen

es hat, wenn narrative Strukturen durch das Numerische ersetzt werden: Big Data statt Diskurs. Politiker folgen nicht wertegeleiteten Idealen, sondern momenthaften Stimmungsbildern. Demokratie, so Han, werde zur Infokratie. Der Kommunikationsrausch halte die Menschen in einer neuen Unmündigkeit fest. Rational handeln kann aber nur, wer inne-

Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. Matthes & Seitz Berlin. 92 S., € 10,30

hält und einen gewissen Bezug zu Tatsachen wahrt. Wer ständig kommentiert und likt, wird schwer einen klaren Gedanken fassen können. Das freilich ist ein Einfallstor für Desinformation. Informationskriege haben wir schon bei den letzten Wahlen in den USA erlebt. Kaum lässt sich dabei mehr von Lügen sprechen: Realität wird einfach nicht mehr anerkannt. Filterblasen verstärken Effekte der Fragmentierung. Die Digitalisierung, so Han, beschleunige den Zerfall der Lebenswelt. Der Diskurs werde durch Glauben und Bekenntnis ersetzt, wer Gegenargumente liefere, werde nicht mehr als Diskurspartner akzeptiert, sondern als Feind verachtet. Byung-Chul Hans Buch ist dunkel und hellsichtig, eine ernüchternde Bestandsaufnahme der Entwicklung des digitalen Zeitalters, das so große Versprechen bereitzuhalten schien. Es ist ein deprimierendes Buch. Denn Auswege zeigt es nicht auf. ULRICH RÜDENAUER

Zwischen Meinungsfreiheit und Verschwörung Medien: Sheera Frenkel und Cecilia Kang sprachen mit 400 Insidern über die fragwürdigen Praktiken von Facebook or einer Weile hat das Weiße Haus V einen Mitschuldigen für die sinkende Impfbereitschaft ausfindig gemacht: Face-

book. Die über die soziale Plattform verbreiteten Falschinformationen und Verschwörungstheorien sorgten mit dafür, dass auch in den USA die Infektionen mit Covid-19 wieder drastisch zunehmen, war sich die Regierung sicher. Soziale Medien wie Facebook würden Menschen umbringen, sagte Joe Biden ziemlich unverblümt. Daraus sprach eine generelle Frustration, ein Unbehagen, das der Internetriese Facebook seit Jahren nährt. Entgegen allen Beteuerungen seines Gründers Mark Zuckerberg wurden die mit dem Unternehmen in Verbindung gebrachten Missstände nie ernsthaft angegangen. Wie Facebook die Welt auch zum Schlechten verändert, auf Vorwürfe reagiert und zur Destabilisierung ganzer politischer Systeme beiträgt – das zeigt nun eindrucksvoll das Buch zweier investigativer Journalistinnen der New York Times. Sheera Frenkel und Cecilia Kang haben sich

jahrelang mit den Praktiken von Facebook auseinandergesetzt, Interviews mit 400 Insidern geführt, die Rolle von Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg genau ins Visier genommen. Es ist ein intimer Einblick in einen Konzern, dessen Geschäftsmodell auf Transparenz basiert und der doch wie kaum ein zweiter versucht, interne Vorgänge vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Was Facebook heute dank Zuckerberg und seiner rechten Hand Sheryl Sandberg ist: ein gieriges Wesen, das alle von seinen Nutzern freiwillig gelieferten Daten in Geld verwandelt. Keiner der unzähligen Skandale scheint diese rund laufende Maschine ins Stocken zu bringen: Datenleaks, die Einflussnahme Russlands auf die Präsidentschaftswahl 2016 durch auf Facebook geschaltete Anzeigen zeigen, die fortwährende Verbreitung „alternativer Fakten“, der Cambridge-Analytica-Skandal oder der verheerende Völkermord an den Rohingya in Myanmar, der durch ungefilterte Hassposts auf Facebook entscheidend forciert wurde. Sicherheitsbedenken stehen stets an zweiter Stelle. An erster kommt Zuckerbergs Credo, die User an das Medium zu binden und durch den Newsfeed und bestimmte Angebote dafür zu sorgen, dass sie so viel Zeit wie möglich auf der Seite verbringen. Die Verweildauer sorgt für den enormen Profit. Erst wenn Protest überhandnimmt, reagiert die Geschäftsführung – mit beschwichtigenden Worten und Versprechungen, die selten eingehalten werden. Die Meinungsfreiheit sei die oberste Richtlinie, betont Zuckerberg immer wieder. „Facebook hatte wieder und wieder die Möglichkeit, das Richtige zu tun“, sagt der Menschenrechtler Matthew Smith, „aber sie taten es nicht. Nicht in Myanmar. Sie hatten die Wahl und entschieden sich dafür, nicht zu helfen.“

Weil das so ist, wurden in den letzten Jahren Forderungen laut, den Konzern zu zerschlagen. Besonders hart traf Zuckerberg ein Artikel in der New York Times, in dem der Facebook-Mitbegründer Chris Hughes genau das schrieb: „Mark war Facebook, und Facebook war Mark. Und solange er das Sagen hatte, gab es nur eine Lösung für die zahllosen Probleme der Firma: Die Regierung musste sich einschalten und das Unternehmen in mehrere Einzelteile zerlegen.“ Dieses Szenario ist nicht vom Tisch. Es ist der

Sheera Frenkel, Cecilia Kang: Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit. S. Fischer, 384 S., € 24,90

Albtraum schlechthin für den Kontrollfreak Zuckerberg. Liest man Frenkels und Kangs „hässliche Wahrheit“ über Facebook, könnte die Zerschlagung allerdings der einzige Schritt sein, um die Machtkonzentration des Unternehmens zu brechen. Dass das allerdings den Geist zurück in die Flasche drängen wird, bezweifeln auch die beiden skrupulös recherchierenden, scharfsinnigen Journalistinnen: „Selbst wenn die Regulierungsbehörden oder Zuckerberg selbst eines Tages beschließen sollten, das FacebookExperiment zu beenden, wird die Technologie, die sie auf uns losgelassen haben, weiterbestehen.“ Alle, die sich in der schönen neuen Welt sozialer Medien bewegen, sollten „Inside Facebook“ lesen. Und beim nächsten Besuch auf Facebook zumindest darüber nachdenken, was sie mit Mark Zuckerberg teilen wollen. ULRICH RÜDENAUER


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Philosophie made in Vienna Philosophie: David Edmonds erzählt in einer plastischen Gruppenbiografie die Geschichte des Wiener Kreises

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avid Edmonds, der umtriebige britische Wissenschaftsjournalist, hatte schon des Längeren eine umfassende Kulturgeschichte des Wiener Kreises auf der Agenda. Sein Buch „Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte“ (2001) war quasi die Vorübung einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem besonderen intellektuellen Nährboden der ehemaligen Habsburgermetropole in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Vertreibung ihrer Exponenten. „Die Ermordung des Professor Schlick“ ist trotz seiner Kompaktheit ein erstaunlich vielseitiges Buch, das sehr geschickt Akzente setzt. Geschrieben für ein breites Publikum, fasst es prägnant Themen und Positionen mitsamt ihrer Einordnung in die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zusammen, wobei es gleichzeitig die Aktivitäten des Wiener Kreises in das große historische Ganze einordnet. Bevölkert von streitbaren Charakteren mit oft seltsamen Auftritten, liefert die Studie eine farbige Gruppenbiografie und folgt den einzelnen Lebensläufen bis an ihr Ende. Die Exzentrik Ludwig Wittgensteins ist einigermaßen bekannt, weniger das laute und maßlose Selbstbewusstsein Karl Poppers, dem die Mitgliedschaft im Kreis verwehrt wurde.

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Die Mitglieder des Kreises hatten vielleicht nicht alle Antworten parat, aber sie stellten meist die richtigen Fragen – Fragen, mit denen Philosophen auch weiterhin ringen DAVID EDMONDS

Die Anfänge des Wiener Kreises reichten noch

in die Monarchie zurück, als Hans Hahn, Otto Neurath, Philip Frank und andere Physiker regelmäßig über den großen Theoriewandel in ihrer Disziplin diskutierten. Albert Einsteins Relativitätstheorie und die Arbeiten von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, in denen die klassischen Annahmen von Raum und Zeit gekippt wurden, bildeten den Bezugsrahmen eines theoretischen Aufbruchs, in dem die strenge Prüfung aller wissenschaftlichen Behauptungen im Mittelpunkt stand. 1922 kam der Berliner Moritz Schlick, der bei Max Planck über die Eigenschaften des Lichts dissertiert hatte, auf den Lehr-

David Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie. C.H. Beck, 352 S., € 26,80

stuhl für Naturphilosophie an der Universität Wien. Seine charismatische Persönlichkeit zog eine große studentische Zuhörerschaft an, gleichzeitig bedeutete seine intellektuelle Ausstrahlung auch einen Schub für die kleine Diskussionsrunde, in der sich nun eine erweiterte Gruppe brillanter, streitbarer Köpfe zusammenfand, um die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu revolutionieren. Ludwig Wittgenstein erlangte damals gerade mit dem 1918 vollendeten und 1921 publizierten „Tractatus logico-philosophicus“ einen Geniestatus in der Philosophie, was Moritz Schlick veranlasste, zu ihm zu pilgern und ihn zu den Kreis-Sitzungen einzuladen. Wittgenstein sagte zu, traf ausgewählte Mitglieder des Kreises regelmäßig zu Diskussionen und Lesungen, bei denen es oft heftig zuging und die mit einer gewissen Exzentrik gestaltet wurden. Um eine Gruppe zu einen, hilft nichts mehr, als

einen gemeinsamen Feind zu haben. Wenn die Mitglieder des Wiener Kreises etwas zu lachen haben wollten, dann lasen sie einander Martin Heideggers Ausführungen über den Tod vor und versuchten, diese in eine wissenschaftliche Sprache zu übersetzen. Stürmische Heiterkeit, so wurde berichtet, war garantiert. Heidegger, mit seinem 1927 erschienenen Werk „Sein und Zeit“ der angesagteste Philosoph jener Jahre, war für sie ein Gaukler, ein Schwindler, einer, der mit Sätzen wie „Das Nichts selbst nichtet“ Unsinn produzierte. Philosophie sollte darauf zielen, Klarheit in die Aussagen der Wissenschaft zu bringen, und nicht, metaphysischen Kauderwelsch in die öffentliche Debatte zu schleusen. Der heroische Kampf galt der Überwindung der Metaphysik. Rudolf Carnaps Essay „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (1932), der sich an Heidegger abarbeitete, verspottete dessen behauptete Tiefgründigkeit auch öffentlich.

Allerdings waren Absagen an Metaphysik und Irrationalismus, als Austrofaschismus und Nationalsozialismus darangingen, die totale Macht zu ergreifen, politisch anstößig und gefährlich. Mit deren Kennzeichnung als „jüdisches Denken“ wurde die Basis für Ausgrenzung und Vertreibung gelegt. In Österreich galt der logische Empirismus als linkslastig, mochten manche aus dem Wiener Kreis noch so sehr den unpolitischen Habitus betonen. Der „Verein Ernst Mach“ wurde nach 1934 verboten. Otto Neurath, das politisch aktivste Mitglied, kehrte aus guten Gründen nicht mehr nach Österreich zurück. Als Moritz Schlick am 22. Juni 1936 auf der

Freitreppe der Wiener Universität ermordet wurde, mochte die Tat aus persönlichen Rachemotiven geschehen sein, die öffentliche Reaktion darauf war signifikant und einigermaßen eindeutig: Schlicks antireligiöse Philosophie sei „sehr zum Schaden für den Ruf Österreichs als eines christlichen Staates“ gewesen. Der Lehrstuhl wurde nicht nachbesetzt. Der große Exodus von Österreichs brillantesten Denkern hatte längst begonnen: Rudolf Carnap war schon 1931 nach Prag gegangen, während in Wien nach Schlicks Ermordung Friedrich Waismann endgültig seine Stellung verlor, Kurt Gödel einen Nervenzusammenbruch erlitt und so weiter. Letztlich schafften alle Mitglieder des Wiener Kreises den Sprung ins Exil nach Großbritannien oder in die USA, die meisten machten Karriere an Spitzenuniversitäten, aber nicht alle konnten Armut und Unsicherheit entkommen. Edmonds schildert auch die tragischen Schicksale. Sein Resümee über das Vermächtnis der einflussreichen Wiener Philosophenrunde: „Die Mitglieder des Kreises hatten vielleicht nicht alle Antworten parat, aber sie stellten meist die richtigen Fragen – Fragen, mit denen Philosophen auch weiterhin ringen.“ ALFRED PFOSER

Gedankenspiele – Die neuen Bände sind da! Michael Köhlmeier Gedankenspiele über das Gelingen 56 Seiten 10 €

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Familiengeschichte und Selbstreflexion Zeitgeschichte: Drei Familienautobiografien beleuchten das Wien des Fin de siècle bis in die Gegenwart

Michael Schnitzler ist niemand Geringerer als

der Enkel Arthur Schnitzlers und lebt in Wien im Cottage-Viertel in der unmittelbaren Nähe der Villa seines Großvaters. Aber Michael Schnitzler ist nicht nur Enkel eines Künstlers, sondern selbst einer, und zwar Violinist, als der er jahrzehntelang Konzertmeister der Wiener Symphoniker war und zwei eigene Ensembles auf die Beine gestellt hat, die Wiener Solisten und das Haydn-Trio. Außerdem hat er lange an der Musikhochschule bzw. Universität in Wien unterrichtet. Sein Buch beginnt mit der Familiengeschichte der Schnitzlers und Strakoschs, zweier großbürgerlicher Familien, die im Wien der Jahrhundertwende zu Reichtum und Ansehen gekommen sind und aus denen Michaels Eltern hervorgehen: der Theaterregisseur Heinrich Schnitzler, Sohn Ar-

thur und Olga Schnitzlers, und die Violinistin Lilly Schnitzler, geborene Strakosch. In beiden Familien ist Musik ein zentrales künstlerisches Ausdrucksmittel. Prägend für die Schnitzlers und die Strakoschs war jedoch die Tatsache, dass sie als jüdische Familien 1938 emigrieren mussten. Zunächst landeten Heinrich und Lilly Schnitzler mit ihrem Sohn Peter in New York, wo sie auf viele Freunde trafen. Heinrich konnte umgehend am Broadway inszenieren. Dann erhielt er eine Berufung an die Universität Berkeley. Michael wurde 1944 in Kalifornien geboren und wuchs zunächst wie ein „richtiger“ Amerikaner auf. Von klein auf spielte er Geige. 1958 wagte die Familie den Sprung zurück nach Wien. Michael war 14 Jahre alt und sprach kaum Deutsch.

Doch entscheidend für sein Leben war letztlich, wie er beteuert, nicht die Musik, sondern seine Reiseleidenschaft. So kam er 1989 nach Costa Rica und verliebte sich auf Anhieb in das mittelamerikanische Land. Er kaufte ein Haus und begann damit, sukzessive Regenwald aufzukaufen, um ihn vor der Abholzung zu schützen. Bald wurde daraus ein Charity-Projekt mit dem Namen „Regenwald der Österreicher“ (www.regenwald.at), in dessen Rahmen schließlich 40 Quadratkilometer Regenwald unter Schutz gestellt wurden. Außerdem sind eine Forschungsstation (www.lagamba.at) und ein Ökotourismus-Projekt (www.esquinaslodge.com) entstanden, bei denen Schnitzler ebenfalls entscheidend tätig war. Für sein Engagement erhielt er schließlich den Staatspreis für Umwelt, den sogenannten Konrad-Lorenz-Preis. Das Schlusswort seines Buches lautet: „Als Geiger und Lehrer war ich ersetzbar, als Naturschützer nicht.“

Die Musik bot jedoch viele Anknüpfungs-

punkte. Bemerkenswert sind die vielen Kapitel, in denen Schnitzler über die Dirigenten schreibt, mit denen er gearbeitet hat und die sich wie ein Who’s who der Musikgeschichte lesen: Karajan, Böhm, Giulini, Sawallisch, Abbado etc. Die Grundlage dieser Sequenzen bilden Tagebuchaufzeichnungen. Immer wieder gelingen ihm dabei komische Passagen, etwa wenn er die Charaktere der Dirigenten beschreibt, über Gastaufenthalte in fremden Ländern oder über eigene Missgeschicke schreibt. Da gerinnt das Buch zu einem einzigartigen Werk über ein Musikerleben im 20. Jahrhundert. Gespickt mit zahlreichen Fotos ist die Ausstattung des Buches auch opulent. Insgesamt hat Schnitzler im Laufe seines Lebens über 3000 Konzerte gespielt.

Der Schauspieler August Zirner hat gemeinsam

Michael Schnitzler: Der Geiger und der Regenwald. Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb. Amalthea, 272 S., € 28,–

mit seiner Tochter Ana ein Familienbuchprojekt der ganz besonderen Art ersonnen. Beide schreiben in „Ella und Laura“ über ihre Großmütter. Und zwar abwechselnd, zweistimmig, vierhändig, wie am Klavier. Das birgt die Gefahr, dass man des Öfteren den Faden verliert, weil man nicht weiß, bei welcher Großmutter man gerade ist. Allerdings sind die Damen doch grundverschieden und deswegen auch zeitlebens keine wirklichen Freundinnen geworden. Beide sind jüdischer Herkunft, und das veranlasst August Zirner am Beginn des Buches über den Satz „There’s no business

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

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ine Spezialgattung der Autobiografie sind sogenannte Familienbiografien. Mit „Vienna“ (2005) hat Eva Menasse einst einen Coup gelandet. Was treibt einen dazu, die (Auto-)Biografie einer Familie zu schreiben? Meist ist es der Wunsch nach Selbstfindung oder Selbsterkundung oder auch jener, die Einzigartigkeit der eigenen Familie für die Nachwelt zu dokumentieren. Keines von beidem dürfte Michael Schnitzler bewogen haben, unter dem Titel „Der Geiger und der Regenwald“ eine Autobiografie zu verfassen. Bei ihm ist es eher das Bedürfnis, die eigene Lebensgeschichte nachzuerzählen und zugleich einen flammenden Appell in puncto Klimarettung zu lancieren.


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das Maison Zwieback übernommen, eines der elegantesten Modekaufhäuser Wiens. Ihre Schwägerin Laura Beate Zirner, geborene Wärndorfer, war Grafikerin und Kostümdesignerin und Nichte eines der Begründer der Wiener Werkstätte, von Fritz Wärndorfer. Das Wien der Jahrhundertwende zum 20. Jahr-

August und Ana Zirner: Ella und Laura. Von den Müttern unserer Väter. Piper, 352 S., € 22,95

like Shoah-business“ zu reflektieren und sich die Frage zu stellen, ob er vielleicht bereit sei, seine eigene Großmutter zu verkaufen. Doch der Antrieb zu dem Buch ist ein anderer: Vater und Tochter haben sich lange nicht für die eigene Familiengeschichte interessiert, doch irgendwann, im Zuge einer Besinnung auf sich selbst – Stichwort: Selbstfindung – kam doch das Bedürfnis, diese zu recherchieren. Entstanden ist dabei ein packendes Buch über jüdische Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Auch in diesem Fall entkommen alle näheren Verwandten dem Holocaust. Auch in diesem Fall führt der Weg nach Amerika, nach New York und nach Urbana, Illinois. Ella Zirner-Zwieback, Augusts Großmutter, hatte von ihrem Vater

Hanna Molden: Der Jahrhundertelefant. Molden, 192 S., € 25,–

hundert bis in die 1930er-Jahre herauf ist dann auch die Zeit, auf die besonders fokussiert wird. Es ist dies die Zeit der beginnenden Frauenemanzipation, und beide Frauen, Ella wie Laura, stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Als Leiterin des Kaufhauses hatte Ella eine Pionierinnenrolle. Auch in ihrer Ehe brach sie mit so mancher Konvention und empfing von ihrem Klavierlehrer ein Kind, das ihr Mann Alexander als Kuckuckskind akzeptierte. Es ist der Sohn Ludwig Zirner, Musikprofessor und Regisseur, zugleich Ehemann Lauras, der erst in der Emigration seine wirkliche Leidenschaft zum Beruf machen konnte. Wie so oft in jüdischen Familiengeschichten geht es um mühsam erkämpfte Restitutionsansprüche. Nicht nur das Kaufhaus, auch das neben dem Kaufhaus von Ella Zirner-Zwieback begründete Café Zwieback, beide auf der Kärntner Straße, wurden 1938 enteignet und „arisiert“. Heute verkauft im ehemaligen Kaufhaus die Firma Apple seine blinkenden, klingelnden und überteuerten Gadgets, und das Café, das zeitweise den Gourmettempel Drei Husaren beherbergte, wurde restauriert und gehört jetzt zum Konditoreiimperium Sluka. Die Geschichte dieser Renovierung ist die einer weiteren Brüskierung. Zunächst wurde an keiner Stelle auf die jüdische Vergangenheit des Cafés hingewiesen. Erst der Einspruch von Ellas Enkel, von August Zirner selbst, führte dazu, dass immerhin auf der Speisekarte ein Hinweis auf die ehemaligen Besitzer gesetzt wurde. Eine „literarische Familienbiografie“ hat die

bekannte Journalistin und Autorin Hanna Molden über Ernst Molden und dessen Sohn Fritz Molden verfasst. Letzterer war ihr Ehemann und ist 2014 verstorben. Das Buch trägt den Titel „Der Jahrhundertele-

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Was treibt einen dazu, die (Auto-)Biografie einer Familie zu schreiben? Meist ist es der Wunsch nach Selbstfindung oder Selbsterkundung oder auch jener, die Einzigartigkeit der eigenen Familie für die Nachwelt zu dokumentieren

fant“. Und dieser „Jahrhundertelefant“ ist eine Märchenfigur, die Vater Ernst Molden erfand und die in der Familiengeschichte wiederholt von Vater zu Sohn weitergegeben wurde. Das Buch reißt kurz die Jugend von Fritz Molden an, des Sohns der Dichterin Paula Preradović, die bis heute als Texterin der Bundeshymne bekannt ist, und des Chefredakteurs der Presse Ernst Molden. Das Schreiben wurde in der Familie quasi genetisch vererbt. So übernahm später Sohn Fritz die Leitung und Chefredaktion der Presse. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er mehrfach von der Gestapo verhaftet, weil er sich mit dem Hitler-Regime anlegte. Später gründete er den Molden Verlag, der 1982 in Konkurs ging, aber unter Mithilfe von Freunden neu gegründet wurde. Die Geschichte der Familie Molden ist ein Stück österreichischer Geistes- und Gesellschaftsgeschichte. Dass Hanna Molden diese Geschichte teilweise in Ton und Form eines Kinderbuchs erzählt, verleiht ihr einen literarischen Anstrich. Die NS-Jahre werden mit dem Hinweis darauf, dass eine Familiengeschichte nie „restlos“ erzählt werde, „weil immer irgendwer der Wahrheit nicht ins Auge blicken will“, umschifft. Das ist schade, aber nur zu verständlich. NICOLE STREITLER-K ASTBERGER

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Propagandameister und Influencer avant la lettre

Restitutionen als Akte von modernem Exorzismus

Mediengeschichte: Stefan Schlögl und Wolfgang Hartl legen ein witziges und vor allem schönes Napoleon-Buch vor

Kunstraub: Sophie Schönberger analysiert die Restitution von Kulturgütern und hat einen überraschenden Befund

er Titel klingt so vollmundig, dass man ihn nicht für bare D Münze nehmen kann: „Napoleon

ie deutsche Bundesregierung bemüht sich um ein AussöhD nungsabkommen mit Namibia. An-

schläft mit Mona Lisa. Die ganze Wahrheit über den Kaiser der Fake News“. Alleine die Begriffe „ganze Wahrheit“ und „Fake News“ schlagen sich. Und wie kann Napoleon mit einem Bild schlafen? Mit dem ersten Buch der neu gegründeten Edition 5Haus, benannt nach dem 15. Wiener Gemeindebezirk, in dem der Verlag residiert, gelingt Stefan Schlögl zusammen mit seinem Grafiker und Illustrator Wolfgang Hartl ein Husarenstück: zum 200. Todestag des großen Feldherrn und gescheiterten Eroberers ein Buch vorzulegen, das sich tatsächlich von den gängigen Publikationen zu Jubiläen unterscheidet. Aber von vorne. Begonnen hatte alles mit der Kinder-

buchreihe „Asagan“, die mit 100 bis 500 Jahre alten Wien-Stichen Geschichten für Kinder von heute erzählt. Bislang sind acht Bände erschienen, die Wolfgang Hartl mit Erika Friedl gestaltet hat. Sie wurden in den neugegründeten Verlag übernommen, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Genregrenzen zu sprengen – und mit dem ersten „Sachbuch“ weiter in diese Richtung geht. Unterhaltung, Satire und ernste Information stellen für den Verlagsleiter Schlögl keine Widersprüche dar. Weil ihm Wolfgang Hartls Idee zu einem Napoleon-Buch so gefiel, übernahm er selbst den Textpart. Bei der Recherche fiel ihm der akribische, sozusagen moderne Umgang des „Influencers“ mit seinem eigenen Image auf – ein gefundenes Fressen für den Medienmenschen Schlögl. Napoleon sei nicht der Erste gewesen, der Bildinszenierungen als Mittel der Manipulation verwendet habe, aber dank der damals neuen Medien Zeitung, Flugblatt und Plakat habe er das auf eine vorher nicht da gewesene Art und Weise tun können. Dass Schlögl, der bisher unter anderem als Redakteur beim Standard und im Wien-Büro der Zeit als Verlagslektor und als freier Journalist tätig war, das Schreiben des so eleganten wie süffisanten Textes Spaß gemacht hat, spürt man in jeder Zeile. Herausgekommen ist ein ebenso lehrreiches wie witziges Buch, in dem Information und Illustrationen ein neues Ganzes bilden und das dem allseits bekannten Leben des Napoleon Bonaparte eine neue Facette hinzufügt: die Analyse seiner Medienstrategien. „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“, lautet ein Spruch, der Napoleon bloß zugeschrieben wird und der sich deswegen als Motto des Buches gut eignet. „Es kommt nicht auf die Wahr-

heit an, sondern darauf, was die Leute für die Wahrheit halten“ – dieses Zitat stammt vom Meister der Selbstinszenierung selbst. Die 120 bis 250 Jahre alten Stiche und

Drucke, die – aufgepimpt mit ironischen Bildunterschriften – jede Seite zu einer Augenweide machen, wurden in Antiquariaten, auf Auktionen und Flohmärkten entdeckt und angekauft. Ergänzt werden sie von Scans aus öffentlichen Bibliotheken wie der British Library. Von über 50.000 Bildern schafften es etwas über 200 in den vorliegenden Band. Sie wurden von Wolfgang Hartl kunstvoll manipuliert. Napoleon ist immer mit einer Sonnenbrille mit blau-roten Gläsern ausgestattet. Einmal bekommt der Tatmensch fünf Arme, ein anderes Mal steigt aus dem Schädel des Feldherrn und „embedded journalist seiner selbst“ ein zweiter Napoleon und verkündet „Und dann bla, bla, bla“. Das klingt respektlos und ist es auch. Trotzdem werden die Leistungen des „Befreierdiktators“ damit nicht geschmälert. „MessageControl, Kampagnen-Journalismus, Zielgruppen-Marketing: Wie kein anderer beherrschte Napoleon die Techniken der Selbstdarstellung“, lautet die dazugehörige Bildunterschrift. Der Selfmade-Kaiser war schüchtern, selbstausbeuterisch und unsicher, ein Kontrollfreak, der zu Wutanfällen neigte. Hier erfährt man nicht nur alles über seine Feldzüge, sondern auch über den gigantischen Kunstraub, die „Work-Life-Balance“ und die Marotten Napoleons sowie sein schwieriges Verhältnis zu Frauen, von der Liebschaft mit der jungen Desirée über die Lebensliebe zur ehemaligen Prostituierten Joséphine, die er selbst zur Kaiserin krönte, bis zur Mutter des Thronfolgers in spe aus dem Hause Habsburg. Ein richtiger Spaß wird die Geschichte,

wenn Hartl und Schlögl Social-Media-Profile („150.869 Beiträge, 100 Mio. Abonnenten, 0 abonniert“) und Ratgeberlisten wie „Management by Bonaparte. In zehn Punkten zum Erfolg“ oder Unterkunftbewertungen von seinen Verbannungsorten anlegen. Edutainment vom Feinsten. K IR STIN BREITENFELLNER

Stefan Schlögl, Wolfgang Hartl (Illus.): Napoleon schläft mit Mona Lisa. Die ganze Wahrheit über den Kaiser der Fake News. Edition 5Haus, 192 S., € 33,–

fang des 20. Jahrhunderts hatten Kolonialtruppen in Deutsch-Südwestafrika einen Völkermord an den Herero begangen. 80 Prozent des 100.000 Menschen zählenden Volkes wurden im Zuge einer militärischen Aktion umgebracht. Dafür bittet die Berliner Regierung um Vergebung und stellt eine Unterstützung von 1,1 Milliarden Euro in Aussicht. Die Überraschung: Vertreter der Herero lehnen das Abkommen ab, da sie nicht in die Verhandlungen eingebunden sind. Sie streben keinen Gabentausch, sondern eine juristische Anerkennung der Verbrechen als Genozid an. Sophie Schönberger beleuchtet das komplizierte Verhältnis ihres Landes zur eigenen Geschichte. In dem Essay „Was soll zurück?“ arbeitet sie drei sich überschneidende Felder auf: die Restitution nationalsozialistischer Raubkunst an die jüdischen Eigentümer, die Rückgabe von Kulturgütern an die ehemaligen Kolonialstaaten sowie die Ansprüche der 1918 abgesetzten Hohenzollern, der Herrscher im Deutschen Kaiserreich. Schönberger ordnet die Debatte in einen

vergangenheitsseligen Zeitgeist ein, der nicht nur in der Nostalgie gegenüber dem guten alten Gestern zum Ausdruck kommt. Dazu gehöre auch der politisch artikulierte Wunsch nach Restauration, der die Verbrechen der NS-Zeit ausblenden möchte, um ein heroisches Bild der Historie zu zeichnen. Ein dritter Aspekt, die „reparative Nostalgie“, ist am ehesten geeignet, die Forderung nach Restitution verständlich zu machen. In der reparativen Nostalgie gehe es eben nicht darum, Vergangenes zu verklären, sondern um die Wiedergutmachung von Unrecht: „Es wird eine hypothetische Gegenwart konstruiert, die entstanden wäre, hätte es das vergangene Unrecht nicht gegeben.“ Mit juristischen Argumenten habe die Kontroverse, so der schlüssige Befund, wenig zu tun. Für die Autorin ist etwa unverständlich, dass Georg Friedrich Prinz von Preußen als Oberhaupt des Hauses Hohenzollern auftrete, obwohl der Titel keine rechtliche Bedeutung habe. Und während im Fall der NSRaubkunst die Eigentumsverhältnisse rekonstruiert werden können, tappen Anwälte im Fall kolonialer Verbrechen im Dunkeln. Im Fall der Herero etwa sei meist unklar, wer denn die Nachfolger der Opfer bzw. die Erben entzogener Güter überhaupt sind. Der Nostalgiebegriff trifft jedenfalls auf das Humboldt-Forum zu, um das derzeit gestritten wird. Um gigantische Geldsummen wurde das

Stadtschloss der Hohenzollern rekonstruiert, eine restaurative Geste, die Berlin vom Schatten des Weltkriegs und der DDR-Diktatur befreien soll. Dadurch, dass hier außereuropäische Sammlungen präsentiert werden, soll die neue Funktion den „reparativen“ Forderungen gerecht werden. So will die Hauptstadt Rückbesinnung und Weltoffenheit gleichzeitig demonstrieren. Schönberger skizziert die Debatte und benennt die Unvereinbarkeit. Als Beispiel interessant, bleibt die Einschätzung insgesamt doch sehr spezifisch. Anders als Österreich hat Deutschland bis heute kein Kunstrückgabegesetz, das den Umgang mit Objekten regelt. Es fehlt noch immer eine systematische Provenienzforschung. Auch war die Enteignung der Habsburger nach dem Ersten Weltkrieg so konsequent, dass keine Forderungen offenblieben. Insofern lässt sich Schönbergers Beobachtung nicht auf Österreich übertragen. Ihr Buch ist dennoch ein Gewinn, denn sie arbeitet den ethnografischen Kern des Problems heraus. In den meisten Fällen geht es nicht um abstrakte Reparationszahlungen, sondern um Objekte: um Gemälde oder – wie im Fall des geplünderten Königreichs Benin im heutigen Nigeria – um Bronzen. Die Gegenstände besitzen eine magische Aura, die sie zu „Überlebenden“ macht. Und zu Zeugen von Verbrechen. Es mag ein Manko sein, dass es die Sicht der Opfer zu wenig einblendet. So geht es im Falle der NS- Verbrechen weniger um Vergangenheitsals um Traumabewältigung. Dennoch kommt Schönberger zu einer treffenden Conclusio: Wenn Museen heute Objekte aus ihren Vitrinen entfernen, an denen Blut klebt, dann betreiben sie für Schönberger auch eine Art von modernem Exorzismus. Die Rückgabe von Kulturgütern habe mit der Realität oft wenig zu tun, sondern befriedige lediglich ein Bedürfnis nach Erlösung. Oft gehe es gar nicht um die Wiedergutmachung von Unrecht, sondern um die Selbstdarstellung der Zurückgebenden, urteilt die Autorin: „Allzu schnell kann die erstrebte Gerechtigkeit zur Selbstgerechtigkeit werden.“ MAT THIAS DUSINI

Sophie Schönberger: Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie. Edition Mercator, C.H. Beck, 158 S., € 15,40


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Kann man Srebrenica erklären? Zeitgeschichte: Bogumil Balkansky legt eine beeindruckende Analyse des Kriegs in Ex-Jugoslawien vor

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ie erzählt man von einem Krieg, der vor 30 Jahren vor unserer Haustür begann und sich durch unvorstellbare Grausamkeiten, systematische Vergewaltigungen und ethnische Säuberungen auszeichnete, bis er im Sommer 1995 vor den Augen der Weltöffentlichkeit in den Völkermord von Srebrenica mündete? Wie erzählt man von einem Krieg, von dem man persönlich und familiär betroffen war, obwohl man nichts mit ihm zu tun haben wollte? Bogumil Balkansky ist mit seinem neuen Buch „Der dümmste Krieg. Ein kurzer Weg nach Srebrenica“ ein Bravourstück gelungen. In lakonischem Ton, der dem Thema nichts von seiner Dramatik nimmt, sondern es nur umso eindrücklicher macht, nähert er sich dem Geschehen und erzeugt ein intellektuell wie emotional nachvollziehbares Bild jenes Grauens, das die verschiedenen Volksgruppen im einstigen Jugoslawien in seinen Sog gezogen hat.

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Die vielleicht größte Stärke des Buches besteht darin, dass Balkansky nicht fragt, wer wann, wo und warum angefangen hat

Im Mittelpunkt stehen die Protagonisten der

Kroaten, Serben und bosnischen Muslime, angefangen bei den drei „Handlangern des Todes“ Slobodan Milošević, Franjo Tuđman und Alija Izetbegović, von denen nur Milošević für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden konnte. Tuđman und Izetbegović starben vor Fertigstellung der Anklagen des Den Haager Gerichtshofs. Von den Führern steigt der Autor Schritt für Schritt hinab in die Ebenen der Schlachtfelder, zu den „Hyänen des Krieges“, oft genug ehemalige Schwerverbrecher, die mit ihren Truppen eine Spur der Verwüstung und des Mordes durch die Dörfer und Städte der jeweils anderen zogen und dabei nur ein Ziel verfolgten: so viele „feindliche“ Dörfer zu verbrennen und so viele Angehörige anderer Volksgruppen zu massakrieren wie möglich. Željko Ražnatović, genannt Arkan, Gangster, Anführer der serbischen Freiwilligengarde; Mirko Norac, ehemaliger General der kroatischen Armee und später verurteilter Kriegsverbrecher; Jusuf „Juka“ Prazina,

Bogumil Balkansky: Der dümmste Krieg. Ein kurzer Weg nach Srebrenica. redelsteiner dahimène edition, 255 S., € 16,90

Gangster und paramilitärischer bosnischer Kriegsherr waren drei davon. Dem Autor gelingt dabei es immer wieder, den Leser en passant aus dem Schrecken herauszureißen und zum Schmunzeln zu bringen. Etwa wenn er Radovan Karadžić als einen Mann beschreibt, den die Welt als Quadratschädel kennenlernt, „mit sorgfältig am Schweben gehaltener Stirntolle, einer tiefen Grube im Kinn, schweren Augenlidern und schlechtsitzenden Anzügen mit Krawatten, die zu anderen Anzügen auch nicht passen würden“. Die vielleicht größte Stärke des Buches besteht

darin, dass Balkansky nicht fragt, wer wann, wo und warum angefangen hat. Nicht weil es ihn nicht interessierte, sondern weil das Wann im Kontext historischer Erzählung meist nationalistisch determiniert ist: Wer hat wen zuerst gedemütigt, welche Rechnung war noch nicht beglichen worden, welche neue wurde gerade aufgemacht? Begann es 1991, 1990 oder während des Zweiten Weltkriegs 1941? Vielleicht aber auch 1908 mit der Bildung bosnischer „Schutzkorps“ während der Habsburger Herrschaft oder 1389 auf dem Amselfeld? Was gilt als Beginn eines Krieges? Die ersten hasserfüllten Worte, die ersten Demonstrationen, die ersten Steinwürfe, der erste Schuss? Und welcher Schuss war der erste? Waren es jene Schüsse, die am Morgen des 31. März 1991, von serbischen Aufständischen abgegeben, den kroatischen Polizisten Josip Jovi im Nationalpark von Plitvice tödlich trafen? Oder war es der von kroatischer Seite weniger beachtete Schuss eines serbischen Nationalisten, der schon ein halbes Jahr zuvor Goran Alavanja tödlich traf, einen in der kroatischen Polizei dienenden Serben? Weniger beachtet, weil der Getroffene, unabhängig von der Uniform, die er trug, Serbe und nicht Kroate war? Balkansky stellt mit diesem Buch entscheidende Fragen: Warum haben sich so viele dem nationalen und/oder religiösen

Taumel hingegeben und dabei jede Menschlichkeit aufgegeben? Und warum hat niemand den Hass und das Morden gestoppt, dem die ganze Welt zugesehen hat? Denn der Weg nach Srebrenica war nicht so kurz, wie der Untertitel des Buches nahelegt, und er war gut sichtbar. Das letzte Stück des Weges nach Srebrenica

zeichnet der Autor nach, indem er sich neuerlich den Protagonisten zuwendet: Da ist zunächst Naser Orić, ehemaliger Leibwächter Milošević’, der es zum muslimischen Kriegskommandanten von Srebrenica brachte. Unter seinem Kommando wurde die Umgebung von Srebrenica „serbenfrei“. Sein Gegenüber ist Ratko Mladić, ein Berufsoffizier, der den Völkermord von Srebrenica befehligte. Dazwischen der schwankende Oberst Thomas Karremans, niederländischer Leiter des UN-Dutchbat III der UNPROFOR, dessen Aufgabe darin bestand, die Bewohner von Srebrenica zu schützen. Im entscheidenden Moment aber brachte Karremans nicht den Mut auf, dieser Aufgabe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, notfalls auch Waffengewalt, gerecht zu werden. Statt der Drohung Mladić’, er werde auf die Blauhelme schießen lassen, mit einer Gegendrohung zu begegnen, ließ er die serbisch-bosnische Armee ungehindert die Checkpoints passieren. Noch am selben Abend sah man ihn mit Mladić Schnaps trinken, im erstürmten Srebrenica. Schließlich lieferte er sogar die muslimischen Übersetzer, Zivilisten unter Vertrag der UN, an ihre Mörder aus. Balkansky stellt sich mit diesem Buch quer zur Logik der nationalistischen Erzählungen, die die Frage nach dem Anfang mit sich bringt, und offenbart mit seiner Analyse menschlicher Abgründe mehr über die Kriege im zerfallenden Jugoslawien, über Nationalismus, Hass, Machtgier und die dünne Wand, die uns von der Barbarei trennt, als die meisten Geschichtsbücher. HEIKO HEINISCH

Geoffroy de Lagasnerie

Das politische Bewusstsein

Geoffroy de Lagasnerie Das politische Bewusstsein

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„Das politische Bewusstsein“ ist der Versuch einer radikalen Dekon-struktion der politischen Philosophie, die für Geoffroy de Lagasnerie vollständig auf Fiktionen beruht. Ein politisches Bewusstsein, das die Welt so sieht, wie sie ist, nämlich als Schlachtfeld antagonistischer Kräfte, kann und muss auf solche Fiktionen verzichten. Hg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Richard

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Steurer-Boulard 2021. 352 Seiten. Paperback. (AT) 22,60 EUR / (DE) 22,00 EUR. ISBN 978-3-7092-0473-3 Auch als E-Book erhältlich: eISBN 978-3-7092-5048-8.

© Édouard Louis 2020

Ein Werk, das den Rahmen der politischen Theorie tiefgreifend erneuert.


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eutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden“, fragen Goethe und Schiller im gemeinsam verfassten Distichon. 200 Jahre später versucht der amerikanische Historiker Helmut Walser Smith (geb. 1962) darauf eine Antwort zu geben und tut dies in einem anspruchsvollen theoretischen Konzept mit anschaulichen Beschreibungen. Die gestutzte Version des Untertitels – „Geschichte einer Nation“ – zeugt davon, dass sich der Verlag der Komplexität des Unterfangens bewusst ist. Als „Geschichte einer Nation“ scheint das Werk für ein deutschsprachiges Publikum doch etwas zu rudimentär, da nur Beispiele aus den letzten 500 Jahren gebracht werden, aber dafür sehr gerafft und großartig übersichtlich, etwa die Zusammenfassung der Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Mehr Aufschluss gibt der Originaltitel: „Germany. A Nation in Its Time: Before, During and After Nationalism 1500– 2000“. Die Beschreibung des Prozesses, in dem die Bewohner eines Gebietes in Mitteleuropa einen Begriff von diesem Raum und dadurch ein Gefühl für die eigene Identität bekamen, ist ein zentrales Anliegen des Autors. Erst spät erwuchs daraus etwas, was sich als Nationalismus bestimmen lässt. Kriege haben diese Entwicklung mitgeprägt, vor dem 19. Jahrhundert allerdings wird militärische Macht darin keine bedeutende Rolle spielen. Reizvoll ist der mediengeschichtliche Zugang des Autors zu seinem Thema: So nimmt im ersten Kapitel „Deutschland vor dem Nationalismus“ eine ausführliche Betrachtung frühneuzeitlicher Landkarten, Atlanten und Reiseberichte breiten Raum ein. Die Geschichte des Buchdrucks verbindet sich mit Errungenschaften der Astronomie. Beispielhaft dafür ist die erste größere Darstellung von Deutschland, eine „gesüdete“ Romweg-Karte um 1500: Mit einem Sonnenkompass, einer Sonnenuhr mit Magnetnadel kombiniert, wird sie zum Reiseführer, da das Instrument an verschiedenen Breitengraden verwendet werden kann.

SACHBUCH

Raum zwischen anderen Völkern Geschichte: Zwei neue Bücher zur Geschichte und dem Nationalismus der Deutschen

Nationalismus ist auch ein Thema in der

Die Deutschen entdeckten so, nach Rom zie-

hend, ihr Gebiet als Raum zwischen anderen Völkern. Gleichzeitig mit dieser geografischen Errungenschaft vollzog sich die Rezeption der um 1450 in Italien aufgefundenen „Germania“ des Tacitus und gab ihnen ein erstes, noch recht nebulöses Geschichtsbild einer gemeinsamen Vergangenheit. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs regten sich patriotische Ansätze. Sie knüpften sich nicht an das immer schon theoretische, besser imaginär zu nennende Konstrukt des Heiligen Römischen Reiches, sondern an Landesteile wie Preußen, Bayern oder Württemberg, motiviert durch Zerfallsängste, die paradoxerweise an der selbst mit verursachten Teilung Polens den Ausgang nahmen. Eine wachsende Reisetätigkeit führte zu einem neuen Naturgefühl und einer Hinwendung zu landschaftlicher Schönheit: Der „deutsche“ Wald spielt hier naturgemäß eine große Rolle. Die Romantiker versuchten in Sprache und Dichtung zu finden, was dieses Land „im Innersten zusammenhält“. Mit begrifflichem Raffinement unterscheidet Walser Smith in den folgenden Kapiteln zwischen einem „Zeitalter des Nationalismus“, in dem dieser sich als Strömung formiert, und einem „nationalistischen Zeitalter“, in dem er den Zeitgeist dominiert. Der Autor nimmt dabei Anleihe an Kant, der betont, er lebe in einer Ära der Aufklärung und hoffe, diese münde in ein aufgeklärtes Zeitalter.

Den Beginn des „nationalistischen Zeitalters“ setzt Walser Smith mit der Weltkriegsepoche an, die von Begeisterung in Frustration umschlug und schließlich in den Fanatismus führte. In seiner Sicht auf den Kriegsausbruch 1914 ist er sehr nahe an Christopher Clarke („Die Schlafwandler“, 2012), der die Schuldzuweisung wohl allzu großzügig vornimmt, und verweist ausdrücklich auf diesen. Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs beschreibt Walser Smith als sich entfesselnde Maschinerie. Sie führt von lokalen Pogromen über die Verbrechen der Sondereinsatzkommandos in die totale Entmenschlichung des industriellen Mordes. Nach dem Krieg herrschte zunächst Schockstarre, ein allgemeines Leugnen und selbstgerechte Verweisung auf einige wenige Schuldige. Resultate von Meinungsumfragen in den 1950er-Jahren über die Rolle Hitlers als Staatsmann, das Zusammenleben und die NS-Politik im Allgemeinen zeigen, wie sehr sich die Mentalität seither geändert hat. Nur allmählich fanden die Deutschen zu einem neuen, mitfühlenden Nationalismus, in den das Gedenken an die Opfer integriert wurde und mit dem sie ihren Platz in Europa fanden. Der Autor übersieht nicht, dass Fantasien von „völkischer Reinheit“ heute wieder virulent zu werden drohen. Brillante Seiten des Buches befassen sich mit vergessenen Protagonisten der Geistesgeschichte, etwa dem Humanisten Sebastian Münster (1488–1552), einem hervorragenden Kartografen und frühen Hebräisten, der jüdische Texte vor der Zerstörungswut der Religionseiferer rettete. Oder Heinrich Wilhelm Riehl (1823–1897), der mit seinen erwanderten Beobachtungen als früher Feldforscher und einer der Gründerväter der Ethnologie gelten kann. Seine Dorfidyllen lassen ihn allerdings bedenklich ins „Völkische“ abgleiten. Insgesamt verliert das Buch an begrifflicher Schärfe und Anschaulichkeit, je mehr es sich der Zeitgeschichte nähert.

Helmut Walser Smith: Deutschland. Geschichte einer Nation. C.H. Beck, 667 S., € 35,–

Heinrich August Winkler: Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte. C.H. Beck, 278 S., € 26,95

Sammlung von Aufsätzen und Reden des großen Zeithistorikers Heinrich August Winkler (geb. 1938 in Königsberg), die sich über fast 50 Jahre erstrecken: „Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte“. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive werden politische Konturen und soziale Wirkkräfte der Idee deutlich. So schildert Winkler stringent, wie um 1800 zunächst linke Kritik an Feudalismus und Partikularinteressen im Mittelpunkt standen, im Laufe des Jahrhunderts aber Abwehrmechanismen gegen den aufkommenden Sozialismus in den Vordergrund traten. Für das Bürgertum war Nationalismus ein Bollwerk gegen die „vaterlandslosen Gesellen des Proletariats“. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärt Winkler nicht mit einer allgemeinen Kriegsbereitschaft, sondern unterstreicht die treibende Rolle des preußischen Militarismus: Die adelige Offizierskaste der Großgrundbesitzer mit ihrer beherrschenden Stellung in Militär und Wirtschaft führte Deutschland in den Krieg. Die Junker aus Winklers ostpreußischer Heimat hatten auch erheblichen Einfluss auf Deutschlands „Sonderweg“, als man 1929 als einzige Industrienation auf die Weltwirtschaftskrise mit dem Weg in die Diktatur reagierte. Die Sammlung gibt faszinierende Einblicke in die Gedankenwelt des Autors, der seit dem „Historikerstreit“ von 1986/87 das deutsche Geschichtsbild wesentlich mitprägt. THOMAS LEITNER

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

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Warum heißt die Titan-Sonde Huygens? Wissenschaftsgeschichte: Eine brillante Wiederentdeckung des Pioniers Christiaan Huygens (1629–95)

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alileo Galilei und Sir Isaac Newton zählen zu den weltweit bedeutendsten Forschern. Der von 1564 bis 1642 in Norditalien lebende Universalgelehrte Galilei entwickelte bahnbrechende Methoden und gilt als Begründer der modernen Naturwissenschaften, der 1643 geborene und 1727 in Kensington verstorbene Newton wurde als Entdecker der Gravitation und Bewegungsgesetze berühmt. Zeitlich gesehen dazwischen lebte in den Niederlanden von 1629 bis 1695 ein gewisser Christiaan Huygens, der unter anderem eine Wellentheorie des Lichts entwarf. Er kannte Rembrandt, Rubens, Descartes und Leibniz, studierte Rechtswissenschaften, widmete sich sehr früh mathematischen und physikalischen Fragen und leistete dort ebenso bedeutende Beiträge wie Galilei und Newton. Berühmt war er allerdings nur zu Lebzeiten.

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Christiaan Huygens war der bedeutendste europäische Naturwissenschaftler seiner Zeit und gehört als solcher auch heute angemessen gewürdigt HUGH ALDERSEYWILLIAMS

Dass Christiaan Huygens nicht nur der bedeu-

tendste europäische Naturwissenschaftler seiner Zeit war, sondern als solcher auch heute angemessen gewürdigt gehört, belegt Hugh Aldersey-Williams mit seiner tiefgründigen Biografie. Er schildert die Entdeckungen und Erfindungen von Huygens und arbeitet heraus, wie dieser in der naturwissenschaftlichen Revolutionszeit des 17. Jahrhunderts ein neues Weltverständnis initiierte. Mit seinen Arbeiten und Interventionen schuf Huygens die Basis für die Aufklärung, den modernen Verfassungsstaat wie auch die wissenschaftlichen Akademien. Um es vorwegzunehmen: Mit seiner beeindruckenden Recherche hat der 1959 geborene Aldersey-Williams ein weiteres Sachbuch verfasst, das einen Standard setzt. Er lebt in London und Norfolk, verantwortet Ausstellungen im Victoria and Albert Museum und ist 2011 mit „Periodic Tales“, einer Kulturgeschichte der Elemente, bekannt geworden. In dieser frönte er seiner Leidenschaft aus Teenager-Zeiten, als er mit dem Sammeln von Elementen begann.

Hugh AlderseyWilliams: Die Wellen des Lichts. Christian Huygens und die Erfindung der modernen Naturwissenschaft. Hanser, 495 S., € 28,80

Christiaan Huygens kam am 14. April 1629 in Den Haag zur Welt. Der Vater Constantijn war ein hochangesehener Dichter, Sprachgelehrter, Diplomat und Komponist, ein glühender Anhänger von René Descartes (1596–1650) und ein Universalist, der seine vier Söhne und die Tochter selbst unterrichtete. Die Mutter Susanna van Baerle hatte mit 18 ihre Eltern verloren, deren florierendes Handelsunternehmen geerbt und verfügte als selbstbewusste Frau mit ausgeprägtem logischen und mathematischen Verstand über beachtliche administrative Fähigkeiten. Christiaan war der zweite Sohn, der mit seinem knapp ein Jahr älteren und ebenfalls Constantijn genannten Bruder zusammenarbeitete. Vom Vater angespornt, wetteiferten die beiden miteinander und blieben lebenslang eng verbunden. Im Mai 1646 immatrikulierten sie sich an der

Universität Leiden, der größten protestantischen Hochschule jener Zeit. Um für sie ein Netzwerk aufzubauen, schrieb der Vater unter anderem an den französischen Mathematiker Marin Mersenne, der die angepriesenen Talente sogleich testete und ihnen ein Problem stellte. Nur Christiaan antwortete, und im Anschluss entwickelte sich ein lebhafter Briefwechsel. Bald wurden auch andere angesehene Mathematiker wie Blaise Pascal auf das Großtalent aufmerksam. Nach diesem gelungenen Einstieg entwickelte sich die Karriere von Christiaan Huygens rasant. Er antizipierte die Philosophie von René Descartes und dessen neues Naturverständnis, nach dem beispielsweise Vorgänge in Zeit und Raum messbar sind oder die Algebra nützlich ist, um Probleme der Geometrie zu lösen. Ausgerüstet mit solch fruchtbaren Denkwerkzeugen ging er viele Fragen seiner Zeit an, verbesserte den Bau von Pendeluhren, konstruierte Taschen-, Schiffsuhren und Fernrohre und schliff Linsen, verfasste Abhandlungen über das Licht oder die Ursache der Schwerkraft, konstruierte Fernrohre und spekulier-

te bereits über die Möglichkeit außerirdischen Lebens. Am 14. Januar 2005 landete eine Raumsonde

der NASA auf dem Titan, einem Mond des Saturns, dem vom Zentrum unseres Sonnensystems aus gesehen sechsten Planeten. Der Saturn hat einen Durchmesser von über 100.000 Kilometern, eine 95 Mal größere Masse als die Erde und benötigt für einen Umlauf um die Sonne etwa 29,5 Jahre. Start jener NASA-Mission auf Cape Canaveral war der 15. Oktober 1997 gewesen. Am 1. Juli 2004 hatte das als „Cassini-Huygens“ bezeichnete Gefährt seine Laufbahn um den Saturn erreicht und von da aus einen sogenannten Lander namens „Huygens“ losgeschickt, eine kleinere Sonde, die drei Wochen später die Mondoberfläche erreichte. Von dort aus sendete „Huygens“ überaus wichtige Messdaten, die zu spektakulären Erkenntnissen in Bezug auf diesen Planeten und seine Monde führten. Für Astronomen war der nach dem römischen Gott des Reichtums und der Ernte benannte Saturn immer schon eine Attraktion gewesen. Er ist mit bloßem Auge gut sichtbar, hat über 80 Monde und insbesondere ein Ringsystem, das Anlass für wilde Spekulationen gab. Entdeckt hatte dieses 1610 Galilei, der die Struktur allerdings als eine Art Henkel deutete. Erst Huygens beschrieb sie korrekt. Heute weiß man, dass solche Planetenringe eine Ansammlung fester Partikel verschiedenster Größen sind, die einen Himmelkörper wie auf einer Ebene umkreisen. Man würde sich wünschen, dass Huygens die ihn bestätigenden Erkenntnisse der Saturn-Mission hätte miterleben dürfen. Für ihn als Wissenschaftler, der sich nie von pseudowissenschaftlichen oder theologischen Debatten seiner Zeit hatte beirren lassen und international ausgerichtet war, wäre diese Bestätigung eine so große Freude gewesen wie für uns Leser die von Hugh Aldersey-Williams verfasste Biografie über ihn. ANDRÉ BEHR

Der Schweizer Arzt und ehemalige 68er Peter Mattmann-Allamand schlägt einen Richtungswechsel der Politik um 180 Grad vor: Deglobalisierung, d.h. Lokalisierung und Kleinräumigkeit, Regeneration des Ökosystems, qualitative Entwicklung statt quantitatives Wachstum, tendenzielle Dedigitalisierung, Dekommerzialisierung, Deindustrialisierung und Demotorisierung.

Peter Mattmann-Allamand

DEGLOBALISIERUNG Ein ökologisch-demokratischer Ausweg aus der Krise ISBN 978-3-85371-489-8, 264 Seiten, broschiert, 22,00 Euro E-Book: ISBN 978-3-85371-891-9, 18,99 Euro

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Sollen wir alle aufhören zu duschen? Medizingeschichte: Zwei Bücher zu Seuchenpolitik in Österreich und zur Kulturgeschichte der Körperpflege

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in schickes Paar: Lederne Handschuhe, Pelzkragen, Seidentuch und Melone tragen sie. Was aber als Erstes ins Auge sticht, ist ein uns seit rund eineinhalb Jahren begleitendes Accessoire: der Mundnasenschutz. Dieses Bild, eine von insgesamt 42 Abbildungen, schmückt das Cover von Daniela Angetter-Pfeiffers „Pandemie sei Dank! Was Seuchen in Österreich bewegten“. Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des „Österreichischen Biographischen Lexikons“ und dort verantwortlich für die Fachgebiete Medizin, Militär, Naturwissenschaften, Pädagogik und Sport. Ihr Buch legt den Fokus auf Österreich, untersucht aber auch, woher die Epidemien kamen und wie sie die heimische Politik veränderten. Eigentlich weiß man schon lange, dass eine Seuche vieles von einem Tag auf den anderen außer Kraft setzen kann, ihrer Bekämpfung aber ein pragmatisches Krisenmanagement zuträglicher ist als politisches Hickhack. Aber die Geschichte wiederholt sich offenbar. Gerade in der Zeit, in der rigorose Maßnahmen notwendig gewesen wären, war die Staatsführung mit anderen Problemen beschäftigt, nämlich mit sich selbst – etwa als die Habsburger-Monarchie zerfiel. Auch anderes ändert sich nie. Etwa dass Viren und Bakterien das Reisen lieben und keine Grenzen kennen, weder territoriale noch soziale und schon gar keine politischen. Wie aber entstanden Impfungen genau? Welche Methoden wurden zum Glück wieder verworfen? Wer war der „Vater der Notärzte“, der die militärmedizinische „Triage“ erfand? Und was hat die Kuh, auf Lateinisch vacca, mit dem Vakzin zu tun? Diese und andere Fragen beantwortet das

Buch. Zu den Irrwegen gehören etwa die Viersäfte- oder die Miasmenlehre oder Tipps aus dem Dreißigjährigen Krieg, als man dachte, gekochte Schlangenschwänze sowie die Eingeweide von Nattern oder geriebener Blutstein besäßen eine heilende Wirkung. Die Autorin zieht Parallelen zur Pest, die über die Alpenpässe nach Österreich kam. Zwar wurden in Venedig Kranke von Verdachtsfällen getrennt und auf unterschiedlichen Inseln isoliert, aber ein Schlupfloch (um nicht zu sagen „Kitzloch“) für einen Cluster fand sich damals schon: Händler, die sich von der Quarantäne freikauften, schleppten die Krankheit über den Brenner ein. Angetter-Pfeiffer verwendet an dieser Stelle den schönen Pleonasmus „illegale Bestechung“. O tempora, o mores in Tirol! Auch die Spanische Grippe hatte ihre österreichischen Wurzeln in diesem Bundesland. Anfangs wurde noch gewitzelt: „Die Spanische Grippe möchten wir ganz gern haben, wenn wir auch die richtige spanische Me-

dizin dazu hätten: einen echten Madeira.“ Kann man Ausnahmesituationen Gutes abgewinnen? Angetter-Pfeiffer lenkt den Blick auf die Impulse für innovative Entwicklungen. Wien verdankt der Pest sein erstes Stadtgesundheitskonzept sowie eine Vorform der MA 15. Mit Hilfe von Wissenschaftlern wie dem Geologen Eduard Suess und dem Internisten Joseph Ritter von Škoda bauten die Wiener ihre erste Hochquellenwasserleitung. Das lag nicht zuletzt an Typhus und Cholera, die im Frühjahr 1873 kurz vor der Wiener Weltausstellung ausbrach. Dazu kamen starke Regenfälle, ein komplettes Verkehrschaos und der Börsenkrach. Die Schauplätze, an die AngetterPfeiffer uns führt, liegen oft in Wien: Pestsäule, Karlskirche oder Griechenbeisl, das Stammtschocherl vom Lieben Augustin, der ebenso vorstellig wird wie Ignaz Semmelweis, der Erfinder des Händewaschens zur Bekämpfung von Krankenhauskeimen. Was dieser wohl zu James Hamblins „Natürlich waschen!“ gemeint hätte?

Hamblin erkundet die Geschichte der Seife, führt uns über den Campus der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH, spricht mit Claire Guest, die mit Versuchshunden arbeitet und wissen will, ob diese Krankheiten wie Krebs oder Parkinson riechen können, und mit einem Nachkommen des Seifen-Missionars Emanuel Bronner, der ihn als Erstes gleich einmal zu einem Schaumbad einlädt. Wir erfahren etwas über die Reinigungsriten der Azteken im 15. Jahrhundert, über Tenside und Seifenpflanzen, über Palmöl und Tierfett sowie die Eselmilch Kleopatras. Der Autor nimmt uns mit zur Deo-Fabrik in Brooklyn und zu den Amish People in die sanften Maisfeld-Hügel Pennsylvanias, denn diese lehnen nicht nur Technologien ab, sondern haben auch seltener Hautprobleme. Offenbar wirkt sich das Zusammenleben mit Tieren, der Erde und deren Mikroben positiv aus. Das führt Hamblin wiederum zum Mikrobenforscher Jack Gilbert im Argonne National Laboratory.

Der ehemalige Arzt Hamblin, der heute für die Zeitschrift The Atlantic schreibt und an der Yale School of Public Health lehrt, hat sich seit mindestens fünf Jahren nicht geduscht. Das klingt (in der Übersetzung) wilder, als es ist, passt aber zum etwas plakativen, dafür umso spannenderen Reportagenstil, in dem US-amerikanische Sachbücher oft geschrieben sind. Tatsächlich hat Hamblin bloß auf Duschgel, Deo und Shampoo verzichtet. Und diese dann irgendwann nicht mehr vermisst. Seine Haut wurde nämlich nicht mehr so rasch ölig, die Achseln – früher deodorantverwöhnt – nicht mehr so schnell schwitzig. Seine Schilderungen ziehen einen sofort in die Kulturhistorie der Körperpflege. „Natürlich waschen!“ ist im Original zwar schon vor der Pandemie erschienen, aber das derzeitige besondere Augenmerk auf (Hand-) Hygiene spielt dem Buch nun wortwörtlich in die Hände. Die Miasmen- und die Keimtheorie, der Vater der Bakteriologie Robert Koch und John Snow, der dem Choleraausgangspunkt in London detektivisch auf die Schliche kam, finden ebenfalls Eingang in eines der neun Kapitel. Interessant erweist sich hier der Vergleich mit Angetter-Pfeiffer. Während diese über das Aufkommen der Tröpferlbäder in Wien schreibt – das erste Volksbad in der Mondscheingasse entstand 1887 und war das erste Massenreinigungsbad Europas –, macht Hamblin klar, dass das 16. und das 17. Jahrhundert gerade deswegen so schmutzig waren, weil man die Badeanstalten aus Sorge vor Krankheitsübertragung von offizieller Seite geschlossen hatte. Aus Panik und mangelndem Wissen über das Pestbakterium.

Das Themenspektrum dieses Buchs ist breiter,

Daniela AngetterPfeiffer: Pandemie sei Dank! Was Seuchen in Österreich bewegten. Mit einem Vorwort von Christoph Wenisch. Amalthea, 256 S., € 25,–

James Hamblin: Natürlich waschen! Was unsere Haut wirklich gesund hält. Kunstmann, 288 S., € 24,95

als sein Titel vermuten lässt. Es geht um Berührung, die Rolle von Influencern, die globale Wasserkrise sowie „Männerseife“ in Whiskey-Flaschen oder Bakterien in Spraydosen. Hautpflege symbolisiert den Tau der Jugend, die Selbstermächtigung – und bringt wie so vieles selbsternannte Experten hervor. Hamblin ist zu einem solchen geworden. Er ist, wie er selbst schreibt, „besessen“ vom Mikrobiom der Haut. Sie stellt unser größtes und wichtigstes Immunorgan dar, die Schnittstelle zwischen dem Individuum und der es umgebenden Natur. Welche Folgen und Schäden entstehen, wenn wir uns abschotten in steriler Umgebung, noch dazu einer Klimaanlage ausgesetzt? Was bewirken all die Cremes und Lotions aus unserem Badezimmerschrank? Wird Neurodermitis überhaupt erst durch häufiges Waschen ausgelöst? Fest steht: Das Geschäft mit gesunder, schöner Haut boomt wie nie. Für Körperpflegeprodukte wird jede Menge Geld ausgegeben. Was „gesund“ wirklich bedeutet, was die Haut nährt, darüber ist sich die Forschung hingegen gar nicht einig. Selten ist sie komplett unabhängig von der Kosmetikindustrie, einer Branche, in der falsche Versprechen nicht ungewöhnlich sind. Fazit: zwei lehrreiche Bücher, die gespickt mit Fakten daherkommen, wobei sich jenes des Journalisten erfrischender und noch eine Spur flotter liest. Apropos: Auf Händewaschen mit Seife hat Hamblin freilich nie verzichtet. Es ist schließlich ein wichtiges Mittel, um die Übertragung von Krankheiten zu verhindern. Das hat sich seit Semmelweis nicht geändert. JULIANE FISCHER

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Die Zahlen und der Nimbus der Unbedingtheit Wissenschaftsgeschichte: Eine anspruchsvolle Kultur- und Ideengeschichte des Messens von Ralf Konersmann

vorgabe. Ralf Konersmann spürt in seinem neuesten Werk „Welt ohne Maß“ in acht Kapiteln der Ideen- und Kulturgeschichte dieses vielschichtigen Begriffs nach. Wie er das angeht, beschert uns mitnichten eine einfache, dafür aber eine das Denken ungemein anregende Lektüre. Konersmann lehrte an der Universität Kiel und leitete dort bis vergangenen März das Philosophische Seminar. Er hat über René Magritte und die Sichtbarkeit des Denkens publiziert, zuletzt erschienen „Die Unruhe der Welt“ (2015) und das „Wörterbuch der Unruhe“ (2017). In „Welt ohne Maß“ zeigt er auf, dass sich durch die Geschichte des Maßes wie ein roter Faden die Frage zieht: „Wer oder was steht ein für die Maßgeblichkeit des Maßes?“ Am Anfang stünde „das Vertrauen in die

Seinsverbundenheit des Maßes“. Denn bei den antiken Autoren herrschte die Überzeugung, dass die Welt geordnet ist. In allen Dingen ist ein Maß, und weil der Mensch in dieses Gefüge eingebunden ist, sind ihm die Dinge zugänglich. „Das Maß“, so Konersmann, „von dem die griechischen und römischen Philosophen sprechen, ist der Schlüssel zur Welt. Das Maß bildet die verlässliche Klammer zwischen dem Ganzen der Welt und dem Aktionsraum des Menschen.“

Mit Beginn der Neuzeit werden überweltliche Autoritäten und die Vorstellung einer Welt als göttliches Schöpfungswerk hinterfragt. Mit der von Descartes angestoßenen Mathematisierung, schreibt Konersmann, „geht der Nimbus der Unbedingtheit an die Zahlen selbst über an das, was sich durch Zahlen ausdrücken lässt. Das Band zwischen qualitativen und quantitativen Bezügen riss, und die Maßethik, die einmal dem Weltverhältnis des Menschen Ausdruck verliehen und es getragen hatte, stand allein.“ In dieser Situation nimmt Hegel das Thema auf und versucht an der Schwelle zur Moderne noch einmal, die Kongenialität von Maß und Vernunft zu erweisen, was systematisch in seinem Buch „Wissenschaft der Logik“ aufgearbeitet ist. Konersmann lotet das gesamte Umfeld des Maß-Begriffes aus und zeigt so seine zentrale Stellung und seine Unverzichtbarkeit auf. Ein Maß hat die Funktion, zwischen der Welt des Kosmos sowie der Natur und der Welt des Menschen zu vermitteln, dient also der Orientierung und ist deshalb allgegenwärtig. Um diesen Begriff in seiner Komplexität und Tragweite zu erfassen, muss uns insbesondere klar werden, dass nicht alles messbar ist. Heute wird uns von der Wissenschaft vorgegeben, wie man sich ernähren soll, welche Kleidung zu tragen ist oder welche Reisewege umweltschonend sind. Man

WIE NER WUN DER

muss sich selbst gar nicht mehr darum kümmern, erhält finanzielle Anreize und wird auf den richtigen Weg gelenkt, womit Ethik zur Verhaltenssteuerung verkümmert.

Ralf Konersmann: Welt ohne Maß. Fischer, 318 S., € 26,95

Was kann man gegen solch krassen Reduktionismus tun? In einem Gespräch über sein Buch Ende August im Deutschlandfunk riet Ralf Konersmann, „dass wir die ursprüngliche Komplexität von Ethik, Ästhetik sowie Technikphilosophie oder Techniktheorie wiederherstellen sollten“. Nur so könne man der grassierenden Messwut begegnen, die alles quantisieren will und etwa zu einer Glücksforschung geführt hat, in der sogar das „Glück“ in ganzen Nationen gemessen wird. „Man macht Umfragen, ob die Leute glücklich sind“, moniert er, „klärt aber nie, was Glück eigentlich ist.“ „Für uns Heutige“, schließt Konermann seine Untersuchung, „ist noch gar nicht absehbar, welcher Text oder Gedanke, welcher Begriff oder Argumentationszusammenhang einmal von künftigen Generationen gesucht werden und ihnen aus welcher Verlegenheit auch immer heraushelfen wird. Daher der auf diesen Seiten getriebene Aufwand der Rekonstruktion. Es wäre schon viel erreicht, wenn es gelungen sein sollte, den Einsatz des Maßes zu verdeutlichen und es vor Verwechslungen mit Ersatzautoritäten zu bewahren, die das Themenfeld besetzt haben.“ A N D R É B E H R

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essen mit einem Maß wie einem Meterstab ist eine Technik, ein Maß wie M die Mäßigung eine Tugend und Verhaltens-

M I D - C E N T U RY V I E N N A Tom Koch | Stephan Doleschal A uf den Spuren, die die 1950er und 1960er Ja hre des Wir tschafts wunders in A rchitek tur, D es ign und I nterieurs hinterlassen hab en.

240 Seiten, € 29,90


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Pläne für eine neue Beziehung zur Welt Biologie: Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras“ legt einen späten Senkrechtstart hin

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Man zeigt seine Fürsorge nicht, indem man das, was man liebt, hinter einem Zaun wegsperrt

Mit der Taschenbuchausgabe hat ein unge-

wöhnliches Werk einen verzögerten Erfolgsweg eingeschlagen. Die Mundpropaganda gibt auffallend oft Werken einen Schub, die sich nicht so recht geschmeidig in eine Buchhandelsschublade einordnen lassen wollen. Für „Geflochtenes Süßgras“ gilt das sicher. Es ist vieles in einem: botanisches Werk, Erinnerungsliteratur, persönliche Lebens- und Erfahrungsgeschichte, kulturanthropologische Betrachtung, ökopolitisches Plädoyer für eine Kultur der Dankbarkeit im Umgang mit der Erde und ihren

Robin Wall Kimmerer. Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen. Aufbau, 462 S., € 24,70

Ressourcen, Fusion von indigenem und naturwissenschaftlichem Wissen in Bezug auf Pflanzen und Umwelt. Seine Autorin, Robin Wall Kimmerer, Jahrgang 1953, ist Botanikerin, Professorin für Pflanzen- und Umweltökologie an der State University of New York in Syracuse und Umweltaktivistin. Sie ist Angehörige des indigenen Volks der Potawatomi und hat es sich schon seit Studienzeiten zur Aufgabe gemacht, tradiertes indigenes Wissen zum Umgang mit Fauna, Flora und Landschaft in die modernen Umweltwissenschaften einzubringen. Das sind die äußeren Rahmenbedingungen für ein Buch, das sich am besten als große Reise beschreiben lässt, in der sich unzählige Einzelstränge zu einer hochpoetischen und wissensgetränkten Erzählung fügen – wie die einzelnen Halme des titelgebenden Süßgrases zu einem dicken Zopf. Süßgras spielt in indigenen Schöpfungsmythen und -ritualen eine zentrale Rolle. Es ist auch eine der Pflanzen, die in Kimmerers Buch die Protagonisten sind: als Lehrer für gelungene Kooperation, als Nahrung und als Material für Werkzeug und Alltagsgegenstände, als Träger von Schönheit, als Lebewesen innerhalb von indigenen Traditionen, die den Menschen als „kleinen Bruder der Schöpfung“ betrachten und nicht als deren Krönung. Es geht Kimmerer um die Fusion beider Perspektiven im Dienste dessen, was sie angesichts von Umweltzerstörung, Ressourcenausbeutung und entfesselter Marktwirtschaft (Letztere ist für sie „ein soziales Konstrukt“, das sich ausgebreitet hat „wie ein Buschfeuer“) die dringend benötigten „Sanierungspläne für unsere Beziehung zur Welt“ nennt. Sie plädiert für die „Fähigkeit zur Selbstbeschränkung“ oder das traditionelle indigene Nachhaltigkeitsprinzip der „ehrenhaften Ernte“, bei dem es darum geht, nie mehr zu nehmen, als man braucht, und stets etwas zurückzugeben.

Während man das Buch mit seinen Mäandern und Rückblicken, Details, Exkursen, Naturbetrachtungen und Selbstreflexionen inhaliert, taucht man in eine Fundgrube an Wissen ein. Wenn Kimmerer etwa ihre Bemühungen beschreibt, die vom Aussterben bedrohte Sprache der Potawatomi zu lernen, versucht man mit ihr über eine „Grammatik der Belebtheit“ nachzudenken: Es ist eine Sprache, in der 70 Prozent aller Wörter Verben sind (im Englischen sind es nur 30 Prozent), Zeitwörter wie „eine Bucht sein“ vorkommen, die für uns erst langsam Sinn ergeben, und in der es von fast allen Wörtern Varianten gibt, abhängig davon, ob man von etwas Belebtem oder Unbelebtem spricht. Von Naturromantik ist hier nicht die Rede. Es

geht Kimmerer auch nicht darum, die Natur in Ruhe zu lassen. „Man zeigt seine Fürsorge nicht, indem man das, was man liebt, hinter einem Zaun wegsperrt.“ Auf vielfältige Weise, etwa auch anhand von botanischen Feldforschungen einiger ihrer Doktoranden, zeigt sie auf, dass es in der Beziehung zwischen Mensch und Natur um Reziprozität geht, um einen fairen Austausch. Mindestens so wichtig – darin liegt eine der größten Leistungen dieses Buchs – ist für Kimmerer die Einsicht, dass unsere Beziehung zum Land nicht gesunden kann, „solange wir uns nicht seine Geschichten anhören“. Sie selbst ist ganz groß im Hinhören: Durch Kimmerers Augen betrachtet wird ein Wassertropfen oder ein winziger Flecken Waldboden zum Ausgangspunkt für die spannendsten mythischen und wissenschaftlichen Detailgeschichten. Wohl auch deshalb stellt sich bei der Lektüre bald Zuversicht ein. Oder wie die britische Nature-Writing-Bestsellerautorin Helen Macdonald („H wie Habicht“) es ausdrückte: „Geflochtenes Süßgras“ gebe ihr Trost und habe ihr das Gefühl vermittelt, „dass es noch Hoffnung gibt für diesen Planeten“. JULIA KOSPACH

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

I

n der Buch- und Verlagswelt wird viel und gern darüber gesprochen, welche Faktoren es sind, die die Verkaufszahlen eines Buchs in die Höhe schnellen lassen. Eine gute Story? Sowieso. Ein ordentliches Budget fürs Marketing? Auf jeden Fall. Vorangegangene Bestseller aus derselben Feder? Schadet keinesfalls. Eine charismatische Autorin, ein charismatischer Autor mit interessanter Lebensgeschichte, die wichtige Medien vorab prominent featuren? Unbedingt. Doch all das kann vorhanden sein und aus einem noch so guten Buch wird trotzdem kein Bestseller. Umgekehrt gibt es gute Bücher, die beinah im Verborgenen erscheinen, sich einen eigenen Weg bahnen und auch ganz ohne Rückenwind aus dem Verlagsmarketing zum Erfolg werden. Das geschieht, wenn das völlig unkalkulierbare Vehikel namens Mundpropaganda in Schwung kommt. Mit alchemistischer Energie verwandelt es einen Titel, auf den vorher keiner groß gewettet hätte, zum Senkrechtstarter. Mitunter dauert das. So wie bei Robin Wall Kimmerers Buch „Geflochtenes Süßgras“. In der amerikanischen Originalausgabe aus dem Jahr 2013 fiel es abseits einiger anerkennender Rezensionen nicht weiter auf. Doch dann, als Paperback, explodierten die Verkaufszahlen plötzlich und es steht seit dem Frühjahr 2020 nonstop auf der Bestsellerliste der New York Times.


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Nützliche Dinge tun

Erzwungenes Bekenntnis

Naturkunde: Der 16-jährige Nordire Dara McAnulty wird mit seinem Tagebuch zum Star des Nature Writing

Geschichte: Bernhard Meier zeigt, dass die christliche Missionierung parallel zur Kolonialisierung verlief

n den letzten eineinhalb Jahren ist der heute 16-jährige Nordire Dara IMcAnulty ziemlich groß rausgekom-

Zeit, in der in der westliIzugncheneiner Welt Ahnungslosigkeit in Beauf Inhalte, Entwicklung, Ver-

men. Niemand vor ihm hat in so jungen Jahren den renommierten Wainwright Prize for Nature Writing gewonnen, und das ist eine wahrhaft große Sache in Großbritannien, das buchstäblich verrückt ist nach gutem Nature Writing und jede Menge erstklassige Autoren und Werke des Genres hervorbringt und -gebracht hat. Der aktuelle König des britischen Nature Writing, Robert Macfarlane, räumte kürzlich letzte Zweifel am Talent seines blutjungen Kollegen aus, als er sagte: „Es mag Misstrauische geben, die glauben, hier werde ein junger Autor dafür ausgezeichnet, jung zu sein, aber er ist ein wahrer Meister des Einzeilers.“ Und nicht nur das. Die Welt, betrachtet durch Dara McAnultys Augen, „funkle auf andere Weise“, so Macfarlane. „Die Natur ist meine Zuflucht“, schreibt Dara McAnulty in seinem „Tagebuch eines jungen Naturforschers“, das ihn bekannt gemacht hat, mehr noch als die Natur-Tweets, mit denen er als 13-, 14-Jähriger seine Karriere als „naturalist“ begründete. Im Buch berichtet er über die vier Jahreszeiten hinweg nicht nur von seiner hingebungsvollen Beschäftigung mit Vögeln, Insekten, Pflanzen und allen Erscheinungen der Natur, sondern auch von Mobbing in der Schule, von einer Übersiedlung, vom „Energieverbrauch meiner innerlichen Schlachten“, vom Anders-Sein und vom Alltag in seiner heiß geliebten, ungewöhnlichen Familie mit Eltern und zwei Geschwistern. „Wir sind alle autistisch, bis auf Dad – er ist der Sonderling, und von ihm hängen wir ab, damit er uns nicht nur die Mysterien der Natur, sondern auch

die des Menschen verrät.“ Durch seinen Autismus, so McAnulty, spüre er alles intensiver, im Schlechten wie im Guten. So kommt es auch, dass Verzückung und

Frust zwei der Hauptkomponenten dieses so überaus eigenwilligen und unverwechselbaren Buchs sind (man will sich gar nicht vorstellen, welche zusätzliche Anstrengung seine neue, öffentliche Persona für Dara McAnulty bedeuten muss). Da ist eine Dringlichkeit in seinem Wunsch, in die Natur ein- und abzutauchen, ihre Geheimnisse zu erforschen und ihre Schönheit zu bewundern, die für sich allein genommen schon hinreißend ist. Am Meer bestaunt er die „Flossen-Soap“ herumrempelnder Kegelrobben ebenso wie eine „Dreifaltigkeit dahinzischender Tölpel-Torpedos“. Er erzählt von den Ausflügen seiner Familie, deren Mitglieder „dicht aneinander geschmiegt wie die Otter“ leben, oder schreibt angesichts einer kurzen Raubvogel-Forschungsreise, die zu begleiten er eingeladen wird, Sätze wie diesen: „Genau das möchte ich tun. Genau so möchte ich sein, umgeben von Gleichgesinnten nützliche Dinge tun mit Achtsamkeit, Wissen und Klarheit.“ Sehr schön, sehr anrührend, sehr tröstlich. VON JULIA KOSPACH

Dara McAnulty: Tagebuch eines jungen Naturforschers. Malik, 254 S., € 20,60

breitung und Prägekraft der Religionen um sich greift, will Bernhard Maier, der Tübinger Professor für Allgemeine Religionswissenschaft, Überblick schaffen. Der erste Streich war „Die Ordnung des Himmels. Eine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute“ (2018), dem jetzt neuerlich eine Rundumschau folgt. „Die Bekehrung der Welt“ will nicht weniger als „Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit“ (Untertitel) schreiben, die die heutige Verbreitung der Weltreligionen klärt: Wieso hat sich das Christentum in Lateinamerika oder auf den Philippinen durchgesetzt, während in China, Japan oder in Indonesien die Missionierungsversuche misslangen? Christliche Missionen entstanden in en-

ger Verbindung mit den Etappen der Kolonialisierung durch die europäischen Staaten und lösten schon im 16. Jahrhundert heftige Grundsatzdebatten aus: Bartolomé de Las Casas’ Protest gegen die Versklavung der Indianer ist einigermaßen bekannt. Maier geht die Komplexität des Themas weniger analytisch als lexikalisch und enzyklopädisch an, was der Lesbarkeit des materialreichen Buches nicht guttut. Eigene Kapitel widmet er der Entwicklung in Nord- und Südamerika, Indien, Japan, China, Afrika, Indonesien, auf den Philippinen, im Vorderen Orient oder im Hohen Norden, wobei die verschiedenen Orden und konkurrierenden Gruppen und christlichen Bekenntnisse mit ihren Initiativen im Laufe der Jahrhunderte benannt und beschrieben werden.

Mit dem 19. Jahrhundert begann sich die Missionierung zu verändern, weil die Überlegenheit des Christentums gegenüber anderen Religionen nicht mehr ausgemacht schien. Der Widerstand gegen die Missionsabsichten wurde größer, oft geschah dies in heftigen Reaktionen und gewaltsamen Zusammenstößen. Aber auch Tendenzen, in denen Religionen einander zu durchdringen begannen, lösten Veränderungen aus. Außereuropäische Religionen begannen auf das christliche Europa einzuwirken, was sich auch darin zeigte, dass Ethnologie und vergleichende Religionswissenschaft entstanden. Maier zieht dafür auch Beispiele aus der Belletristik und aus der Filmgeschichte heran, die einerseits Heldengeschichten erzählen, andererseits auch deren brutales Scheitern zeigen. Martin Scorseses Film „Schweigen“ (2016) etwa schildert den tragischen Verlauf der Jesuitenmission im Japan des 17. Jahrhunderts. Statt der Frohbotschaft generiert die Mission erzwungene Glaubensbekenntnisse, brutale Verfolgung, kulturelle Entwurzelung und bei den Missionaren eine tiefe religiöse Verzweiflung. Auch diese Aspekte gehören zur Geschichte der christlichen Missionierung, die noch nicht zu Ende geschrieben ist. ALFRED PFOSER

Bernhard Maier: Die Bekehrung der Welt. Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit. C.H. Beck, 448 S., € 32,90.

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Ausstellungsdauer: 20.10.2021–3.5.2022 Öffnungszeiten: Dienstag–Sonntag: 10–15 Uhr Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ/StifterHaus Adalbert-Stifter-Platz 1 4020 Linz

Das grüne Märchenbuch aus Linz Ilse Aichinger (1921–2016)


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In der Provinz soll nichts los sein? Von wegen!

Im Manhattan der Alpen wurde planlos gebaut

Soziologie: Hans Ulrich Gumbrecht sieht die oft geschmähte Provinz als Nährboden für Spitzenleistungen

Architektur: Judith Eiblmayr und Philipp Balga erzählen die wild bewegte Geschichte von Bad Gastein

alten wir uns nicht lange mit den gängigen Vorurteilen auf. H Wir kennen sie alle: In der Provinz sei

ad Gastein ist vielleicht der seltB samste Ort Österreichs. Eine enge Schlucht, von einem Wasser-

nichts los und höchstens die Langweile zuhause, wird gern hämisch behauptet; meist von Leuten, die selbst aus der Provinz stammen, um nun aus hauptstädtischer Perspektive auf sie herabzublicken. Wenig kulturelles Angebot, dafür umso mehr Kleingeist und Rückständigkeit erkennen sie im Rückspiegel an den Orten der Peripherie. Man hat sich daran gewöhnt, dass der Begriff mit einer abwertenden Konnotation verbunden ist. Umso überraschender kommt das Buch „Provinz. Von Orten des Denkens und der Leidenschaft“, das viele Klischees locker vom Tisch wischt, indem es auf das enorme Potenzial kleiner bis mittelgroßer Städte und suburbaner Räume hinweist. Geschrieben hat den intellektuell anregenden und mit eigenen biografischen Erinnerungen durchsetzten Essay ein sogenannter Mann von Welt. Hans Ulrich Gumbrecht, geboren 1948,

ist keiner, dem man Provinzialität vorwerfen würde. Der deutsche Literaturwissenschaftler und Philosoph hat sich über die Jahrzehnte den Ruf eines leidenschaftlichen Denkers erarbeitet. Die NZZ schrieb zu seinem 70. Geburtstag: „Bei ihm wäre zu lernen, worin der Nutzen der Geisteswissenschaften für das intensive Leben besteht.“ Gumbrecht ist auch nach seiner Emeritierung ein neugieriger Forscher und lebenshungriger Mensch geblieben. So erfolgreich seine Laufbahn verlief, zeigt sich bei genauerem Hinsehen auch: Seine Wirkungsstätten waren nie die Metropolen. Die ersten Professuren hatte der in Würzburg aufgewachsene Geisteswissenschaftler in Bochum und Siegen, wohin er Jean-Francois Lyotard oder Niklas Luhmann einlud. Die Siegener Gesamthochschule führte weniger später das Ranking der deutschen Universitäten an. Gumbrecht folgte 1989 dem Ruf nach Stanford, das abgesehen von seinem Namen als Universitätsstadt auch nur ein Ort in Kalifornien mit nicht einmal 14.000 Einwohnern ist. „Ohne großen Lokalpatriotismus in Würzburg aufgewachsen“, resümiert Gumbrecht seinen Weg, „habe ich fast das ganze Leben in Provinzstädten verbracht, mit den üblichen Einbrüchen von Sehnsucht nach einer Metropole. So wird man zum Provinztyp, ohne wirklich zu wissen, was dies bedeutet, weil sich jeder Provinzort in anderer Weise bewegt.“ Mit der Berlin-Begeisterung vieler Deutscher kann er wenig anfangen. Ganz anders verhalte es sich in Spanien, Frankreich oder England: „In Madrid, Paris oder London arbeitet

man harte fünf Werktage in Ministerien, Hochschulen oder Exportunternehmen, mietet das engste verfügbare Zimmer und wartet aufs Wochenende im eigenen Haus an der provinziellen Peripherie.“ In seinem leidenschaftlichen Essay reklamiert Gumbrecht Kleinstädte nicht nur als Orte guten Lebens, sondern vor allem als Stätten des Denkens, wo fernab der großstädtischen Hektik konzentriertes Arbeiten möglich sei. Provinz definiert er für sich als das, was zwischen Dörfern und Metropolen liegt und diese beiden Kontrapunkte auch braucht, „um zwischen Dumpfheit und Helligkeit zu oszillieren, in Leidenschaft und Intellekt“. Seinen kleinen historischen Streifzug be-

ginnt er in Weimar, wohin es Goethe im Alter von 26 Jahren verschlug. Ob Goethe, Schiller und Wieland in Frankfurt oder anderen Städten Ähnliches hervorgebracht hätten wie die Weimarer Klassik? Das bezweifelt Gumbrecht sehr. Unter der Herzogin Anna Amalia herrschte hier ein günstiges Klima für eine geistige und kulturelle Entfaltung, die die besten Köpfe anzog. Wäre später nicht auch Schiller nach Weimar gekommen, so hätte wohl nie ein intensiver Austausch zwischen ihm und Goethe stattgefunden. Gumbrecht singt aber kein reines Loblied auf die Provinz, er kennt auch ihre Gefahren: Wo „intellektuelle Geselligkeit als Alltag und freie Verfügung über die Zeit im Leben der Provinz konvergieren, da liegt die Chance von Kontemplation (…). Dass die enge soziale Welt einer Provinzstadt wie Weimar umgekehrt gerade auch zu Blockaden des Denkens und zur Akkumulation von Enttäuschungen hätte führen können, liegt auf der Hand.“ Die Reise endet in Stanford und im suburbanen Silicon Valley, an dem Gumbrecht trotz aller zuletzt laut gewordenen Kritik am Gebaren der dortigen IT-Branche als dem Hotspot unserer Zeit festhält. Hegel würde heute hier den Ort des Weltgeists erkennen, ist er überzeugt. Man muss seinem Essay nicht in allen Punkten zustimmen, aber er ist über weite Strecken sehr erfrischend und bisweilen überraschend. SEBASTIAN FASTHUBER

Hans Ulrich Gumbrecht: Provinz. Von Orten des Denkens und der Leidenschaft. Zu Klampen, 224 S., € 22,70

fall durchrauscht, in der sich Hotelburgen an den Felshang krallen, die talseits bis zu 50 Meter hoch aufragen. Eine Stadt in den Bergen, aber fast ohne Einwohner. Das eigentliche Dorf Gastein bestand aus nicht mehr als einer Handvoll Häuser um eine einfache Kirche, alles, was dann folgte, verdankt sich zahllosen Spielarten des Tourismus, das Ergebnis von Jahrhunderten voller Begehrlichkeiten und Spekulationen (erst Gold, dann Eisenbahn), Aufschwüngen und Niedergängen. Nach den 1950er-Jahren begann der lange Niedergang, da der Skitourismus in höhere Lagen abwanderte und die Radon-Kuren sich als nicht ganz so heilsam erwiesen wie erhofft. Kurz nach der Jahrtausendwende wurde der morbide Charme von Hipstern und Architekten wiederentdeckt, die manche alte Hotels neu belebten. Trotzdem wurden immer wieder einst große Häuser wie der Gasteinerhof abgerissen, andere wie das Grand Hotel siechten dahin, und das Herzstück Gasteins, das Ensemble aus Hotel Straubinger, Badeschloss und Post wurde von einem greisen Wiener Investor jahrzehntelang dem Leerstand und Verfall preisgegeben. Bis das Land Salzburg 2017, mehr oder

weniger in letzter Minute, die drei Häuser am Wasserfall erwarb und an einen Hotelinvestor vergab. Jetzt wird renoviert, und im dunklen Tal glimmt wieder ein Sonnenschein der Hoffnung. Das jetzt erschienene Buch „Bad Gastein ab|an|aufgebaut“ kommt also genau zur rechten Zeit. Fast ein Zufall, denn es ist das Ergebnis einer langen Arbeit. Konzipiert wurde es von der Architektin und Publizistin Judith Eiblmayr gemeinsam mit der Kunst- und Architekturhistorikerin Iris Meder, das Duo hatte schon 2009 ein Buch über das Wiener Hochhaus Herrengasse veröffentlicht. Nach dem frühen Tod Iris Meders 2018 tat sich Eiblmayr mit dem Arzt und Fotografen Philipp Balga zusammen, dessen Bildessay das Buch ergänzt. Die Historie des Ortes wird in einer Art Parallelmontage aus fundiert recherchierter Information und einer überbordenden Fülle von Planmaterial erzählt. Das funktioniert sehr gut, denn die Essays sind lesbar, und die Pläne und historischen Fotos sprechen ihre eigene Sprache, zumal sich Bad Gastein stets selbst bildmächtig inszeniert hat. Man könnte diese Geschichte fast als Roman lesen, mit einzelnen Motiven, die in der Handlung immer wieder auftauchen: Der

„amerikanische“ Wildwest-StadtCharakter, in der im Wildwuchs gebaut und abgerissen wurde, je nachdem, in welche Richtung die Wegweiser der Wirtschaft gerade zeigten. Eine Art Zentrum des Plots: der nahezu mythische „Ur-Kern“ des Ortes, das Mitteregg. So hieß der Felsen zwischen den beiden Wasserfällen, der nach und nach überbaut wurde, bis irgendwann nur noch ein Wasserfall übrig war, eingeklemmt zwischen Hotelgebirgen. Auch die Machtkämpfe der lokalen Granden, die wiederum vereint waren in der Rivalität mit Hofgastein und der Verteidigung gegen Neu-Investoren „von außen“, tauchen leitmotivisch immer wieder auf. Dabei liegt der Fokus des Buches natürlich auf der Architektur, die all diese Dynamiken widerspiegelt und gleichzeitig ihre eigenen Geschichten erzählt: Ländliches trifft auf importiert Urbanes, Fürstliches steht neben Modernem – und mittendrin ein Flugzeugträger aus Beton, das 1974 eröffnete brutalistische Kongresszentrum von Gerhard Garstenauer. Einen wirklichen Plan, der Ordnung in diese wilde Mischung von Baustilen und Bauvolumen brachte, gab es nie. „Es wurde in Bad Gastein planlos gebaut. Je nachdem, wo gerade ein Baugrund zu kaufen war, entstand ein neues Kurhaus“, stellt Eiblmayr in einem ihrer beiden Essays bedauernd fest. Ihr Fazit: „Bad Gastein wurde es verwehrt, seine natürliche Schönheit neben den grandiosen Bauten weiterhin auszuspielen wie in jener vergangenen Zeit, als das Dorf mit dem Element Wasser zusammenlebte.“ Gegen die Informationsdichte dieser beiden langen Essays und die Fülle an Archivmaterial wirken die anderen Beiträge im Buch eher als Beiwerk, das wenig neue Aspekte in Spiel bringt. Philipp Balgas Fotoessay fängt die zerfurchte Morbidität des Gasteins von heute zwar gut ein, wird aber durch die eingestreuten Zitate aus Songtexten poetisch überfrachtet. Doch in Summe wird hier eine der eigenartigsten Bau-Geschichten Österreichs lesbar und informativ aufbereitet, als Referenz für die Glanzzeiten oder Wildwest-Storys, die noch kommen werden. MAIK NOVOTN Y

Judith Eiblmayr, Philipp Balga: Bad Gastein ab|an|aufgebaut. Urbane Baukultur am wilden Wasser. J&J Edition, 208 S., €29,–


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Wir sind Lebensgemeinschaften Biologie: Zwei fulminante Bücher erzählen über Mikroorganismen als die wahren Herrscher der Welt und das Prinzip des Lebens ikroorganismen, also alle einzelligen Lebewesen,einM schließlich Viren, sind allgegenwärtig.

Wir nehmen sie meist nur als Krankheitserreger wahr, und in Zeiten von Seuchen wird uns ihre Existenz schmerzhaft bewusst. Dabei sehen wir nur die Spitze des Eisbergs einer Fülle von mikroskopischen Lebensformen, die unseren Alltag bestimmen und uns viel über den Ursprung des Lebens verraten können. Sie bewohnen alle Umwelten von den Böden der Meere bis in die Atmosphäre, sie bauen Rohstoffe auf und Schadstoffe ab, besiedeln Krankenhäuser und geben Forschungsobjekte von Gentechnikfirmen ab. Die Erkenntnis, dass wir Menschen aus

einzelnen Zellen aufgebaut sind, ist gerade einmal 200 Jahre alt. Mittlerweile beginnt sich auch das Bild von uns selbst als autarken, eigenständigen Lebewesen grundlegend zu ändern: Für jede unserer etwa 30 Billionen Körperzellen tragen wir mindestens eine weitere mikrobielle Zelle mit uns. Etwa eineinhalb Kilogramm unseres Körpergewichts sind Mikroorganismen. Auch wenn es für unser Selbstverständnis schwer zu verkraften ist, wir sind keine isolierten Individuen, sondern eine riesige Lebensgemeinschaft aus menschlichen und nicht-menschlichen Zellen. Das Wissen über diese verborgene Welt ist trotz aktueller Bedrohung durch das Coronavirus nach wie vor gering. Florian Freistetter, Astronom, Blogger und Mitglied der Science Busters, hat gemeinsam mit dem Molekularbiologen und Professor für Wissenschaftskommunikation Helmut Jungwirth ein Buch geschrieben, das einen faszinierenden Einblick in Lebensweisen und Leistungen dieser Organismengruppe gibt. Es heißt: „Eine Ge-

schichte der Welt in 100 Mikroorganismen“. Gleich auf den ersten Seiten wird klar, dass hier zwei Kommunikationsprofis am Werk sind. In einem lockeren Streitgespräch unterhalten sie sich im Vorwort darüber, was ein Astronom bei diesem Thema verloren habe oder ob Biologie nur eine Hilfswissenschaft der Physik sei. Dann wird in maximal dreiseitigen Kapiteln die Bedeutung einzelner Mikroorganismen aufgerollt. Die Geschichten sind auch ohne biologisches Vorwissen gut zu lesen, bieten aber auch mit historischen und kulturellen Aspekten für fachlich Vorgebildete viel Neues. Warum ist das Augentierchen der Hoffnungsträger der Raumfahrt? Und weshalb sollten Umweltschützer Fische mit Herpesviren infizieren? Die Fragen auf dem Buchrücken klingen sehr zugespitzt, man bekommt aber dann unaufgeregte und auch immer korrekt in den richtigen Bezug gesetzte Informationen. Ganz wunderbar gelungen ist die Dosierung der einzelnen Erzählungen. Nie hat man das Gefühl, dass sich eine der Biografien zu sehr in Details verliert, aber es bleibt auch kein ökologischer oder historischer Zusammenhang unterbelichtet. Im Gegenteil, die beiden Autoren haben offenbar das Erfolgsrezept von Tante Joleschs legendären Krautfleckerln berücksichtigt, das in Friedrich Torbergs Erzählung darin bestand, immer noch den Wunsch nach mehr ent-

stehen zu lassen. Nach 300 kurzweiligen Seiten möchte man gerne noch weitere Geschichten über die wahren Herrscher dieser Welt lesen. Mit der existenziellen Frage „Was

ist Leben?“ haben sich im letzten Jahrhundert aus säkularer Sicht zwei bedeutende Naturwissenschaftler auseinandergesetzt und auch gleichnamige Bücher dazu veröffentlicht: Erwin Schrödinger und John Burdon Sanderson Haldane. 2020 hat ein weiterer Nobelpreisträger, der britische Zellbiologe Sir Paul Nurse, in Referenz auf seine Vorgänger ein Buch mit diesem Titel geschrieben, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Er fasst den Stand des Wissens kompakt zusammen, geht aber darüber hinaus auch der Frage nach, was daraus für unsere aktuellen Probleme wie Klimawandel, Pandemien und Artensterben abzuleiten wäre. Nurse erklärt uns an fünf Grundideen, wie Leben „funktioniert“. Zuerst beschreibt er sehr verständlich, was genau in unseren Zellen passiert. Dann erklärt er, wie es Gene schaffen, Informationen zu bewahren, und dabei gleichzeitig in der Lage sind, sich zu verändern. Als Drittes beschreibt er, wie unterschiedliche Lebensformen durch Evolution und natürliche Selektion entstehen und sich zweckmäßig organisieren können. Der Antrieb dabei ist der Zufall und der Steuerungs-

Florian Freistetter, Helmut Jungwirth: Eine Geschichte der Welt in 100 Mikroorganismen. Hanser, 320 S., € 23,70

Paul Nurse: Was ist Leben? Die fünf Antworten der Biologie. Aufbau, 184 S., € 20,60

mechanismus die Notwendigkeit, in einer bestimmten Umwelt überleben zu können. Das führt zu seinem vierten Lebensprinzip, in dem er darlegt, wie sich Leben durch chemische Prozesse aus einzelnen Elementen zu immer komplexeren Einheiten organisieren kann. Seine fünfte und letzte Grundidee setzt sich damit auseinander, was der Begriff der Information in der Biologie für lebende Wesen bedeutet. Das hört sich in diesem kurzen Abriss der zentralen Inhalte des Buchs vielleicht kompliziert und nach einer Vorlesung für Doktoranden an. Ist es aber keineswegs. Nurse beschreibt die jeweiligen Ideen- und Forschungsgeschichte so plastisch, dass man die aktuellen wissenschaftlichen Theorien gut nachvollziehen und einordnen kann. Begleitet werden die einzelnen Abschnitte von persönlichen Erlebnissen als Kind sowie als Forscher. Es ist bewundernswert, wie Paul Nurse auf knappen 180 Seiten den Stand des Wissens und der noch kommenden Herausforderungen seiner Disziplin darstellt. Als Leser bekommt man selbst mit nur basalen naturwissenschaftlichen Kenntnissen ein gutes Verständnis für die wundersame Tatsache, die das Lebendige darstellt. Wer darüber nachzudenken beginnt, was Leben bedeutet, dem wird unweigerlich auch die besondere Verantwortung bewusst, die wir für das Leben auf diesem Planeten haben. Paul Nurse bringt die wesentlichste Erkenntnis dazu in seinem Abschlusssatz auf den Punkt: „Wir müssen uns um das Leben kümmern, wir müssen für es sorgen. Und dazu müssen wir es verstehen.“ Ein gleichermaßen leichtes wie tiefgründiges Buch, das den Blick auf unsere Welt verändert und das man gelesen haben sollte. PE TER IWANIE WICZ

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10.–14. November 2021 buchwien.at


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Von den Botschaften der Verzweiflung zu inno Klimawandel: Vier neue Bücher widmen sich der Erderhitzung und sprechen dabei auch ein jüngeres Publikum an

Alle vier ausgewählten Bücher haben un-

terschiedliche Zugänge: Die Bestsellerautorin Naomi Klein hat mit „How to Change Everything“ ein Sachbuch für junge Leser geschrieben, das zugleich ein Appell ist, selbst Aktivist zu werden. Eine von deren prominentesten Vertreterinnen, die deutsche Fridays-for-Future-Frontfrau Luisa Neubauer, hat mit Bernd Ulrich, dem Vize-Chefredakteur der Zeit, in vielen Gesprächen erkundet, wie es zum Klimanotstand kommen konnte und was sich daraus für unsere Art zu leben ableitet. Und der Umweltaktivist Rob Hopkins singt ein Hohelied auf die Vorstellungskraft und die rapide Veränderung. Eines wird klar: Die Klimaliteratur entwickelt sich rasch weiter. Wo wir stehen, scheint geklärt. Nun geht es mehr und mehr um die konkreten Auswege und darum, wie wir vom Wissen ins Tun kommen. Naomi Klein, bekannt geworden durch ihr kapitalismuskritisches Luisa Neubauer, Bernd Ulrich: Noch haben wir die Wahl. Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen. Tropen, 238 S., € 18,95

Buch „No Logo!“, steigt mit einer eigenen Verlusterfahrung ein. Weil das Schnorcheln zu ihren glücklichsten Kindheitserinnerungen gehört, will sie das auch ihrem Sohn nahebringen und fährt mit ihm zum Great Barrier Reef. Der Vierjährige ist begeistert von den Korallen, Schildkröten und bunten Fischen. Was Klein ihm nicht zeigt: die großen Teile des Riffs, die schon tot sind oder im Sterben liegen. Es sei sowohl das aufregendste Naturschauspiel, schreibt sie, als auch „das Erschreckendste, was mir je unter die Augen gekommen war“. Gemeinsam mit Rebecca Stefoff, die sich auf das Vermitteln von Wissenschaft für ein junges Publikum spezialisiert hat, fasst Klein die wichtigsten Klimaerkenntnisse zusammen, zeigt, wie mit der Erfindung der Dampfmaschine alles begann, und verknüpft die Erderwärmung mit Gerechtigkeitsfragen. So zeigt sie am Beispiel des Wirbelsturms Katrina, wie die ärmsten Bürger von New Orleans, großteils Afroamerikaner, sich selbst überlassen wurden. Erst die vorher kaputtgesparte Infrastruktur und die überwiegend weißen Sicherheitskräfte, die danach die obdachlos gewordenen Bürger wie Feinde behandelten, hätten aus Katrina diese Katastrophe gemacht. Auch wenn das Buch sich an junge Leser richtet, werden die meisten Erwachsenen ebenfalls viel Spannendes darin entdecken. Mit starken Bildern und Reportagen etwa von den Standing-Rock-Sioux in North Dakota, die gegen eine Pipeline kämpfen, überzeugt Klein völlig. Ihren sich durch das ganze Buch ziehenden Aufruf, selbst Klimaaktivisten zu werden, hätte es da gar nicht mehr gebraucht. Jungaktivistin trifft auf Boomer. Das ist

das Konzept von Luisa Neubauer und Bernd Ulrich. Dank der Gesprächsform ist es kurzweilig zu lesen. „Ach really, kann ich kurz was einwerfen?“ – „Bitte doch, ist es was Witziges?“ Das Unerfreuliche sparen die beiden nicht aus. „Du mich auch – der Konflikt der Generationen“ heißt etwa ein Kapitel. In diesem schmunzelt die 25-Jährige, dass Ulrich wie so viele seiner Generation sich seinerzeit gegen Atomkraftwerke und für gesunde Wälder engagiert hat. Sie fragt sich, wie all die Ökobewegten jahrzehntelang schweigend dem Klimawandel zusehen konnten. Irgendwie habe er „den ökologischen Faden verloren“, räumt Ulrich ein: „Ich nenne es meine Volvo-Phase.“ Da habe er seinen sozialen Aufstieg „mit ziemlich viel Konsum ausstaffiert“: Auto, zu viel Kleidung, Fleischessen, Flugreisen. Inzwischen habe er zurückgebaut: „Autos immer kleiner, vegane Ernährung, ökologisch akzeptable Kleidung.“ Oft führen die Dialoge zu überraschenden Einsichten, etwa wenn Neubauer einräumt, sie, die Klimaaktivistin, habe mit 25 Jahren wohl bereits

mehr CO₂ emittiert, als Ulrich dies im selben Alter getan hatte. Als Kind aus gutbürgerlichen Verhältnissen lebte auch Neubauer ressourcenintensiv. „Gelegenheit macht Diebe“ gilt eben auch fürs Klimasündigen. Aber wie sollen wir aus alledem wieder rauskommen? Mit Technologie!, rufen die einen. Was da alles ausprobiert wird, hat Elizabeth Kolbert recherchiert und dazu Forscher rund um den Globus besucht. Genauer gesagt: „Menschen, die Probleme zu lösen versuchen, die

Elizabeth Kolbert: Wir Klimawandler. Wie der Mensch die Natur der Zukunft erschafft. Suhrkamp, 240 S., € 25,70

Menschen beim Versuch, Probleme zu lösen, geschaffen haben.“ 2015 hat Kolbert für ihr Buch „Das sechs-

te Sterben“ über den Verlust der Artenvielfalt den Pulitzer-Preis erhalten. Jetzt berichtet sie von elektrischen Fischbarrieren, künstlichen Höhlen und eben auch von Klimaforschern, die die davongaloppierenden Emissionen wieder einfangen oder deren Auswirkungen abmildern wollen. En passant erzählt Kolbert damit auch die Geschichte blinder Technikgläubigkeit: Der erste offizielle Bericht zur Erderwärmung ging 1965 an US-Präsident Lyndon B. Johnson. „Der Mensch führt gerade unwillentlich ein riesiges geophysisches Experiment durch“, hieß es darin. Die Emissionen zu begrenzen zogen die Berichterstatter aber nicht in Erwägung. Bloß technische Methoden zur Klimakontrolle kamen ihnen in den Sinn. Jenes Verfahren, auf dem

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

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sland, auf einem Lavafeld, es riecht nach Schwefel. Die Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Kolbert ist hierher gekommen, um zu sehen, wie das Unternehmen Climeworks das Geld für ihr Abo verwendet. Für 1000 USDollar, so hat es versprochen, filtert es eine Tonne der Kohlenstoffemissionen seiner umweltbesorgten Abonnenten aus der Luft und verwandelt sie in unschädliches Gestein. Eine Managerin erklärt, wie es funktionieren soll: Im Kraftwerk Hellisheiði wird Gas eingefangen und hunderte Meter unter die Erde gepumpt, wo es mit dem Vulkangestein reagiert und mineralisiert. Kolbert bekommt einen Bohrkern in die Hand gedrückt. Schwarzer Basalt mit weißen Einsprengseln: Calciumcarbonat. „Die weißen Ablagerungen entstammten vielleicht nicht meinen Emissionen, zumindest aber denen irgendeines Menschen“, schreibt sie. Aber ob das die Antwort auf unser Klimaproblem ist? Wie bei all den anderen Methoden, die die Autorin sich ansieht, plagen sie Zweifel. Wird die Technik hinterherkommen? Immerhin hat Kolbert allein mit dem Flug nach Reykjavik mehr als die Hälfte des CO₂-Kontingents aufgebraucht, das Climeworks bis dato pro Jahr und Kunde zu Stein machen kann. Für „Wir Klimawandler“ hat Kolbert Forscher besucht, die verzweifelt versuchen, mit technischen Lösungen noch größeren Schaden von der Natur abzuwenden.


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vativen Ideen und neuer Gemeinschaft die Politik müsse sofort etwas tun, dann solle bis dahin wenigstens möglichst viel Wissen gesammelt sein. David Keith, der als „führender Verfechter des Geoengineering“ firmiert, reagiert gereizt auf diese Darstellung. Er sei bloß, knurrt er, „ein Verfechter der Realität“. Die Skepsis der Autorin gegenüber derartigen Methoden zieht sich durch das gesamte Buch, sie vergleicht die Ideen zur Klimakontrolle mit der Behandlung eines Heroinabhängigen mit Amphetaminen. Dennoch kommt sie nicht zum Schluss, dass all diese Ideen niemals umgesetzt werden dürften. Müsste man es nicht dennoch in Betracht ziehen, wenn damit noch viel größeres Unheil verhindern könnte? Könnte es vielleicht einmal unser letzter Ausweg sein? Kolberts exzellent recherchiertes Buch hinterlässt seine Leser beunruhigt. Wenn aber selbst die Forscher ohne Geo-

heute die meisten Hoffnungen beruhen, ist das Solar-Geoengineering oder „Sonnenstrahlungsmanagement“, eine Methode, die viele als „Highway zur Hölle“ sehen. Der Grundgedanke: „Wenn Vulkane die Erde abkühlen lassen können, kann der Mensch das ebenfalls.“ Bringt man große Mengen reflektierender Partikel in die Stratosphäre, so erreicht weniger Sonnenlicht die Erde und die Temperaturen steigen nicht weiter. Welches Material man am besten in die Stratosphäre

Naomi Klein: How to Change Everything. Wie wir alles ändern können und die Zukunft retten. Hoffmann und Campe, 256 S., € 18,50

schießen soll, ist strittig: Schwefeldioxid, Calciumcarbonat, ja, sogar Diamanten sind im Gespräch. Von der Methode überzeugt sind allerdings nicht einmal jene, die die Methode jeden Tag erforschen. Je nach ausgebrachtem Material ist mit saurem Regen oder Schäden an der Ozonschicht zu rechnen. Der Himmel wäre nicht mehr blau, sondern weiß, es könnte zu völlig veränderten Niederschlagsmustern, Dürren und anderen unerwünschten Folgen kommen. Einmal gestartet, ließe sich Geoengineering kaum wieder einstellen, so Kolbert: denn das hätte „die Wirkung, als würde man eine globusgroße Ofentür öffnen. Die gesamte Erderwärmung, die kaschiert wurde, würde sich plötzlich in einem rapiden, dramatischen Temperaturanstieg manifestieren.“ Ein Wissenschaftler erzählt von seiner Angst, „dass es tatsächlich passieren könnte“. Sollten aber in zehn Jahren Menschen lautstark fordern,

engineering auskommen wollen, bleibt die Frage: Wie bremsen wir dann die Emissionen runter? Luisa Neubauer und Bernd Ulrich holen in ihrem Gesprächsbuch weit ins Grundsätzliche aus. Ulrich sieht die Öko-Krise auch als riesige Sinnkrise. Nach zwei Weltkriegen und totalitären Systemen, sinniert er, habe sich die Idee durchgesetzt, dass man die Reibung zwischen den Menschen, dadurch verringert, „dass man sie mit Materie, mit ständig wachsendem Wohlstand friedlich hält“. Die Frage nach dem Wozu beantworte unsere Kultur damit, dass es den Kindern einmal besser gehen solle. Nun aber sei dieses „Füllmaterial“ plötzlich schlecht beleumundet. Vor allem gerate das unter Druck, was Männern half, ihr Selbstverständnis aufrechtzuerhalten: immer schwerere Autos, Jagen, Fleischessen und Grillen sowie „angeberische energieaufwendige Business-Mobilität“. Und jetzt? Verliere nicht nur die Gegenwart ihre Deutungsmacht über das Vergangene, auch die Zukunft sei „als Abraumhalde mit zu erledigenden Aufgaben und zu entsorgendem Müll verstellt“. In dieser Situation bestehe die Gefahr, weiß Neubauer, dass Menschen am liebsten gar nichts mehr hören wollten, weil sie nicht wüssten, wo sie anfangen oder was sie tun könnten. Informationen allein hätten noch nie jemanden zum Handeln gebracht. „Es sind immer Emotionen beteiligt.“ Emotionen, Fantasie, einfach mal anfangen: Genau das ist Rob Hopkins’

Rob Hopkins: Stell dir vor … Mit Mut und Fantasie die Welt verändern. Löwenzahn, 288 S., € 22,95

Metier. Der Brite hat die Umweltinitiative der Transition-Towns-Bewegung mitbegründet, forscht am Post Carbon Institute und hält Talks für die Informationskonferenz und -website TED. Seine These: Wir haben deshalb erst so wenig verändert, weil wir uns gar nicht mehr vorstellen können, wie alles anders gehen könnte. „Angesichts des Zustands der Welt klingt die Botschaft der Verzweiflung ziemlich überzeugend“, schreibt Hopkins. „Aber etwas daran will mir nicht so richtig gefallen.“ Er sieht Anzeichen dafür, dass sich die kulturellen Gegebenheiten ändern können, und zwar sehr rasch. Was, wenn der „so dringend benötigte Wandel nicht von der Regierung und der Geschäftswelt kommen würde, sondern von dir und mir, von kollaborativen Gruppen“? Hopkins hat es selbst in seiner Heimatstadt Totnes, Devon, ausprobiert. Vor gut zehn Jahren fingen dessen 8500 Bewohner an, Gemüse am Bahnhof und Bäume auf öffentlichen Grundstücken anzupflanzen. Sie sammelten Geld und kauften damit eine eigene Mühle für die Stadt. Um die lokale Wirtschaft anzukurbeln, brachten sie eine eigene Währung heraus. Sie gründeten Arbeitsgruppen, die sich über Maßnahmen zum Abfall- und Energieverbrauch berieten, und eine Craft-Beer-Brauerei. Danach hatten die Haushalte ihre CO₂-Emissionen laut Rob Hopkins um durchschnittlich 1,3 Tonnen gesenkt und 600 Pfund pro Jahr gespart. Befrage man die Bewohner der nunmehrigen „Transition Town“, dann spreche niemand vom Kohlenstoff, sondern alle davon, dass sie sich nun mehr als Teil einer Gemeinschaft, eingebundener fühlten. Hopkins will keineswegs die Politik aus

der Verantwortung entlassen, meint aber, dass Gruppen von Menschen diese oft überholen könnten und damit wiederum die Politik selbst zu Taten anstoßen. Besonders angetan haben es ihm Pop-up-Aktionen, wo Menschen etwa über Nacht auf einem Stück Asphalt einen blühenden Garten pflanzen, um damit am nächsten Morgen ihre Mitbürger zu überraschen. Selbst wenn das Neue nicht von Dauer ist, entfalte es seine Wirkung. „Haben die Menschen sich einmal in dieser Verwandlung aufgehalten, sie erlebt, darin Kaffee getrunken oder neue Leute kennengelernt, sind sie für immer verändert, ihre Erwartungen an den Ort sind für immer verändert, ihr Gefühl dafür, wie die Zukunft sein könnte.“ Hopkins’ Buch ist schön illustriert und sprüht vor Ideen, ein Buch, das nicht abschreckt, sondern das man immer wieder gern in die Hand nimmt. „Wenn wir auf die Regierung warten, dann ist es zu spät.“ „Wenn wir als Einzelne handeln, dann ist es zu wenig. Wenn wir aber als Gemeinschaft handeln, wird es vielleicht reichen und geschieht gerade noch rechtzeitig.“ GERLINDE PÖLSLER


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Die böse Banalität des Kaiserschmarrens So unkompliziert und regional wie in diesem Herbst waren Kochbuchneuerscheinungen noch selten

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ie war es leichter als in diesem Herbst, einen Trend auf zwei Nenner zu bringen: unkompliziert und regional. Ich kann mich daher auch auf eine beinahe nationalistisch anmutende Auswahl beschränken, und hole den internationalen Rest vielleicht zu Weihnachten nach. Einen Subtrend habe ich auch entdeckt, der mir gar nicht unsympathisch ist, nämlich den zum Literarisieren. Entweder sind es Kochbücher von Schriftstellerinnen, oder Köche, die sich mit Autoren zusammentun (das wird dann schon geschwätziger) oder gar literarische Werke eigenen Ranges. Aber der Reihe nach. Da ist Eva Rossmann, tüchtige Journalistin, berühmte Autorin von Krimis und bekannt, weil sie in Manfred Buchingers Wirtshaus „Alte Schule“ gleichsam professionell mitkocht, was ja in Kochbüchern schon dokumentiert ist. Rossmanns Krimiheldin heißt Mira Valeska. Sie kocht und isst gern, und mit ihr, sagt Rossmann, blicken wir in den Kühlschrank, aus dem sie schnell und unkompliziert Wohlschmeckendes zaubert. Das war’s dann aber schon mit Mira, es folgt ein ganz normales Kochbuch, das allerdings durch eine Zug-aufs-Tor-Attitüde erfreut. Die Gerichte sind einfach und zeitgemäß, und die Anmerkungen (gegen die Mode des Sous-Vide-Gares zum Beispiel) kann man nur unterstreichen. Das Rezept für Kimchi ist allerdings allzu schlicht ausgefallen, und um doch etwas zu kritisieren, die Fotos, ebenfalls selbstgemacht (von Rossmann, nicht von Valeska) erscheinen doch einen Hauch zu handgeschnitzt. Insgesamt aber ist das Buch sehr brauchbar und wird dem Motto „No Stress“ gerecht. Dann ist da Andreas Döllerer. Er ist kein

Schriftsteller, sondern hochdekorierter Koch und bekannter Kochbuchautor. Sein Kochbuch entstand in Zusammenarbeit mit dem Food-Journalisten Alexander Rabl und ist deutlich, sagen wir, gesprächiger als jenes von Frau Rossmann. Döllerer beteuert, sein Buch komme aus dem Wirtshaus (dem Goldenen Stern in Golling, mit Metzgerei), ein solches sei nichts für einsame Esser, also handle es sich um kein „SchnellGekocht-Kochbuch für den modernen Single-Haushalt“. Auch in dieser Hinsicht ein Gegenprogramm, allerdings ein solides. Wiewohl man das Gastrogarn ein wenig sparsamer gesponnen auch vertragen könnte. Wir wissen bereits, dass Österreich in den 1970er Jahre kulinarisch dürftig war, ob man es deshalb gleich „Sahelzone“ nennen muss, weiß ich nicht (wie würde

Christian Hümbs Back dich um die Welt. Dorling Kindersley, 224 S., 25,70

Rainer Klutsch: Am Herd meiner Oma. ars vivendi, 240 S., € 26,90

man dann die DDR jener Zeit nennen?). Dafür könnte dem Fachmann aufgefallen sein, dass es nicht Paul Bocuse war, der das Motto „Butter, Butter, Butter“ für das Erdäpfelpüree in die Welt setzte, sondern Joël Robuchon. Aber das sind Kleinigkeiten. Der Kern des Ganzen, seriöse österreichische Küche, kreativ wie zum Beispiel der Kalbsnierenbraten, bei dem die Niere nicht eingewickelt, sondern dazugelegt wird, oder das Erdäpfelpüree mit Bergkäse statt einem teil der Butter, das ist schön und anregend. Manchmal zwar eine Spur aufschneiderisch (das Kaiserschmarrenrezept wird mit dem Satz eingeführt: „Damit die Bezeichnung Banalität dem Kaiserschmarren nicht attestiert wird, gibt es dieses Rezept“ und dann kommt ein – wie könnte es andres sein – banales Kaiserschmarrenrezept, wenn das Basale das Banale wäre. Ist es nicht, darum geht auch noch ein Rezept für Pariserschnitzel. Ein Rezept für Hirn mit Ei und Steinpilzen hat man schon lange nicht gelesen, außer (ohne Steinpilze) in Zeiten der Sahelzone auf Wiener Beislkarten. Aber Döllerer, der Koch, der kann’s. Das dritte Buch ist kein Kochbuch, gehört

aber doch hierher. Auf seine Art durch und durch naiv literarisch, auch naiv künstlerisch, weil vom Autor illustriert, hat es eine ganz besondere Geschichte. Peter Augendopler, selbst gelernter Bäcker und Leiter des Paneum (paneum.at), einer „Wunderkammer des Brotes“ im oberösterreichischen Asten, ersteigerte das Original des Buches ungesehen bei einer Auktion und legt es nun, schön faksimiliert und transkribiert vor. Der Bäckergeselle Carl Adolph Höhne schildert darin seine Erlebnisse auf der Walz, der Wanderschaft der Gesellen, von einer Stadt zu anderen. Mit seinen Berichten, teils gereimt, von ihm selbst mit 120 Aquarellen illustriert, werfen wir einen Blick in das Gesellschaftsleben des frühen 19. Jahrhunderts, und zwar das Leben der untere Schichten. Ein Glossar erklärt nicht mehr gebräuchliche Wörter. Unter all den modischen Brotbackbüchern einmal etwas ganz anderes. Regional ist auch ein Kochbuch mit Rezepten aus Siebenbürgern, aufgezeichnet vom deutschen TV-Koch Rainer Klutsch, der sich durchgängig an Rezepturen seiner Oma hält. Das ist manchmal lustig (wenn Oma unter die Wiener Schnitzel ein paar nur aus Ei und Bröseln bestehende Exemplare mischt), manchmal wird’s zuviel. Die Rezepte sind brauchbar, von gefüllten Paprika bis Dampfnudeln und Dobostorte. Alt-

Peter Augendopler (Hg): Erinnerungen eines Bäckers. Brandstätter, 560 S., € 60,-

Valerie Hammacher: Küchenseele. ars vivendi, 227 S., € 30.90

Stevan Paul: Weniger ist mehr. Brandstätter, 228 S., € 30,-

österreichisch bis zum Abwinken halt, auch einem kulinarisch eher selten ausgeleuchteten Winkel. Unregional kommt hingegen „Küchenseele“ daher, in dem uns Valeria Hammacher von der „Geborgenheit des Kochens“ erzählt. Dese unspezifische Wärme trifft nicht so meinen Geschmack, obwohl man auch hier ein paar originellere Ideen findet, den Miso Kabeljau mit Spinat oder den pochierte Lachs mit Kokosmilch und Pilzen. Aber warum die Dorade in der Salzkruste? Die kennen wir nun wirklich zur Genüge. Ich mag Stevan Paul. Wenn dieser Kochbuchautor verspricht, „simple and clever“ zu kochen, vertraue ich ihm. Zu recht, wie dieses Buch zeigt. Zucchini sind ja immer ein guter Testfall: was fängt man mit denen wieder an? Paul legt vier einfache Varianten vor: Tartar, Snackwürfel, Schleifensalat und Carpaccio. Oder Spitzkohl: auf bayrisch, japanisch, griechisch oder amerikanisch (Coleslaw). Es gibt schöne Gerichte (Radieschen-Salat), Reisgerichte (Fried Rice, Djuvec-Reis) und komplexeres (Cheeseburger aus Champignons). Ja, das Ganze ist vegetarisch, ohne dass es überhaupt erwähnt werden muss. Sehr elegant, äußerst nützlich. Weniger elegant kommt ein weiteres „schnell+einfach“-Kochbuch daher. Dafür lachen Martina Meuth und Bernd NeunerDuttenhofer von der Spiegel-Bestsellerliste. Sie scheuen vor Käsekartoffeln mit Krautsalat ebenso wenig zurück wie vor Speck und Fleisch. Und man findet bei ihnen Dinge wie Burrata mit geschmortem Chicorée, man ist also à la Mode. Aber in Maßen. Auf andere Weise macht sich Bern Hümbs bei

Martina Meuth, Bernd Duttendörfer: Schnell + einfach = einfach gut. Becker Joest Volk, 192 S., € 28,80

mir beliebt. Der sternenübersäte Chefpatissier des Dolder in Zürich bringt in „Back dich um die Welt“ ein Rezept, das ich schon lange suchte: Wienerbrød, das köstliche schwedische Plundergebäck, das zu den komplizierteren Übungen zählt. Die Engadiner Nusstorte oder die Crema-CatalanaTarte kriegen hingegen alle hin. Schön fotografiert, professionell getextet – Naschkatzen kommen an diesem Buch nicht vorbei. Ein wenig außer Konkurrenz segelt Heino Huber daher. Der ehemalige Zweihaubenkoch aus dem Deuringschlössle bewirtschaftet mittlerweile Boote auf und Restaurants am Bodensee, so wundert es nicht, dass er mit Rezepten fürs Segeln auf dem Meer aufwartet. Seine Bouillabaisse oder Tomaten-Krustentier-Orangeade lässt sich aber auch zu Hause kochen. AR MIN THURNHER

Andreas Döllerer: Das Wirtshaus. Brandstätter, 238 S., € 35,-

Eva Rossmann: Mira kocht. Folio, 246 S., € 28,-

Heino Huber: Hubers Kombüse. NWV Wien, 208 S., € 68,


FALTER 42 ∕ 21

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