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Kunstgeschichte Eine kolossale Monografie über Michelangelo
Verurteilen oder Zuhören?
Deba enkultur: Svenja Flaßpöhler und Lukas Meschik legen kluge Überlegungen zum aktuellen Diskurs vor
Sensibilität ist gefragt. Um nach Jahrhunderten brutaler patriarchalischer Prinzipien zu einem menschenwürdigen Miteinander zu gelangen, braucht es ein feines Gespür dafür, was geht und was sich nicht mehr ausgeht: vom Vereinnahmen präjudizierter Personengruppen über anlassiges Anbandeln bis zum N-Wort. Oder brauchen wir mehr Widerstandskra ? Sollten wir gerade in Zeiten, wo von Pandemie bis Klimawandel gesellscha licher Zusammenhalt gefragt ist, ein Stück weit auf die eigenen Befindlichkeiten verzichten und uns mit Resilienz stärken, um all die Krisen zu bewältigen?
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler stellt beide Thesen einander gegenüber. Das beginnt plastisch mit einem Tag im Leben des Ritters Johan im 11. Jahrhundert, der mit den Fingern isst, auf den Boden kackt, Frauen nach Bedarf missbraucht, seine Gefolgscha quält und durch kaum etwas zu erschüttern ist, das nicht unmittelbar sein Leben bedroht. Dem gegenüber stellt sie einen Tag im Leben des Pädagogen Jan, 21. Jahrhundert, der Wert auf gesunde Ernährung und ein gepflegtes Äußeres legt, achtsam mit den Bedürfnissen seiner Lebensgefährtin und seiner Kinder umgeht. Ökologie und Gender-Gerechtigkeit beschä igen ihn sehr. Anfangs sieht es recht unversöhnlich aus zwischen dem Groben und dem Feinen: „Während die einen sagen: Ihr stellt euch an, seid hypersensible ,Schneeflocken‘!, entgegnen die anderen: Ihr seid verletzend und beleidigend, an eurer Sprache klebt Blut!“
Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie Magazin und leitet das Programm des Kölner Philosophie Festivals phil.COLOGNE. Sie hat zu kontroversiellen sozialpolitischen Themen publiziert, etwa mit „Mein Tod gehört mir“ (2013) über Sterbehilfe und „Die potente Frau“ (2018), in dem sie meinte, dass die #MeToo-Kampagne zwar gut gemeint sei, aber die Frauen in einer passiven Rolle festhalte.
Svenja Flaßpöhler: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Kle -Co a, 240 S., € 20,60
Lukas Meschik: Einladung zur Anstrengung. Wie wir miteinander sprechen. Limbus, 64 S., € 8,–
In „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ liefert sie eine kleine Ideengeschichte zu den Themen Feinfühligkeit und Resilienz. Sie zitiert ausführlich Norbert Elias zur Verfeinerung unseres Sozialverhaltens im Zuge unserer Zivilisierung. Sie lässt Jean-Jacques Rousseau als Entdecker unserer Sensibilität au reten. Friedrich Nietzsche darf im fiktiven Streitgespräch mit Emmanuel Lévinas die Robustheit gegen die Verletzlichkeit verteidigen.
Bei der anschließenden Gegenüberstellung zeigt sich Argument für Argument eine Schnittmenge, ein gemeinsamer Raum, in dem etwas Neues entsteht. Am Ende gelangt Flaßpöhler etwas überraschend zu einer Synthese, zur Vereinigung der beiden Standpunkte. Was der Autorin hier gelingt, besteht nicht darin, nur Meinungen und Erkenntnisse zu sammeln, sondern für den Leser anschaulich und nachvollziehbar selbst Philosophie zu betreiben.
Der junge Wiener Autor Lukas Meschik hat eine „Einladung zur Anstrengung“ geschrieben. Darin zeigt er, wie er denkt: Konsequent und mit absoluter Ehrlichkeit verarbeitet er Selbstbeobachtungen zu treffenden Sätzen. Wie bei einem Selbstexperiment beschreibt der Autor, was sich in ihm abspielt, wenn er Ereignisse der Außenwelt bis zum Ende mitfühlt: etwa wenn eine bekannte Politikerin sich berechtigterweise gegen die obszöne Meldung eines Lokalbesitzers zur Wehr setzt, dann aber alle ihr zu Gebote stehenden Mittel ausnützt, um den Wirt anzuprangern. „Bin ich hier unfair oder gar selbstgerecht? (…) Ich weiß es nicht“, fragt sich Meschik. Der letzte Satz ist einer, den der Autor gerne ö er hören würde zwischen all den Gewissheiten, die wir einander entgegenschleudern.
Meschik plädiert für eine Balance zwischen dem Robusten und dem Feinfühligen, auch was den Umgang mit gendergerechter Sprache betrifft. Wie wir miteinander und mit uns selbst sprechen, steht am Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Sein Anliegen ist es, sich mit den Inhalten des Gegenübers wirklich auseinanderzusetzen, in Beziehung zu gehen, nicht bloß „in zugespitzten Happen und launigen Statements“ zu kommunizieren.
Lukas Meschik, Jahrgang 1988, singt und textet, vormals für die Band Filou, jetzt für Moll. Er schreibt Lyrik, Erzählungen und Romane. Zuletzt erschien sein Gedichtband „Planeten“ (2020). Mit seinem ProsaStück „Vaterbuch“ war er 2019 zum Wettlesen um den Bachmannpreis eingeladen. Auch die vorliegende „Einladung“ zeichnet sich durch eine dichte, präzise Sprache aus, die einen von Anfang bis zum Ende in das schmale Buch hineinzieht.
Was an den vorgestellten Gedanken überrascht, ist, dass sie nicht schon längst jemand ausgesprochen hat. Faul seien wir geworden, meint Meschik. In Wahrheit hätten wir keine Lust mehr, miteinander zu sprechen, weil es anstrengend ist. Genau dazu ermutigt er: „Ich lade ein zu einer neuen Offenheit, gesprächsbereit und durchlässig zu sein.“ Dazu gehöre es auch, über Konfliktthemen zu streiten, statt gegeneinander zu hetzen – und sich zu mäßigen, wo man den Fehltritt eines anderen bewertet.
Meschiks Einladung funktioniert. Man denkt. Man will mit dem Autor sprechen. Die Bereitscha für einen echten Dialog wächst, in dem man sich die Mühe macht, die Argumente des Gegenübers wirklich zu verILLUSTRATION: PM HOFFMANNstehen und sich von ihnen auf Kosten der sorgsam behüteten eigenen Meinung auch einmal überzeugen lässt. Man versteht, warum Meschik eine Anstrengung fordert. Sein Buch zu lesen bereitet hingegen ein müheloses Vergnügen. Eines haben beide Werke gemeinsam: Sie machen Hoffnung auf einen echten gesellscha lichen Diskurs – und stellen selbst einen Beitrag dazu dar.