HEUREKA #32021
FOTO: DIMITRI VERSHININ (AUS DEM FILM „WOMAN“, AB 28. 5. IM KINO)
Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2802/2021
D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G
Neues über das
weibliche Gehirn Östrogene verändern Gehirn Bei der Medikamentenwirkung gibt es wichtige Unterschiede zwischen Männern und Frauen Seite 14
Erst das Alter macht uns gleich Wenn Sexualhormone ihre Dominanz verlieren, gleichen sich Frauen und Männer an Seite 16
Daten für Gendermedizin Die angelsächsischen Länder sind vorne, deutschsprachigen fehlen grundlegende Daten Seite 18
FALTER
.natur
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IN TRO D U K TIO N : H EU R E KA 3/21 FALTER 21/21 3
CHRISTIAN ZILLNER
FOTOS: KARIN WASNER, WOMAN / POLYFILM / JIM FREY / EMMANUEL CAPPELLIN / DIMITRI VERSHININ
A U S D E M I N H A LT
: E D I TO R I A L
Genderwahn Spitzenforschung in Österreich Seite 7 Zwölf österreichische ERCGrants für das EU-Grundlagenforschungs-Förderprogramm „Horizon 2020“
Beinah schon magische Wissenschaft Seite 7 Kopf im Bild Seite 4 Stephan Procházka ist Professor für Arabisch an der Universität Wien und erforscht beduinisches Arabisch
Nennt der Virologe Franz X. Heinz die Herstellung von Impfstoffe
Erst das Alter macht uns gleich Seite 16
Wie unsere Kultur unser Gehirn formt Seite 9
Das soziale Geschlecht spielt eine größere Rolle als das biologische
Warum westliche Kulturen so fundamental anders ticken als die meisten anderen Kulturen der Welt
Männern unbekannt: das Frauengehirn Seite 12
Mangelnde Forschung beeinträchtigt bislang Erkenntnisse über das Gehirn der Frau
Wie Östrogene das Gehirn verändern Seite 14 Die Psychiaterin Julia Sacher über die Besonderheiten des weiblichen Gehirns
Glossar und Bücher zum Thema Seite 20 Tanz der Geschichte Seite 22
Verbindung von Wissenschaft und Kunst für ein Kunstwerk
Wo bleiben die Daten für Gendermedizin? Seite 18 Im deutschsprachigen Raum fehlen Studiendaten zu Geschlecht und Diversität
Gendern hat bei Falter Heureka dazu geführt, dass die langjährige Lektorin ausgestiegen ist, sie wollte sich diesen Wandel nicht antun. Nun lektoriert ein Mann das gegenderte Magazin. Ich weiß nicht, was wir daraus lernen können, vermutlich nichts. Was die Schriftsprache komplexer macht, gilt erst recht für die Medizin. Ihre traditionell überwiegend männlichen Vertreter*innen müssen nun einsehen, dass zwischen Männern, Frauen und Transgendermenschen derart große Unterschiede in Physis und Psyche vorliegen, dass ihr altes Modell „Wir machen alles am Mann und für ihn“ nicht einfach weiter gelten kann. So behauptet die Pionierin der Gendermedizin in Österreich, Alexandra Kautzky-Willer von der MedUni Wien, das soziale Geschlecht spiele in unserer Gesellschaft eine größere Rolle als das biologische. „Das biologische Geschlecht ist messbar“, sagt sie auf Seite 16. „Aber wie ist das beim sozialen, einem Konglomerat aus vielen Faktoren?“ Professuren für Gendermedizin haben in Deutschland (eine) und in Österreich (zwei) Frauen inne. Kein Mann. Das „Herrendenken“ hat im deutschsprachigen Raum, in dem jede und jeder stolz auf den „Führer-Schein“ ist, lange Tradi tion – egal ob beim männlichen oder weiblichen Geschlecht.
: G A ST KO M M E N TA R
Die Universität Wien in und nach der Covid-19-Pandemie
FOTO: MINNA ROSSI
HEINZ W. ENGL
Die Auswirkungen der Covid19-Pandemie auf Universitäten und ihre Studierenden waren bisher kaum Thema. Man kann dies positiv sehen, weil wir offenbar die Krise gut bewältigt haben: Die Umstellung auf digitale Lehre erfolgte schnell, technisch und inhaltlich ziemlich reibungslos. An der Universität Wien haben sich etwa die Seitenzugriffe auf die E-Learning-Plattform Moodle von täglich 430.000 auf 1,3 Millionen erhöht, die Ladezeit wurde halbiert. Bis zu 50.000 Personen nahmen täglich an 3.000 Videokonferenzen teil, ohne dass es zu Engpässen gekommen wäre. Auch didaktisch erfolgte die Umstellung auf Fernlehre, wie Evaluierungen zeigen, recht zufriedenstellend. Laborlehre fand praktisch durchgehend real statt, dank unseres Testangebots auch in sicherer Umgebung.
Der Wert der Grundlagenforschung zeigte sich darin, wie schnell unsere Wissenschaftler*innen zur breiten Analyse der Folgen und zur Bewältigung der Krise beitragen konnten: von sozial-, wirtschafts und rechtswissenschaftlichen Aspekten bis zur Mitentwicklung der PCRGurgeltests und deren breitem Einsatz an Österreichs Schulen. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, schafften wir die größte personelle und inhaltliche Expansion der Universität Wien seit Mitte des 19. Jahr-
Heinz W. Engl, Rektor der Universität Wien
hunderts durch über 70 Neuberufungen (nach höchsten internationalen Standards) auf Professuren in Schwerpunktgebieten. Braucht man sich keine Sorgen zu machen? Doch, denn wir dürfen nicht übersehen, dass ein ganzer Jahrgang neuer Studierender die Universität Wien noch nie von innen gesehen sowie keinen persönlichen Kontakt zu Lehrenden und untereinander gehabt hat. Studium ist auch vor allem eine soziale Erfahrung im Diskurs mit anderen, in der auch Persönlichkeiten gebildet (nicht nur ausgebildet) werden. Diese Möglichkeit gilt es rasch wieder zu schaffen Wir sind derzeit dabei, 40 zusätzliche Hörsäle mit modernster Technik für „Two-way communication“ auszustatten und gemeinsam mit anderen Universitäten in digitale Lehr ressourcen zu investieren.
Die Universität Wien ist und bleibt eine Präsenzuniversität, auf Basis unserer Erfahrungen in der Pandemie ergänzt durch digitale Lehre; statt Vorlesungen im Audimax soll digitale Wissensvermittlung mit vertiefter persönlicher Diskussion in kleineren Gruppen kombiniert werden. Das erfordert auch neue Raumnutzungskonzepte. Auch Forschung lebt vom persönlichen Kontakt, trotzdem ist nicht jede Reise nötig –, ein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Wir stehen bei all dem am Anfang, werden intern alles diskutieren, auch in regem Austausch mit unseren internationalen Partnerunis. Nach der Pandemie wird nicht alles so sein wie vorher, wir aber eine international orientierte, forschungsstarke Präsenzuniversität mit attraktiven Angeboten für unsere Studierenden.
4 FALTER 21/21 H EUR EKA 3/21 : P ERSÖNLIC H K E ITE N
: KO P F I M B I L D
Beduinisches Arabisch Keine andere Sprache wird seit so langer Zeit in einem so großen zusammenhängenden Gebiet gesprochen wie Arabisch. Stephan Procházka ist Professor für Arabisch an der Universität Wien und hat seinen Fokus auf die gesprochenen Varietäten dieser Sprache gerichtet. Mit einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) wird er nun die Rolle untersuchen, die Beduinen für die Sprachentwicklung des Arabischen spielen. „Während in der europäischen Dialektologie geografische Faktoren besonders wichtig sind, lässt sich die Dialektlandschaft des Arabischen nur erklären, wenn man neben den zeitlichen und räumlichen Dimensionen einen weiteren Faktor einbezieht: die zahlreichen nomadischen Gemeinschaften, die durch ihre hohe Mobilität maßgeblich zur sprachlichen Dynamik beigetragen haben“, erklärt er. Bis heute fehlen linguistische Kriterien dafür, was „beduinisches Arabisch“ ist. Um das besser zu verstehen, wird Procházkas Team Feldforschung in Saudi-Arabien, Jordanien, Marokko und im Sudan betreiben. TEXT: USCHI SORZ FOTO: KARIN WASNER
: J U N G FO RS C H E R I N N E N USCHI SORZ
Christian Lamprecht, 33 Das Wetter ist nicht grundlos Smalltalk-Thema Nummer eins: Es betrifft alle. Christian Lamprecht wusste schon im Gymnasium, dass er es einmal studieren will. „Die Neugierde, Prozesse in der Natur zu verstehen, hat mich früh bewogen, den Blick nach oben zu richten“, sagt der Tiroler, der seine Doktorarbeit in Atmosphärenwissenschafte dem Schwerpunkt Luftchemie widmet. Er erforscht, welche menschengemachten Emissionen aus Industrie, Verkehr, Landwirtschaft oder Hausbrand in welchem Umfang die Luftqual tät beeinflu sen. „Saubere Luft ist ein wichtiges Gut angesichts der Tatsache, dass in naher Zukunft die Hälfte der Menschen in Städten leben wird.“ Lamprecht nutzt ein Messverfahren, das Austauschprozesse in der bodennahen Luftschicht erfassen und lokale Emissionsquellen von weiter entfernten unterscheiden kann.
Annelies Voordendag, 26 Schnee und Eis haben die Niederländerin schon immer fasziniert. Für ihren Master in Geowissenschaften und Remote Sensing an der TU Delft hat sie den Schnee in den chilenischen Anden modelliert, jetzt erforscht sie in Tirol, wie er sich am Hintereisferner in den Ötztaler Alpen verteilt und welchen Einflu s das auf die Massen bilanz des Gletschers hat. „Die Massenbilanz ist die Zu- und Abnahme der Gletschermasse“, erklärt sie. „Es ist auch eine Beobachtung, dass Schnee dort, wo es mehr davon gibt, länger liegen bleibt.“ Da Gletscher eine wichtige Rolle im globalen Wasserhaushalt spielen, will man solche Prozesse besser verstehen. Die Höhenänderungen misst ein terrestrischer Laserscanner. „In Kombination mit der Modellierung hochauflö ender Windfelder sehen wir dann, wie die Schneeverteilung zustande gekommen ist.“
Maren Haid, 30 „Warum steigt Föhn in die Täler hinab?“ Das fragt hier kein wetterfühliger Mensch, dem der warme Wind zu schaffen macht, sondern hat schon 1931 den Föhnforschungspionier Alfred von Ficker beschäftigt. Bis jetzt ist die Frage unbeantwortet, doch zum Glück gibt es heute bessere Messinstrumente. „Bevor der Föhn in alpine Täler eindringt, muss er die dort angesammelte kalte Luft verdrängen“, erklärt Haid. Um die Abbauprozesse dieser Kaltluft een dreht sich ihre Arbeit. Im Zuge einer Messkampagne hat sie mit Fernerkundungsinstrumenten die Windgeschwindigkeit an zahlreichen Punkten über Innsbruck bestimmt. „Messen mindestens zwei dieser Geräte zeitlich synchron auf der gleichen Ebene, lässt sich das Windfeld für diese Ebene ableiten. So kann man die Interaktion zwischen Föhn und Kaltluft ee direkt beobachten.“
FOTOS: PRIVAT, A.S.I.WIRTSCHAFTSBERATUNG
Welche Faktoren spielen bei Wind und Wetter eine Rolle? Das erforschen Doktorand*innen am Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaft der Universität Innsbruck
KO M M E N TA R E : H EU R E KA 3/21 FALTER21/21 5
EMILY WALTON
MARTIN HAIDINGER
FLORIAN FREISTETTER
Frauenarbeit
Die Hirn
Empathie
Auch unter ihrer ersten Präsidentin Ursula von der Leyen hat sich die EU-Kommission weiter dem Ziel verschrieben, die Gleich stellung von Frau und Mann in Europa voranzutreiben. Wie weit der Weg hier noch ist, zeigt mit einiger Deutlichkeit der „Bericht über die Gleichstellung der Geschlechter in der EU von 2021“, den die Brüsseler Behörde Anfang März anlässlich des Weltfrauentags veröffentlicht hat. Ein bemerkenswertes Detail betrifft die Zahl an Frauen in Covid- 19-Entscheidungsgremien. Diese wurden im Vorjahr neu geschaffe und zusammengesetzt, dennoch ist, wie die Kommission feststellt, ein „eklatanter Mangel an Frauen“ zu verzeichnen. Von den 115 nationalen Corona-Taskforces in 87 Ländern (darunter 17 EU-Mitgliedsstaaten) setzten sich 85 Prozent hauptsächlich aus Männern zusammen. Dem gegenüber standen 11 Prozent der Gremien, in denen hauptsächlich Frauen vertreten waren. Bei rund vier Prozent herrschte Geschlechtergleichstand. Ein Blick in die EU-Staaten zeigt: Nur ein Drittel der Gesundheitsministerien in Europa wird von Frauen geführt. Die Kommission geht hier mit gutem Beispiel voran: Die hauseigene Corona-Taskforce wird von Kommissionspräsidentin von der Leyen geleitet, drei der weiteren fünf Mitglieder sind Frauen. Wo die Frauen in der Mehrheit waren? Wenn es darum ging, wer die Pandemie „an vorderster Front“ bekämpfte bzw. von ihr besonders stark betroffen war: Drei Viertel der Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Sozialfürsorge sind Frauen, ebenso 86 Prozent der Pflegekräft im Gesundheitswesen. Gleichzeitig arbeiten in den Sektoren, die die Coronakrise am stärksten trifft, besonders viele Frauen: Im Einzelhandel, im Gastgewerbe, bei der Betreuungs-, Pflege- und Hausarbeit. Wie das bittere Tüpfelchen auf dem i wirkt da eine weitere Statistik aus dem Bericht der Kommission: Die Lockdowns, die es seit März des Vorjahres gab, haben „erhebliche Auswirkungen auf unbezahlte Betreuungs- und Pfl gearbeit“ sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Wen das mehrheitlich trifft, liegt auf der Hand: Frauen verbrachten im Jahr 2020 im Schnitt 62 (!) Stunden pro Woche mit der Kinderbetreuung (Männer 36) und 23 Stunden pro Woche mit Hausarbeit (Männer 15). Wie gesagt: Es ist noch ein weiter Weg.
Wenn man mir mit dem weiblichen Hirn kommt, taucht vor dem geistigen Auge spontan die gleichnamige Lisz auf. Lisz Hirn nämlich, die großartige Philosophin und Literatin, die ich unlängst gemeinsam mit dem kongenialen Konrad Paul Liessmann in einer „Science Arena“ in der Ö1-Sende reihe „Salzburger Nachtstudio“ im Streitgespräch über „Lust, tiefer noch als Herzeleid. Muss Liebe weh tun?“ zu Gast hatte. Ein Thema, von dem man annehmen könnte, dass es spezifi ch weibliche und männliche Zugänge birgt. Indes, weit gefehlt, weder Hirn noch Liessmann argumentierten besonders maskul- oder feminin, sondern arbeiteten sich nach allen Regeln der Kunst an ihrem Nietzsche, um dessen Mitternachtslied aus „Also sprach Zarathustra“ es letztlich ging, ab, dass es eine Freude war. Dass Lisz eine Frau und Konrad Paul ein Mann ist, spielte dabei keine Rolle, zumindest keine merkbare – es waren schlicht und einfach zwei große Geister am Wort. Sie lieferten damit den Beweis, dass Vico von Bülow alias Loriot wenn schon, dann allenfalls in seinem humoristischen Universum recht hatte, als er bemerkte: „Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen.“ Freilich richtete sich dieser ironische Satz an ein Publikum des
: B R I E F AU S B RÜ SS E L
: H O RT D E R W I SS E N S C H A F T
: F R E I B R I E F
vorigen Jahrhunderts, für das die heute so bezeichnete „hetero normative“ Gesellschaft selbstverständlich war und das über den angeblichen Geschlechterkampf auf Frühstückseiebene wohlwollend zu schmunzeln vermochte, wenn auch Loriot hier mit Wahrnehmungen tiefsinniger spielte, als es ihm oberflächliche Beobachter zumessen woll(t)en. Ein anderer Wortjongleur jener Zeit vor 2000, der geistreiche Wiener Journalist Robert Löffl vulgo „Telemax“, reimte in seiner Krone–Kolumne einst: „Was Eier trägt, ist maskulin, was Milch, hingegen feminin. Als Ausnahm’ merke Dir genau den Milchmann und die Eierfrau.“ Solche Altherrenspäße ziehen im Zeitalter Judith Butlers nicht mehr, da die Bipolarität ausgehöhlt und zum Gegenstand bitterernster Gender-Debatten und strikter Wokeness-Kampagnen geworden ist – no fun any more! Abgesehen davon, dass öffentlich wie privat geäußerter Humor in der Welt der gegenwärtigen Korrektheitsscharfrichterei ganz generell ein vermintes Terrain darstellt. Draußen aus manchem Konflikt bleibt, wer sich weder am Feminismus noch am Maskulinismus, sondern am guten alten Humanismus orientiert, für den Geschlecht, Generation, Herkunft und Hautfarbe in keiner Hinsicht eine Rolle spielen. Ihm zu entsprechen ist schwierig genug.
ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)
: F I N K E N S C H L AG HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT
Wissenschaft ist kompliziert. Wissenschaft verständlich zu vermitteln, ist ebenfalls kompliziert. Das klingt trivial. Manchmal muss man sich aber mit Trivialem beschäftigen. Zum Beispiel mit der Tatsache, dass Expertinnen und Experten mehr wissen als Menschen, an die sie ihr Wissen vermitteln möchten. Das ist so, aber man muss sich dessen auch wirklich bewusst sein. Gerade jetzt steht die Wissenschaft vor der großen Aufgabe, die Öffentlichkeit über die CoronaPandemie, die nötigen Maßnahmen, die Impfungen und die damit zusammenhängenden medizinischen Fakten zu informieren. In allen Medien erklären Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder dasselbe. Impfungen sind wichtig. Jeder zugelassene Impfstoff ist gut, und die Wahrscheinlichkeit einer Impfreaktion oder Nebenwirkung ist minimal im Vergleich zum gesundheitlichen Risiko einer Erkrankung. Und so weiter. Wenn man das ständig wiederholen muss, verliert man irgendwann das Gefühl für die Adressaten der Botschaft. Das, was einem selbst glasklar ist, erscheint dem Gegenüber vielleicht verwirrend oder gar widersprüchlich. Die Entscheidung für die Impfung mag aus Sicht eines Arztes oder einer Virologin keine lange Bedenkzeit benötigen. Es reicht aber nicht, die eigene Überzeugung nur zu kommunizieren. Denn all jene, denen die jahrelange Beschäfti ung mit medizinischen Fragen fehlt, haben es nicht so einfach. Für sie ist der Weg zu einer Entscheidung unter Umständen von Zweifeln gesäumt, von Verschwörungsmythen oder einem „schlechten Gefühl“ genährt. Dem muss man mit Empathie begegnen und mit der Einsicht, dass man selbst gleichzeitig mehr und weniger weiß als ein Gegenüber: Man verfügt über mehr wissenschaftlich s Wissen, aber es fehlt womöglich das Gefühl dafür, wie es ist, angesichts einer Pandemie mit Informationen überrollt zu werden, die man nur schwer einordnen kann. Wissenschaftskommunikatio ist nicht nur dazu da, die „Lücken“ im Wissen der Menschen zu füllen. Sie muss es ihnen auch möglich machen, Wissen selbst einzuordnen. Verständnis ist immer auch Empathie. Das zu vermitteln ist alles andere als trivial. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX
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Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in unsere alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert
: W E T T E R FO RS C H U N G
Donnerdaten aus Erdbebenmessung Wiener Forschende nehmen onner mit Erdbebensensoren auf D JOCHEN STADLER
Normalerweise löscht der Wiener Erdbebenforscher Götz Bokelmann Signale vorbeifahrender Autos und Gewitter, die seine sensiblen Erdbebenmessgeräte aufzeichnen, als Störungen aus den Messdaten. Auch bei den Daten von 600 Erdbebensensoren, die er mit seinen Mitarbeiter*innen des Instituts für Meteorologie und Geophysik der Universität Wien im Alpenraum verteilt hat, um die Erdbebenvorgänge zu erfassen. „Die seismologischen Messgeräte dieses Alparray-Projekts zeichneten hunderttausendmal auch Donner auf. So entschlossen wir uns, diese Signale näher zu betrachten, um das Phänomen besser zu verstehen“, sagt er. Im Gegensatz zum Blitz sei der Donner noch wenig erforscht. Damit sie die Donnerdaten der Alparray-Messstationen richtig deuten können, brauchten die Forschenden gute Vergleichsdaten. Dazu grub das Team um Götz Bokelmann und Artemii Novoselov Erdbebensensoren rund um die Blitzmessstation am Gaisberg ein. Auf dem 1.287 Meter hohen Gipfel des Salzburger Hausberges steht ein Sendemast mit einer Messstation des österreichischen Blitzortungssystems ALDIS (Austrian Lightning Detection and Information System). Mit Donnerdaten der Erdbebensensoren wollen die Wis senschaftler*innen theoretische Modelle überprüfen und erschließen, wie dieses Naturphänomen entsteht. Vielleicht wird es damit auch möglich, Blitzeinschlagsdaten der LDIS-Forschenden sowie GewitA terprognosen zu verbessern.
: N AC H H A LT I G E W I RT S C H A F T S E N T W I C K LU N G
: M AT H E M AT I K
Österreich hat ausreichend Dächer und Freiflächen für Solarstrom
Basis für Innovationen
Auf 0,7 Prozent von Österreichs Freiflächen könnten Photovoltaikanlagen elf Terawattstunden Strom pro Jahr erzeugen
Kathrin Spendier modelliert zeitabhängige Vorgänge
JOCHEN STADLER
USCHI SORZ
Um das Klimaziel zu erreichen, ab 2030 Strom nur noch aus erneuerbaren Quellen herzustellen, gibt es in Österreich genug Dächer und Freifl chen, errechnete Christian Mikovits vom Institut für Nachhaltige Wirtschaft entwicklung der Universität für Bodenkultur Wien. Er untersuchte mit Kolleg*innen anhand des Geografischen Informationssystems GIS der Bundesländer, wie viele Dächer für Photovoltaikanlagen zur Verfügung stünden. Insgesamt sind hierzulande rund 780 Quadratkilometer Dachflächen vorhanden. Davon könnte man 15 Prozent nutzen, der Rest fällt wegen ungünstiger Ausrichtung, Aufbauten, Fenstern, einem schlechten Zustand oder Denkmalschutz flach. Um im Jahr 2030, wie geplant, elf Terawattstunden aus Solarstrom beziehen zu können, müsste man alle geeigneten Gebäude mit über 220 Quadratmetern Grundfl -
che wie Supermärkte und Lagerhallen mit Solaranlagen versehen. Dazu wären pro Tag rund 400 Anlagen zu installieren, ein unrealistisches Szenario. Man wird also auch andere Flächen nutzen müssen. Darum untersuchten die Forschenden im Zehn-
Christian Mikovits, BOKU Wien Quadratmeter-Raster, wo man sonst noch Solaranlagen aufbauen könnte. Über ganz Österreich kamen sie auf beinahe 32.000 Quadratkilometer Freifläche. „Davon müssten ungefähr 0,7 Prozent für Photovoltaikanlagen genutzt werden, um auf die elf Terawattstunden Strom pro Jahr zu kommen“, erklärt Mikovits.
: H O C H S C H U L I S C H E W E I T E R B I L D U N G
Das Minsterium stellt Weichen für die Zukunft der hochschulischen Weiterbildung Die hochschulische Weiterbildung in Österreich soll vereinheitlicht und an die Bologna-Struktur angeglichen werden WERNER STURMBERGER
„Es ist unser Ziel, mit der Reform der hochschulischen Weiterbildung Einheitlichkeit, Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit im österreichischen Hochschulsystem zu verstärken“, sagt Elmar Pichl, Sektionschef im BMBWF. Die Qualifikation einer
Elmar Pichl, Wissenschaftsministerium Erstausbildung würde immer seltener für ein ganzes Berufsleben reichen, gleichzeitig würden auch Bildungskarrieren immer individueller werden. „Es muss darum möglich sein, in jeder Lebensphase und unabhängig vom Alter in eine hochschulische Ausbildung einsteigen zu können.“
Eckpunkte der Reform sehen gleiche Regelungen für Weiterbildungslehrgänge in allen Hochschulsektoren, eine Reduktion der Titelvielfalt sowie die Einführung eines außerordentlichen Bachelorstudiums vor. Weiterbildungsstudien werden an die Bologna-Struktur angeglichen. Studierende mit einem Weiterbildungsmaster können auch Doktorats- oder PhDStudien belegen. Privatuniversitäten und -hochschulen sollen ohne Akkreditierung Weiterbildung in ihren Studienrichtungen anbieten können. Die Qualität soll eine hochschulinterne Qualitätssicherung garantieren, außerdem ein neues, externes Qualitätssicherungsverfahren. Im Oktober dieses Jahres soll die Reform mit einer zweijährigen Übergangszeit in Kraft treten. Studierende in Weiterbildungen der bisherigen Form werden genügend Zeit erhalten, um ihr Studium abzuschließen. Die bisherige Höchststudiendauer wird verdreifacht.
Manche Phänomene sind schwer zu beschreiben. Instabile Aktienkurse etwa, die Erträge erneuerbarer Energieformen, eine fehlerhafte Genexpression oder physikalische Systeme, die thermischen Schwankungen unterliegen. „Modelle davon werden
Kathrin Spendier, Universität Klagenfurt schnell so kompliziert, dass man sie nicht explizit errechnen kann“, sagt Kathrin Spendier. „Es gibt hier auch keinen allgemeinen Ansatz zur Ermittlung der Lösung.“ In manchen Fällen könne man diese nur durch Ableiten finden, oft lasse sich aber auch gar kein geschlossenes Ergebnis erreichen. „Das Ziel ist es also, die bestmögliche Näherung zu finden “ Modellieren kann man solche zeitabhängigen Vorgänge mithilfe von stochastischen Diffe entialgleichungen. Spendier ist eine der ersten Doktorandinnen und Doktoranden im neuen FWF-doc.funds-Doktoratskolleg „Modeling – Analysis – Optimization of discrete, continuous, and stochastic systems“ an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihr Forschungsfokus sind stochastische Diffe entialgleichungen mit irregulären Koeffizienten bei denen der Langzeittrend unstetig ist oder superlinear wächst. „Dies beinhaltet einerseits sehr spannende anwendungsbezogene Felder, berührt aber auch viele unentdeckte theoretische Probleme, deren Lösung anderen Fachgebieten eine Basis für Innovationen bieten kann.“ In einem ihrer Projekte beschäftigt sich die 25-Jährige beispielsweise mit neuronalen Netzwerken, die in der künstlichen Intelligenz (KI) Anwendung finden „Hier ist es wichtig, die Rechenzeit und damit den Ressourcenverbrauch möglichst überschaubar zu halten.“ Im Doktoratskolleg überwiege der Frauenanteil, berichtet Spendier zufrieden. „Die Uni Klagenfurt fördert Frauen in dieser Wissenschaft sehr stark, das finde ich gut.“ Selbst wusste sie schon seit dem Gymnasium, dass sie einmal Mathematikerin werden will. „Das liegt nicht zuletzt an einem Lehrer, der meine Leidenschaft für das Fach geweckt hat.“
FOTOS: PRIVAT, WALTER ELSNER/RICCIO.AT, PETRA SPIOLA
NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT
N AC H R IC H TE N : H EU R EKA 3/21 FALTER 21/21 7
: M E D I Z I N
Eine beinah schon magische Wissenschaft Nennt der Virologe Franz X. Heinz, ehemaliger Leiter des Instituts für Virologie der MedUni Wien, die Herstellung von Impfstoffen INTERVIEW: BARBARA FREITAG
Herr Heinz, wie werden Impfstoffe heute hergestellt? Franz X. Heinz: Klassische Verfahren haben zu Lebend- und Totimpfstoffen geführt, moderne Impfstoffe verwenden auch Gentechnik. Dazu gehören die aktuellen mRNA- und Adenoviralen Vektorimpfstoffe, die neben konventionellen Totimpfstoffen gegen SARS-CoV-2 entwickelt wurden. Impfstoffe älterer Technologie werden in biologischen Systemen erzeugt. Für Influenza- mpfstoffe kommen etwa embryonierte Hühnereier und bei neueren Technologien Zellkultursysteme zum Einsatz. Auch die Herstellung der Vektorvakzine erfordert Zellkulturen, während die Herstellung der mRNA enzymatisch in vitro erfolgt. Welches Verfahren ist einfacher? Heinz: Beide Verfahren sind hochkomplex, erfordern viel Technologie und spezielles Know-how, das in jahrzehntelanger Forschung erworben wurde. Das betrifft gentechnische Veränderungen der RNA bzw. der Ade-
noviren bis zu jenen Lipidnanopartikeln, in welche die mRNA verpackt werden muss. Grundsätzlich gibt es zwei essenzielle Aspekte bei der Herstellung von Impfstoffen zu beachten. Erstens müssen die Produktionsstätten strengsten technischen Anforderungen entsprechen, sodass die Produktion unter Qualitätsstandards der „Good Manufacturing Practice“ erfolgen kann. Diese hochkomplizierten Anlagen können nur von Herstellern mit größter Expertise betrieben werden und unterliegen einer strengen Kontrolle durch Zulassungsbehörden. Der zweite Aspekt betrifft das biologische Wissen und entsprechend ausgebildetes Personal, um die Sicherheitsanforderungen beim Umgang mit infektiösen Viren zur Herstellung von Impfstoffen mit inaktivierten Viren zu kontrollieren. Bei den gentechnisch hergestellten Vektorimpfstoffen ist der schwierigste Part die Vermehrung in Zellkulturen. Dieser Teil der Biotechnologie ist eine beinahe magische Wissenschaft, denn es handelt
sich hier um ein lebendes System, das Einflü sen unterliegt, die man nicht immer ganz kontrollieren kann. Bei der Erzeugung der mRNA-Impfstoff ist der anspruchsvollste Teil die Einkapselung in die Lipidnanopartikel. Die Produkte von Biontech/Pfizer und Moderna etwa werden zwar technologisch ähnlich hergestellt, aber im Detail gibt es Unterschiede. Das ist das spezialisierte Insiderwissen der Hersteller. Es ist eben nicht so, dass man so einen Prozess wie ein Kochrezept auf einen Zettel schreibt, und der andere hat die Garantie, dass die Suppe auch essbar ist. Bei welchen Krankheiten gelingt es nicht, einen Impfstoff herzustellen?
Franz X. Heinz, MedUni Wien
Heinz: Der Klassiker ist HIV. Ein Problem ist die Vielfalt und Heterogenität der zirkulierenden Viren, und dass man eine sterilisierende Immunität erzielen müsste, also eine vollständige Verhinderung der Infektion. Dazu kommt die Variabilität. Werden aktuelle Corona-Impfstoffe wieder vom Markt verschwinden? Heinz: Die Schwierigkeit für mich als Forscher in der Beurteilung der Impfstoffe liegt darin, dass gewisse Herstellungsprozesse nicht publiziert bzw. nur der Zulassungsbehörde bekannt sind. Dennoch ist klar zu betonen: Alle von der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA zugelassenen Impfstoffe wurden einem akribischen Prüfungsverfahren unterzogen und dabei als sicher eingestuft Was sagen Sie zur Aussetzung der Patente für Impfstoffe? Heinz: Es ist nicht so, dass man nur das Patent lesen muss, um einen Impfstoff herstellen zu können.
: FO RS C H U N G S FÖ R D E RU N G
Zwei Mal zwei bei einem forschenden Ehepaar Zwölf österreichische ERC-Anträge für das EU-Grundlagenforschungs-Förderprogramm „Horizon 2020“ wurden im letzten Jahr bewilligt
FOTOS: PRIVAT, LILLI STRAUSS
SABINE EDITH BRAUN
Ein „Grant“ pro 739.803 Einwohner, 1,33 pro Bundesland oder einer für jeden Monat: Viel für ein kleines Land wie Österreich, denn damit ist nicht die hiesige Übellaunigkeit gemeint, sondern der Förderungspreis des European Research Council ERC, kurz: „ERC Advanced Grant“. So lautet die aus österreichischer Sicht erfreuliche Bilanz der letzten Ausschreibung aus dem EU-Förderprogramm „Horizon 2020“, das heuer vom neuen, siebenjährigen Programm „Horizon Europe“ abgelöst wurde. „Der Fleiß der Forschenden und die Antragsstrategien der österreichischen Forschungscommunity haben sich eindeutig ausgezahlt“, erklärt das Wissenschaft ministerium dazu. Insgesamt bewarben sich für die Ausschreibung bei einem Gesamtförderbudget von 507 Millionen Euro 2.678 Wissenschafter*innen aus der ganzen Welt, 42 Prozent mehr als im Vorjahr. Bewilligt wurden 209 Anträge, eine Erfolgsaussicht von 7,8 Prozent pro Antrag. Die Erfolgsaussicht, dass
von zwei Bewerber*innen beide die Bewilligung erhalten, beträgt 0,6 Prozent. Und wenn die beiden auch noch miteinander verheiratet sind –? Grants, die quasi in denselben Haushalt gehen, erhalten Monika und Thomas Henzinger. Monika Henzinger ist Professorin für Informatik an der Universität Wien, ihr Ehemann, ebenfalls Informatiker, leitet das Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg. Monika Henzinger erhielt bereits 2013 einen Grant. „Einen ERCGrant zu bekommen, ist eine Auszeichnung, ein zweiter bedeutet, dass nach Einschätzung von internationalen Gutachter*innen, also von Kolleg*innen in meinem Forschungsgebiet, der erste sehr erfolgreich war. Das freut mich natürlich. Durch das Projekt werde ich in der Lage sein, weitere ausgezeichnete Wissenschaftler*innen nach Wien zu holen und meine Forschungsgruppe zu vergrößern.“ Sie entwickelt mit ihrem Team Algorithmen für dynamisch
vernetzte Informationen etwa in Datenbanken und dyamisches Clustering. Diese Algorithmen geben bei Abfragen zwar Informationen preis, aber keine über einzelne Personen. Thomas Henzinger – auch für ihn ist es der zweite Grant – betont, dass ERC-Förderungen keiner strategischen Vorgabe folgen, sondern durch ein Fachkollegium auf ihren wissenschaftlichen Gehalt bewertet werden. „Neben dem finanziellen Wert sind diese Förderungen auch eine Anerkennung der Forschungsleistung“, sagt der IST-Austria-Präsident. Er entwickelt Methoden, um Softwa e sicherer, fairer und weniger fehleranfällig zu machen, indem diese durch unabhängige Softwa e überwacht wird.
Monika Henzinger, Universität Wien
Die beiden Projekte zählen zum Bereich IKT, doch die Themen der zwölf bewilligten Projekte sind in unterschiedlichen Disziplinen angesiedelt: Sechs Anträge im Bereich Physik und Ingenieurwissenschaften, vier im Bereich Life Sciences und zwei in den Geistes- und Sozialwissenschafte (Geschichte, Linguistik). International wurden in letzterem Bereich seit 2007 nur rund 11,4 Prozent der Anträge bewilligt. In Österreich wurden in diesem Themenfeld bisher 58 ERCGrants eingeworben, geistes- und sozialwissenschaft iche Anträge öster reichischer Forschungseinrichtungen haben eine Erfolgsquote von 16,7 Prozent, so das Ministerium. Seit Beginn der Ausschreibungen wurden an österreichischen Universitäten und Forschungseinrichtungen rund 320 Grants aus ERC-Programmen eingeworben – eine Fördersumme von rund 310 Millionen Euro. Die meisten Bewilligungen: Universität Wien, gefolgt von der ÖAW (inkl. GmbHs) und IST Austria.
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: K U LT U R E L L E N E U ROW I SS E N S C H A F T
Wie unsere Kultur unser Gehirn formt Warum westliche Kulturen so fundamental anders ticken als die meisten anderen Kulturen der Welt SANDRA TIETSCHER
„Ihr Gehirn wurde verändert, neurologisch neu vernetzt, weil es eine Fähigkeit erlernt hat, die in unserer Gesellschaft hochgeschätzt wird.“ So beginnt Joseph Henrich sein neues Buch „The WEIRDest People in the World“, in dem der Kulturanthropologe der Frage nachgeht, warum westliche Kulturen so fundamental anders ticken als die meisten anderen Kulturen der Welt. Henrich zufolge, der an der Harvard University in den USA lehrt, sind Menschen im heutigen Europa und Nordamerika im Vergleich zu anderen kontemporären und historischen Kulturkreisen höchst individualistisch, analytisch und kontrollorientiert. Dafür gibt es eine Reihe von Erklärungen. Aber zunächst zurück zu Ihrem Gehirn. Mit größter Wahrscheinlichkeit gehören auch Sie zur Gruppe Menschen, deren Gehirn verändert wurde. Denn die exotische Fähigkeit, von der Henrich spricht, ist das Lesen. Durch die Entwicklung der Lesefähigkeit hat Ihr Gehirn tiefgreifende strukturelle Änderungen durchlaufen: Ihr Corpus Callosum – die Informationsbrücke zwischen linker und rechter Gehirnhälfte – wurde verstärkt, der Prozess der Gesichtserkennung wurde komplett in die rechte Hirnhälfte verlagert, und Ihre Fähigkeit, Gesichter zu identifizie en, deutlich vermindert. Kurz-
um: Eine Tätigkeit, die weder direkt an Gene noch an Umwelteinflü se gekoppelt, aber tief in unserem Kulturkreis verwurzelt ist, hat die neuronalen und kognitiven Prozesse in unseren Köpfen grundlegend verändert. Die Jahrzehnte hindurch, in denen Neurowissenschaftler*innen meinten, das „menschliche“ Gehirn zu studieren, haben sie nur das Gehirn der „lesefähigen Menschen“ studiert. Dies, obwohl das Lesen historisch betrachtet eine sehr neue Fähigkeit ist und es nach wie vor eine große Anzahl analphabetischer Menschen auf der Welt gibt – diese schaffen es allerdings selten in die Labors von Neurowissenschaftler*innen Die Lesefähigkeit ist ein konkretes Beispiel dafür, wie eine kulturelle Eigenheit physiologische Veränderungen nach sich ziehen kann. Während Henrich in seinem Buch im Detail erklärt, wie diese und andere Veränderungen die Eigenarten verschiedener Kulturen geprägt haben, konnte man bislang nur wenige andere kulturelle Unterschiede derart deutlich mit biologischen Anpassungen im Gehirn in Verbindung bringen. Aus den Bemühungen, dies zu ändern, entstand eine neue Forschungsrichtung: Die kulturelle Neurowissenschaft. Während sie in Europa noch wenig vertreten ist, erfährt sie in Amerika und Asien regen Zulauf.
So untersuchten etwa Forschende der Universität Peking, ob die psychologischen Unterschiede in der Selbstvorstellung westlicher Völker (die ihr Selbst als komplett unabhängig wahrnehmen) und ostasiatischer Völker (deren Ich-Bewusstsein auch nahestehende Personen stärker miteinschließt) neurologisch messbar sind. Tatsächlich wurden bei beiden Gruppen eine höhere Aktivität in einem bestimmten Hirnareal festgestellt, wenn sie über eigene Charaktereigenschaften im Vergleich zu Eigenschaften einer öffentlichen Person nachdachten. Während aber bei amerikanischen und europäischen Studienteilnehmenden dieses Hirnareal auch still blieb, wenn sie über Eigenschaften ihrer eigenen Mutter nachdachten, aktivierten chinesische Teilnehmende beim Nachdenken über ihre Mutter dieselben Areale wie beim Einschätzen ihrer eigenen Eigenschaften. Das Gehirn unterschied bei ihnen kaum zwischen Selbst und nahem Verwandten. Eine andere Studie zeigte, dass japanische Gehirne besser darin sind, die Länge
Joseph Henrich, Harvard University
einer Linie relativ zu einer sie umgebenden Box einzuschätzen, während amerikanische Gehirne besser darin sind, die absolute Länge der Linie abzuschätzen. Dies stimmt mit anderen Beobachtungen überein, nach denen Japaner*innen generell mehr kontextorientiert und Amerikaner*innen mehr detailorientiert arbeiten. Auch dies zeigt: Das Gehirn passt sich den jeweiligen kulturellen Anforderungen an. Basierend auf diesen Erkenntnissen plädieren Henrich und andere Wissenschaft er*innen dafür, kulturellen Aspekten bei der Untersuchung der menschlichen Psyche mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dies könnte nicht nur wissenschaftl che Fehlvorstellungen vermeiden, sondern auch zum besseren Verständnis zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen beitragen. Denn auch wenn Japaner*innen und Europäer*innen miteinander über dasselbe Konzept sprechen, so könnten ihre Gehirne dies sehr unterschiedlich interpretieren. Besser, sie wissen darüber Bescheid. Joseph Henrich, „The WEIRDest People in the World“, Macmillan USA, 2020; Zhu et al, NeuroImage 34(3), 2007; Han et al, NeuroImage 99, 2014
: S P I T Z E N FO RS C H U N G S FÖ R D E RU N G
excellent=austria für mehr Spitzenforschung WERNER STURMBERGER
Herr Gattringer, was ist „excellent“? Christoph Gattringer: Österreich hat in zahlreichen Wissenschaftsgebi ten Wissenschaftler*innen, die an der Weltspitze forschen. Denken Sie an Life Sciences, Quantenphysik oder Geschichtsforschung. Mit den neuen excellent=austria-Förderungen bieten wir noch mehr Ressourcen, aber auch Freiraum und Flexibilität, um Fragen der Grundlagenforschung adäquat zu adressieren. Es geht darum, den Wissenschaft standort Österreich zu stärken und zugleich die nächste Generation junger Forschender an die Weltspitze heranzuführen. Wir legen großen Wert auf einen nahtlosen Wissenstransfer in die Gesellschaft. Am
Ende sollen die gewonnenen Erkenntnisse uns allen zugute kommen. Was beinhaltet das neuartige Förderprogramm? Gattringer: Es wird mehrere Förderschienen umfassen. Mit 1. Juni starten wir die Ausschreibung des größten Programms, der „Clusters of Excellence“. Gemeinsam mit den Eigenmitteln der Universitäten stehen für die ersten drei Jahre 250 Millionen Euro zur Verfügung, mit bis zu sieben Millionen Euro für einen Cluster pro Jahr. Das ist mehr, als der FWF je an einzelne Gruppen vergeben hat. Ziel des Clusters ist es, Förderungen für wissenschaftliche Fragestellungen in
einer neuen Dimension in puncto Finanzrahmen und Förderdauer zur Verfügung zu stellen: Pro Projekt können bis zu 70 Millionen Euro über eine
Christoph Gattringer, Präsident des Wissenschaftsfonds FWF Dauer von zehn Jahren ausgeschüttet werden. Das schafft Planungssicherheit für die Forschungsarbeit und erlaubt es den Universitäten und Forschungsstätten, langfristig in größe-
ren Verbünden zu arbeiten. Für viele moderne Forschungsfragen ist das unerlässlich. Wie soll sich das Programm auswirken? Gattringer: Auf struktureller Ebene wird es mehr Kooperationen zwischen den Standorten geben. Wir erwarten uns Verbesserungen in den Rankings und international sichtbare Forschungserfolge. Das wird auch dazu führen, dass die Sichtbarkeit und die Rahmenbedingungen für Nachwuchsforschende noch besser werden, was auch einen Vorteil für deren Berufbarkeit mit sich bringt. Die erste Programmschie-
FOTOS: JENNIFER JACQUET, FWF/STEFAN FÜRTBAUER
Wie ist es um Spitzenforschung in Österreich bestellt ist und warum es eine neue Initiative braucht, erklärt FWF–Präsident Christoph Gattringer
N AC H R IC H TE N : H EU R EKA 3/21 FALTER 21/21 9
: W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN
COLLAGE: SANDRA TIETSCHER
Kontrafaktischer Ukraine mythos in Romanform
ne von excellent=austria, die „Clusters of Excellence“, wird zudem dedizierte Trainings und Ausbildungskomponenten für Doktorand*innen und Postdocs beinhalten. Diese sollen dann von den Clustern fachspezifi ch ausgestaltet und umgesetzt werden. Eine Studie zur deutschen Exzellenzinitiative kommt zum Schluss, dass die Ziele verfehlt wurden und Unterschiede zwischen Exzellenzuniversitäten und anderen nur fortgeschrieben wurden. Besteht diese Gefahr auch für das österreichische Förderprogramm? Gattringer: Das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns in den Planungen
angesehen haben. excellent=austria ist keine Kopie der deutschen Exzellenz initiative, insbesondere sollen keine Exzellenzuniversitäten ausgewiesen werden, sondern die wissenschaftlic stärksten Gruppen an unterschiedlichen Forschungsstätten die Möglichkeit erhalten, langfristig fina ziert neue Forschungsfragen zu bearbeiten. Die zweite Programmschiene von excellent=austria, die „Emerging Fields“, die mit 2022 starten, ist ein Angebot für vielversprechende, aber noch nicht etablierte Forschungsfelder. Das gibt neu etablierten Forschungsgruppen die Möglichkeit, schnell ins Spitzenfeld zu rücken – diese Komponente fehlt in Deutschland.
Der Mittelmeerraum als Zukunft Europas
Eine junge Ukrainerin (Jahrgang 1969) sucht sich und fi det den Habsburger Wassyl Wyschywanyi. Wyschywanyi, das ist der „Bestickte“, denn der herrscherhäusliche Spross trägt gern das traditionelle Hemd der Ukrainer, als deren König er in der untergehenden Monarchie vorgesehen war. Er kämpft für die Unabhängigkeit des Landes hinter den Karpaten, lebt mondän und als schwuler Outlaw, sympathisiert mit den Nazis; anders als sein historisches Vorbild treibt es ihn fast bis in die Gegenwart. Pflichtlektü e für Ukrainomanen!
Das Mittelmeer ist nicht bloß ein Ort des Badevergnügens, das war schon klar, bevor es sich in einen Ort migrantischer Tragödien verwandelt hat. Europa kommt nicht nur von dort, für den Wiener Transfer-Theoretiker Christian Reder ist das Mittelmeer auch Grundfrage der Zukunft der EU. Zwanzig Mittelmeerhäfen von Algier über Marseille bis Tel Aviv, Istanbul und Odessa werden in ihrer Fähigkeit zur Integration materialreich beschrieben; allerdings handelt es sich dabei auch um Orte vielfältigster Tragödien.
Natalka Sniadanko: Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Roman, Haymon Verlag 2021
Christian Reder: MEDITERRANE URBANITÄT – Perioden
Die meisten Berliner stammen angeblich aus Breslau
vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas, Mandelbaum Verlag 2020
Feines NatureWriting beim Dichter H. C. Artmann
Einem Reisenden ins Berlin des Jahres 1927 wird das Adlon empfohlen oder eine Pension um 10 Mark und wo man gut isst. Der Stadtrundgang beginnt am Pariser Platz und endet in der nächtlichen Unterwelt des „Hundegustav“, wo man Dirnen und richtige Verbrecher zu sehen bekommt. Dazwischen gibt es Stilblüten aus dem Reichstag, Theater- und Kritikerklatsch aus der Kinometropole (mit vierhundert Sälen). Um fünf Uhr vertreibt König Charleston den Tango. Berlin mag keine Wien vergleichbaren Kaff ehäuser haben, dafür aber Weinhäuser!
H. C Artmanns „Med ana schwoazzn dintn“ war das österreichische Buch der Nachkriegszeit. Der aus dem Krieg als Deserteur zurückgekehrte Dichter besang im Wiener Dialekt Mörder und Huren mit schwärzestem Humor und traf den Geist der Zeit – der „Mann von der Straße“ war ebenso begeistert wie das kulturkonservative Establishment. Was sich in Artmanns literarischer Botanisiertrommel in Sachen NatureWriting entdecken lässt, demonstriert der zu seinem hundertsten Geburtstag erschienene Band mit Gedichten aus allen Schaffensperioden
Eugen Szatmari: Berlin. Was nicht im Baedeker steht, Milena Verlag 2021
H.C. Artmann: Übrig blieb ein moosgrüner Apfel. Gedichte und Prosa, Insel-Bücherei – Suhrkamp 2021
10 FALTER 21/21 H EUR EKA 3/21 : T I T ELT H E M A
T I T E LT H E M A NEUES ÜBER DAS WEIBLICHE GEHIRN Seiten 10–22 Die Porträts der Fotostrecke dieser Ausgabe stammen aus dem Film „Woman“ von Anastasia Mikova und Yann Arthus-Bertrand, der am 28. 5. in den Kinos startet. 2.000 Frauen aus 50 Ländern kommen in diesem beeindruckenden Filmprojekt zu Wort. Sie reden offen darüber, was sie bewegt, was sie antreibt, wovor sie sich fürchten, was sie sich wünschen. Sie sprechen von Sexualität, Mutterschaft, Ehe, Bildung und Beruf. Bäuerinnen und Staats chefinnen, Frauen aus der Großstadt ebenso wie Frauen aus den entlegensten Gebieten der Welt. „Woman“ zeichnet ein umfassendes Bild davon, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Er berührt, schockiert, inspiriert und macht Mut. www.woman-themovie.org
: AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN
Treffer in Form wissenschaftliche Artikel verzeichnet die medizinische Onlinedatenbank PubMed auf die Suchanfrage „Gender medicine“. Vor zehn Jahren waren es rund 30.000 Treffer.
34.000 Personen erleiden in Österreich jährlich einen Herzinfarkt, jeder dritte davon ist tödlich. Weil immer mehr Frauen rauchen, sind sie zunehmend betroffen, dennoch erleiden mehr Männer Infarkte. Männer über 65 Jahren landen nach 3,5 Stunden in der Notaufnahme, Frauen über 65 nach rund 4,5 Stunden.
700 Stunden beträgt das Schlafdefizit on Müttern im ersten Jahr mit ihrem Baby. Eine Analyse von 14 Studien ergab: Jungmütter zeigen einen Leistungsabfall bei Gedächtnistests, „Momnesia“ genannt, ohne Auswirkung auf den IQ.
7 Mal höher als bei einem Mann ist das Risiko einer Frau, bei einem Herzinfarkt fehldiagnostiziert und heimgeschickt zu werden: Mehr als 70 Prozent der Frauen haben grippeartige Symptome wie Kurzatmigkeit, kalten Schweiß, Übelkeit, Magen- und Rückenschmerzen – auch ohne Brustschmerzen.
7 Gramm Kohlenhydrate (etwa 30 Gramm Naturreis) statt 3 Gramm Transfetten (etwa eine Portion Chips): Frauen, die das bei einer täglichen Zufuhr von 1.500 Kalorien durchziehen, können ihr Risiko für eine Herz-KreislaufErkrankung um 93 Prozent reduzieren, ergab eine Studie.
19 Millionen
US-amerikanische Erwachsene erkranken jährlich
an einer Depression – davon zwölf Millionen Frauen. Eine Untersuchung an 6.000 Frauen ergab: Depressive Symptome gehen mit einem doppelt so hohen Risiko für leichte kognitive Einschränkungen und Demenz im späteren Leben einher.
20 Prozent beträgt das Risiko einer 45-jährigen Frau, im Verlauf ihres Lebens Alzheimer zu entwickeln. Das Risiko eines gleichaltrigen Mannes liegt bei zehn Prozent.
80
Prozent der Frauen werden älter als siebzig, aber nur 75 Prozent der Männer. Vor dem 40. Geburtstag sterben doppelt so viele Männer wie Frauen. 90 Prozent aller tödlichen Arbeitsunfälle betreffen Männer.
FOTO: SANDRA CALLIGARO, JIM FREY, EMMANUEL CAPPELLIN, DIMITRI VERSHININ, SANDRA CALLIGARO
112.339
FOTO: DIMITRI VERSHININ
TITE LTH E M A : H EU R E KA 3/21 FALTER 21/21 11
Nivine/Libanon Für den Film wurde eng mit lokalen NGOs zusammengearbeitet, um Frauen zu finden, die bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen. Der Gewinn des Films geht zu Gänze an den Verein WOMan(s) – Women On Media und Nachrichten, den die beiden Regisseur*innen gegründet haben, um Frauen die Chance zu geben, Medienberufe zu erlernen und zur Stimme zu werden. Damit sie im Namen derer sprechen können, die bisher nicht gehört wurden
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Männern unbekannt: Das Frauengehirn M
änner denken ständig an Sex, neigen zur Untreue, können besser einparken, haben ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen, sind mathematisch begabter und allzeit bestrebt, sich mit anderen Männern zu messen. Frauen sind empathischer, sprachgewandter, versierter im Multitasking und haben sich besser unter Kontrolle. Sagen herkömmliche Rollenbilder. Frauen erkranken deutlich häufiger an Demenz, sterben öfter infolge von Schlaganfällen, greifen viel öfter zu Beruhigungsmitteln, leiden häufiger an Migräne, Essstörungen, Depressionen, und unternehmen mehr Suizidversuche als Männer, obwohl dann siebzig Prozent der Toten nach einem Suizidversuch Männer sind. Sie erkranken häufiger als Frauen an Parkinson und Autismus, neigen stärker zu Alkoholund Drogensucht. Sagen die Fakten. Wissenschaftler versus Wissenschaftlerinnen Wie viel von dem ist Schicksal, weil genetisch bedingt, was Folge von Sozialisation? „Das menschliche Gehirn strukturiert sich anhand der im Leben eines Menschen gemachten Erfahrungen. Die wichtigsten sind Erfahrungen in der Beziehung zu anderen, diese Sozialisationserfahrungen werden strukturell, ,biologisch‘ im Gehirn verankert. Die Frage lässt sich also nicht beantworten, weil die individuellen Erfahrungen die biologische Matrix erst formen“, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther, Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung in Göttingen. In der Frage, ob Unterschiede im Gebaren von Männern und Frauen genetisch determiniert oder angelernt sind, gleichen die Aussagen der Hirnforschung einer Pendelbewegung. Aktuell scheint es Richtung genetisch determinierter Unterschiede auszuschlagen, obwohl dieser Denkschule aus Sorge, sie könnte alte Rollen klischees zementieren, mit Vorsicht begegnet wird. Andererseits wird argumentiert, dass selbst vermeintlich geringfügige Unterschiede medizinisch relevant sein könnten. Hüther glaubt nicht daran, dass Forschungserkenntnisse die Anfälligkeit von Frauen für psychosomatische Erkrankungen dramatisch senken würden, denn als deren Ursache ortet er die aktuell viel zitierte „toxische Männlichkeit“: „Sie würde sich sofort verändern, wenn die Männer nicht ihr Leben damit zubrächten, ständig he rumzurammeln, um Anerkennung, Macht und Einflu s zu gewinnen.“ Als gesicherter biologischer Unterschied gilt, dass Männer mehrheitlich größere Gehirne als Frauen haben, im Schnitt 1.375 zu 1.245 Gramm, ohne dass dies einen Einflu s auf die Qualität der Gehirnleistung hätte. Aus der unterschiedlichen Gehirngröße hat Ragini Verma, Neurowissenschaftlerin an der University of Pennsylvania, mit ihrem Team 2014 in einer Studie
TEXT: BRUNO JASCHKE
„Unter all den Dingen, mit denen eine Frau sich angeblich beschäftigen soll, spielt unser Gehirn seltsamerweise kaum eine Rolle“ LISA MOSCONI, WEILL CORNELL MEDICAL COLLEGE
an männlichen und weiblichen Jugendlichen die These abgeleitet, dass bei männlichen Gehirnen eine stärkere Vernetzung innerhalb der zwei Hirnhälften, bei Frauen dagegen ein stärkerer Austausch zwischen den beiden Hälften stattfinde. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass Männer zielgerichteter denken und Frauen stärker im Multitasking seien. Die Untersuchung fand zunächst große Beachtung und viel Zustimmung, wurde aber bald durch Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, und seinem Mitarbeiter Jürgen Hänggi infrage gestellt: Sie zeigten, dass der Austausch innerhalb oder zwischen den Hirnhälften keine Frage des Geschlechts sei, sondern einzig von der Größe des Gehirns abhänge. In einem großen Gehirn fände bei Frauen genauso wie bei Männern wegen der größeren Distanzen mehr „regionale“ Vernetzung innerhalb der Hemisphären statt. Wissenschaftlerinnen versus Wissenschaftler Daphna Joel, Dozentin für Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität Tel Aviv, stellt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen infrage. Das Gehirn von Mann wie auch Frau bestehe aus einem Mosaik männlicher und weiblicher Anteile, es gebe durchaus empathiefähige Männer und Frauen mit guter räumlicher Vorstellungskraft und rationaler Veranlagung. Eine Studie von 2020, die unter der Leitung von Armin Raznahan, Vorstand der Abteilung für Entwicklungsneurogenomik am National Institute of Mental Health in Bethesda, durchgeführt wurde, postuliert hingegen stärkere Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Das Forschendenteam analysierte Hirnscans von knapp 1.000 erwachsenen Frauen und Männern und konzentrierte sich dabei auf das Volumen verschiedener Areale der grauen Hirnsubstanz in der Großhirnrinde. Im „Cortex“, wie sie im Fachterminus heißt, werden die Signale der Sinnesorgane und vorgeschalteten Hirnregionen verarbeitet; zudem ist er biologische Grundlage unseres Gedächtnisses. In der grauen Hirnsubs tanz, die mit Intelligenzleistungen, Motorik und Wahrnehmung in Verbindung gebracht wird, entdeckten die Wissenschaftler*inne stereotype Abweichungen: Bei Frauen ist es in Teilen des präfrontalen Cortex, im da rüberliegenden orbitofrontalen Cortex sowie in Teilen des Scheitel- und Schläfenhirns höher. Bei Männern ist die Hirnrinde dagegen im hinteren Teil des Gehirns dicker, darunter auch im primären Sehzentrum. Bezogen auf die Funktionen dieser unterschiedlichen Areale seien bei Männern die Objekterkennung und Verarbeitung von Gesichtern, bei Frauen die Impulskontrolle und Konflikt erarbeitung stärker ausgeprägt.
Mangelnde Forschung an Frauen ein Glück für sie? Nicht um unterschiedliche Denk- und Verhaltensweisen, sondern allein um die Gehirngesundheit geht es der US-amerikanischen Neurowissenschaftlerin Lisa Mosconi, Direktorin der Alzheimer’s Prevention Clinic am Weill Cornell Medical College, die in ihrem Buch „Das weibliche Gehirn“ massive Verbesserungen bei der Erforschung des weiblichen Gehirns einfordert. Jahrhundertelang sei Hirnforschung ausschließlich auf Männer zugeschnitten und über den Kamm geschert auch auf Frauen angewandt worden. Gerald Hüther, der sich in seinem Buch „Männer. Das schwache Geschlecht und sein Gehirn“ mit der Erforschung des männlichen Gehirns auseinandersetzt, kommentiert dieses Defizit sarkastisch: „Vielleicht war das ja auch ein Glück für die Frauen, angesichts all der fatalen Fehleinschätzungen, die diese Art von Hirnforschung hervorgebracht hat – und die sowohl für Männer wie auch für Frauen gelten sollten und angewandt wurden, aber für beide nicht zutrafen.“ Mosconi dagegen sieht in dieser Form von Ignoranz eine Unterdrückung, die nicht einmal den aggressiven Weg einer direkten Attacke geht: „Die Gesundheit des weiblichen Gehirns ist einer der am stärksten vernachlässigten Problembereiche, ein Gebiet, das aufgrund des auf Männer basierenden medizinischen Paradigmas ständig unter den Teppich gekehrt wird. Unter all den Dingen, mit denen eine Frau sich angeblich beschäftigen soll, spielt unser Gehirn seltsamerweise kaum eine Rolle.“ Laut Mosconi ist die Alzheimerdemenz zu einer massiven Bedrohung für Frauen geworden. Sie räumt mit der selbst von Mediziner*innen heute noch vertretenen Binsenweisheit auf, das liege hauptsächlich an der höheren Lebenserwartung von Frauen. Neuere populationsbasierte Studien zeigten, dass Männer bei der Lebenserwartung und Frauen bei der Nachahmung ungesunder männlicher Lebensgewohnheiten wie Rauchen aufgeholt haben. Großes Augenmerk widmet Mosconi der weiblichen Sensibilität gegenüber hormonellen Veränderungen. Denn Hormone seien gewissermaßen der Treibstoff für das Gehirn. Eine kritische Lebensphase nicht nur für das körperliche Wohlbefinden, sondern auch für die Versorgung des Gehirns sind somit die Wechseljahre. Daher geht Mosconi umfassend und differenziert auf Möglichkeiten und Risiken von Hormonersatztherapien ein. Ihr Fokus liegt auf der Vorbeugung. Mindestens ein Drittel aller Alzheimerfälle könnte durch einen gesünderen Lebensstil vermieden werden: Kein Nikotin, Alkohol in Maßen, Bewegung, ausreichend Schlaf, Reduktion von Stress. Und gesunde Ernährung, der die gebürtige Italienerin einen Abschnitt mit überwiegend mediterranen Rezepten widmet.
FOTO: ALLISON HOOBAN PHOTOGRAPHY 2017
Mangelnde Forschung beeinträchtigte bislang Erkenntnisse über das Gehirn der Frau
FOTO: SANDRA CALLIGARO
TITE LTH E M A : H EU R E KA 3/21 FALTER 21/21 13
Elizabeth/Kenia „Es ist ein Film über Bildung, weil 80 Prozent der Analphabeten Frauen sind, über Armut, weil 80 Prozent der ärmsten Menschen Frauen sind, und über Gerechtigkeit, weil vielerorts eine Frau nicht die gleichen Rechte wie ein Mann hat.“ Yann Arthus-Bertrand, www.woman-themovie.org
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Wie Östrogene das Gehirn verändern Es gibt wichtige Unterschiede bei der Wirkung von Medikamenten zwischen Männern und Frauen uch im Erwachsenenalter ist das Gehirn wandlungsfähiger, als man lange angenommen hat. So vergrößert sich bei Frauen jeden Monat parallel zum ansteigenden Östrogenspiegel vor dem Eisprung der Hippocampus, eine Gehirnregion, die für Gedächtnis, Stimmung und Emotionen wichtig ist. Auch nach der Geburt eines Kindes zeigen sich Unterschiede im Gehirn: Bei Frauen mit postpartaler Depression etwa bleiben bestimmte Enzymwerte für längere Zeit stark erhöht. Wie sich das weibliche Gehirn in Abhängigkeit von Geschlechtshormonen verändert, untersucht Julia Sacher. Die Psychiaterin leitet das EGG (Emotions & neuroimaGinG) Labor am Max-Planck-Institut und eine Spezialsprechstunde im Helios Park-Klinikum Leipzig.
INTERVIEW: CHRISTINA RADEMACHER
Frau Sacher, warum interessiert Sie speziell das weibliche Gehirn? Julia Sacher: Weil es wichtige Unterschiede bei Erkrankungen und bei der Wirkung von Medikamenten zwischen Männern und Frauen gibt, die wir noch nicht gut verstehen. Wir haben viel weniger Daten über die Körper und Gehirne von Frauen als von Männern. Wieso wurde das weibliche Gehirn in der Forschung vernachlässigt? Sacher: Das hängt unter anderem mit der Verteilung der Ressourcen zusammen. Auch heute noch sind es in erster Linie Männer, die die Forschungsfragen stellen und Forschung machen. Obwohl inzwischen deutlich mehr Frauen als Männer Medizin studieren, verlieren wir viele dieser Frauen nach der Postdoc-Phase. Bei entfristeten Professuren und Lebenszeitstellen, also bei Arbeitsverhältnissen, die es erlauben, langfristige Forschung zu planen, liegt der Frauenanteil nur bei etwa 23 Prozent. Welcher Methoden bedienen Sie sich? Sacher: Wir verwenden bildgebende Verfahren wie Magnet-Resonanz- oder Positronen-Emissions-Tomographie PET. Eine nuklearmedizinische Methode, die vor allem bei der Entwicklung von neuen Medikamenten bedeutsam ist: Wenn untersucht werden soll, ob ein Medikament das Gehirn erreicht und wo es dort wirkt, kann man das sichtbar machen, indem man die Substanz radioaktiv markiert. Wir sind damit nicht ausschließlich auf Tiermodelle wie Experimente mit Ratten angewiesen. Deren Menstruationszyklus dauert vier Tage und ist damit schlecht mit dem menschlichen vergleichbar. Aus den Tiermodellen wissen wir aber, dass Geschlechtshormone bei vielen Prozessen im Gehirn starke Modulatoren sind. Es gibt Vorgänge, die man mit PET sichtbar machen kann, zum Beispiel neurochemische Veränderungen in weiblichen Gehirnen innerhalb der ersten Woche nach einer Entbindung.
„Obwohl deutlich mehr Frauen als Männer Medizin studieren, verlieren wir viele der Frauen nach der PostdocPhase“ JULIA SACHER, MAX-PLANCK- INSTITUT LEIPZIG
Was für Veränderungen sind das? Sacher: Zum Beispiel verändert sich die Monoaminooxidase A, kurz MAO-A. Das ist ein Enzym im Gehirn, das die Mono amine, also Serotonin, Dopamin und Noradrenalin, abbaut. Deshalb gehören MAOA-Inhibitoren, die das Enzym hemmen und dafür sorgen, dass mehr Monoamine verfügbar sind, zu den am stärksten stimmungsaufhellend wirkenden Antidepressiva. Das Problem sind die Nebenwirkungen, zum Beispiel ein Anstieg des Blutdrucks. Aber wenn das Enzym nicht permanent und nicht im gesamten Körper, sondern nur im Gehirn gehemmt wird, sind diese Medikamente relativ gut verträglich. Tiermodelle zeigen einen Zusammenhang zwischen der MAO-A und Östrogen: Wenn Östrogen erhöht ist, sinkt das Enzym ab und umgekehrt. Nach einer Entbindung rutschen die Östrogenspiegel durch den Verlust der Plazenta innerhalb von wenigen Stunden um das 500- bis Tausendfache ab. Wir wollten daher untersuchen, ob sich dieser abrupte Abfall auf das Enzym auswirkt, und haben Frauen nur wenige Tage nach der Entbindung zu einem PET-Scan eingeladen. Bei all diesen Frauen war MAO-A im gesamten Gehirn um mehr als vierzig Prozent erhöht. Das heißt, dass diese Frauen wahrscheinlich nach der Entbindung in kurzer Zeit viele Monoamine verlieren, und das erklärt die Stimmungsschwankungen nach der Geburt ziemlich gut, zumal der Enzymspiegel am fünften Tag nach der Geburt, an dem das Stimmungstief besonders ausgeprägt ist, am höchsten war. Warum erkranken dann nur manche an einer Wochenbettdepression? Sacher: In einer Folgestudie haben wir gesunde und an Wochenbettdepression erkrankte Frauen bis zu einem Jahr nach der Entbindung untersucht. Bei gesunden sank das Enzym wieder in den Normalbereich ab. Patientinnen mit einer Wochenbettdepression hatten weiterhin relativ hohe MAO-ASpiegel, durch die es zu einem kontinuierlichen Monoamin-Verlust kommen kann. Wie kann man das verhindern? Sacher: Für stark Betroffene ist es wichtig, klinische Studien für MAO-A-Inhibitoren für das Krankheitsbild Wochenbettdepression auf den Weg zu bringen. MAO-A kann aber auch durch Lifestylefaktoren wie Rauchen, Stress oder Schlafverhalten beeinflu st werden. Nahrungsmittel wie Bananen, Blaubeeren oder Schokolade erhalten Vorstufen von Serotonin und können sich positiv auf die Stimmung auswirken, ebenso entsprechende Nahrungsergänzungsmittel, für die es erste spannende Befunde gibt. Sie haben beobachtet, dass es bei Frauen parallel zum Rhythmus des Östrogenspiegels Veränderungen im Gehirn gibt. Was genau passiert da?
Sacher: Wir haben eine Probandin über vier Zyklen untersucht und parallel zu den Schwankungen des Östrogens Veränderungen in der grauen und weißen Substanz des Hippocampus festgestellt. Zwar ist die MRT eine indirekte Methode, aber es gibt Tierbefunde, wonach Östrogen und Progesteron in sehr kurzer Zeit synaptische und den dritische Veränderungen, also Veränderungen an der Nervenzelle, die für die Signalübertragung wichtig sind, auslösen können. Umbauvorgänge im Gehirn können Anpassung bedeuten: Wenn die Anpassung gut funktioniert, ist es positiv; wenn überangepasst oder auf einen Reiz reagiert wird, der gar nicht mehr da ist, kann das negative Folgen haben. Das weibliche Gehirn reagiert auf Veränderung des Östrogenspiegels? Sacher: Das halten wir für wahrscheinlich: Die geschlechtshormonelle Umgebung kann wichtige Reize für Umbauvorgänge im Gehirn setzen. In diesem Zusammenhang ist es spannend, das Krankheitsbild der prämenstruellen Dysphorie, kurz PMDS, zu betrachten. Die Frau, die wir untersucht haben, hatte keine Probleme mit Depressionen, Müdigkeit oder anderen Symptomen vor der Periode – vielleicht sind also die Veränderungen im Gehirn das Gesunde und finden bei unseren Patientinnen gerade nicht statt? Um noch einmal zur Wochenbettdepression zurückzukehren: Das erste Medikament speziell für diese Erkrankung wurde letztes Jahr in den USA zugelassen und enthält einen Stoff, der wie ein Progesteron-Metabolit, also wie ein Stoffwechselprodukt von Progesteron, aussieht. Es wirkt im Gehirn auf GABA-A-Rezeptoren. GABA sind beruhigend wirkende Neurotransmitter. Welche Forschungsfragen stellen sich für die nächsten zehn Jahre? Sacher: Wir sollten besser erforschen, wie sich Lifestylefaktoren wie Schlafverhalten und unser Umgang mit Stress auf die Zeit nach der Geburt auswirken und was man in diesem Feld mit Nahrungsergänzungsmitteln bewirken kann. Die Zeit der Schwangerschaft und des Stillens sollte viel stärker ins Zentrum der Forschung gerückt werden. Mich interessieren auch die Interaktionen zwischen Geschlechtshormonen und Gehirn in den verschiedenen Lebensphasen. Es gibt geschlechtsspezifi che Unterschiede bei Erkrankungen, die auch abhängig vom Lebensalter sind. Von Depressionen sind Frauen doppelt so oft betroffen wie Männer, zumindest in jenem hormonell stark beeinflu sten Lebensabschnitt von Beginn der Pubertät bis zum Ende der Wechseljahre. Leider fehlen uns Daten für das mittlere Lebensalter. Wie viele Männer und Frauen zwischen 35 und 55 haben schon Zeit, an Studien teilzunehmen? Diese Daten bräuchten wir, um Demenzvorbeugung erforschen zu können.
FOTO: PHILIPP GUNZ
A
FOTO: JIM FREY
TITE LTH E M A : H EU R E KA 3/21 FALTER 21/21 15
Ehuana (Brasilien) kämpft für die Yanomani-Frauenbewegung. Das Volk der Yanomami lebt im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet zwischen Orinoco und Amazonas und ist die größte indigene Volksgruppe im Amazonas-Gebiet. www.woman-themovie.org
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Erst das Alter macht uns gleich Wenn Sexualhormone keine dominante Rolle mehr spielen, gleichen sich Frauen und Männer an lexandra Kautzky-Willer hat seit elf Jahren die erste Professur für Gendermedizin in Österreich inne und gilt als Pionierin in ihrem Fach. Sie ist Leiterin der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoff echsel & Gender Medicine Unit und Organisationseinheitsleiterin der Universitätsklinik für Innere Medizin III der MedUni Wien. Die Endokrinologin plädiert für nach Geschlechtern separiert durchgeführte Zulassungsstudien für Medikamente. Was bedeutet „Gendermedizin“ genau? Alexandra Kautzky-Willer: Es gibt das biologische Geschlecht, mehrheitlich männlich oder weiblich. Gendermedizin impliziert aber auch das soziale Geschlecht. Dabei spielen Bildung, soziales und kulturelles Milieu, Lebensstil etc. eine Rolle. Gendermedizin untersucht beide Bereiche auf Basis der unterschiedlichen Biologie von Mann und Frau. Sozialwissenschaftler*innen kritisieren gern das binäre Geschlechtermodell, auch uns geht es um „Diversity“, also um kulturelle Unterschiede und Gruppen mit sozialen Benachteiligungen. Es gibt auch Intersex und Graubereiche, allerdings haben wir für diese Gruppen derzeit keine validen Daten. Um das zu verbessern, sind wir am internationalen Data-Science-Projekt GOING-FWD Forward beteiligt, das zur Integration von Sex- und Genderanalysen in die Wissenschaft beitragen wird. Kanadische Kolleg*innen haben einen „Gender Score“ entwickelt, denn die Frage ist ja, wie misst man Gender? Das biologische Geschlecht ist messbar, aber wie ist das beim sozialen, einem Konglomerat aus vielen Faktoren? Wir haben mittels Gender Score das Risiko und den Verlauf von kardiovaskulären Erkrankungen untersucht und festgestellt, dass das soziale Geschlecht eine größere Rolle spielt als das biologische. Bei Letzterem sind Frauen klar im Vorteil, weil sie seltener und später erkranken. Aber im Gender-Bereich ist das anders, wenn Faktoren wie Haushaltsgröße, mentale Gesundheit, Stresslevel, Familienstand, Bildungslevel, Haushaltseinkommen etc. eine Rolle spielen, also Charakteristika, die eher mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Wie ist das bei Demenz? Kautzky-Willer: Das ist ein komplexes Thema mit vielen Thesen zum weiblichen Gehirn. Eindeutig ist nur dessen geringere Größe, sonst gibt es keine evidenten geschlechtsspezifi chen Unterschiede. Die Unterscheidung der Gehirne zweier Menschen ergibt sicher größere Diffe enzen, als sich nach geschlechtlichen Kriterien finden lassen. Eine These ist, dass es in weiblichen Gehirnen besonders viele neuronale Kontakte zwischen den Hemisphären gebe, bei Männern dagegen mehr Verknüpfungen innerhalb der Gehirnhälften. Aber das kann man alles auch kritisch hinterfragen.
TEXT: INTERVIEW: BARBARA FREITAG
„Das soziale Geschlecht spielt eine größere Rolle als das biologische“ ALEXANDRA KAUTZKY-WILLER, MEDUNI WIEN
ugespitzt könnte man sagen, da herrscht Z gerade Neurofeminismus gegen Neurosexis mus. Mich interessieren die Fakten und wie sie sich auf Patient*innen auswirken. Es ist richtig, dass Frauen öfter an Alzheimer erkranken als Männer. Warum, ist aber nicht geklärt. Männer erkranken eher an vaskulärer Demenz und Parkinson, aber es kann auch sein, dass die Symptome bei Männern und Frauen unterschiedlich sind. Möglicherweise werden Frauen aufgrund besserer Gedächtnis- und Verbalisierungsleistungen später diagnostiziert. Wir haben festgestellt, dass Frauen mit Diabetes ein größeres relatives Risiko als Männer haben, Parkinson zu entwickeln. Autismus und ADHS kommen bei Buben und Männern öfter vor, allerdings kann es auch hier sein, dass Mädchen nicht so gut diagnostiziert werden. Ernährungsstörungen, Essstörungen und psychische Erkrankungen betreffen deutlich mehr Mädchen und Frauen, Sucht erkrankungen dagegen mehr Männer. Das kann natürlich auch sozial bedingt sein, es ist ein schwieriger Diskurs. Ich persönlich glaube, dass sowohl die Geschlechtschromosomen als auch hormonelle Schwankungen eine Rolle spielen, etwa bei Alzheimer und Depressionen. Das Gehirn ist ein plastisches Organ und wir wissen, dass es sich durch Lernen und Üben verändert. Es gilt beides – der biologische und der sozial determinierte Unterschied. Frauen leiden mehr an Allergien, stimmt das? Kautzky-Willer: Interessanterweise erst ab der Pubertät, was zeigt, dass die Sexualhormone einen großen Einflu s haben müssen. Davor zeigen Buben öfter Reaktionen. Aber mit zunehmenden Jahren gleichen Männer und Frauen sich aneinander an, wenn die Sexualhormone keine dominante Rolle mehr spielen. Das Alter macht uns gleich. Das weibliche Immunsystem ist anders, und im Fall von Covid-19 haben Frauen sogar einen Vorteil. Es liegen mehr Männer auf den Intensivstationen, und Männer sterben um dreißig Prozent häufiger als Frauen daran. Testosteron begünstigt die Vermehrung des Enzyms, das den Coronaviren beim Eindringen in die Zellen hilft. Östrogen dagegen unterdrückt seine Vermehrung. Frauen haben wegen der zwei X-Chromosomen und der Sexualhormone ein stärkeres Immunsystem. Sie haben zumeist leichtere Verläufe und bilden besser Antikörper. Doch es gibt auch hier wieder einen Nachteil: Frauen haben öfter überschießende Immunreaktionen, also Autoimmunkrankheiten und etwa auch Nebenwirkungen bei Impfungen Sie sind seit elf Jahren Professorin für Gendermedizin. Was wurde besser? Kautzky-Willer: Die Forschung hat an Fahrt aufgenommen, es gibt internationale Kollaborationen, verbesserte Netzwerke, und der Wissenszuwachs ist in allen
Fachbereichen groß. Das Ziel ist aber, dass die Patient*innen aufgrund des Wissenszuwachses besser versorgt sind. Es wäre notwendig, alle Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin nochmals nach Geschlechtern getrennt zu überprüfen und zu evaluieren. Das ist nicht möglich, weil eine Erkenntnis auf der anderen aufbaut und dafür große Studien nötig wären, die nicht nochmals gemacht werden können. Aber man muss darauf schauen, dass neue medizinische Erkenntnisse in allen Studien das Geschlecht mitberücksichtigen und dass Frauen und Männer separiert untersucht werden. Das geben auch alle Fördergesellschaften und Arzneimittelbehörden bereits vor. Momentan geht vieles noch eher in die Richtung Gendermainstreaming, was auch wichtig ist, um die Karrieremöglichkeiten für Frauen zu verbessern. Aber es ist ebenso wichtig, die medizinischen Studien auf Sex und Gender hin genau anzuschauen, denn das ist noch nicht Standard. Es darf kein Medikament mehr für Männer und Frauen zugelassen werden, wenn es nicht für Männer und Frauen separiert getestet wurde. In jedem Beipacktext muss beschrieben sein, ob es geschlechtsbasierte Hinweise gibt oder nicht, ebenso für Schwangere, Stillende, prä- und postmenopausale Frauen. Leider beträgt der Frauenanteil in den Zulassungsstudien nur rund dreißig Prozent, was für so häufige Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen kontraproduktiv ist. Es müssen mehr Frauen motiviert werden, an Studien teilzunehmen. Ist die Gendermedizin bereits im Medizinstudium verankert? Kautzky-Willer: Absolvent*innen sind sensibilisiert und wissen, worum es geht. Wir unterrichten sowohl Gendermainstreaming als auch Gendermedizin. Es gibt Schwerpunktsetzungen wie in meinem Bereich der Endokrinologie und Stoff echselerkrankungen, der Kardiologie, und prinzipiell sollte das in jedem Fach vorkommen. Aber natürlich liegt es auch an den Lehrenden, wie weit sie individuell darauf eingehen. Wir haben auch eine Taskforce für Gender und Diversity, denn es geht auch um andere Formen der Diskriminierung, etwa das Alter oder Ethnien betreffend Wann wird Gendermedizin in den niedergelassenen Praxen angekommen sein? Kautzky-Willer: Praxisrelevant ist heute bereits, dass die Symptome eines Herzinfarkts bei Frauen anders sind als bei Männern und schwieriger diagnostizierbar. Oder dass zur Diagnose von Diabetes der Zuckerbelastungstest bei Frauen wichtiger ist als für Männer, weil deren Nüchternblutzucker raschere Hinweise ermöglicht. Auch, dass für Diabetikerinnen das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen höher ist, wissen Ärzt*innen und handeln danach. In fünf Jahren wird noch mehr angekommen sein.
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Maye/USA „Die Idee war, eine Balance zu finden zwischen Dingen, die alle Frauen betreffen, wie Liebe, Arbeit, Geld, und Benachteiligungen und Unterdrückungs mechanismen zu thematisieren. Die meisten hatten ein großes Bedürfnis, zu reden und gehört zu werden.“ Anastasia Mikova, www.woman-themovie.org
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Wo bleiben die Daten für Gendermedizin? Die anglophonen Länder sind vorn, den deutschsprachigen fehlen grundlegende Daten n allen OECD-Ländern sterben Männer durchschnittlich einige Jahre früher als Frauen. Sie wiederum leben häufiger mit chronischen Erkrankungen. Und auch überall sonst entdeckt man Unterschiede, wenn man hinschaut: bei Immunsystem, HerzKreislauf-System oder Fettstoff echsel. Der erste Fachbereich, in dem genderspezifi che Forschung bahnbrechende Erkenntnisse lieferte, war die Kardiologie. Wie sich zeigte, äußern sich Herzkrankheiten bei Frauen meist mit anderen Symptomen als bei Männern. Aufgrund dessen werden Herzinfarkte bei Frauen oft gar nicht oder erst zu spät erkannt. In Sachen Medikamentenverträglichkeit gibt es ebenfalls massive Diffe enzen zwischen den Geschlechtern. In vielen Fällen benötigen Frauen geringere Dosierungen. Zahlreiche Arzneimittel verursachen bei ihnen außerdem stärkere oder ganz andere Nebenwirkungen. Werden diese Medikamente trotzdem und möglicherweise auch noch in falscher Dosierung an Frauen verschrieben – was immer wieder geschieht –, kann das ernsthafte gesundheitliche Schäden zur Folge haben. Gesundheit als männliche Norm auch schlecht für Männer Die Gendermedizin hat ihre Wurzeln in der internationalen Frauengesundheitsbewegung, sie befasst sich aber nicht allein mit dem weiblichen Geschlecht. Wenn sich das Gesundheitswesen an einer männlichen Norm orientiert, geht das nicht allein auf Kosten der Frauen. „Wir haben auch bei den Männern eine Unterversorgung“, betont Gertraud Stadler, Professorin für Präventionsforschung und Leiterin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Charité, Berlin. Brustkrebs wird als frauentypische Erkrankung wahrgenommen und in Folge bei Männern immer wieder erst spät erkannt, was Behandlungs- und Überlebenschancen drastisch reduziert. Ähnliches gilt für Osteoporose, die, stereotyp als Krankheit menopausaler Frau verstanden, bei Männern selten rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wird. Ein brandaktuelles Beispiel für die Bedeutung des Faktors Geschlecht in der Medizin liefert auch die Corona-Pandemie: Männer sterben häufiger an Covid-19 und machen schwerere Krankheitsverläufe durch. „Frauen haben das stärkere Immunsystem. Bei fast allen Infektionskrankheiten besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Männer gefährdeter sind als Frauen“, erklärt Margarethe Hochleitner, Professorin für Medizin und Diversität und Direktorin der GE „Gender Medizin und Diversität“ der Medizinischen Universität Innsbruck. Eine gendersensible Medizin möchte auch in Sachen Männergesundheit Verbesserungen schafften. Trans- und Intersexualität sollen in Zukunft ebenfalls mehr Aufmerksamkeit erfahren.
TEXT: MARTINA NOTHNAGEL
„Im deutschsprachigen Raum gibt es keine Tradition, Daten zu Geschlecht und Diversität bei allen Studien routinemäßig zu erheben“ GERTRAUD STADLER, CHARITÉ, BERLIN
Zukunftsperspektive: Diverse Medizin für diverse Menschen Männlich, weiblich, inter- oder transsexuell: Das Geschlecht macht einen Unterschied, auch im Hinblick auf Krankheit und Gesundheit. „Die Einheitsmedizin für alle Menschen kann es nicht geben“, betont Hochleitner. „Wir müssen die Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit zur Kenntnis nehmen.“ Die Gendermedizin, oder geschlechtsspezifi che Medizin, trägt dieser Notwendigkeit Rechnung, indem sie Geschlecht stets als wesentlichen Faktor und grundlegende Diversitätsdimension berücksichtigt. Das gilt für sämtliche medizinische Bereiche, von der Forschung über die Lehre bis hin zur ärztlichen Praxis. Das biologische Geschlecht ist durch die Geschlechtschromosomen (XY beim Mann, XX bei der Frau) sowie die Sexualhormone (Testosteron bei Männern, Ös trogen und Progesteron bei Frauen) determiniert. Vor allem in der Zeit zwischen Pubertät und Menopause verursachen Letztere gravierende Diffe enzen zwischen Männern und Frauen. Darüber hinaus bezieht die geschlechtsspezifi che Medizin auch das soziale Geschlecht mit ein. Dieses soziale Geschlecht umfasst gesellschaftliche, psychische und kulturelle Faktoren, wie etwa soziale Rollen, Lebensumstände oder spezifi che psychosoziale Belastungen. Zugleich haben neben biologischem und sozialem Geschlecht auch andere Faktoren Einflu s auf Gesundheit und Krankheit der*des Einzelnen. Alter, Gewicht oder BMI können dabei eine ebenso große Rolle spielen wie die jeweiligen soziodemografischen Umstände. Diversitäts- und geschlechtersensible Medizin in Österreich „Das Ziel ist die optimale medizinische Versorgung und letztlich die bestmögliche Gesundheit aller“, erklärt Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender Medicine und Leiterin der Gender Medicine Unit der Medizinischen Universität Wien. Von Prävention über Diagnose und Therapie bis zur Rehabilitation soll eine medizinische Versorgung in gleicher Qualität und Quantität für beide (alle) Geschlechter gewährleistet werden. Der englischsprachige Raum – Großbritannien, Kanada und die USA – kann als Vorreiter in Sachen gender- und diversitätssensibler Medizin gelten. Auch in Österreich hat sich diesbezüglich mittlerweile einiges getan. Die Institutionalisierung der geschlechtsspezifi chen Medizin in der Lehre ist hierzulande vergleichsweise weit vorangeschritten. Österreich verfügt über zwei entsprechende Lehrstühle. Die Professur an den Universität Wien besteht seit 2010, jene an der Universität Innsbruck seit 2014. Das ist immerhin doppelt so viel wie in Deutschland, wo Gertraud Stadler als Professin für geschlechtersensible
räventionsforschung an der Charité UniP versitätsmedizin Berlin die einzige derartige Professur im Land innehat. „Was Gendermedizin an den Unis betrifft, war Österreich wirklich immer an vorderster Front“, konstatiert Hochleitner. In der Forschung ist die österreichische geschlechtsspezifi che Medizin ebenfalls aktiv und außerdem gut vernetzt in der internationalen Community. „Es geht schon viel weiter“, bestätigt Kautkzy-Willer, die ergänzend zu ihren anderen Positionen außerdem Präsidentin der International Society of Gender Medicine ist. „Aber zum Endziel, der besseren Versorgung, die tatsächlich bei den Patient*innen ankommt, ist es immer noch ein sehr weiter Weg.“ Für bessere Forschungen sind Datenerhebungen unerlässlich In Österreich mangelt es wie im gesamten deutschsprachigen Raum vor allem an Daten. Ohne geschlechterdiffe enzierte Daten kann es keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und damit auch keine Umsetzung einer effekti en gendersensiblen Medizin in die Praxis geben. „Im deutschsprachigen Raum gibt es diese Forschungstradition nicht, Daten zu Geschlecht und idealerweise noch weiteren Diversitätsdimensionen bei allen Studien routinemäßig mit zu erheben“, bedauert Stadler. In den USA und in Kanada ist die Erhebung geschlechtsspezifi cher Daten, unabhängig vom Fokus eines Forschungsprojektes, Voraussetzung für die Bewilligung von Forschungsförderungen. Eine verpflichtende Implementierung des Faktors Geschlecht in die Forschungsförderung würde auch hierzulande helfen, den enormen Data-Gap zu schließen. Außerdem braucht es viel mehr gezielt gendermedizinische Forschung – und als Voraussetzung dafür mehr Förderungen für entsprechende Studien. Aber auch die Pharmaindustrie sollte verstärkt dazu angehalten werden, geschlechtsspezifi ch zu forschen, damit mögliche Unterschiede in der Wirkung von Arzneimitteln besser erfasst und anschließend in Richtlinien und Beipacktexte aufgenommen werden können. Im Bereich der Lehre würde die verpflichtete Aufnahme des Faches Gendermedizin in die Curricula aller Universitäten dabei helfen, eine umfassende Anwendung einer geschlechtersensiblen Medizin in der ärztlichen Praxis sicherzustellen. „Ich wünsche mir, dass Geschlecht eine grundlegende Dimension unserer Arbeit wird, die in der Forschung und in der Praxis ganz selbstverständlich immer mitgedacht wird“, resümiert Stadler. Auch müssen andere Diversitätsdimensionen, wie die soziale Lage, vermehrt miteinbezogen werden: „Da sind wir noch ganz schlecht aufgestellt im deutschsprachigen Raum.“ Ganz ähnlich sieht das Hochleitner: „Wir brauchen eine Gendermedizin inklusive Diversitas, um allen Patient*innen bessere Angebote machen zu können.“
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Agnès Sadiki (Kongo) ist Provinzministerin für Verkehr und Kommunikationsmittel von Süd-Kivu. Im Film spricht sie davon, wie Männer in der Politik den wenigen weiblichen Kolleginnen das Mitbestimmen schwer machen, indem sie Sitzungen erst spätnachts ansetzen. www.woman-themovie.org
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Neues über das weibliche Gehirn – das Glossar JOCHEN STADLER
Bewusstsein Fähigkeit, sich selbst als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Bub Männlicher Mensch ohne abgeschlossene Pubertät. Denken Datenverarbeitung durch das Gehirn. Emotion Psychische Woge, die von inneren Zuständen oder äußeren Ereignissen ausgelöst wird. Empathie Fähigkeit, die Motive, Gedanken, Empfindungen und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen, und selbst nachzuempfinden. Wird Frauen häufiger nachgesagt als Männern. Empfindung Wenn Sinnesorgane etwas registrieren und daraufhin einen Reiz in das Gehirn schicken, wird er dort mit früheren Reizen verglichen, und es entsteht eine Empfindung Frau Weibliche geschlechtsreife Homo sapiens-Vertreterin. Zeichnet sich durch zwei X-Chromosomen aus. Gedächtnis Die Fähigkeit des Gehirns, Informationen zu speichern und später wieder abzurufen. Gehirn Denkorgan, mit dem Menschen mehr Bauchentscheidungen treffen, als sie zugeben. Gehirnfunktion Ein Gehirn verarbeitet Reize, die es von Sinnesorganen geschickt bekommt, und koordiniert komplexe Verhaltensweisen. Geschlecht Biologisches System, das Menschen anhand der Informationen auf ihren Geschlechtschromosomen zunächst zu Mädchen oder Buben und nach der Pubertät zu Frauen oder Männern macht. Geschlechterrollen Kulturelle und soziale Zuweisungen von gewissen Aufgaben und erwünschten Verhaltensweisen bei Frauen und Männern. Geschlechterstereotypen Engstirnige Zuschreibung von Eigenschafte und Veranlagungen nach dem biologischen Geschlecht, die selbsterfüllende Wirkungen zeigt. Geschlechtschromosomen Bestimmen bei Menschen und anderen Säugetieren, ob sie sich zu männlichen oder weiblichen Individuen entwickeln. Sie werden nach dem Zufallsprinzip vererbt. Geschlechtshormone Sind bei Frauen und Männern nicht exklusiv, aber in unterschiedlichen Mengen vorhanden und bewirken Unterschiedliches. Homo sapiens Der einzige derzeit auf der Erde lebende Vertreter der Menschenartigen. Alle anderen seiner nahen Verwandten sind unter seinem teils wohl kräftigen Zutun ausgestorben. Intuition Fähigkeit, das Gehirn komplexe Dinge verarbeiten zu lassen, ohne ihm ständig mit scheinbar rationalen Gedanken dreinzureden. Kognition Informationsverarbeitung im Gehirn und Vergleichen mit früheren Ereignissen. Sie umfasst von der Wahrnehmung über das Erinnern, Problem-
lösen, Planen bis zur Meinungsbildung viele verschiedene Vorgänge, die das menschliche Gehirn leistet. Konsolidierung Speichern von Sinneswahrnehmungen im Gedächtnis. Lernen Erwerb von motorischen oder geistigen Fähigkeiten durch das Gehirn. Kann absichtlich durch Büffeln und Trainieren oder unabsichtlich durch Spielen passieren. Mädchen Mensch ohne Y-Chromosom vor der Geschlechtsreife. Migräne Meist periodisch wiederkehrende halbseitige Kopfschmerzen mit zusätzlichen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, motorischen und Sprachausfällen, von denen Frauen dreimal öfter betroffen sind als Männer. Motivation Vom Gehirn gelenktes Handeln des Menschen, um ein Ziel zu erreichen. Zum Beispiel Erhalt und Vermehrung der Erbinformation durch Geschlechtsverkehr sowie Sicherstellen des Überlebens des Individuums durch Nährstoffzufuhr beim Dinieren. Psyche Summe aller geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich aus Veranlagungen und Erlebtem zusammensetzen. Psychiatrie Medizinische Fachdisziplin, die geistigen Störungen vorbeugt, sie diagnostiziert und behandelt. Psychologie Wissenschaft, die menschliches Erleben und Verhalten erforscht. Pubertät Geschlechtsreifeprozess, den Menschen irgendwann im zweiten Lebensjahrzehnt durchlaufen, welcher ihre Körper und Psychen massiv verändert. Sensibilität Hohe Aufnahmebereitschaft von Signalen aus der Umgebung. Sensitivität Hohe Aufnahmefähigkeit von Signalen aus der Umgebung. Sinneswahrnehmungen Werden im Gehirn verarbeitet, mit früheren Ereignissen verglichen und eingeordnet, bevor sie dem Menschen bewusst werden können. Vorurteil Vorschnell getroffene Einordnung einer Person nach viel zu simplen Kriterien, die meist später wider besseren Wissens nicht korrigiert wird. Wahrnehmung Der subjektive Eindruck, den sich das Gehirn aus Reizen, die von außen oder dem Körperinneren stammen, über die Umgebung und den eigenen Körper des Menschen zusammenrätselt. Weltwissen Das Bild, das ein menschliches Gehirn sich aufgrund von bisherigen Erfahrungen und Erlerntem von der Welt macht. X-Chromosom Vollwertiges Geschlechtschromosom, von dem Männer nur eines und Frauen in jeder Körperzelle zwei besitzen. Y-Chromosom Erbgutfutzel, der aus einem Menschen einen Bub und später einen Mann macht.
: F R E I H A N D B I B L I OT H E K BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA VON EMILY WALTON
Wie entsteht das „weibliche“ Gehirn?
Sind Gehirne von Männern und Frauen grundsätzlich unterschiedlich?
Buben spielen mit Autos, Mädchen mit Puppen; Männer sind besser im Lesen von Karten, Frauen im Lesen von Emotionen – irgendwie hat das etwas mit dem „männlichen“ bzw. „weiblichen“ Gehirn zu tun. Oder? Gina Rippon, Wissenschaftlerin an der Aston University in Birmingham, bestreitet das Konzept vom je nach Geschlecht unterschiedlichen Gehirn. Anhand neuer Erkenntnisse der Neurowissenschaft zeigt sie, dass es vielmehr die althergebrachten Stereotype sind, die unser Verhalten beeinflu sen – und schlussendlich auch unsere Gehirne.
Cordelia Fine, Professorin an der Universität Melbourne (Australien), befasst sich mit der Vorstellung vom „männlichen“ und „weiblichen“ Gehirn, wodurch vorprogrammiert sei, dass die Hälfte der Bevölkerung eher für Mathematik und die andere fürs Kochen geeignet sei. An Hand von Anekdoten und wissenschaftlichen Erkenntnissen zahlreicher Forschender legt Autorin Fine dar, dass die Gehirne von Männern und Frauen nicht grundsätzlich unterschiedlich sind – sondern von kulturellen und gesellschaftlichen Annahmen unterschiedlich geprägt werden.
The Gendered Brain: The New Neuroscience that Shatters the Myth of the Female Brain. Gina Rippon. Vintage Press. 448 S.
Delusions of Gender: How Our Minds, Society, and Neurosexism Create Diffe ence. Von Cordelia Fine. Norton & Company. 338 S.
Haben alle Gehirne weibliche und männliche Anteile?
Der kleine, feine Unterschied aus einer anderen Zeit
Jedes ist ein einmaliges Mosaik – und zwar unabhängig davon, ob es im Kopf einer Frau oder eines Mannes angesiedelt ist. Daphna Joel, Professorin an der Universität Tel Aviv, und Luba Vikhanski, Wissenschaft autorin am Weitzmann Institute in Rechovot (Israel), erklären anhand neuer wissenschaftliche Erkenntnisse, dass jedes Gehirn Eigenschaften hat, denen man das Attribut „weiblich“ oder „männlich“ zuschreiben würde, und dass die jeweilige Summe davon nicht in eindeutig zwei Kategorien, „weiblich“ oder „männlich“, einzuordnen ist.
Es gibt sie doch – die grundlegenden biologischen Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Gehirn. Diese Diffe enzen würden es den Geschlechtern auch unmöglich machen, identische emotionale oder intellektuelle Qualitäten zu haben. Davon waren Wissenschaftlerin Anne Moir, Absolventin der Universität Oxford, und der ehemalige TV- und Radio-Moderator David Jessel überzeugt. 1980 erschienen, gibt das Buch heute einen Einblick in Konzepte einer anderen Epoche – und hilft zu verstehen, wo manche Mythen herkommen.
Gender Mosaic: Beyond the Myth of the Male and Female Brain. Daphna Joel, Luba Vikhanski. Endeavour. 208 S.
Brain Sex: The Real Diffe ence Between Men and Women. Anne Moir, David Jessel. Citadel Press. 242 S.
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: VO N A B I S Z
FOTO: SANDRA CALLIGARO
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Sonjida/Bangladesch „Was uns am meisten beeindruckt hat, ist die unglaubliche Widerstandsfähigkeit der Frauen und ihre Fähigkeit, allen Widrigkeiten zu trotzen. Es scheint, als ob es in ihrer DNA läge, wie es eine von ihnen so treffend formuliert hat.“ Yann Arthus-Bertrand, www.woman-themovie.org
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Tanz der Geschichte Die Verbindung von Wissenschaft und Kunst ermöglicht ein neues Kunstwerk ien, 17. Juni 1945, kurz nach Kriegsende. Eine schwarz gekleidete Tänzerin auf einer Tribüne, die Arme in die Höhe gestreckt. Im Lauf ihres Tanzes hat sie eine um die Hüfte geschlungene Schärpe gelöst und in eine Fahne verwandelt. Im Hintergrund ist eine Menschenmenge erkennbar, Schilder mit Aufschriften wie „Nie wieder Dachau“, „Nie wieder Buchenwald“. Wissenschaft und Kunst schaffen neues Tanzstück Dieses Schwarz-Weiß-Foto hat die Wiener Tänzerin Eva-Maria Schaller zum Ausgangspunkt ihres Stückes „Recalling Her Dance“ gemacht. Szenen aus dem Leben von Hanna Berger, einer österreichischen Tänzerin und Kommunistin im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, werden mit deren Choreografien überschnitten. Ohne je in Agitprop zu verfallen, hat Schaller für jeden Tanz einen eigenen Zugang gefunden. Annähernd geometrische Bewegungen, die unter dröhnendem Maschinenlärm den Raum systematisch ausmessen, verwandeln sich schließlich in eine Kampfpose. Der Bühnenraum verengt sich auf ein schmales Lichtband, eine Anspielung auf die Gefängniszelle, in der Hanna Berger ihren „Kampfruf “ konzipiert hat. Stille – im Hintergrund verebbt das Kampfli d „Die Arbeiter von Wien“ als elektronisch verfremdete Erinnerung an eine ferne Vergangenheit. Die Revolution hat nicht stattgefunden. Die Premiere von „Recalling Her Dance“ sollte vor einem Jahr im Tanzquartier Wien stattfinden, die mehrfache lockdownbedingte Verschiebung hat Schallers Beschäfti ung
TEXT: ERICH KLEIN
Tanzkünstlerin Hanna Berger
mit Leben und Werk von Hanna Berger intensiviert: „Das Stück wurde zu meinem tagtäglichen Begleiter.“ Ihren Unmut über ständige Terminänderungen überwand sie, indem sie sich immer tiefer in Bergers Geschichte vergrub. „Mir wurden die inneren Anknüpfungspunkte für mein Stück erst allmählich klar, aber schließlich gab es den Moment, in dem Tanz selbst zu einer Art Politik wurde.“ Ausgangspunkt von Schallers „Recalling Her Dance“ war das penibel recherchierte Buch „Hanna Berger – Spuren einer Tänzerin im Widerstand“ der Wiener Tanzwissenschaftlerin Andrea Amort, Professorin an der Musik und Kunst Privat universität der Stadt Wien MUK. Hanna Berger, Tochter einer Arbeiterin aus Meidling, musste zur Ausbildung nach Deutschland, weil sie sich die Schule in Hellerau-Laxenburg nicht leisten konnte – die Schattenseite der damals internationalen Tanzmetropole Wien. Als freie Tänzerin fristete die Innovatorin des modernen Tanzes ein mühevolles Dasein, ihre Auftritte in Europa und Amerika fanden mit dem Heraufziehen des Nationalsozialismus ein Ende. Tänzer*innen, die für die Nazis tanzten, kritisierte Berger offen. Sie schloss sich dem Widerstand an, 1942 wurde sie verhaftet „Ich bin in Hanna Berger auf eine Frau gestoßen, die ihresgleichen sucht“, sagt Andrea Amort. „Nicht nur was Mut und Entschlossenheit im Künstlerischen betrifft Den Mut, den sie auch in politischer Weise an den Tag legte, würde ich gern heute sehen.“ Die Tanzhistorikerin hatte Eva-Maria Schaller mit der Rekonstruktion einer
Eva-Maria Schaller in „Recalling Her Dance“, einem Hanna Berger gewidmeten Tanz
Berger-Choreografie beauftragt, schließlich wurde aus der Zusammenarbeit von Wissenschafterin und Künstlerin ein selbstständiges Stück. An der künstlerischen Recherche beteiligten sich auch der Komponist Matthias Kranebitter, die Künstlerin Ellena Peytschinska und der Lichtdesigner Jan Wagner. Ist der Ausdruckstanz der Moderne noch brauchbar? Ausgehend von Bergers Auseinandersetzung mit Kriegsdarstellungen und Kino ästhetik entwickelte Eva-Maria Schaller einen dichten Bilderbogen, der mit einer für Tänzer prekären Situation beginnt: dem Fallen. Zentraler Teil von „Recalling Her Dance“ ist die Konfrontation der hochsymbolischen Choreografie „Die Unbekannte aus der Seine“ mit der Frage, ob Ausdruckstanz heute noch brauchbar sei. Dieses Stück hatte Hanna Berger während des Zweiten Weltkriegs als Antwort auf ihre Zeit konzipiert: Eine Frau in wallendem Seidenkleid irrt an einem imaginären Ufer herum, wirbelt voller Angst hin und her und entschließt sich zum Freitod in den Wellen. Claude Debussys begleitendes Klavierstück „Reflets dans l’eau“ wirkt im ersten Moment als Reaktion auf die NaziBarbarei abwegig, der Sinn des Ganzen erschließt sich erst aus Hanna Bergers einziger erhaltener Regieanweisung: „Sie hatte weniger Angst vor dem Tod als vor dem Weiterleben.“ Klassische Tanzmoderne in zeitgemäßer Tanzkunst Schaller übt Vorsicht, was den Gebrauch politischer Schlagwörter im PerformanceBereich betrifft, allzumal es in „Recalling Her Dance“ um eine historische Figur von äußerster Tragik geht. In ihrem Fall erwies sich die Geschichte, üblicherweise eine der Zerstörung und fortgesetzten Traumatisierung, als Glücksfall in einem speziellen Sinn. Hanna Berger überlebte ihre Gefängnishaft, kehrte 1945 nach Wien zurück und konnte den Tanz noch vor ihrem frühen Tod 1962 an eine Schülerin weitergeben. Von dieser wurde er an eine nächste und schließlich an Eva-Maria Schaller übertragen. Geschichte als ein weiterlebendes Lehrstück. „Dieser Tanz ist kein Artefakt wie in einem Museum. Er hat etwas Zeitloses. Alles passiert über den Körper. Ich muss in das Erleben hineingehen, und hier und jetzt tanzen.“ In „Recalling Her Dance“ ist nicht nur Hanna Berger als „große Tochter“ des Landes wiederzuentdecken, auch die klassische Tanzmoderne wird aus zeitgenössischer Tanzkunst wiedergeboren. Eva-Maria Schaller, „Recalling Her Dance – A choreographic encounter with Hanna Berger“, am 29. Mai als Videostream auf www.tqw.at und live bei ImPulsTanz am 31. Juli.
FOTOS: DEUTSCHES TANZARCHIV KÖLN, CHRISTOPHER MAVRIC/WWW.C-MAVRIC.AT (2)
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Z U G U TE R L E T Z T : H EU R E KA 3/21 FALTER 21/21 23
ERICH KLEIN
: WA S A M E N D E B L E I BT
Himmelwärts
Berger hatte in ihrem Tanz eine Schärpe gelöst und in eine Fahne verwandelt – Szene mit Eva-Maria Schaller
: G E D I C H T
W L A D I M I R N A B O KOW: AU S D E M G R AU E N N O R D E N
Der Schriftsteller Wladimir Nabokow (1899–1977) entstammte einer einflu sreichen Aristokratenfamilie, floh 1917 vor der Oktoberrevolution aus Russland und lebte ab 1940 in den USA. Als Romancier wurde er mit „Lolita“ (1955) berühmt, Nabokow war auch ein bedeutender Lyriker. Luga: Stadt im Gebiet Leningrad, Oredesch: Fluss, Batowo: Dorf im Gebiet Leningrad, das sich im Besitz der Nabokows befand, Roschestwenno: Nabokow verbrachte hier seine Kindheit, heute befindet sich dort ein Nabokow-Museum.
Die Bilder kamen aus dem grauen Norden. Leben hat nicht jeden Außenstand beglichen. Ein vertrauter Baum steigt aus dem Nebel. Die Chaussee nach Luga. Das Haus mit den Säulen. Der Oredesch. Bis heute würde ich aus jedem Winkel bis zu mir gelangen.
Der Knabe hält etwas in seiner Faust für die Badenden am Strand. Alles Mögliche – vom Stein in Violett bis zur mattgrünen Scherbe aus Glas – bringt er feierlich. Das ist Batowo. Das ist Roschestwenno. (MONTREUX, 1967)
: I M P R E SS U M Herausgeber: Armin Thurnher; Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Redaktion: Christian Zillner, Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Ewald Schreiber; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenle ung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenle ung/falter ständig abrufba .
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Beim Begräbnis von Fritz Wotruba im August 1975 machte eine Neuigkeit die Runde: Die Kirche am Georgenberg, über die seit Jahren diskutiert wurde, sei schon im Bau. Schon am nächsten Tag machten sich einige Architekten auf den Weg nach Liesing und fanden sich in ihrer bisherigen Ablehnung der Skulptur aus Betonblöcken, die so tat, als sei sie Architektur, sofort bestätigt. Noch vierzig Jahre später meinte Friedrich Achleitner, am besten sei die Wotruba-Kirche in unvollendetem Zustand ohne Decke gewesen. Ohne Zweifel stellt Wotrubas Versuch, von der menschlichen Figur über die Gestaltung von Bühnenräumen zum Entwurf einer modernen Kirche zu gelangen, auch eine kulturpolitisch bedeutende Manifestation jenseits ästhetischer Fragen dar. Im Zuge des Disputs über ein ursprünglich intendiertes Schweigekloster hatten sich eine parteiübergreifende Allianz von Kirche und Sozialdemokraten gebildet, die mit Wotruba, Österreichs einflu sreichstem Künstler, sich anschickte, eine „Kirche der Zukunft“ zu errichten. Die seit dem Bürgerkrieg 1934 bei Bedarf immer wieder aufb echende Lagerkonfrontation sollte und wollte überwunden werden. In einem Land, in dem seit dem Zweiten Weltkrieg mehr Kirchen gebaut wurden als in der ganzen vorangegangenen Geschichte, war Neues angebracht. An all diese Fragen wird in der Ausstellung des Belvedere 21 „WOTRUBA. Himmelwärts“ erinnert, bezeichnend aber, dass ein Detail aus dem Leben der Stifterin der Wotruba-Kirche, Margarethe Ottillinger, unterbleibt. Als junge Beamtin 1948 von den Sowjets verhafte und zu langer Lagerhaft verurteilt, wurde sie nach der Rückkehr aus dem Gulag zur vehementen Antikommunistin, später Vorstandsdirektorin der ÖMV. Märtyrertum vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte des Wiederaufbaus machte sie zur idealen Stifterin der Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit, die sich über einer ehemaligen Flak-Stellung des Zweiten Weltkriegs erhebt. Ein Blick ins österreichische Bibliotheksverzeichnis hätte genügt, um zu sehen, dass auch Margarethe Ottillingers Anfänge kritisch zu hinterfragen wären: Der Titel ihrer Dissertation aus dem Jahr 1941 lautet „Die Donau, Wasserstraße Großdeutschlands und Verkehrsweg nach dem Nahen Osten“. Was am Ende bleibt, ist immer eine Frage. Himmelwärts.
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