FALTER 21/23

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FA LTER

Da waren’s nur noch zwei

Pamela Rendi-Wagner hat die Mitgliederbefragung verloren. Jetzt kämp Andreas Babler gegen Hans Peter Doskozil um die Macht in der SPÖ und die Neuausrichtung der Partei

DIE WOCHENZEITUNG AUS WIEN NR. 21 / 23 – 24. MAI 2023 MIT 64 SEITEN FALTER : WOCHE ALLE KULTURVERANSTALTUNGEN IN WIEN UND ÖSTERREICH TERMINE VON 26.5. BIS 1.6. Falter mit Falter: Woche Falter Zeitschri en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG Retouren an Postfach 555, 1008 Wien laufende Nummer 2902/2023 € 5,50 21 9 004654 046682 ANZEIGE 12/11/23 Stehkonzert Tocotronic konzerthaus.at ILLUSTRATION: PM HOFFMANN

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Christian Reiter & Florian Klenk Foto: Christopher Mavrič
STAFFEL2
Mit freundlicher Unterstützung der

FALTER & MEINUNG

4 Leserbriefe

5 Armin Thurnher

6 Eva Konze , Katharina Kropshofer, Tessa Szyszkowitz

8 P. M. Lingens, Impressum

9 Isolde Charim, Melisa Erkurt

POLITIK

11 Die SPÖ-Mitgliederbefragung

bringt zwei Sieger und eine Verliererin

14 Wie staatlich organisierte Pushbacks

funktionieren

16 Die Wiener ExilIraner halten seit mehr als 240 Tagen ein Sit-in vor der UNO ab

17 Was denken Russen vom Ukraine-Krieg?

Eine Recherche an den Stränden Sri Lankas

20 Das politische Buch

21 Wissenscha

MEDIEN

23 Medienforscherin

Emily Bell über die Bedrohung des Silicon Valley für den Journalismus

FEUILLETON

26 Die Industriellenfamilie Mautner-Markhof und ihre Villen

30 Nachrufe auf

Dževad Karahasan und Martin Amis

31 Nachruf auf Helmut

Berger

32 Die Architekturbiennale in Venedig

34 Neuer

Dokumentarfilm von Laura Poitras

35

Festwochentagebuch

36 Feuilleton

Schlussseite

STADTLEBEN

42 Das Geschä um die Menstruation

45 Wie der englische Rasen die Welt eroberte

46 Grätzelrundgang am

Emmerich-Teuber-Platz

48 Wurstkultur beim Leitenbauer

49 Clafoutis mit Spargel

NATUR

51 Klaus Nüchtern

über famose Vögel

52 Ratespiel: Kennen

Sie diese Vögel?

KOLUMNEN

54–55 Phe bergs

Predigtdienst, Doris

Knecht, Heidi List, Fragen Sie Frau Andrea

Aus für Rendi-Wagner

Nach der umstrittenen SPÖMitgliederbefragung ist nur eines eindeutig: das alte ParteiEstablishment wurde abgewählt.

Nüchtern betrachtet Literaturkritiker und Falter-Vogelwart Klaus Nüchtern rezensiert Amsel, Drossel, Fink und Star –und präsentiert ein Vogel-Rätsel.

Köpfe der Woche Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Stefan Kaltenbrunner ist Chefredakteur des Nachrichtensenders Puls 24. Für den Falter hat er auf Sri Lanka Stimmen von Russen eingefangen. Und was sie eigentlich über den Krieg denken.

SEITE 17

Falter-Leser lieben Anna Goldenberg wegen ihrer regelmäßigen grandiosen Wissenscha sgeschichten. Dieses Mal haben Sie gleich zwei Mal das Vergnügen, von ihr zu lesen, und zwar auf

SEITE 21, 23

Silvia Ungersböck arbeitet als Künstlerin und Illustratorin in Wien. Sie bebilderte Klaus Nüchterns neues Buch „Famose Vögel“, ihre Illustrationen finden Sie auch im großen Falter-Vogel-Ratespiel.

SEITE 52

Errata Unsere Fehler

Ergänzung Im Falter 20/23 schrieben wir zum Fall Leonie, dass sie von zumindest einem Täter vergewaltigt wurde. Es wurden allerdings alle drei Täter wegen Vergewaltigung mit Todesfolge verurteilt.

Korrektur Im Falter 20/23 war zu lesen, dass die SPÖ im Burgenland mit der FPÖ koaliert – das tat sie bis 2020, in diesem Jahr erreichte sie mit Doskozil die absolute Mehrheit.

Ausbluten

Melanie Zemsauer verkau Periodenunterwäsche und Wohlfühltee. Das Business um die Menstruation boomt –nicht nur in ihrem Geschä .

Theater in der FALTER : WOCHE Schauspielerin Michaela Bilgeri und Regisseur Martin Gruber zum neuen Stück ihres stets leiwanden aktionstheater ensemble.

Nachrichten aus dem Inneren Wir über uns

Als am Montag um 5.06 Uhr die Sonne über Wien aufging, ahnte sie nicht, was sie anrichten würde. Nach Wochen des Dauernieselregens war die Falter-Redaktion auf den jähen Temperaturwechsel nur ungenügend vorbereitet. In der Redaktionssitzung zeigt sich die ganze Verzagtheit der Truppe. Einzig Naturbursch Benedikt Narodoslawsky hat mit einem kurzärmeligen T-Shirt den Sommerbeginn konsequent akzeptiert. Artdirector Dirk Merbach führt die Koalition der Zweifler an: Er hat sein langärmeliges Hemd schon lange vor der größten Mittagshitze raufgekrempelt. Eva Konze hustet noch recht winterlich und trägt ein Tuch mit Python-Print um den Körper geschlungen.

Auch Soraya Pechtl traut der Sache noch nicht so richtig und hat über dem Shirt eine lockere Strickweste an. FeuilletonRedakteur Ma hias Dusini hat seine dünne Bomberjacke bis ganz nach oben zugezippt. Barbara Tóth hat ein seidiges Übergangsmäntelchen, das sie nach dem Mittagessen im Büro liegenlässt. Modische mixed messages sendet Katharina Kropshofer aus: Die Kollegin aus dem Stadtleben kombiniert offene Sandalen mit einer Lederjacke. Sie schreibt in diesem He einen Kommentar über das Nicht-Erreichen des 1,5-Grad-Zieles. Ein Witz liegt in der Lu .

JOSEF REDL

Aus dem Verlag Neu und aktuell

TopoMap Schneeberg-Rax-Semmering Die neue Wanderkarte wurde an der Uni Wien am Institut für Geographie und Regionalforschung konzipiert. Die innovative Au ereitung stellt eine einzigartige, gänzlich neue, maßgeschneiderte Umsetzung im Maßstab 1:30.000 der Region dar. Für sichere Wanderungen. € 14,90, faltershop.at

INHALT WIR ÜBER UNS FALTER 21/23 3
PORTRÄT-FOTOS KOLUMNEN UND KOMMENTARE IM HEFT: KATHARINA GOSSOW;ILLUSTRATION: PM HOFFMANN; FOTOS: LEO SKORUPA, HERIBERT CORN (2)
51 42
11
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Post an den Falter

Wir bringen ausgewählte Leserbriefe groß und belohnen sie mit einem Geschenk aus dem Falter Verlag. Andere Briefe erscheinen gekürzt. Bitte geben Sie Ihre Adresse an. An: leserbriefe@falter.at, Fax: +43-1-53660-912 oder Post: 1010 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

Betrifft: „I want to ride my bicycle“ von D. Krenn, Falter 19/23

Ein schöner Artikel zum Thema „ÖAMTC macht Radkurse für Frauen“. Leider wurde nicht darüber berichtet, dass auch andere Radkurse dieser Art in Wien angeboten werden, die solche Publicity angesichts der mangelnden Finanzierung dringend brauchen würden.

Unsere Radfahrschule „FahrSicherRad“ bietet das Programm „FrauenInFahrt“ schon seit 2011 an, und damit nicht nur länger als der ÖAMTC – Frau Berangyi als Diversitätsmanagerin des Autoklubs hat im ersten Jahr ihrer sehr begrüßenswerten Initiative 2014 ihre Kurse von unserem Radlehrerinnen-Team durchführen lassen. In den Folgejahren leider nicht mehr, und auch die Finanzierung durch die Mo-

Unser Leser Alec Hager macht darauf aufmerksam, dass nicht nur der ÖAMTC Radkurse für Frauen anbietet

desselbigen gelang Benedikt Narodoslawsky. „Die Roten sind an allem schuld.“ Jetzt der SPÖ vorzuwerfen, sie blockiere wichtige Gesetze, ist lächerlich. Die Regierung ist seit Jahren nicht in der Lage, ein Klimaschutzgesetz oder das EWG vorzulegen, und jetzt soll die SPÖ daran schuld sein?

Der Autor möge mir erklären, warum die Forderung der SPÖ, Markteingriffe zur Bekämpfung der Teuerung vorzunehmen, eine schlechte ist. Stichwort Mietpreisbremse. Er möge mir dann auch noch erklären, warum die Roten, nachdem sie jahrelang von Schwürkis und Grün mit Spott und Hohn überschüttet wurden, Gewehr bei Fuß für die Schoitlregierung stehen müssen? Er möge mir weiterhin erklären, was die (fatale) Abwesenheit von SP-Abgeordneten bei der Selenskyj-Rede mit den Missständen der Klimapolitik der Regierung zu tun hat. Ehrlicher wäre es gewesen, gleich zu schreiben: Ich mag die SPÖ, ihre Vorsitzende und Rot überhaupt nicht.

GÜNTHER REISENAUER Wien 14

bilitätsagentur Wien kam uns abhanden, sie kommt nur mehr dem ÖAMTC zugute. Dennoch versuchen wir weiterhin über andere Förderschienen jedes Jahr Kurse anzubieten, die natürlich für die Teilnehmerinnen kostenlos sind. In Paris, Leuven und Brüssel existieren ganzjährige umfangreiche Angebote, die so schön Mobilität, Selbstermächtigung, Gesundheit und Integration vereinen – das müsste auch Wien schaffen.

MAG. ALEC HAGER Wien 2

Betrifft: „Raus aus dem roten Schmollwinkerl!“ von B. Narodoslawsky, Falter 20/23 Sie bezeichnen das Vorgehen der SPÖ, keine Zustimmung zu Gesetzen mit Zwei-DrittelMehrheit zu geben, solange die Regierung keinen Markteingriff vornimmt, der Preise senkt, als „trotzig“; außerdem sei „Schmollen keine politische Strategie“. Was Sie abwertend als „Schmollen“ framen, ist sehr wohl eine politische Strategie. Sogar eine, die parlamentarisch gebräuchlich und demokratiepolitisch legitim ist. Im Gegensatz zu den umfassenden Bestrebungen der rechten Parteien, die Demokratie mit pseudodemokratischen Mitteln abzuschaffen.

Einer Oberschicht, die nach neoliberalen Leitideen jede Krise dafür nutzt, ihren Reichtum und damit ihre Macht zu festigen, ist es egal, ob Natur oder Mensch ausgebeutet werden. Anstatt mit Verachtung Versuche zu diskreditieren, dem auch durch ökonomischen Druck vorhandenen Rechtsruck etwas entgegenzusetzen, anstatt einen Beitrag zum Linksbashing zu leisten oder ein parlamentarisches Druckmittel lächerlich zu machen, wäre es vielleicht konstruktiver, darauf hinzuwirken, dass die Sozialdemokratie mit ihren vernünftigen und humanen Grundsätzen wieder gehört wird.

KATHRIN RESETARITS Wien 2

Seinerzeit schrieb der geniale Friedrich Hollaender das Lied „Die Juden sind an allem schuld“. Die journalistische Abwandlung

Leserin Ruth Seliger kann dem Leitartikel von Armin Thurnher zu FPÖ-Chef Herbert Kickl voll zustimmen und ruft zu einem „öffentlichen Diskurs über Demokratie“ auf

Betrifft: „MAKSA – Make Kickl Small Again“ von A. Thurnher, Falter 20/23 Volle Zustimmung zum Leitartikel. Ein paar ergänzende Gedanken: Morbus Kickl ist nur ein Symptom einer Krankheit. Der Patient ist die Demokratie: Menschen erleben die geringe Lösungskompetenz demokratischer Regierungen angesichts der großen Krisen von Klimakatastrophe, steigender sozialer Ungleichheit und der Kriegslust autokratischer Macher. Demokratie erscheint als zu langsam, zu schwach gegenüber Konzernen und deren Lobbyisten. Es ist das Vertrauen in die Demokratie, ihre Institutionen, das einen Kickl produziert. Man könnte sagen: Bürgerinnen und Bürger sind besorgt um die Demokratie. Wir beschäftigen uns zu viel mit Kickl, anstatt über Demokratie zu reden, über ihre Weiterentwicklung, über bessere Möglichkeiten der Beteiligung, als alle paar Jahre die Stimme abzugeben (sic!). Was tun?

Am wichtigsten wäre ein öffentlicher Diskurs über Demokratie. Wie kann Demokratie schneller und effektiver werden, ohne den starken Mann herbeizuwünschen? Wie kann Beteiligung besser organisiert werden?

Über Kickl zu reden ist zu wenig.

Podcast & Falter-TV

www.falter.at/radio

Der Podcast mit Raimund Löw www.falter.tv

Bereits online Scheuba fragt nach… bei Johannes Wesemann. Florian Scheuba verrät, wie für Präsident Erdogan sein eigenes Zensur-Gesetz und für Sebastian Kurz seine Familienbande in der Inseratenaffäre zu Problemen werden könnten. Mit dem Umwelt-Aktivisten Wesemann spricht er über Selbsthilfe beim politischen Versagen im Kampf gegen den Bodenversiegelungs-Wahnsinn

Bezugnehmend auf denselben Kommentar stellt Leser Erwin Hemetsberger fest, dass Kickl schreiben, aber nicht reden kann

Der Text zum Bild von Kickl ist irrig und stimmig zugleich. „Reden kann er, der Kickl“ steht da zum einen. Nein, kann er nicht. Schreiben kann er. Seit Haiders Zeiten. War dieser Begründer des neu-rechten Markenkerns der FPÖ und Paintball-Ballermann Strache erster Profiteur einer scharfkantig rechten Positionierung, ist Kickl eben wirklich nur „begnadeter Trittbrettfahrer“. Hört man nämlich die Kickl’schen Tiraden, vorgetragen in seiner wehleidigen Art, mag man nicht glauben, dass man es mit einem radikalen Oppositionsführer zu tun hat.

„Warum kann das (reden) sonst kaum jemand?“, ist da noch zu lesen. Tja, weil die, die es könnten (neben eigenständig denken), von den Parteiapparaten vorsorglich ausgesiebt werden.

ERWIN HEMETSBERGER 3100 St. Pölten

Milo Rau, Peter Hacker, Laura Sachslehner, Muriel Asseburg

Antigone im Amazonas. Starregisseur Milo Rau verbindet die Tragödie des Sophokles mit den brasilianischen Kämpfen der Indigenen um Identität und Land. Erhellendes von Milo Rau, der 2024 die Wiener Festwochen übernehmen wird, im Gespräch mit Raimund Löw

Das Spitalsdesaster. Ursachen und Wirkungen. Zu hören sind der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) und Evelyn KölldorferLeitgeb (Gesundheitsverbund) im Gespräch mit Soraya Pechtl und Katharina Kropshofer

Donnerstag, 25. 5. 2023

Wie weit nach rechts driftet die ÖVP? Kickls FPÖ liegt in Umfragen vorn.

Türkis-Blau in drei Bundesländern erhöht die Sorge vor einer rechtsextremen Regierung in Wien. Zu Recht? Sie hören den ehemaligen EU-Kommissar Franz Fischler (ÖVP), die Wiener Gemeinderätin Laura Sachslehner (ÖVP), die linke Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl und Falter-Journalistin Barbara Tóth

Samstag, 27. 5. 2023

Die israelisch-palästinensische Eskalation. Wie die Regierung in Jerusalem die Annexion der Westbank betreibt und die Palästinenserbehörde implodiert. Eine Erklärung von Muriel Asseburg im Bruno Kreisky Forum

4 FALTER 21/23 AN UND ÜBER UNS
Der Autor leitet die Radfahrschule FahrSicherRad.at
Der Falter Auf allen Kanälen
R adi o DER PODCAST MIT RAIMUND LÖW
FALTER
FOTOS: APA/BARBARA GINDL, APA/HERBERT NEUBAUER, JVP, SWP, PETER PROVAZNIK

Seinesgleichen geschieht Der Kommentar des Herausgebers

SPÖ: Vorwärts in die Katastrophe? Nur, wenn man’s glaubt.

Das Ergebnis der SPÖ-Mitgliederbefragung ist seit Montagabend bekannt, der burgenländische Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil gewann mit knappem Vorsprung, er erhielt 33,7 der Stimmen. 31,5 Prozent erreichte der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler, die amtierende Parteichefin Pamela Rendi-Wagner erhielt 31,4 Prozent. Die vierte Option, keiner der drei, kam gerade einmal auf 3,5 Prozent der Stimmen.

Wer sich ein klares Ergebnis erwartet hätte, etwa 50 Prozent oder mehr für einen der Kandidaten (oder die Kandidatin), der wurde enttäuscht. Der Chor der politischen Beobachter, der Politikberater und sonstigen Meinungshaberer war sich gleich einig: das ist der Super-GAU, das ist der blanke Horror, der Worst Case und was sonst noch so alles an freundlichen Deutungen zu hören war.

Ich glaube tatsächlich, dass das Dauerdebakel der österreichischen Innenpolitik auch in der Art begründet ist, wie medial über sie gesprochen wird. Das Niveau senkt sich wechselseitig. Fesser Filzmaier setzte mit seinem Spruch über Babler als „bisschen hochstilisierter Pseudoheldheld auf Lokalveranstaltungen und auch in der Wiener Twitterblase“ ein Tiefpünktchen. So ist sie halt, unsere Politikberaterblase. Wer stilisiert sie wieder hinauf?

Aber das hat außer dem beabsichtigten Unterhaltungswert nichts zu bedeuten. Die Charakterisierung der SPÖWahlshow war allseits durch und durch zutreffend, vom Heckenschützen Doskozil bis zu den papiertigerhaften Granden, die für Rendi-Wagner eintraten, und bis zum ohnmächtigen Machtzentrum der Wiener Partei.

Man fragt sich nur, warum solch kommentierende Energie nicht bei den katastrophalen Darbietungen der Regierung aufgeboten wird, bei den vollkommen unzumutbaren Exzessen des Herbert Kickl und seiner Adepten oder bei jenen, die mit ihm koalieren.

Ich kann im Prozess der Vorsitzendenfindung der SPÖ kein Debakel erkennen. Der Wahlmodus war ungeschickt, aber das bisherige Parteimanagement, gewiss eine Ursache vieler Übel, wurde zumindest abgewählt. Ein Vorsitzender braucht 50 Prozent, und ob er sie erreicht, indem Andreas Babler zurücksteckt oder die offene Auseinandersetzung auf dem Parteitag sucht, wird sich zeigen. Katastrophen sehen anders aus.

Es wäre allerdings ganz gut, würde sich die Diskussion über das Niveau von „Seitenblicke“ und anderen Klatschsendungen zu erheben versuchen. Dann ließe sich erkennen, dass eine öffentliche Auseinandersetzung um die Ziele einer Partei dieser keineswegs schaden muss.

Die erste Frage, die sich im Zusammenhang mit der Sozialdemokratie stellt, lautet doch: Ist sie imstande, 30 Prozent zu erzielen und damit eine Ampel möglich zu machen? Nur so ist das unbedingt notwendige Ziel erreichbar, nicht nur die FPÖ von der Macht fernzuhalten, sondern vor allem die ÖVP endlich aus der Regierung zu bekommen und die fatalen Kontinuitäten aufzubrechen, die zum Beispiel in einem ewig schwürkisen Innenministerium bestehen.

Ich nehme ja an, dass die Leidenschaft der Kommentatorinnen sich daraus ableitet, das sie ebenfalls diese Ziele über

ARMIN THURNHER ist Mitbegründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter

Die Wahl des SPÖVorsitzenden ist gelaufen, aber nicht zu Ende. Das ist keine Katastrophe, sondern eine Chance

alles stellen und deshalb mit der SPÖ weit unbarmherziger umspringen als mit ÖVP und FPÖ. Sie denken gewiss daran, dass bei einer schwarzblauen Regierung das Justizministerium die interessanten Untersuchungen der Wirtschaftsund Korruptionsstaatsanwaltschaft abrupt stoppen würde. Und sie sehen eine Renaissance eines neu formierten Sozialstaats, eine Besteuerung von Vermögen und ein Einhegen des Neoliberalismus auf europäischer Ebene gewiss als vorrangige Ziele an.

Wird jetzt Ruhe einkehren? Ich setze auf Unruhe, weiterhin. Ruhe hat seit Faymann in der SPÖ geherrscht, Grabesruhe. Ich halte es für eine gute Idee, wenn Hans-Peter Doskozil und Andreas Babler sich nach dieser keineswegs endgültig und klar aussehenden Abstimmung miteinander einigen, aber das muss nicht sein. Unklar ist das Abstimmungsergebnis, weil niemand weiß, wie sich die Rendi-Wagner-Stimmen verteilen würden; nicht aus Ressentiment, wie das die „Beobachter“ gleich wieder unterstellen, sondern aus politischer Neigung. Ich halte es für eine noch bessere Idee, wenn die beiden öffentlich eine Auseinandersetzung über die politischen Prinzipien der SPÖ führen, und zwar unter Berücksichtigung der oben erwähnten zentralen Frage. Daran hat es bisher gefehlt.

Ich bin im Vorfeld dieser Abstimmung nicht in die SPÖ eingetreten, war noch niemals in einer Partei. Halte aber eines für bemerkenswert: sowohl Babler als auch Doskozil gehören beide in keiner Weise zum Lager der Kapitalversteher, aus denen sich sozialdemokratisches Spitzenpersonal in den letzten Jahrzehnten vorzugsweise rekrutierte.

SPÖWahlsieger: Andreas Babler …

… und HansPeter Doskozil. Aber es ist noch nicht vorbei.

Pamela Rendi-Wagner gehörte indirekt dazu. Sie vermochte es jedenfalls nicht, eine Alternative zu personifizieren, da ihr im Kern politische Leidenschaft fehlte. Das ist wirklich bedauerlich, da eine kluge, toughe Frau an der Spitze kein Nachteil sein sollte, sondern ein Asset sein müsste. Schade. Sie wurde auch ein Opfer ihrer Annahme, mit der alten, längst hohl gewordenen Parteimacht durchzukommen. Politische Leidenschaft haben sowohl Babler als auch Doskozil. Man wird ihre jeweiligen Fähigkeiten bewerten müssen. Doskozil ist als Stimmenbringer vermutlich ein besserer Spitzenkandidat als Babler. Babler wiederum wäre vermutlich ein besserer Parteichef, denn die Partei ist trotz relativ hoher Beteiligung an dieser Abstimmung zumindest scheintot. Sie ist zum bloßen Wahlverein verkommen, das ist Teil ihres Problems.

Die Chance der Stunde bestünde darin, diese Partei mit neuem Leben zu erfüllen. Die FPÖ hat es seit Haider verstanden, die Empörten und Abgehängten persönlich anzusprechen und zu motivieren; die ÖVP ist die Bürgermeisterpartei und hat auf diese Weise ihre Hebel. Die SPÖ hat den direkten Kontakt zu ihrer Basis weitgehend verloren; Babler zeigt in seiner Heimatstadt unter schwierigen Bedingungen, dass ein solcher Kontakt doch möglich ist.

Der Autor digital: Tägliche Seuchenkolumne: falter.at Twitter: @arminthurnher @thurnher@mastodon.social

Außerdem hat er (wie John F. Kennedy oder Barack Obama) das Überraschungsmoment des unbeschriebenen Newcomers auf seiner Seite; aber das sind Vermutungen. Für Doskozil sprechen die Umfragen. Viele Fragen offen, tragt sie offen aus!

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FOTOS: IRENA ROSC, APA/GERT EGGENBERGER, APA/TOBIAS STEINMAURER

Vom Schützen und Nützen der Daten

Seit Jahren klicken wir wegen der DSGVO die Cookies weg. Doch das ist nicht ihr größtes Problem. Eine kritische Würdigung zum fünften Geburtstag

KOMMENTAR: EVA KONZETT

J a tatsächlich, sie nervt mitunter. Zum Beispiel dann, wenn man zum 100. Mal aufgefordert wird, die Cookies zu akzeptieren, nur um eine Webseite zu öffnen. Oder wenn die Friseurin ihre kleine Promo-Webseite selbst datenschutzkonform aufsetzen muss und ihr das nicht wie beim großen Konzern die Inhouse-Anwälte abnehmen. Die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) kommt im Alltag der Menschen vor allem als Mühsal vor. Am 25. Mai 2018 trat die DSGVO in Kraft. Sie feiert diese Woche ihren fünften Geburtstag. Ihr Ruf als alltagsfernes Bürokratiemonster lässt mitunter aber vergessen, dass die DSGVO mit einer einfachen Feststellung eigentlich Großes geleistet hat: dass Daten ein immanenter Teil der Privatsphäre der Menschen sind. Dass man sie deshalb schützen muss. Auch im digitalen Raum. Weil Europa der weltweit kaufkräftigste Binnenmarkt ist, konnte der von den EUStaaten eingeforderte vorsichtige Umgang mit den persönlichen Daten von Internetusern tatsächlich über die europäischen Grenzen hinaus wirken. Und weil Unternehmen ihre Produkte nicht in unterschiedlichen Versionen für verschiedene Weltteile aufsetzen wollten und sich sodann an den strengsten, den europäischen, Kriterien orientierten. Sogar der US-amerikanische Bundesstaat Kalifornien hat seinen Datenschutz an das europäische Modell angelehnt. Das ist ein Erfolg der DSGVO. Darauf ist die EU stolz. So stolz, dass man diese Geschichte derzeit ständig hört, wenn man sich in Brüssel wegen einer anderen technischen Frage umhört: Jener nach der Regulierung der neuen Systeme der

Ausland Die Welt-Kolumne

Energie- und Zeitenwende:

Habeck unter Höchstdruck

G erade noch war er der Liebling der deutschen Politik, jetzt steht er unter Beschuss: Robert Habeck, Wirtschaftsminister und Vizekanzler Deutschlands, sieht zerzaust aus. Wurde Bundeskanzler Olaf Scholz zu Beginn der deutschen Ampelregierung aus SPD, FDP und den Grünen als Zögerer gesehen, war Habeck als Macher beliebt. Jetzt aber werden dem 53-jährigen Grünen-Star Fehler in der Personal-

künstlichen Intelligenz. Da werden kundige EU-Beamte nicht müde, auf die DSGVO als Vorbild zu verweisen, wenn man den impact der derzeit entstehenden gesetzlichen Einbettung von ChatGPT und Co skizzieren will. Gerade hat sich das EU-Parlament auf einen Verordnungstext für den AI Act geeinigt. Er soll noch vor den EU-Wahlen im Frühjahr 2024 verabschiedet werden. Angesichts des rasanten Fortschritts bei den Systemen der neuen Generation, der sogenannten generativen KI (sie kann Aufträge selbstständig abarbeiten), käme die Regulierung keinen Tag zu früh. Vor allem, weil das Ganze ebenfalls der neue „Goldstandard“ für den Umgang mit KI werden soll – zumindest wenn man den EU-Beamten glaubt.

Die Europäer sind nicht ganz ehrlich zu sich selbst. Sam Altman ist nicht ganz ehrlich zu den anderen

In den USA muss KI-Tausendsassa Sam Altman da noch bei einer Anhörung vor dem Kongress darum bitten, ihm und seiner Branche doch endlich Zügel anzulegen. Es war Altmans Unternehmen OpenAI, das im Herbst den Chatbot ChatGPT (längst GPT-4 fortfolgend) herausbrachte und so ein Fenster in die Zukunft öffnete, wo sehr potente Systeme der künstlichen Intelligenz niederschwellig angeboten werden. Für den Hausgebrauch. Und für die Hasardeure.

Es war schon einigermaßen überraschend, wie Altman die Congressmen förmlich anbettelte, seine Branche in Gesetze zu zwängen. Unternehmenschefs waren ja immer eher die, die im Hintergrund versucht haben, den Regulierungsball flach zu halten.

Doch weder die Europäer mit ihrem Wunsch nach durchgreifenden Gesetzen noch Altman in seiner devoten Haltung dem Gesetzgeber gegenüber sind ganz ehr-

lich. Die einen nicht mit sich selbst, der anderen den anderen gegenüber nicht.

In Brüssel kann man nur schwer davon ablenken, dass es beim Thema KI in Europa eigentlich wenig zum Regulieren gibt. Die großen Tech-Konzerne sitzen in Übersee. Derzeit stehen 75 Prozent der großen Large Language Models, die mit Billionen Daten gefütterten neuronalen Netzwerke hinter den modernen KI-Systemen, in den USA, 15 Prozent in China. Kaum eines in Europa. Anders als der Datenschutz muss die Gesetzgebung bei Produkten der künstlichen Intelligenz schon beim Aufbau des Systems selbst ansetzen, sie muss die Methodik der Datenfütterung dieser Systeme klären (etwa: woher kommen die Daten, wie werden sie gewichtet?). Nicht nur bei der späteren Verbreitung darauf achten, dass diese nicht zu gierig sind (gerade wurde die Facebook-Mutter Meta zu einer Milliardenstrafe verdonnert).

Und wenn Altman eine staatliche Lizenzvergabe für KI-Produzenten fordert, meint er damit vor allem eine Lizenz für sein Unternehmen. Dieses droht nämlich von agilen und schwer fassbaren OpenSource-Lösungen ausgebremst zu werden. Solche auf den Codes großer Anbieter aufbauende kostenlose Anwendungen würden gerade wie Süßigkeiten aus einer Piñata fallen, schreibt die amerikanische Technik-Eliteschmiede MIT.

Die Sache mit der Regulierung ist also die: Sie droht, vom Fortschritt überrollt zu werden. In Europa könnte ausgerechnet die DSGVO dazu beitragen. Ihr Konzept stammt noch aus der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Damals ging es darum, personenbezogene Daten vor dem Missbrauch neuer Technologien (Stichwort Social Media) zu schützen. Heute sind Daten der Grundstein der Innovation. Die DSGVO hat keine Antwort darauf, wie sie für die Forschung und Entwicklung sinnvoll eingesetzt werden können. Und ganz ehrlich: Wer hat sich jemals die Allgemeinen Geschäftsbedingungen durchgelesen, bevor er die Cookie-Aufklärung weggeklickt hat?

politik und Chaos bei der Energiewende vorgeworfen.

Die „Trauzeugenaffäre“ ist für Habeck sehr schmerzhaft. Am vergangenen Mittwoch musste er seinen Staatssekretär Patrick Graichen feuern. Der geschätzte Experte für die Energiewende hatte Habeck entscheidend dabei geholfen, Deutschland von russischen Gaslieferungen abzunabeln und gut durch den ersten Kriegswinter zu bekommen.

Leider hatte Graichen auch seine Hände im Spiel, als Michael Schäfer zum Geschäftsführer der bundeseigenen Deutschen Energieagentur DENA bestellt wurde. Der war durchaus befugt. Aber er war auch Graichens Trauzeuge. Im Zuge einer internen Untersuchung musste Habeck dann feststellen, dass Graichen auch ein Projekt der Umweltorganisation BUND für förderwürdig eingestuft hatte. 600.000 Euro sollten

fließen. Im Vorstand saß Graichens Schwester Verena. Diese Fehler sind schlimm. Und Habeck hat zu lange an seinem Staatssekretär festgehalten. Grüne dürfen sich Freunderlwirtschaft genauso wenig erlauben wie alle anderen.

Habeck hielt aber nicht nur aus Freundschaft an Graichen fest. Er weiß auch, wie schwer es für ihn und die Grünen wird, die Wärmewende in Deutschland durchzusetzen. Die FDP hat Graichens Abgang sofort dazu benutzt, um eine Verschiebung des geplanten Heizungsgesetzes zu fordern. Im angepassten Gebäudeenergiegesetz GEG sollen in Neubauten nach 2024 keine Gasheizungen mehr eingebaut werden – alte bleiben aber bestehen und können auch repariert werden. Ersetzt werden sollen sie durch Wärmepumpen. Das ist teuer, aber Habeck hält es für machbar. Volle Kraft voraus für erneuerbare Energien hieße das.

6 FALTER 21/23 MEINUNG
Die Autorin leitet das Politikressort im Falter Tessa Szyszkowitz kommentiert an dieser Stelle das Weltgeschehen
TESSA SZYSZKOWITZ

Am Wochenende fanden in Belgrad die größten Massenproteste seit dem Sturz des Autokraten Slobodan Milošević im Oktober 2000 statt. Zehntausende zogen im Protest gegen die ausufernde Gewalt ins Land

DER TAGESSPIEGEL ÜBER DEMOS, DIE SICH GEGEN DEN SERBISCHEN PRÄSIDENTEN ALEKSANDAR VUČIĆ RICHTEN

Nicht nur die deutsche Energiewende aber droht jetzt auf halbem Weg steckenzubleiben, weil der Personalskandal Habeck schwächt. Auch die Zeitenwende braucht den grünen Vizekanzler. SPD-Kanzler Olaf Scholz schlägt sich wacker, die deutsche Gesellschaft auf dem Weg in eine neue Zeit mitzunehmen. Scholz hat längst verstanden, dass es auch ganz stark an Deutschland hängt, ob die Ukraine den Krieg verliert, den Russland ihr aufgezwungen hat. Die beim G7-Gipfel in Hiroshima angekündigte Kampfjet-Kooperation der USA, der Niederlande, Frankreichs und Belgiens muss Scholz nicht mitmachen, weil Deutschland keine F-16s hat. Aber die deutsche Regierung hat soeben die Militärhilfe für die Ukraine um 2,7 Milliarden Euro auf etwa sechs Milliarden aufgestockt. Deutschland ist in der EU längst der größte Helfer in der ukrainischen Not.

Kommentar Klimajorunalismus

Sind wir gut genug? Medien in der Klimakrise

Sie mussten Fischer um ihre Hochwasserhosen bitten. So wateten die Bauern zwischen zehn Millionen geschädigten Obstbäumen. Die Überschwemmungen in der norditalienischen Region Emilia-Romagna sind nicht nur Vorboten der Klimakrise: sie zeigen, dass wir mitten in ihr stecken. Auch in Europa. Auch im Mai.

Doch eine Vielzahl österreichischer Artikel erwähnte den Zusammenhang zwischen höheren Temperaturen und der Wahrscheinlichkeit für Extremwetterevents nicht. Nicht weil sie nicht verstanden hätten, dass der Klimawandel real ist, sondern weil er in seiner Dringlichkeit noch nicht sichtbar gemacht wird.

Eigentlich kann der Klimajournalismus gerade viele Erfolge vermelden: Selbst das Boulevardblatt Heute hat ein Klimaressort, die APA eine Klimakoordinatorin, an der FH Joanneum startet ein Master für Klimajournalismus. Wie kann es also sein, dass der Ex-Medienmanager Wolfgang Blau, der an der Oxford University zum Thema forscht, Klimajournalismus weiterhin als „größte Herausforderung der Medienbranche“ bezeichnet?

Blau befragte auch Leiter von Medienunternehmen. Keiner wusste, ob sein Publikum auch nötiges Basiswissen über die Klimakrise hatte. In Österreich übernahm diese Frage das Gallup Institut: In einer Studie aus 2022 fühlten sich nur 47 Prozent der Menschen sehr gut oder gut über den Klimawandel informiert.

Dabei geht es nicht nur um Quantität. Zum Beispiel Mittwoch, 17. Mai, die Weltwetterorganisation vermeldet, dass die 1,5-Grad-Grenze wohl schon innerhalb der nächsten fünf Jahre über-

Dass Scholz den Rücken frei hat, diese Entscheidungen in der politisch sensiblen Stimmung in der eigenen Partei durchzusetzen, liegt auch an Robert Habeck. Gemeinsam mit Annalena Baerbock haben die grünen Regierungsmitglieder eine pro-ukrainische, aktive Politik gefordert und betrieben. Einige Monate lang sah es sogar so aus, als trieben sie Scholz vor sich her. Etwa als Scholz Anfang dieses Jahres noch zögerte, der Lieferung von Leopard-Kampfpanzern zuzustimmen.

Deutschland ist diese Politik gegenüber der Ukraine bisher gut bekommen. Die Regierungsparteien ziehen mit der Oppositionspartei CDU an einem Strang. Auf Europa wirkt die deutsche Zeitenwende ebenfalls einigend.

Um all das nicht zu gefährden, muss Robert Habeck sofort aus der Grube klettern, die Graichen ihm gegraben hat. Nicht

schritten wird. Die Nachricht schafft es in viele Zeitungen, doch meist ohne Erklärung, welch gravierenden Unterschied eine Erderwärmung von 1,5 oder zwei Grad ausmacht – laut Blau Teil elementarer Klimabildung jedes Journalisten. Stattdessen schickte die New York Times am selben Tag nur eine Breaking-News-Nachricht: Prince Harry wurde in New York von Paparazzi verfolgt.

Wer sich der Dringlichkeit der Klimakrise bewusst wird, redet viel öfter darüber, übt auch eher Druck auf die

Die Redakteurin ist Mitgründerin des Netzwerks Klimajournalismus Österreich

Politik aus. Das sah man, als rund 100 Österreicher repräsentativ für den Klimarat ausgewählt wurden: Die prominentesten Klimaforscher des Landes unterrichteten sie, dann arbeiteten sie Forderungen an die Politik aus. Alle wollten strengere Maßnahmen.

Journalismus ist also eine Chance: Wollen wir die Klimakrise adäquat abbilden, müssen wir über sie berichten, wie wir es bei der Corona-Pandemie getan haben. Wir müssten, wenn sie relevant sind, Verbindungen betonen, Politiker stärker mit notwendigen Umwälzungen und ihrem Ausbleiben konfrontieren, die Klimakrise als Dimension analog zu Menschenrechten verstehen. Und vor allem auch aufzeigen, wie eine Welt mit umgesetzten Klimazielen aussehen würde.

nur die großen Themen Energie- und Zeitenwende brauchen einen einsatzfähigen Vizekanzler.

Am 20. Juni trifft man sich zu deutschchinesischen Regierungskonsultationen in Berlin. Da will Kanzler Scholz dem chinesischen Staatskonzern Cosco 24,99 Prozent eines Container-Terminals des Hamburger Hafenbetreibers HHLA überlassen.

Die Grünen stemmen sich gegen den von Scholz beschlossenen Deal. Der Einstieg der chinesischen Reederei könne erhebliche Risiken für die Sicherheit und den Wettbewerb in Europa mit sich bringen.

Ob Robert Habeck sich in seinem geschwächten Zustand noch durchsetzen kann? In den Umfragen sacken die Grünen gerade ab. Doch es besteht Hoffnung: Sie sind die einzige der drei Regierungsparteien, die in der Wählergunst heute besser dasteht als zu Beginn des Jahres 2021.

Postenschacher im Vergleich

In Österreich wollte ein FPÖ-Chef die Republik an einen russischen Oligarchen verscherbeln. In Deutschland verschaffte ein grüner Staatssekretär seinem Trauzeugen einen Job. Folge: Rücktritt. Fazit: Freunderlwirtschaft muss in jedem Fall unterbunden werden

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Tex Rubinowitz Cartoon der Woche Zitiert Die Welt der Weltblätter KATHARINA KROPSHOFER

Lingens Außenblick

So schaffen Notenbanken sinnlos Risiken

In den USA müssen weitere Banken davor bewahrt werden, aufgrund der Zinsanhebung der Fed pleitezugehen. Denn Unternehmen, die plötzlich dank der erhöhten Zinsen mit verdoppelten Kreditkosten belastet sind, haben weiter Probleme, ihre Bankkredite zu bedienen. Haben die Banken kein perfektes Risikomanagement betrieben, so sind sie gleichzeitig damit konfrontiert, dass die hohen Zinsen den Kurs ihrer sichersten und wichtigsten Aktiva, der Staatsanleihen, massiv verringern. Das ist der von der Silicon Valley Bank vorgezeichnete Weg in die Pleite, und ihn geht mittlerweile die vierte Bank.

Zwar erklärten Präsiden Joe Biden, Finanzministerin Janet Yellen und Fed-Präsident Jerome Powell unisono, wie „robust und widerstandsfähig“ das US-Bankensystem sei, und schufen auch einen entsprechenden Schutzschirm, aber dass sie das mussten, weckt den Verdacht, dass doch nicht alles so perfekt ist. Jerome Powell befindet sich jedenfalls in einer denkbar heiklen Lage: Erhöht er die Zinsen wie versprochen weiter, riskiert er noch mehr Bankenpleiten – erhöht er sie nicht, verstärkt er den Verdacht, dass es schlecht ums Bankensystem bestellt ist, und gefährdet es damit erst recht.

Die EU beteuert, dass ihre Banken sicherer als die der USA sind: Sie mussten mehr Risikokapital bilden und strengere Stresstests überstehen. Dennoch sehen ihre Probleme nur quantitativ anders aus.

Arbeitslosigkeit erhöhen. Wendet man dieses Rezept an, obwohl gar keine gefährliche Inflation, sondern bloße Teuerung vorliegt, dann riskiert man hohe Arbeitslosigkeit samt Rezession.

Es prallen diesbezüglich zwei ökonomische Denkschulen aufeinander: hier die „Monetaristen“, die wie der österreichische Notenbankgouverneur Robert Holzmann, die Notenbanker Deutschlands, der deutsche Starökonom Hans-Werner Sinn oder Franz Schellhorn (Agenda Austria) glauben, dass eine erhöhte umlaufende Geld-

Rezession herbeiführen

Zehn-Prozent-Grenze überschritt, fraß die Angst den Verstand auf. Die Monetaristen sahen ihre Stunde gekommen und drängten die Notenbanken, die Geldpolitik „endlich“ zu straffen, obwohl niemand erklären kann, warum hohe Zinsen Öl verbilligen oder der Wirtschaft besonders guttun sollen. Stephan Schulmeister nennt „Inflationsbekämpfung durch Zinserhöhung“ unter den gegebenen Umständen daher im Standard folgerichtig „Irrsinn mit System“: „Eine Erhöhung von (Zins-)Kosten samt Umverteilung von Unternehmen und Haushalten zu Banken bekämpft nicht die Teuerung, sondern die Realwirtschaft. Es bedeutet, dass Unternehmen und Haushalte eine Verdoppelung ihrer Kreditkosten aushalten müssen.“

Der Autor war langjähriger Herausgeber und Chefredakteur des Profil und der Wirtschaftswoche, danach Mitglied der Chefredaktion des Standard. Er schreibt hier jede Woche eine Kolumne für den Falter. Siehe auch: www.lingens.online

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EZB wie Fed haben sich mit der so schnellen, so starken Zinserhöhung in meinen Augen gleichermaßen überflüssig erhöhten Risiken ausgesetzt. Denn eine gefährliche Inflation, bei der überhöhte Löhne in einer selbsttätigen Spirale zu immer höheren Preisen führen, gibt es weder in den USA noch in der EU.

Es gibt die von Russland und OPEC herbeigeführte, langsam abklingende Verteuerung von Öl/Gas, die man nur durch vermehrtes Fracking und, weit besser, durch die raschere Erschließung alternativer Energie erfolgreich bekämpfen kann. Nur gefährliche Inflation bekämpft man lehrbuchmäßig mittels höherer Zinsen, weil sie weitere Lohnerhöhungen erschweren, indem sie die

FALTER Zeitschrift für Kultur und Politik. 46. Jahrgang

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menge zwingend Inflation erzeugt – dort die Mehrzahl angelsächsischer Ökonomen (leider nicht Jerome Powell), die den Monetarismus wie der deutsche Ökonom Heiner Flassbeck oder der Österreicher Stephan Schulmeister für falsifiziert halten. Japans Notenbank „flutet“ die Wirtschaft seit 33 Jahren mit billigem Geld – dennoch hat Japan nie auch nur die Zielinflation von zwei Prozent erreicht und hat selbst jetzt mit 3,2 Prozent eine der niedrigsten weltweit, weil es über viel Kernenergie verfügt. Hans-Werner Sinns These, dass sie sich in diesem Zeitraum angestaut hätte und jetzt „herauspflatscht“, ist blanker Unsinn.

Die ökonomischen Irrtümer des Monetarismus waren so lange harmlos, als sie keine praktischen Folgen nach sich zogen, weil die Notenbanken sich nicht danach richteten. Doch als die Teuerung die

Ständige Mitarbeit: POLITIK und MEDIEN: Isolde Charim, Melisa Erkurt, Anna Goldenberg, Franz Kössler, Kurt Langbein, Peter Michael Lingens, Raimund Löw, Markus Marterbauer, Tessa Szyszkowitz

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In Österreich sind Unternehmen mit etwa 400 Milliarden Euro, Haushalte mit 200 Milliarden Euro verschuldet. Die Zinszahlungen dafür lagen vor der Zinserhöhung bei circa zehn (sechs plus vier) Milliarden Euro – jetzt sind daraus 20 Milliarden geworden. Unter den Unternehmen belasten die zusätzlichen Kosten die am meisten, die am meisten investieren, bei den Haushalten belasten sie am meisten junge Familien, die eine Wohnung brauchen. Denn natürlich haben die höheren Kreditkosten als Erstes dazu geführt, dass weniger gebaut wird. „Und wer“, so fragt Schulmeister, „kassiert die zehn Milliarden Euro zusätzlicher Zinszahlungen? Nicht die Sparer, sondern die Banken.“

Dafür gibt es einen Grund, der zum Anfang dieses Textes führt: Da die erhöhten Zinsen mit „Staatsanleihen“ die sichersten Aktiva der Banken entwerten, kompensieren sie dieses erhöhte Risiko, indem sie weiter niedrige Sparzinsen zahlen.

PS: Die Mitglieder haben entschieden mehr politischen Instinkt als die Granden der SPÖ bewiesen, indem sie Pamela Rendi-Wagner die wenigsten und Hans Peter Doskozil die meisten Stimmen gaben. Nur er kann mitterechts vielleicht so viele Stimmen dazugewinnen, dass RotGrün-Pink 2024 stärker als Blau-Schwarz ist. Wenn er Andreas Babler einzubinden vermag, spricht der dazu Jung- und Nichtwähler an.

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Peter Michael Lingens kommentiert hier jede Woche vorrangig das wirtschaftspolitische Geschehen
Der Jammer des Monetarismus: Erhöhte Zinsen können Öl nicht verbilligen – aber Geld von Unternehmen zu Banken umverteilen und eine

Charim

Zum Türkischsein verpflichtet

D ie Frage, warum 71,9 Prozent der Austro-Türken für Recep Tayyip Erdoğan gestimmt haben, wurde faktenreich beantwortet. So wurde über Minivans berichtet, die Wähler aus dem ganzen Land zu den Wahllokalen kutschierten. Oder über Fastenbrechen als Wahlkampfveranstaltung. Was aber sagt die Diaspora-Forschung dazu, dass Türken hierzulande noch konservativer wählen, dass Religion und Nationalismus hier noch stärker sind als in der Türkei?

Die Forschung zeigt, dass Migration eine dauerhafte Entkoppelung bedeutet, eine Loslösung. So wird durch Migration die Religion von ihrer Kultur gelöst. Von dem Milieu, wo sie als Tradition gelebt wurde. Damit verliert die Ausübung der Religion ihre Selbstverständlichkeit – und ihre mögliche Beiläufigkeit. An einem neuen Ort, in einer fremden Umgebung bekommt sie eine neue Funktion. Wenn sich also Türken in Österreich stärker an ihre Religion klammern als etwa in ihrem anatolischen Dorf, so liegt das daran, dass die Religion hier mehr erfüllen muss.

ihrem Territorium getrennt weiter. Hier entsteht eine nicht-räumliche Vorstellung von Nation.

Denn in der Diaspora lebt man gewissermaßen in einem territorialen Schwebezustand: zwischen dem Hier und dem Herkunftsland. Was dabei entsteht, was der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson als „long distance nationalism“ bezeichnet – einen Nationalismus in der Distanz, eine Art Verankerung in der Ferne.

Migration bedeutet Loslösung. Was Erdoğan den Austrotürken anbietet, ist eine neue Verbindung zum Vaterland: sich selbst

Die Autorin ist Philosophin, Publizistin und wissenschaftliche Kuratorin

charim@falter.at

Erkurt Nachhilfe

Fernab der Heimat bedeutet sie nicht einfach nur Glauben, sondern dient auch dem demonstrativen Bekenntnis zur eigenen Herkunft. Von ihrer traditionellen Umwelt entkoppelt, verwandelt sie sich: Aus einer religiösen Überzeugung wird sie zu einer Identität, wie der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy gezeigt hat. Zu einer besonders strikten Identität.

Migration löst auch die Nation von ihrer zentralen Kategorie: vom Territorium. In den Diaspora-Gruppen lebt die Nation von

Und genau das greift Erdoğan auf. Genau hier setzt seine sehr aktive Diaspora-Politik seit Jahren an: bei diesen dauerhaften Entkoppelungen. Was er anbietet, sind neue Verbindungen. Institutionell – so wirkt er durch ein eigens gegründetes „Amt für Auslandstürken“ sowie durch Moscheenvereine in die Diaspora-Communitys. Und personell – so ist es ihm gelungen, sich als Verkörperung eines religiösen und nationalen Türkentums neuer Art darzustellen.

In seiner „diasporischen Mobilisierung“ (der Soziologe Rainer Bauböck) sucht er „seine“ Türken quer durch Europa. Das bedeutet, er sucht Türken, die verstreut in Europa leben, auf, um sie „als Türken“ anzurufen – in ihrer religiös-nationalen Identität. So waren seine großen Auftritte vor Ort – in Österreich zuletzt 2014 – keine einfachen Wahlkampfveranstaltungen, sondern Rituale: Rituale der Bekräftigung der türkisch-religiösen Identität. Rituale einer emotionalen Rückbindung ans Vaterland.

Gerade die, die aufgebrochen, die weggegangen sind, werden da auf ihr Türkischsein verpflichtet. Es ist dies eine geistige Heimholung der Auswanderer. Dabei geht es nicht darum, die migrantischen Türken mögen tatsächlich, physisch in die Türkei zurückkehren. Sie werden vielmehr vor Ort auf ihr Türkentum eingeschworen.

Was er ihnen so anbietet, ist eine Antwort auf ihren long-distance, vom Territorium gelösten Nationalismus: die Vorstellung einer Türkei, die nicht mehr an das Staatsgebiet gebunden ist. Türkei ist damit dort, wo Türken sind.

Mit diesem neuen, transnationalen Nationalismus definiert er die Diaspora um: Diese ist damit nichts anderes als ein Außenposten der Türkei. Das ist eine neue, paradoxe Form von Kolonialismus: eine Kolonisierung der Diaspora.

Diasporische Mobilisierung heißt dann Mobilisierung der Loyalität zur Türkei. Es ist Erdoğan gelungen, Loyalität zur Türkei mit Loyalität zu ihm gleichzusetzen. Die Verbindung, die er anbietet, ist er selbst. Und das übersetzt sich in 71,9 Prozent.

Ändern wir doch die Kunst. Nicht das Publikum!

MELISA ERKURT

Melisa Erkurt kommentiert hier wöchentlich bildungspolitische Themen, aber nicht nur

Die Autorin ist Publizistin und Journalistin bei „Die Chefredaktion“, einem Medium für die junge Zielgruppe auf Instagram

erkurt@falter.at

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ein Musical zu besuchen. Bis ich in der Instagram-Story von Aminata Belli, einer deutschen Moderatorin und Influencerin, sah, wie sie bei der Generalprobe eines Musicals mitmachte und das für ihre Follower inszenierte. So wie Influencer Menschen beeinflussen, Produkte zu kaufen, beeinflusste sie mich, Kultur zu konsumieren.

Man kann jetzt die Nase rümpfen über Menschen, die glauben, Musicals wären Kultur und Influencer Kulturvermittler. Ich musste die Nase rümpfen, als ich jüngst in einer Falter-Ausgabe las, dass sich der Zusammenhang zwischen der kulturellen Beteiligung und der sozialen Stellung in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat. 47 Prozent der regelmäßigen Kulturveranstaltungs-Besucherinnen* gaben im Zuge einer Studie an, aus einer kunst- und kulturinteressierten Familie zu kommen.

Der Ungleichheitsforscher Francis Seeck erzählte in einem Interview einmal davon,

wie er einen Workshop an einem Theater gehalten hatte, mit dem Ziel, ein Programm zu schaffen, das alle anspricht. Ein Teilnehmer schlug daraufhin vor, eine Umfrage in der Nachbarschaft zu machen, um herauszufinden, welche Formate sich die „einfachen Menschen“ wünschen.

Das wurde mit Gelächter abgelehnt, da die Gefahr bestünde, dass am Ende Helene Fischer auf der Bühne gespielt würde. „Ernst genommen wird in diesen Kreisen nur das, was zum kulturellen Kapital der Elite passt“, sagt Seeck.

Teresa Reichl schreibt in ihrem Buch „Muss ich das gelesen haben?“, dass in England, wo die Theaterzielgruppe immer eher der Mittelstand war und nicht wie bei uns der Adel, während eines Stücks gejohlt und geklatscht wird. Ich muss zugeben, ich habe mich letztens nicht einmal getraut, mich im Theater zu räuspern. Wieso muss Kultur so ernst sein? So lassen sich keine Schwellenängste abbauen.

Theater, Opernhäuser und Museen sollten auf den sozialen Medien nicht nur pos-

ten wie Influencer, sondern endlich eigene künstlerische Formate für die sozialen Medien schaffen, an denen die Follower bestenfalls mitmachen können.

Am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen und sich an den Künsten zu erfreuen ist in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Machen die Zuständigen wirklich genug dafür, dass die ganze Gemeinschaft erreicht wird? Ich würde mir die Leidenschaft und Häufigkeit, mit der im Kulturbetrieb beispielsweise über Cancel-Culture diskutiert wird, auch für diesen Diskurs wünschen.

Die Diskussionen darüber, wie frei die Kunst in Zeiten der politischen Korrektheit ist, ignorieren völlig, dass die Kunst nie frei für alle war, sie hat schon immer einem privilegierten Kreis gehört.

Es gibt einige Initiativen, die sich bemühen, Kultur zugänglicher zu machen, und trotzdem ändert sich wenig. Man muss die Kunst ändern, nicht das Publikum.

MEINUNG FALTER 21/23 9
Einwurf
Isolde Charim kommentiert an dieser Stelle wöchentlich politische Zustände *Männer sind in dieser Kolumne immer mitgemeint

DOLM

WIRTSCHAFTSKAMMER-CHEF

HARALD MAHRER HAT DEN SÜNDENBOCK FÜR DIE INFLATION

ENDLICH GEFUNDEN

…REDET

Im Juni 2014 empfing die österrei chische Wirtschaftskammer Wla dimir Putin in Wien. Der war damals sehr gut gelaunt, es war ja sein erster Besuch in einem EULand seit der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der ukrainischen Krim. Putin betonte in seiner Rede, kein Land müsse sich vor einer Abhängigkeit von russischem Gas fürchten. Die Wirtschaftskämmerer huldigten dem rus sischen Autokraten mit Standing Ova tions. Demokratie hin oder her, Hauptsache, das Gas floss billig.

Fast acht Jahre später überfiel Putin die Ukraine, die Gaspreise explodierten, Energie wurde sauteuer und fossile Konzerne streiften welt-

weit Rekordgewinne ein, ohne eine Mehrleistung dafür zu erbringen. WirtschaftskammerPräsident Harald Mahrer hat nun den Schuldigen der Inflation ausgemacht: nein, nicht Russland. Nein, natürlich nicht die fossilen Konzerne.

Es gebe keine „Gierflation“, sondern eine „Greenflation“, erklärte Mahrer. Der Ausbau der Erneuerbaren, der uns von Putins Gas unabhängig macht und mit dem wir die Klimakrise bewältigen können, sei schuld. Arbeitet er bereits an der nächsten Einladung für Putin?

HERO POLITIK

WORÜBER ÖSTERREICH…

MINENFELD DER NEUTRALITÄT

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat seine Sicht klargemacht: „Ich verstehe nicht, warum die Bundesregierung bei der Frage der Entminung immer noch zögert“, sagte er beim Europarats-Gipfel in Reykjavík. Es geht um die Frage, ob das Bundesheer bei der Minenräumung in der Ukraine mithelfen soll. Das sei eine humanitäre und keine militärische Aufgabe und daher mit der Neutralität vereinbar. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner sieht das anders. Vor etwas mehr als einem Jahr hat Bundeskanzler Karl Nehammer übrigens die Neutralitätsdebatte für beendet erklärt.

…LACHT

SOBOTKAS FLÜGEL

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka ist bekannt dafür, gerne auch einmal ohne Einbindung der anderen Fraktionen weitreichende Entscheidungen zu treffen. Die Gestaltung des renovierten Parlaments erklärte der ÖVPler zur Chefsache. Für eine Monatsmiete von schlappen 3000 Euro schaffte Sobotka einen Konzertflügel aus dem Hause Bösendorfer an, die Luxusversion mit vergoldetem Deckel im Stil der Wiener Secession. Weil das in Zeiten der Teuerung nicht so gut ankam, trennt sich Sobotka nun von seinem Lieblingsstück. Der Mietvertrag mit Bösendorfer wird gekündigt.

…STAUNT

WIENS ÜBERSCHUSS

Finanzstadtrat Peter Hanke hat ganz schön danebengehaut. Statt der erwarteten 1,7 Milliarden Euro Defizit hat die Stadt Wien im Vorjahr einen Überschuss von 305 Millionen Euro erzielt. Der Großteil davon (245 Millionen) wurde für den Abbau von Schulden verwendet. Der Grund für den großen Unterschied zwischen dem veranschlagten Defizit und dem tatsächlich eingetretenen Ergebnis: Die Konjunktur hat sich nach der Corona-Krise deutlich schneller erholt als erwartet, und mit der hohen Inflation sind auch die Einnahmen der öffentlichen Hand stark gestiegen.

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„All das hier hat etwas von einem Schrein, der das wärmende Gefühl vermittelt, nicht vergessen worden zu sein.“ Die Unnachgiebigen
von Kaisermühlen, Seite 16
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Harald Mahrer, Österreichs verlässlichster Brückenbauer zum Kreml

Sieger der Mitgliederbefragung: Hans Peter Doskozil hat Rendi-Wagner herausgefordert und wurde knapp Stärkster

Kandidat der Herzen: Andreas Babler wurde als Außenseiter Zweiter – und will sich nicht geschlagen geben

Zwei zum Preis von einer

Pamela Rendi-Wagner hat die SPÖ-Mitgliederbefragung verloren. Die Machtfrage bleibt trotzdem ungeklärt: Kann der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler dem burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil den Parteivorsitz noch streitig machen?

Am Montagvormittag hatte die Zukunft der Sozialdemokratischen Partei Österreichs auf einer einzigen Euro-Palette Platz. In 23 plombierten Kisten verpackt, wurden die Stimmzettel der SPÖ-Mitgliederbefragung gegen zehn Uhr beim KarlRenner-Institut hinter dem Hauptbahnhof in Wien im Beisein eines Notars ausgeladen. Knapp sieben Stunden dauerte die Auszählung, dann gab Michaela Grubesa, die Vorsitzende der SPÖ-Wahlkommission, das Ergebnis bekannt. Der Auftritt der steirischen Landtagsabgeordneten

BERICHT:

NINA HORACZEK, JOSEF REDL, BARBARA TÓTH

vor der Presse dauerte nur wenige Minuten. Gleich darauf begann in der SPÖ die nächste Auseinandersetzung: der Kampf um die Deutungshoheit.

Erstmals in der Geschichte haben die SPÖParteimitglieder (147.939 waren wahlberechtigt) in einer Befragung über ihren Vorsitz abgestimmt. Das Resultat: Es gibt zwei Sieger und eine Verliererin. Mit Hans Peter Doskozil (33,68 Prozent) und Andreas Babler (31,51 Prozent) erhielten beide Herausforderer mehr Stimmen als Amtsinhabe-

rin Pamela Rendi-Wagner (31,35 Prozent). Die Entscheidung, wer die Partei in die nächsten Nationalratswahlen führen wird, ist somit verschoben. Die Selbstfindungsphase der SPÖ geht bis zum Parteitag am 3. Juni weiter, von nun an wohl in einer neuen Dimension: als Zweikampf zwischen dem linken und dem rechten Parteiflügel. Die Niederlage der Parteivorsitzenden RendiWagner ist auch eine Niederlage für SPÖBundesgeschäftsführer Christian Deutsch,

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FOTOS: APA/BARBARA GINDL; APA/HELMUT FOHRINGER

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unter dessen Management der Prozess phasenweise zur Posse geriet. Eines hat die Wahl jedenfalls nicht gebracht: Einigkeit. Der burgenländische Landeshauptmann Doskozil versuchte nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses das zu tun, was er am besten kann: Fakten schaffen. Als erster der drei Kandidaten trat er um 19 Uhr vor die Medien. „Die Wahl ist entschieden. Ich hoffe, dass alle Beteiligten dies auch respektieren“, erklärte Doskozil. Adressaten der Botschaft waren nicht nur seine Konkurrenten Babler und Rendi-Wagner, sondern vor allem die Mitglieder von Parteivorstand und Parteipräsidium, die am Dienstag (nach Falter-Redaktionsschluss) tagen. Wahlsieger Doskozil fordert, dass die Gremien ihn alleine als Kandidaten für den Parteivorsitz nominieren. „Jetzt ist es Zeit, um Geschlossenheit zu demonstrieren.“

Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schließlich war es der burgenländische Landeshauptmann Doskozil, der über Jahre hinweg Parteichefin Rendi-Wagner öffentlich demontierte und ihr die Loyalität versagte, die er nun einfordert.

Nicht alle teilen diese Interpretation der Wahl. „Fast 70 Prozent der SPÖ-Mitglieder haben nicht für Doskozil als Parteichef gestimmt“, sagt der rote Parteirebell Nikolaus Kowall. Deshalb brauche es eine Stichwahl, bei der die Mitglieder abstimmen können, wer die SPÖ anführen soll. „Aber Doskozil will sich immer alles so zurechtzimmern, wie es ihm am meisten hilft“, schimpft Kowall. Er ist ein lautstarker Unterstützer Andreas Bablers und eindeutig dem linken Parteiflügel zuzurechnen. Lange Zeit war die Entscheidung um die künftige Parteispitze gar keine ideologische Frage, sondern vor allem ein Machtkampf zwischen zweien, die einander nicht leiden konnten. Bereits wenige Monate nach ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden im September 2018 begann Doskozil, seiner Parteichefin öffentlich auszurichten, wie man den Job besser machen könne. Über die Jahre eskalierte der Konflikt immer mehr, bis Doskozil vergangenen März verkündete, sich um den Parteivorsitz zu bewerben. Da hatte die SPÖ gerade bei der Kärntner Landtagswahl eine Niederlage eingefahren. Sie blieb zwar stimmenstärkste Partei, rasselte aber von 47,9 auf 38,9 Prozent herunter. In Umfragen für die 2024 geplante Nationalratswahl grundeln die Sozialdemokraten seit Monaten hinter FPÖ und ÖVP auf dem dritten Platz herum.

Es sollte eigentlich ein Zweikampf zwischen den beiden Kontrahenten RendiWagner und Doskozil bleiben. Im SPÖVorstand einigte man sich schließlich auf eine nicht-bindende Mitgliederbefragung und darauf folgend eine endgültige Wahl auf einem Sonderparteitag. Dann funkte Kowall, Funktionär der SPÖ-Sektion 8 in Wien, dazwischen. Er kündigte kurzerhand selbst seine Kandidatur an, „weil sich niemand anderer findet“. Bis der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler schließlich sein Antreten kundtat und Kowall zu dessen Gunsten seine Kandidatur zurückzog.

Seitdem geht es nicht nur darum, wer bei der SPÖ künftig an der Spitze steht. Es geht auch um die Frage, in welche Richtung sich die österreichische Sozialdemokratie politisch entwickelt. Doskozil und Babler stehen für zwei verschiedene Wege. Der burgenländische Landeshauptmann fordert für die SPÖ einen sicherheitspolitische Law-

Feindschaft, Genossen! Die Mitgliederbefragung hat kein eindeutiges Ergebnis gebracht. Nun geht der Streit um die SPÖ-Parteispitze in die nächste Runde

and Order-Kurs, möchte mit einer harten Asyl- und Migrationspolitik die rechte Flanke dichtmachen und so frühere SPÖWähler von den Freiheitlichen zurücklocken. Babler steht für einen klaren Linkskurs seiner Partei und eine sozialistische Anti-Establishment-Politik. Er verspricht eine Politik von unten und propagiert die Umverteilung von den Reichen zu den Armen sowie eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichem Lohn und will „die Systemfrage“ stellen, also das kapitalistische System in Frage zu stellen. Da schwingt sogar etwas Revolutionäres mit. Rendi-Wagner schwamm ideologisch irgendwo dazwischen. Unter ihrer Parteiführung war der politische Kurs der SPÖ oftmals zögerlich und unklar. Auch das ist ein Grund, weshalb sie von den SPÖ-Mitgliedern abgewählt wurde. Ein anderer heißt Christian Deutsch. Rendi-Wagners rechte Hand in der Parteizentrale war als Sanierer beinhart, Sozialkompetenz fehlte ihm aber völlig.

33,68

Prozent (36.019 Stimmen) erreichte SPÖ-Burgenland-Chef

Hans Peter Doskozil

Dem Parteimanager mit der ApparatschikAusstrahlung ist der Vorsitzfindungsprozess entglitten. Gebetsmühlenartig versicherte Bundesgeschäftsführer Deutsch, es handele sich gar nicht um eine Wahl, sondern bloß um ein „Stimmungsbild“. Auch am Montag bemühte er noch tapfer diesen Begriff. „Der Parteitag findet nächste Woche statt“, presste er noch zwischen den Zähnen hervor, als ihn Journalistinnen direkt nach Bekanntwerden des Ergebnisses um eine erste Stellungnahme baten. Da war er gerade auf dem Weg ins Wiener Rathaus zur Krisensitzung im kleinsten Kreis. Es war auch eine Abstimmung über seinen Job.

Pamela Rendi-Wagner zog am Dienstag die Konsequenzen. In einer Pressekonferenz erklärte sie, auf dem Parteitag nicht kandidieren zu wollen. Sie überlässt das Spielfeld Babler und Doskozil. „Auch wenn es ein sehr knappes Ergebnis ist, ist es aus meiner Sicht zu respektieren“, erklärte die scheidende Parteichefin.

31,51

Prozent (33.703 Stimmen) bekam Traiskirchens Bürgermeister

Andreas Babler

Nicht einmal fünf Jahre dauerte die Ära Rendi-Wagner. Im Rückblick wird von ihr nicht viel mehr übrig bleiben, als dass sie die erste Frau an der Spitze der Partei war. Kind aus dem Gemeindebau, Ärztin, Spitzenbeamtin, beliebte Gesundheitsministerin – am Ende war der Job der Parteiführerin doch eine Schuhnummer zu groß für sie. Rendi-Wagner fühlte sich in Sachdebatten stets wohler als im Oppositionsgemetzel. „Sie ist eben kein Political Animal“, diesen Satz hörte man in der Partei über sie am Ende allzu oft.

31,35

Prozent (33.528 Stimmen) gab es für die Parteichefin Pamela Rendi-Wagner

Jetzt wird auf offener Bühne weiter gestritten. Einmal mehr geht es um Statuten – und Detailfragen. So verhatscht, wie der Prozess von der SPÖ-Spitze aufgesetzt wurde, geht er weiter. „Das sind wirklich schlechte Verlierer“, ärgert sich ein Doskozil-Unterstützer über das Team Babler. Der Vorstand habe die Regeln so festgelegt, dass, wer vorne ist, Gewinner sei. „Man kann doch nicht nach Abpfiff des Matches die Spielregeln ändern“, sagt ein Vertrauter des burgenländischen Landeshauptmanns. Wer im Kampf um die Parteispitze als Erstes ins Ziel komme, müsse unterstützt werden, auch wenn der Abstand zwischen Doskozil und Babler bloß 2,17 Prozentpunkte oder 2316 Stimmen beträgt.

Allerdings wurden diese Regeln festgelegt, als das Match um die Parteispitze noch ein Zweikampf war. Babler hat sich von Anfang an für eine Stichwahl als Mitglieder-

entscheid ausgesprochen, sollte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit bei der Mitgliederbefragung erreichen. Genau das fordert Babler Montagabend nochmals, als die Stimmen ausgezählt waren. „Weil derzeit haben wir alle drei ungefähr ein Drittel der Stimmen“, ruft er seinen mehreren hundert Anhängern zu, die sich zum Babler-Feiern in einem Alternativlokal an der Neuen Donau versammelt haben.

Es war eine Mischung aus Wahl- und Beachparty an einem der ersten richtig schönen Sommertage des Jahres. Nach dem kurzen Schock, dass Doskozil Erster ist, drehte sich bei den Babler-Fans alles um die Frage: Kann der Traiskirchner Bürgermeister und Überraschungskandidat trotzdem noch Parteichef werden? „Wenn Babler auf dem Parteitag eine halbwegs gute Rede hält, hat er gute Chancen“, hofft eine Aktivistin aus dem Team Babler. Sie wünscht sich, wie so viele hier, dass die Parteimitglieder nochmals in einer Stichwahl zwischen Doskozil und Babler befragt werden. Oder am Parteitag eine Entscheidung erzwingt. Dass Babler am 3. Juni antreten will, hat er immer gesagt. Ob er es auch darf, ist eine weitere knifflige Statutenfrage, die im Parteipräsidium am Dienstag (nach Falter-Redaktionsschluss) ausdiskutiert wurde. Wird Babler vom Parteivorstand nicht als Kandidat nominiert, braucht er eine Zweitdrittelmehrheit auf dem Parteitag, um überhaupt antreten zu dürfen, ist eine Lesart. Nein, durch sein Antreten ist er jedenfalls legitimiert, die andere. So oder so: wenn Babler nicht gegen Doskozil kandidieren darf, wird er zum linken Märtyrer. Und das Team Doskozil startet mit einer Bürde.

Doskozil will in den Parteigremien lieber den Sack möglichst rasch zumachen. Er hat die SPÖ-Landesparteichefs von Salzburg, der Steiermark, Oberösterreich und Niederösterreich hinter sich. Und natürlich das Burgenland. Die Vorarlberger SPÖ-Chefin Gabriele Sprickler-Falschlunger deklarierte sich hingegen als Babler-Fan, das mächtige Wien und auch Kärnten und Tirol enthalten sich, zumindest vorerst.

Allerdings verschiebt diese Mitgliederbefragung auch die Machtverhältnisse in der SPÖ. Denn ausgerechnet der bisher mächtigste Rote, Wiens Bürgermeister Michael Ludwig, hatte all sein politisches Gewicht für Rendi-Wagner in die Waagschale geworfen und nun eine ordentliche Niederlage eingefahren. Parteiinternes Gewicht hat auch die Stimme von Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser. Dessen Sprecher hat sich schon vor längerem als Babler-Wähler geoutet, Kaiser selbst hat sich zumindest bis Falter-Redaktionsschluss noch nicht öffentlich festgelegt.

Wer nächster Parteichef wird, entscheiden aber ohnehin nicht die Landesparteiobleute alleine. Während die Mitgliederbefragung formal gesehen bloß ein Stimmungsbild darstellt, ist das Abstimmungsergebnis auf dem Parteitag rechtlich bindend. Etwa 642 Delegierte werden sich am 3. Juni im Design Center in Linz versammeln, um die finale Entscheidung zu treffen. Neben den Mitgliedern des Parteivorstands und der Bundesgeschäftsführung sowie den Vertretern von SPÖ-Bezirksgruppen und Ländern sind auch 30 Delegierte der Bundesfrauen plus jeweils eine Delegierte der Landesfrauen dabei. Die roten Frauen könnten auf dem Parteitag even-

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ILLUSTRATIONEN: PM HOFFMANN

tuell das Zünglein an der Waage sein. Sie verstehe nicht, warum „unsere Buberlpartie“ sich sofort auf Doskozil festgelegt habe, sagt eine SPÖ-Frauenpolitikerin auf dem Babler-Fest. Gemeint sind damit die jungen SPÖ-Landesparteichefs aus Salzburg, der Steiermark und Niederösterreich, die gleich am Montagabend dazu aufriefen, auf dem Parteitag für Doskozil zu stimmen.

Jeweils sieben Stimmberechtigte hat auf dem Parteitag auch der rote Nachwuchs, also die Sozialistische Jugend und die Junge Generation. Die Parteijugend hat sich bereits für Babler deklariert. Dann gibt es noch einige wenige Delegierte von SPÖnahen Organisationen wie den Kinderfreunden, dem Bund Sozialdemokratischer Akademiker und anderen bis hin zu den SPÖ-Bäuerinnen und Bauern.

Ein besonders mächtiger Block auf dem Parteitag sind aber die roten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Die roten Arbeitnehmervertreter stellen 50 Delegierte. Zusätzlich sind in vielen Bezirksgruppen auch Gewerkschafter als Delegierte nominiert, wodurch der Einfluss der Gewerkschaft auf die endgültige Entscheidung, wer künftig an der Parteispitze stehen wird, besonders hoch ist.

Bloß sind die roten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Vorsitzfrage ebenso gespalten wie der Rest der Partei. Während viele im ÖGB dem Kandidaten Doskozil ankreiden, einen Mindestlohn einführen zu wollen und dadurch den Einfluss der Gewerkschaft zu beschneiden, sind vielen anderen Gewerkschaftsfunktionären die Ideen von Babler viel zu weit links. Wahlempfehlung wird es von der Fraktion sozialdemokratischer Gewerkschafter für den Parteitag keine geben.

Ganz besonders entscheidend ist eine Frage: Wem neigen die Wiener Roten zu? Bis Montag war Wiens SPÖ-Chef und Bürgermeister Ludwig im Team Rendi-Wagner. Die SPÖ-Wahlkommission hat das Ergebnis der Mitgliederbefragung nicht nach Bundesländern ausgewertet. Aber das Babler-Wahlergebnis von 33.703 Stimmen zeigt, dass er in der Bundeshauptstadt die Mehrheit geschafft haben muss. Allerdings müssen sich die Wiener Delegierten nicht zwingend an die Wahlpräferenzen ihrer Parteimitglieder halten. Und durch diese Mitgliederbefragung kommt auch in der Wiener SPÖ vieles ins Wanken.

Die Niederlage von Rendi-Wagner ist nämlich auch ein Abgesang auf die sogenannte „Liesinger Fraktion“. So wird parteiintern jener Machtzirkel genannt, der sich als heimliche Führung der Partei sieht und zu dem neben dem ehemaligen Bundeskanzler Werner Faymann auch die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures sowie der derzeitige Bundesgeschäftsführer Deutsch zählen. Sie bestimmten über Jahre den politischen Kurs der SPÖ führend mit und hielten an Rendi-Wagner als Parteichefin fest. Wer auch immer statt ihr im Juni in die Parteizentrale in der Löwelstraße einzieht, die Liesinger werden dort dann nicht mehr das Sagen haben. Zumindest das haben Doskozil und Babler gemeinsam erreicht.

Babler bleibt jedenfalls weiter im Wahlkampfmodus. Er hat auch als Zweiter bei der Abstimmung einiges erreicht. Der Traiskirchner Bürgermeister überholte als Spätstarter die amtierende Parteichefin bei der Gunst der Mitglieder. Und es gelang ihm ohne Parteiapparat, ein Drittel der Wähle-

SPÖ-Parteichefin Pamela Rendi-Wagner will beim Parteitag nicht mehr kandidieren

rinnen und Wähler für sich zu begeistern. Er war auch ein wesentlicher Grund dafür, dass etwa 10.000 Menschen der SPÖ neu beitraten. Seine tägliche Sprechstunde – seit einigen Wochen bietet Babler jeden Tag eine Art rote Telefonseelsorge nach Terminvereinbarung an – ist bis zum Parteitag ausgebucht.

Am Tag, an dem die SPÖ das Ergebnis der Mitgliederbefragung präsentiert, startete Babler seine eigene Anti-Teuerungs-Kampagne. Unter dem Motto „Sag der Regierung deine Meinung“ ruft er seine Unterstützerinnen und Unterstützer dazu auf, eine Protest-Postkarte oder ein Mail mit dem Betreff „Es reicht! Greifen Sie endlich ein“ an den Bundeskanzler zu schicken. Die Forde-

rungen: Rücknahme von Mieterhöhungen und die Senkung der Preise von Lebensmitteln, Gas und Strom.

Aber was, wenn Doskozil auf dem Parteitag endgültig gewinnt? „Ein paar linke Hardcore-Babler-Fans werden vielleicht zur KPÖ wechseln, und das ist auch okay so“, sagt einer aus dem Team Dosko, „aber eine Abspaltung der Linken in der Partei wird es sicher nicht geben.“ Auch Babler schließt dieses Gerücht kategorisch aus.

All jenen, die mit einem Parteichef Doskozil nicht mitkönnen, haben die Kommunisten gleich Montagabend ein Angebot gemacht: „Linke Politik, aber falsche Partei?“, postete die KPÖ in sozialen Medien zu einem Bild von Doskozil vor der SPÖZentrale. „Bei uns bist Du richtig!“ F

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FOTO: APA/BARBARA GINDL

11. April. Lesbos. Mittagszeit

Der Österreicher Fayad Mulla hat gefilmt, wie griechische Behörden Flüchtlinge vor Lesbos auf hoher See aussetzten.

Damit ist die gewaltsame Praxis der staatlich organisierten Pushbacks in Griechenland dokumentiert. Wird sich jetzt etwas ändern?

14 FALTER 21/23 POLITIK Standort Videofilmer GRIECHENLAND (Lesbos) Mytilini 1 2 3 4 5 Dikili Ägäisches
TÜRKEI 4
Meer Die Menschen werden von der türkischen Küstenwache gerettet 5 Die Gruppe erreicht den Hafen von Dikili
3
Die griechische Küstenwache setzt die Menschen auf einem Floß aus
1
Zwölf Menschen, darunter Kinder, werden von einem Lkw zu einem Schnellboot gebracht 2
FOTO: FAYAD MULLA FOTO: SCREENSHOTS VIDEO NEW YORK TIMES/FAYAD MULLA FOTO: SCREENSHOT VIDEO TÜRKISCHE KÜSTENWACHE FOTO: SCREENSHOT VIDEO TÜRKISCHE KÜSTENWACHE FOTO: SCREENSHOTS VIDEO NEW YORK TIMES/FAYAD MULLA FOTO: SCREENSHOTS VIDEO NEW YORK TIMES/FAYAD MULLA
Die entführte Gruppe wird an die griechische Küstenwache übergeben
GRAFIK: FALTER; QUELLE NEW YORK TIMES

„Das ist keine Sonntagvormittagaktion der Identitären, sondern eine von den griechischen Behörden organisierte systematische Herangehensweise. Die Vollstrecker wissen, dass sie eine Straftat begehen. Warum sonst setzen sie sich Masken auf?“ (Fayad Mulla)

Die Szenerie ist luxuriös: Eine moderne Villa auf dem Hügel vor der Küste, fünf Schlafzimmer, sechs Badezimmer und Infinitypool. Ein privater Badesteg führt ins Wasser in dieser Bucht auf Lesbos, Gemeinde Fteli, im Südosten der griechischen Insel, 45 Fahrminuten von der Hauptstadt Mytilini entfernt. Man kann das alles im Verkaufsprospekt der Villa nachlesen. Denn sie sucht einen neuen Besitzer. Doch die Menschen, die an diesem 11. April 2023 über den Bootssteg stolpern, sind keine potenziellen Käufer. Sie sind nicht freiwillig hier. Ein verschlossener weißer Van hat sie hergebracht. Jetzt schubsen sie drei vermummte Männer zum Anlegepunkt und zwingen sie auf ein Schnellboot zu steigen. Insgesamt sind es zwölf Personen, darunter zwei Kinder unter fünf Jahren und ein sechs Monate altes Baby. Sie kommen aus Somalia, Eritrea und Äthiopien. Einer der Maskierten trägt ein Kleinkind wie Gefahrengut: weit vom eigenen Körper weggestreckt.

Was weder die Verschleppten noch die Maskierten ahnen: Auf der anderen Seite der Bucht liegt Fayad Mulla im Gestrüpp und hält die Kamera auf die Geschehnisse.

Seine Filmsequenzen hat die New York Times vergangene Woche veröffentlicht. Sie zeigen einen Vorgang, den es nach offizieller Darstellung nicht geben dürfte: nämlich wie griechische Behörden Flüchtlinge illegalerweise und gewaltsam aus dem Land schaffen. Mutmaßlich organisiert von der griechischen Polizei, ausgeführt von der griechischen Küstenwache. Ein Schiff mit der Aufschrift „Hellenic Coast Guard“ wartet jedenfalls in tieferem Gewässer auf das Schnellboot. Es wird die Flüchtlinge aufnehmen, an die Grenze zu türkischen Hoheitsgewässern bringen. Dort werden Beamte der Küstenwache sie auf einer manövrierunfähigen aufblasbaren Gummiplattform aussetzen. Mitten auf hoher See. Das Wasser hat 15 Grad. Die meisten Flüchtlinge können nicht schwimmen.

Das Video dokumentiert einen sogenannten Pushback oder, technisch formuliert, eine „Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Refoulement)“. Dieser Grundsatz besagt, dass jeder Asylsuchende auf EU-Territorium das Recht hat, seinen Asylantrag und seine individuelle Schutzwürdigkeit prüfen zu lassen. Die unfreiwilligen Passagiere waren zum Zeitpunkt der illegalen Abschiebung erst wenige Stunden in Griechenland.

„Wir schützen unsere Außengrenzen an Land und auf See und haben die irregulären Ankünfte um 90 Prozent gesenkt. Wir haben bewiesen, dass das Meer Grenzen hat, die überwacht werden können und müssen“, das hatte der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am 12. Mai während eines Besuchs auf Lesbos erklärt. Am vergangenen Sonntag hat seine Partei, die konservative Nea Dimokratia, die griechischen Parlamentswahlen gewonnen.

Die Opfer dieser Strategie finden sich in türkischen Auffanglagern wieder, sofern die türkische Küstenwache sie rechtzeitig aus dem Wasser fischt. Das gelingt nicht immer. Am 4. Mai 2023 beispielsweise nicht. Da ver-

BERICHT: EVA KONZETT

zeichnet das offizielle Register der türkischen Küstenwache einen Toten im Gummiboot. Und weiters:

21. Dezember 2022: zwei Tote;

13. September 2022: sechs Tote;

3. September 2022: zwei Tote;

8. August 2022: zwei Tote.

An diesem 11. April 2023 liegt Fayad Mulla rund eineinhalb Kilometer von der Villa auf einem Felsen hinter Büschen. Von seinem Posten aus kann er den Bootssteg ebenso sehen wie das offene Meer. Mulla ist nicht zum ersten Mal hier. Zwei Monate zuvor war er einem Van ohne Kennzeichen und mit abgedunkelten Scheiben gefolgt. Seither weiß er: Von Fteli aus legen die Maskierten ab.

Der Österreicher Fayad Mulla, 42 Jahre alt, politischer Aktivist und Vorsitzender der Partei „Wandel“, lebt seit rund zwei Jahren immer wieder auf Lesbos. Er weiß, dass die griechische Küstenwache mit Wärmebilddrohnen nach Ankommenden sucht, damit diese erst gar keinen Asylantrag stellen können. Er hat davon gehört, dass Menschen immer wieder auf Gummiflößen ausgesetzt werden. Aber es fehlen die Beweise.

Indizien gibt es da schon lange: Im Herbst 2022 hatten Mitglieder von Ärzte ohne Grenzen griechische Polizisten oder deren Handlanger – auch sie maskiert –aufgescheucht, als sie gerade 22 Menschen offenbar für die Deportation fertig machen wollten. Sie fanden weinende Frauen und Kinder vor, außerdem vier verprügelte Männer und drei gefesselte, mit durch Kabelbinder zusammengebundenen Armgelenken.

gegangen wäre“. Noch an Ort und Stelle verschickt er laufend Sicherheitskopien des Filmmaterials. Diese Filmsequenzen, die erstmals lückenlos und hochauflösend einen Pushback festhalten, dürfen nicht verlorengehen.

Denn die Entführung, die Mulla hier dokumentiert, ist juristisch gesehen ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Kinderrechtskonvention. Die Europäische Grundrechtecharta. Ein Verstoß gegen den Schengener Grenzkodex. Gegen griechische Gesetze. Ein Verstoß gegen so ziemlich alle Werte, die die EU hochhält.

Du kannst da nicht die Polizei rufen. Denn die ist schon vor Ort. Du kannst nicht die Küstenwache rufen. Die ist auch schon da

Schon im September 2021 hatte ein afghanischstämmiger Italiener festgehalten, wie er von griechischen Polizisten zuerst geschlagen und dann gemeinsam mit mehr als 100 frisch Angekommenen über den griechisch-türkischen Grenzfluss Evros gezwungen worden war. Zuvor hatte man ihnen Bargeld und die Mobiltelefone abgenommen.

Der Mann war beruflich vor Ort gewesen: Er war ein angestellter Übersetzer der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die eigentlich die Außengrenze schützen sollte. Und die trotz „schwerwiegender oder voraussichtlich weiter anhaltender Verstöße gegen Grundrechte oder Verpflichtungen des internationalen Schutzes“, so ist es in der Frontex-Verordnung im Artikel 46 festgehalten, weiterhin mit den griechischen Kollegen kooperiert.

Auch die jetzt im April zurückgestoßene Gruppe war nur wenige Stunden auf Lesbos, bevor man sie auf hoher See zurückließ. Am 11. April fuhr das Schiff der griechischen Küstenwache noch eine ganze Stunde vor dem Gummifloß auf und ab. Mutmaßlich, um es auf die türkische Seite zu treiben.

Fayad Mulla fängt das alles mit zwei Kameras ein. Mehr als 100 Gigabyte an Daten filmt er an diesem Nachmittag auf seinem Vorposten. Eine Isomatte gegen die Kälte, Müsliriegel gegen den Hunger und Insektenspray gegen die Mücken. Über seinen Kopf hat er ein Tarnnetz gezogen.

Was fühlt man dabei? „Schwer zu sagen: Sie sind live dabei, wie diese Menschen, darunter kleine Kinder, entführt werden. Sie würden in so einem Fall wohl die Polizei rufen, aber die ist ja schon vor Ort. Sie würden sich an die Küstenwache wenden, aber die steckt da mit drin“, erinnert er sich. Mulla befürchtet vor allem, dass ihn die maskierten Männer entdecken könnten, was – wie er meint – „nicht gut aus-

Die Deportierten hatten Glück. Eine Stunde nachdem die griechische Küstenwache sie verlassen hatte, gabelten zwei Schiffe der türkischen Küstenwache die Flüchtlinge auf, so erzählten sie es der New York Times. Filmaufnahmen zeigen, wie türkische Grenzpolizisten ihnen in Izmir an Land helfen und die Temperatur abnehmen. Sie tun es routiniert. Am selben Tag wurden weitere 56 Menschen gerettet, einmal um 5.35 Uhr und einmal kurz vor acht. 28 davon auf etwas, das die türkische Küstenwache unter „inflatable boat“ registriert. Das bedeutet, dass diese Migranten die Küste von Lesbos gar nicht erreicht hatten und schon auf dem Meer zurückgestoßen worden waren. Die griechische Küstenwache versucht, so wenige Schlauchboote wie möglich überhaupt auf ihrem Weg nach Griechenland durchzulassen, zerstört, wenn sie eines habhaft wird, mit Stangen den Motor und überlässt das Wrack dem Wasser. Mitsamt den Insassen.

Vor drei Jahren war die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an die griechisch-türkische Grenze gefahren. Zuvor hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wegen fehlender Gelder den Flüchtlingspakt mit der EU aufgekündigt und Migranten als Drohkulisse nach Westen geschickt. Griechenland reagierte mit geschlossenen Grenzen und Tränengas. Griechenland verteidige nicht nur seine Grenze, sondern jene Europas, hatte von der Leyen bei ihrem Besuch erklärt. Sie nannte Griechenland einen „Schild“ für Europa. Seit damals sinkt die Zahl der Ankommenden. Seither habe sich ein neues „Gleichgewicht etabliert“, sagt der österreichische Flüchtlingsexperte Gerald Knaus von der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative: „Die EU hat sich unabhängig von der Türkei gemacht, auf Kosten der eigenen Gesetze.“ Die Grenze sei mit Gewalt geschlossen worden.

Zu welchen Mitteln die griechischen Behörden greifen, das hat Mulla mit seinem Filmmaterial bewiesen.

Und jetzt? Die EU-Kommission hat Griechenland aufgefordert, die Sache zu untersuchen. Offiziell geht das europäische Credo so: Migration müsse auf menschenwürdige Art und Weise gemanagt werden.

Ursula von der Leyen kam damals vor drei Jahren nicht mit leeren Händen nach Griechenland. Sie brachte Patrouillenboote, Hubschrauber und Wärmebildkameras mit. Das Signal: Man lasse den geografisch exponierten Staat nicht allein.

Es war ein Patrouillenschiff vom Typ POB-24 aus der kroatischen Werft Montmontaza-Greben, 24 Meter lang und hochseetauglich, das an diesem 11. April zwölf Menschen auf das offene Meer brachte. Gekauft hatten es die Griechen einst mit Geldern der EU. F

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FOTO: ZVG
FAYAD MULLA

Die Unnachgiebigen von Kaisermühlen

Seit Monaten veranstalten Wiener Iraner ein Sit-in vor der Uno-City – es ist der am längsten dauernde Iran-Protest Europas

gestellt; zunächst für eine Art Tagesmahnwache, aber nach zwei Wochen bereits als durchgehende 24-Stunden-Kundgebung, die seither nicht ein einziges Mal unterbrochen wurde. Die Aktivisten wollen mit ihrem Protest die Aufmerksamkeit auf die Proteste im Iran lenken, um das MullahRegime in den internationalen Gremien zu isolieren. Große Ziele für ein kleines Zelt.

BESUCH:

NINA BRNADA

Der junge Mann breitet auf dem Metalltischchen sorgfältig ein gelbes Tuch aus. Auf einer Decke lasse es sich mit Karten und Kettchen leichter zaubern, sagt er – und mit Zauberei vergehe die Zeit schneller. Es ist Samstag, kurz nach Mitternacht. T. hat seine Schicht im iranischen Protestcamp in Wien-Kaisermühlen angetreten. Die nächsten acht Stunden wird er hier mit zwei anderen Personen unter der U-BahnBrücke der U1 verbringen. Zumindest zu dritt und rund um die Uhr sitzen vor dem Eingang der Uno-City rund 80 Personen abwechselnd in Schichten und biegen die Stunden herunter – Tag für Tag, Nacht für Nacht, gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik. Am Mittwoch, wenn dieser Falter erscheint, wird ihr Sit-in 241 Tage gedauert haben.

Die iranische Protestaktion unter der UBahn-Brücke gehört zu einer der längsten Kundgebungen, die die Stadt je gesehen hat. Vor allem aber ist sie unter den Iran-Kundgebungen in Europa einzigartig. In London haben iranische Aktivisten eine ähnliche Aktion gestartet, verglichen mit den Wienern liegen sie jedoch um 150 Protesttage zurück.

Was vergangenen Herbst mit einem alten Tapeziertisch und Bildern von Getöteten und Verfolgten begonnen hat, hat sich mittlerweile zu einer kleinen Anlage ausgewachsen: Auf der Grünfläche neben dem UBahn-Aufgang sind Platten fixiert, die wie Grabsteine aussehen, darauf Bilder von Kindern, die vom Regime ermordet worden sind, samt Kerzen, Stofftieren, Kunstblumen. Im Zentrum des Camps ein aufgespanntes Gartenzelt. Strom gibt es hier auch, den hat man sich herleiten lassen für den Heizstrahler, der nun in der Ecke steht, die Glühbirne, den Wasserkocher, Verteilerstecker, WLAN-Router, Handstaubsauger. Zwei Fauteuils und ein Sofa, auf einem

Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi mit dem Mikro, Zweiter von rechts ist Hassan Nayeb-Hashem und links von Ebadi seine Frau und Organisatorin der Kundgebung Sholeh Zamini. Die Grünen waren die einzige Partei, die Vertreter geschickt hatten, rechts im Bild der grüne Nationalratsabgeordnete Georg Bürstmayr – mit Niki Kunrath aus dem Wiener Landtag und Elisabeth Kittl aus dem Bundesrat

FOTOS:

CHRISTOPHER MAVRI Č

Pappkarton die Aufforderung in arabischen Lettern, man möge die Bude sauber halten.

Die treibende Kraft hinter diesem Camp sind die Physikerin und Frauenrechtlerin Sholeh Zamini und ihr Ehemann Hassan Nayeb-Hashem, Aktivist und Allgemeinmediziner. Die Eheleute flüchteten als Oppositionelle vor rund 40 Jahren vor dem Mullah-Regime nach Österreich und haben ihr Leben dem Kampf für Menschenrechte im Iran verschrieben. Auch sie sitzen in dieser Samstagnacht am Zaubertisch.

Die beiden sind unter den Wiener Iranern Institutionen. Seit Jahren bereits veranstalten sie Proteste, Hungerstreiks und Demos. Diese hier begann vergangenen September, als die 22-jährige kurdische Iranerin Mahsa Jina Amini verhaftet worden war, weil sie ihr Kopftuch angeblich nicht züchtig gebunden hatte, und in Gewahrsam der Sittenpolizei ums Leben kam. Große Proteste brachen im Iran aus, auch in Europa gingen viele Menschen gegen das Regime in Teheran auf die Straße, und hier in Transdanubien wurde der Metalltisch auf-

Zugleich ist dieser Ort, der noch keinem Mitglied der österreichischen Bundesregierung einen Besuch wert war, Fluchtpunkt für namhafte Exil-Iraner. Vergangenen Dienstag beispielsweise kam hier im Nieselregen Shirin Ebadi auf einen Tee vorbei. Die iranische Menschenrechtsanwältin ist eine Frau von Weltrang, im Jahr 2003 wurde sie mit dem Friedensnobelpreis für ihren Einsatz in Sachen Frauen- und Kinderrechte gewürdigt. Ebadi war die erste muslimische Frau, die diese Auszeichnung erhielt; sie schrieb auch deshalb Geschichte, weil sie – entgegen den Gepflogenheiten in der Islamischen Republik – diese ohne Kopftuch entgegennahm. Eine Frau mit schneidendem Blick und spitzer Stimme, die betont, wie wichtig dieses Wiener Protestcamp sei, denn es gebe den Menschen im Iran Hoffnung und mache ihnen Mut.

Und tatsächlich hat all das hier etwas von einem Schrein, der das wärmende Gefühl vermittelt, nicht vergessen worden zu sein. „Manchmal melden sich Menschen bei uns, die TV-Aufnahmen sehen von den Bildern hier, auf denen sie ihre Familienmitglieder erkennen und uns dafür danken, dass wir sie nicht aufgeben“, sagt Camp-Organisatorin Sholeh Zamini.

Immer wieder sehe sie hier Fremde, die von der U-Bahn-Station aus Fotos von der Kundgebung machen und wieder verschwinden. Manchmal tauchten auch Betrunkene in der Nacht auf. Einmal wurde eine Aktivistin auf dem Heimweg von einem Unbekannten gestoßen. Ob dies etwas mit ihrem Engagement zu tun gehabt habe, könne man nicht sagen, irritierend sei es jedenfalls, sagt Sholeh Zamini. Deshalb möchte Magier T. seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen, er hat Familie im Iran und fürchtet Repressalien.

Während das öffentliche Interesse in Österreich an den Aufständen im Iran abflacht, bleiben die Reaktionen des Regimes brutal. Täglich gibt es Meldungen von Hinrichtungen, wie jene des schwedisch-iranischen Aktivisten Habib Faradschollah Chaab, oder von Todesurteilen, wie jenes gegen den Deutsch-Iraner Djamshid Sharmahd.

Sholeh Zamini und Hassan Nayeb-Hashem sagen, sie werden so lange bleiben, wie die Proteste im Iran andauern. Doch wie lange wird das sein? Wie lange wird es das Camp noch geben? Am Zelteingang jedenfalls ist schon einmal eine Tür mit Insektengitter angebracht. Dieses wird es auch brauchen, sagt Sholeh Zamini. „Wenn es noch wärmer wird, werden die Kakerlaken kommen.“ Das weiß sie aus Erfahrung, schon 2009 haben ihr Mann Hassan NayebHashem und sie hier vor dem Eingang der Uno einen Hungerstreik gegen das MullahRegime organisiert. „Wir bleiben zumindest noch bis zum 16. September“, sagt Hassan Nayeb-Hashem. Das ist Jina Mahsa Aminis Todestag. F

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Auszeit von der militärischen

Spezialoperation

Sri Lanka zählt bei Russen zu den beliebtesten Reisezielen. Auf der Insel sind sie unter sich und nur schwer zugänglich. Dem westlichen Journalisten begegnen sie mit Unbehagen und Misstrauen.

Ein Lokalaugenschein am Tropenstrand

REPORTAGE: STEFAN KALTENBRUNNER

Zeig mir dein Handy, ich will sehen, ob du mich nicht heimlich aufnimmst“, sagt Dimitri, der eigentlich anders heißt, aber seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Alles, was ich dir jetzt sage, würde mich daheim für fünf Jahre ins Gefängnis bringen.“ Dimitri ist Anfang 40 und stammt aus Moskau, mit seiner Frau und seiner fünfjährigen Tochter macht er neun Tage Pauschalurlaub auf Sri Lanka. Es sind seine ersten Ferien seit mehreren Jahren außerhalb von Russland.

Dimitri steht am kilometerlangen, weißgelben Strand von Ahungalla rund 120 Kilometer südlich der singhalesischen Hauptstadt Colombo. Dimitri trägt bunte Badeshorts und ein weißes T-Shirt ohne Aufschrift, um seinen Hals baumelt eine Kamera der Marke Canon. Seine Frau und seine Tochter spielen wenige Meter entfernt am Wasser, es ist rund ein weiteres

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ILLUSTRATIONEN: PM HOFFMANN

Fortsetzung von Seite 17

Dutzend Touristen am Strand, sie alle stammen wie Dimitri aus Russland.

Dimitri wohnt im Hotel Riu, einem riesigen Hotelkomplex mit 501 Zimmern, drei Außenpools, vier Restaurants, zwei Bars, einem Spa und einem Nachtclub, gebaut in billiger chinesischer Schuhkartonarchitektur, mitten in einer tropischen Palmenkulisse.

Das Zimmer mit seitlichem Meerblick kostet 130 Euro die Nacht, im Preis inbegriffen sind Frühstück, Buffets zu Mittag und am Abend sowie Gratisgetränke rund um die Uhr. Das Hotel beherbergt fast nur russische Urlauber und dürfte in dieser Größe hier gar nicht stehen, wie ein Einheimischer erzählt.

„Die Baugenehmigung kam dann aber von ganz oben, wenn du verstehst, was ich meine“, sagt er mit einem Augenzwinkern, was wohl heißt, dass hier, wie fast überall auf Sri Lanka, Korruption im Spiel ist.

Zunächst will sich Dimitri nicht mit mir unterhalten und meint, dass er hier auf Urlaub sei und nichts zu sagen habe. Ich selbst verbringe zwei Wochen auf Sri Lanka, wohne etwas entfernt und komme beim täglichen Strandlauf am Riu vorbei. Schon am ersten Tag fallen mir die zahlreichen russischen Touristen auf, viele zwischen 50 und 60 Jahre alt, ein paar Familien mit Kindern, einige jüngere Pärchen. Am Strand posieren sie vor allem für Selfies bei Sonnenuntergang, stehen in kleinen Grüppchen zusammen, nur wenige trauen sich ins Wasser, in die nicht ungefährliche Brandung. Den Tag verbringen die Urlauber überwiegend an den Pools.

Die russischen Touristen wecken meine Neugierde, ich bleibe immer wieder stehen und versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, möchte sie fragen, was sie vom Krieg halten, wie sie den Westen einschätzen, was Putin plant, wie sich Russland seit Kriegsausbruch verändert hat. Und wie sie hier unbeschwert Urlaub machen können, während auf ukrainische Städte russische Bomben fallen und täglich hunderte Soldaten an der Front ihr Leben lassen.

Im Westen ist es mittlerweile fast unmöglich, mit russischen Staatsbürgern in Kontakt zu treten. Wir Medien berichten über den Krieg, analysieren die russische Politik, wissen aber wenig bis gar nichts darüber, was Russen heute, ein Jahr nach Kriegsausbruch, wirklich denken, wie sie in Russland leben und wie sich ihr Leben verändert hat.

Fast alle russischen Touristen, die ich am Strand von Ahungalle anspreche, blocken sofort ab. Ich stelle mich als Journalist aus Österreich vor, erkläre, dass mich ihre Meinung zum Krieg in der Ukraine interessiert. Nahezu ausnahmslos spüre ich Misstrauen, Ablehnung und Unbehagen. Die meisten lassen mich einfach stehen, gehen weiter, oft scheitert es auch an der Sprachbarriere.

Nur ein paar Personen waren schlussendlich bereit zu einem längeren Gespräch. Wie mir ein Russe später erklärt, auch aus Vorsicht, da unter den russischen Touristen im Hotel ebenso Angehörige von Militärs sowie russischen Behörden sein könnten, und man nie wisse, wer einen beobachte.

Dimitri ist einer der Ersten, der sich nach anfänglicher Skepsis mit mir unterhält. Im Endeffekt überwiegt auch seine Neugierde, er hat keinen Kontakt zum Westen, auch er möchte von mir erfahren, wie wir den Krieg sehen und ob wir jetzt wirklich alle Russen hassen. Er wird der Einzige bleiben, der differenziert über den Krieg spricht, das PutinRegime ablehnt und am liebsten das Land verlassen würde, wenn er nur könnte. Dimitri spricht passabel Englisch, er war vor

ein paar Jahren in Italien und in Frankreich, kennt also Westeuropa. Dimitri, der aus einer kleinen Stadt südlich von Moskau stammt, erzählt von seiner Firma, er arbeitet im IT-Bereich, hat zwei Mitarbeiter. In Moskau habe er eigentlich kein schlechtes Leben, auch nicht jetzt während des Krieges, aber seit einem Jahr habe sich trotzdem alles verändert.

Für den Urlaub auf Sri Lanka mussten er und seine Frau lange sparen, obwohl sie für russische Verhältnisse gut verdienen. Rund 250.000 Rubel, das sind umgerechnet 2900 Euro, kosten die Familie die neun Tag auf Sri Lanka, all inclusive mit zwei Ausflügen. „Das ist nicht billig, aber günstiger lässt es sich jetzt fast nicht mehr ins Ausland reisen, vor allem nicht dorthin, wo es auch warm ist. Aber wir sind glücklich, einfach einmal weg zu sein, auch wenn wir hier wieder nur unter Russen sind“, sagt Dimitri.

rung wurde ein Ansuchen um Öl-, Gas- und Weizenlieferungen übermittelt. Auf Twitter schrieb der später gestürzte Präsident Gotabaya Rajapaksa, dass er den russischen Präsidenten Wladimir Putin „auch demütig darum gebeten habe, wieder russische Flugzeuge mit Touristen ins Land zu schicken“.

Butscha, ein Jahr danach: Im Februar 2023 reiste der Falter in die Ukraine

Sri Lanka zählt neben Thailand und der Türkei derzeit zu den beliebtesten Urlaubsdestinationen von russischen Staatsbürgern, nachdem Europa aufgrund der Sanktionen nicht mehr angeflogen werden kann und Visa nur sehr schwer zu bekommen sind. Die Mittelschicht aus den Städten komme vor allem hierher, sagt Dimitri. Die wirklich reichen Russen, die früher in London und Paris wohnten, finde man jetzt am Arabischen Golf. Vor dem Krieg führten Russen und Ukrainer die Urlauberstatistik auf

Der Kreml kam der Bitte nach. Am 3. November landete wieder eine Maschine aus Moskau am Flughafen Bandaranaike in Colombo. Die Boeing 767/300 der russischen Charterfluglinie Azur-Air mit der Flugnummer ZF-1611 wurde nach ihrer Ankunft von der Flughafenfeuerwehr mit einem doppelten Wasserstrahl am Rollfeld willkommen geheißen. Der ehemalige singhalesische Botschafter in Moskau begrüßte jeden der 335 Passagiere an der Gangway persönlich und betonte die tiefe Freundschaft zwischen Russland und Sri Lanka. Den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erwähnte er mit keinem Wort. Die Ankunft wurde zum Staatsakt und im Fernsehen übertragen.

„Die Russen, egal ob es euch in Europa gefällt oder nicht, halten, nachdem im Westen noch immer eine Reisewarnung für die Insel gilt und die westlichen Touristen deshalb immer noch ausbleiben, den Tourismus auf der Insel am Leben“, sagt ein Hotelmanager aus der Region. Der Krieg in Europa gehe die Menschen hier nichts an, führt er fort, der sei weit weg. „Wir müssen selbst um unser Überleben kämpfen.“

Auch Dimitri versucht, für ein paar Tage den Krieg und die Heimat auszublenden, wenngleich mit mäßigem Erfolg. Der Krieg sei unter den Russen hier im Hotel ständig präsent, sagt er, beim Essen, am Pool und an der Bar. Die Leute würden ständig auf ihre Telegram-Kanäle schauen und Neuigkeiten austauschen. Im Hotelfernsehen laufen russische TV-Nachrichten.

Sri Lanka an. Nach Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 blieben über Nacht fast alle Touristen aus.

Wie es einer über ganz Europa zerstreuten ukrainischen Familie geht, hat der Falter im März aufgeschrieben

Nur noch wenige Russen kamen auf die Insel. Anfang Mai folgte das vorläufige Aus. Einem Airbus 330 der russischen Aeroflot wurde am Flughafen Colombo offiziell wegen ausstehender Landegebühren der Weiterflug verweigert. Das Problem wurde binnen weniger Stunden gelöst. Was aber folgte, war eine diplomatische Krise, die mit der Einstellung des kompletten russischen Flugverkehrs nach Sri Lanka eskalierte.

Für das 22 Millionen Einwohner zählende Land sollte sich das doppelt rächen. Sri Lanka schlitterte im Frühjahr 2022 in die schwerste Staatskrise seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1948. Im April 2022 musste die Regierung den Staatsbankrott mit 51 Milliarden US-Dollar Schulden eingestehen. Schon zuvor hing Sri Lanka durch eine jahrzehntelang regierende korrupte Regierungskaste wirtschaftlich am seidenen Faden. Dann kam die Pandemie dazu, die Touristen blieben aus.

Die Benzin- und Gasversorgung brach auf der kompletten Insel zusammen. Wichtige Grundnahrungsmittel wie Reis wurden knapp. In Colombo und in anderen größeren Städten demonstrierten tagelang hunderttausende Menschen. In der Hauptstadt wurde das Regierungsviertel gestürmt. Das Land stand kurz vor dem Bürgerkrieg.

Im April 2022 bat Sri Lanka nicht nur den internationalen Währungsfonds um finanzielle Hilfe, auch an die russische Füh-

Er selbst traue den staatlichen Medien schon lange nicht mehr. „Die verrückten Propagandisten aus dem Staatsfernsehen, die schauen sie nur am Land, nicht in den Städten, ihnen glaubt dort niemand mehr“, sagt er. Seine Informationen über den Krieg suche er sich, soweit es noch geht, aus dem Internet zusammen. „Viele Nachrichten, die ich bekomme, lassen sich nur schwer verifizieren, die wichtigsten Infokanäle sind geblockt, ich weiß oft nicht, was ich glauben kann und was nicht“, sagt er. Aus Angst habe er sich auch abgewöhnt, mit anderen über den Krieg zu sprechen, da jedes falsche Wort gefährlich sein könnte.

Früher habe er sogar mit dem russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny, der einen vom Regime in Auftrag gegebenen Giftanschlag nur knapp überlebte und seit zwei Jahren in Russland eine Haftstrafe verbüßt, sympathisiert. Dimitri schaute nach dessen Verhaftung auch bei einer Demonstration vorbei. Heute würde er sich das nicht mehr trauen.

Wie sich das Leben in Moskau verändert habe, nachdem Russland die Ukraine angegriffen habe? Anfänglich habe man den Krieg gar nicht mitbekommen, das war nicht wirklich präsent, so Dimitri. Mit der Zeit habe es viele Waren aus dem Westen nicht mehr gegeben, aber das sei nicht weiter tragisch gewesen. Erst nach der Teilmobilmachung im vergangenen Herbst hätten die Menschen wirklich begriffen, dass es hier um etwas Größeres gehe.

Leid tue ihm vor allem, dass er alle seine Kontakte in die Ukraine verloren habe. „Wir waren früher öfter dort, kennen dort Leute“, sagt er. Aber nach Kriegsausbruch wurde die Kommunikation eingestellt. Dimi-

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Der Krieg in Europa geht die Menschen hier nichts an. Er ist weit weg. Wir müssen selbst um unser Überleben kämpfen

tri zeigt sein Handy und sagt: „Am Anfang des Krieges habe ich noch öfter Nachrichten geschrieben, aber ich erhielt keine Antwort mehr, nur eine: ‚Ihr seid jetzt alle Mörder.‘“

Ob er nicht ein schlechtes Gefühl habe, dass er hier seine Ferien genieße, während hunderte Soldaten täglich an der Front sterben? „Das ist nicht mein Krieg, und ich wollte diesen Krieg auch nicht“, sagt er. Würde er selbst an die Front gehen, wenn Putin eine generelle Mobilmachung anordnet? „Nein, ich würde in der Sekunde das Land verlassen“, sagt Dimitri.

Im Gegensatz zu Dimitri zeigen sich die anderen Russen im Hotel überwiegend als stramme Patrioten. Die meisten wiederholen die gängigen russischen Narrative von der notwendigen Befreiung Kiews von den Nazis, dass der Westen und die Nato am Krieg schuld seien und Russland sich verteidigen müsse.

Einer der glühendsten Putin-Versteher, der sich auf ein Gespräch einlässt, lebt überraschenderweise gar nicht in Russland, sondern arbeitet seit Jahren in Westeuropa, hat dort auch studiert. Der knapp 30-Jährige, nennen wir in Maksim, hat sich mit seiner Familie bewusst das Hotel Riu auf Sri Lanka ausgesucht, um Urlaub unter Russen machen zu können. Auch er möchte lieber anonym bleiben.

Ob er den Krieg anders sehe als die meisten seiner Landsleute, frage ich ihn, schließlich habe er Zugang zu freien Medien und somit eine andere, nicht zensierte Sichtweise auf das, was in der Ukraine passiert. „Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich westlichen Medien traue“, antwortet er. Es fallen die Worte Lügenpresse und Nato-Propaganda und dass alle westlichen Medien von den USA und der Nato gesteuert und gekauft seien.

Ich antworte ihm, dass ich als Journalist frei arbeiten könne, dass ich sagen und berichten kann, was ich für richtig halte, und dass ich für das, was ich in Österreich mache, in Moskau schon längst im Gefängnis sitzen würde. Alle Berichte in den Medien über die Ukraine und Russland entsprechen nicht der Wahrheit und würden eine Schlagseite haben und nur die eine westliche Seite zeigen, erwidert er. Als Beispiel nennt er den Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 über der Ukraine im Jahr 2014, der seiner Ansicht nach Russland vom Westen in die Schuhe geschoben worden sei, um einen Grund zu haben, ausländische Truppen in der Ukraine zu stationieren.

Ich erzähle ihm, dass ich selbst in der Ukraine war, dass ich in Butscha vor einem Massengrab gestanden bin, dass ich die unfassbaren Zerstörungen mit eigenen Augen gesehen habe. Auf meinem Smartphone zeige ich ihm die Bilder. Er lacht mich aus, sagt, dass ich so wie alle im Westen auf dieses inszenierte Schauspiel reingefallen bin.

Dass man hingegen in Russland heute frei leben und seine Meinung äußern könne, davon ist er überzeugt. Auch dass Putin alle Oppositionellen entweder umbringen oder einsperren lasse, möchte er so nicht stehen lassen. Er zeigt auch Verständnis dafür, dass der Krieg in der Ukraine nicht einmal als Krieg bezeichnet werden darf. Seine Antwort: „Es geht hier um nationale Interessen, die über den Einzelnen gestellt werden müssen.“

Ob in Russland alle so denken wie er? Nicht alle, meint er, aber die Mehrheit stehe hinter diesem Krieg. Und warum geht er dann nicht zurück? „Wenn die Russophobie weiterhin so stark ist, wird mir nichts anderes übrig bleiben“, sagt er.

Die Singhalesen am Strand interessiert der Krieg nur wenig, die Ukraine ist für sie weit weg, sie versuchen als Strandverkäufer oder Vermittler von Ausflügen mit den russischen Urlaubern ins Geschäft zu kommen. Einer davon nennt sich Johnny. Seinen singhalesischen Namen könne keiner aussprechen, darum nenne er sich Johnny, er sei nämlich ein großer Fan des verstorbenen Countrysängers Johnny Cash, wie er erklärt. Johnny steht in seinem roten T-Shirt am Stand, telefoniert hektisch und ist heute richtig übel gelaunt.

Johnny gehört zum Sicherheitspersonal des Hotels, er passt auf, dass die Gäste vom Riu nicht zu weit ins Wasser gehen, am Strand alles ruhig ist und kein Unbefugter das Hotel betritt. Dafür bekommt er um-

gerechnet rund 35 Euro im Monat bezahlt. Nebenbei vermittelt Johnny Ausflüge, verkauft Souvenirs, kassiert kleine Provisionen. Mit den vielen Russen im Hotel hat er, so wie viele seiner Kollegen, keine große Freude, da sie, so Johnny, nicht so spendabel seien wie die Europäer und kaum extra Geld ausgeben. Viele Russen würden einfach nur am Pool liegen und sich schon am Vormittag besaufen, sie seien laut und würden die ganze Nacht feiern.

Ich spreche Dimitri darauf an, frage ihn, warum die russischen Urlauber offenbar so einen schlechten Ruf haben. Er schmunzelt und sagt, dass es so schlimm dann auch wieder nicht sei: „Aber ja, wir Russen können feiern, wenn das alles vorbei ist, dann lass uns doch gemeinsam eine Party machen.“

Wann denn, glaube er, dass der Krieg zu Ende gehe und sich alles wieder so halbwegs normalisieren werde? „Ich weiß es nicht. Ich befürchte, es wird noch lange gehen, vielleicht noch Jahre“, sagt Dimitri. Und was ist bis dahin? „Ganz einfach. Fuck you Putin!“, sagt er und lacht. F

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Es geht hier um nationale Interessen, die über den Einzelnen gestellt werden müssen
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Wer diesseits und jenseits der Mauer sitzt

Die „neue Geschichte der DDR“ von Katja Hoyer erregt die Gemüter –es kommen nämlich nicht nur Systemkritiker zu Wort

REZENSION:

In Großbritannien wird sie gefeiert, in Deutschland verrissen. Die Historikerin Katja Hoyer, die in Ostdeutschland aufwuchs und heute in London am King’s College forscht, zerstöre in „Diesseits der Mauer“ Mythen, lobte The Times : „Sie argumentiert, dass die DDR nie eine Chance hatte, dank der Einmischung des Kremls und einer mittelmäßigen Elite.“ In Deutschland dagegen hagelt es für die deutsche Übersetzung, die am 4. Mai erschienen ist, Kritik. „Ihre ‚neue Geschichte der DDR‘ ist so denn auch nicht nur enttäuschend, sondern ein veritables Ärgernis“, keucht die Rezensentin im Spiegel und beklagt: „Einseitig, grotesk verkürzt, faktische Fehler.“ Da Hoyer – sie schreibt als Kolumnistin der Washington Post regelmäßig über deutsche und europäische Politik – es inzwischen auch in Deutschland auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat, wird sie etwaige Fehler in der zweiten Auflage beheben können.

Was die deutschen Kritiker aber so ärgert, sind ja nicht Ungenauigkeiten. Hoyer verzichtet darauf, sämtliche Literatur zu Ostdeutschland zu zitieren. Der Liebling der Deutschen, die Fußnote, wird mit Füßen getreten. Hoyer ist Generation Oral History, sie hat sich erlaubt, die Chronologie der DDR anhand von persönlichen Schicksalen zu erzählen.

Das Resultat: ein packendes Sachbuch. Sehr eindrücklich ist ihr Anfangskapitel über die deutschen Kommunisten, die vor den Nazis nach Moskau geflohen waren. Dort erging es den meisten nicht besser als zuhause: „Stalins Säuberungen waren so weitreichend, dass nur ein Viertel der deutschen Exilanten überlebte.“ Nur zwei erwischte Stalins Terror nicht: Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Gerade diese überloya-

len Stalinisten bauten dann die DDR auf. So beginnt deren Geschichte damit, dass sie von der Sowjetunion ausgeraubt wurde. Westdeutschland hatte den MarshallPlan der Alliierten, Ostdeutschland wurde von sowjetischen Soldaten geplündert.

Die DDR konnte laut Hoyer als sozialistischer Staat mit offenen Grenzen neben dem anderen Deutschland auf Dauer nicht existieren: „Die DDR subventionierte die Mieten, richtete eine umfassende und bezahlbare Minderbetreuung ein und begann mit dem Bau von Wohnungen“, schreibt sie: „Doch ein qualifizierter Ingenieur konnte im Westen jederzeit mehr Geld verdienen.“ Der Arbeiteraufstand 1953 wurde hart niedergeschlagen. Als 1961 drei Millionen Ostdeutsche dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken gekehrt hatten – 80 Prozent davon über Berlin –, baute Walter Ulbricht die Mauer.

Ganz neu ist diese Geschichte der DDR nicht, Hoyer aber legt den Fokus nicht nur auf Täter und Opfer im Unterdrückerstaat DDR. Die vier Jahre vor dem Fall der Mauer geborene Historikerin erzählt auch von den vielen, die sich arrangierten. Eine jüngst veröffentlichte Privatnachricht von Springer-Chef Mathias Döpfner, in der er mitteilte, „die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig“, gibt Hoyers Anliegen recht, das verschwundene Land noch einmal auferstehen zu lassen. Kindergärtenplätze für alle, berufstätige Frauen, darunter eine, die deutsche Kanzlerin wurde. Auch wenn von Angela Merkel bis Katja Hoyer niemand die DDR zurückhaben will, so tut eine ostdeutsche Perspektive dem westlich geprägten Diskurs gut. Denn wer saß damals hinter und wer „diesseits der Mauer“?

Schon Wolf Biermann sang 1973, zwei Jahre vor seiner Ausweisung in die BRD, in „Enfant Perdu“: „Jetzt sitzt er hinter der Mauer und glaubt, dass er vor ihr sitzt.“

Daniel Jokeschs „Krisencomic“ Folge 59: Interview mit dem Wahlverlierer

Katja Hoyer: Diesseits der Mauer, eine neue Geschichte der DDR 1949–1990. Übersetzung: F. Reinhart, H. Dedekind. Hoffmann & Campe, 592 S., € 22,99

Gelesen Bücher, kurz besprochen

Playbook der Autokratisierung

Es sind nur wenige Monate zwischen März 1933 und Februar 1934, in denen die erste österreichische Republik in die Diktatur kippt. Es lohnt sich, sie minutiös zu rekonstruieren. Diese Aufgabe haben sich das Wien Museum und die Wienbibliothek gemacht. Zur Ausstellung ist ein Sammelband mit über 50 Beiträgen erschienen, der das „Playbook der Autokratisierung“, wie es die Historikerin Tamara Ehs so griffig nennt, greifbar macht. Bezüge zur Gegenwart sind ausdrücklich erwünscht, etwa wenn die Autorinnen und Autoren zeigen, dass der Zerstörung der Demokratie Kulturkämpfe vorangingen, deren Themen wir heute auch gut kennen. Geschlechterrollen, Körperkulturen, Sexualität, Familienplanung, Kunst oder schlicht Geschmacksfragen – was in den 1920er-Jahren debattiert wurde, unterscheidet sich wenig von heute.

Dazu kommt Hass aufs Urbane, besonders das „Rote Wien“ sowie arbeits- und sozialrechtliche Reformen. Das Parlament, die Höchstgerichte, die Medien – sie werden delegitimiert, zuerst mit Worten, dann mit Taten. „Am Beginn stehen nicht Maschinengewehre und Panzer, sondern bürokratische Verordnungen, von denen manche allein harmlos erscheinen mögen“, schreiben die Herausgeber in ihrer Einleitung.

Die Ausschaltung des Parlaments ist den meisten bekannt, weniger in Erinnerung ist die Lähmung des Verfassungsgerichtshofes 1933. Die Regierung hatte zuerst per Kriegswirtschaftlichem Ermächtigungsgesetz einige Richter abberufen, die verbliebenen kamen zum (genau genommen paradoxen) Schluss, dass sie beschlussunf ähig seien, wie der Rechtshistoriker Thomas Olechowski rekonstruiert.

Die besprochenen Bücher können Sie über Ihre Buchhandlung, aber auch über unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt www.falter.at/ rezensionen

Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Katharina Prager steuert ein Generationenporträt linksintellektueller Frauen – geboren um 1900 bis in die 1920er – bei. Sie zeigt, wie sehr das Autoritäre im Privaten beginnt, immer dann, wenn es darum geht, alternative Lebens- und Geschlechterentwürfe zu bändigen.

Bernhard Hachleitner, Alfred Pfoser, Katharina Prager, Werner Michael Schwarz (Hg.): Die Zerstörung der Demokratie. Residenz, 328 S., € 35,–

20 FALTER 21/23 POLITISCHES BUCH
TESSA SZYSZKOWITZ

Die Generationenfrage

Nach der Generation Z kommt die Generation Polar. Wie sinnvoll ist so eine Einteilung?

BERICHT:

ANNA GOLDENBERG

Die Kinder sind polar. Zumindest, wenn es nach Jean Twenge geht. Die USamerikanische Psychologin forscht seit Jahrzehnten zu gesellscha lichen Generationen, also dazu, was Menschen verbindet, die in der gleichen Zeitperiode geboren sind. Die rücksichtslosen Boomer, die unschlüssige Generation X, die selbstverliebten Millennials, die verwöhnte Generation Z – die Gesellscha in solche Gruppen zu teilen macht es leichter, sie zu verstehen. Aber es ist nur mäßig sinnvoll.

Twenge tut es trotzdem. Die 51-Jährige ist Professorin an der San Diego State University und nebenbei Unternehmensberaterin für den Umgang mit den jüngeren Generationen. Sie hält Seminare, gibt Interviews und schreibt populärwissenscha liche Sachbücher. Ihr neuestes Buch erschien Ende April. In „Generations“ liefert sie einen Überblick über die Alterskohorten seit 1925.

In dem Buch hat Twenge eine beachtliche Menge an Daten – 21 Datensätze von insgesamt 39 Millionen Menschen – zusammengetragen, die ihre These stützen sollen: dass digitale Technologien dafür verantwortlich sind, dass die jüngeren Generationen immer unglücklicher werden. Ihre Daten stammen hauptsächlich aus den USA, sind in vielen Aspekten jedoch mit anderen Industriestaaten vergleichbar. Aber was ist dran?

Die Millennials, geboren zwischen 1981 und 1996, bekamen spätestens als junge Erwachsene ein Handy, entdeckten in ihrer Jugend das Internet und erlebten den Aufstieg des Reality-TV. Eine Gemengelage, die leicht dazu verleiten kann, mit übersteigertem Egoismus durchs Leben zu gehen. Vermutet zumindest Twenge.

Sie will sogar einen Anstieg an narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen unter Millennials beobachtet haben. Dafür durchsuchte sie seit 1950 veröffentlichte, US-amerikanische Bücher, die auf Google Books verfügbar waren, nach Phrasen, die sie als narzisstisch einordnete: „You are special“ („du bist besonders“), „want to be famous“ („berühmt sein wollen“) und „I love me“ („ich liebe mich“). In Büchern, die seit Anfang des Jahrtausends publiziert wurden, beobachtete sie einen starken Anstieg dieser Formulierungen. Für Twenge einer von mehreren Belegen für ansteigenden Narzissmus.

Doch anders als Twenge schreibt, heißt das nicht unbedingt, dass Millennials diese Eigenscha en haben. Erstens steigt die Anzahl der insgesamt publizierten Bücher ständig; allein das könnte also einen Teil der Veränderung erklären. Zweitens liegt der Verdacht nahe, dass sich Twenge jene Daten rauspickte, die ihre Thesen belegen: Der US-amerikanische Radiosender NPR machte sich die Mühe, die Bücherdatenbank nach der im Englischen häufiger als „I love me“ benutzten Formulierung „I love myself“ zu durchsuchen: Ein so deutlicher Anstieg war nicht zu beobachten.

Auch die Zunahme an psychischen Erkrankungen unter Teenagern der Generation Z, geboren zwischen 1996 und 2010,

will Twenge mit Technologie erklären. 2013 besaß mehr als die Häl e der Amerikanerinnen und Amerikaner ein Smartphone, zugleich wurden in diesen Jahren bei Teenies immer häufiger Depression und andere psychische Erkrankungen diagnostiziert.

Die Jugendlichen gingen zudem seltener raus, warteten länger bis zum ersten Sex und machten später ihren Führerschein.

Für Twenge ist klar: Das Internet ist schuld. Dabei sind nach wie vor Ursache und Wirkung nicht endgültig geklärt. Menschen mit psychischen Problemen könnten auch zur vermehrten Nutzung von Smartphones und sozialen Medien neigen. Zudem werden solche Erkrankungen häufiger erkannt als noch vor einigen Jahrzehnten.

Die Kinder von heute, also jene, die seit 2013 auf die Welt kamen, sind laut Twenge von den digitalen Technologien ebenfalls bereits beeinflusst. Ihre Daten zeigen, dass sich die Kids zu wenig bewegen und häufiger denn je übergewichtig sind. Die Pandemie hat die Bildschirme allgegenwärtig gemacht, sie können sich an ein Leben ohne soziale Medien nicht erinnern. Der australische Soziologe Marc McCrindle hat die Jüngsten als Generation Alpha bezeichnet, Twenge schlägt Polar vor – nach den schmelzenden polaren Eiskappen und der zunehmenden gesellscha lichen Polarisierung, mitverursacht von den sozialen Medien.

Die Gesellscha nach Alterskohorten zu untersuchen ist vor allem in den USA be-

Von der Mikrowelle bis zum Smartphone verändern technologische Entwicklungen den Alltag und somit die Gesellscha . Aber prägen sie eine ganze Generation? Für die US-Psychologin Jean Twenge sind sie der wichtigste Treiber

ILLUSTRATION: OLIVER HOFMANN

liebt, den Begriff populär gemacht hat allerdings ein Österreicher: Karl Mannheim, der in Budapest aufwuchs, das damals Teil der Habsburgermonarchie war, schrieb 1928 in „Das Problem der Generationen“, dass Menschen, die als Jugendliche die gleichen prägenden Erlebnisse teilen, später vor ähnlichen Herausforderungen stünden, und, je nach Klassenherkun , unterschiedlich lösen.

Als ein solches Ereignis hatte Mannheim damals den Ersten Weltkrieg im Kopf, Twenge denkt wohl eher an den 9. Jänner 2007, als der damalige Apple-Chef Steve Jobs das erste iPhone präsentierte. Die Wissenscha nennt einen solchen neuen Einfluss, der unabhängig von soziodemografischen Faktoren geschieht, heute einen Periodeneffekt.

Eine neue Technologie ist jedoch nur einer von zahlreichen Periodeneffekten, erklärt Valeria Bordone, die am Institut für Soziologie der Universität Wien zu Generationenbeziehungen forscht.

Wie entsteht Wissen?

Wer forscht in Österreich? Anna Goldenberg berichtet jede Woche darüber

In welchem Alter jemand etwas erlebt, sei es der Erste Weltkrieg oder das Einloggen auf Facebook, mache natürlich einen Unterschied, sagt Bordone. Aber welche Entwicklungen welche Eigenscha en beeinflussen, ist o nicht ganz einfach auseinanderzudröseln. „Die Unterschiede innerhalb der Gruppen sind o größer als zwischen den Gruppen“, sagt Bordone.

Und es sieht nicht so aus, als würde sich das in der nächsten Generation ändern. F

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BLATTKRITIK

AUF SPURENSUCHE IN DER TIROLER

BERGBAUERNWELT:

SUIZID, DEPRESSIONEN

UND DRUCK IM DORF WILDSCHÖNAU

So schön ist es in der Wildschönau, da muss man doch glücklich und zufrieden sein, oder?

Das sagt eine Person aus dem Dorf im sechsteiligen, preisgekrönten Radiofeature der Journalistin Sarah Seekircher gegen Ende hin. Da weiß man schon, dass der schöne Schein der Tiroler Berge trügt.

Seekircher taucht in „Die Geschichte der Ascher-Schwestern“ tief ein ins Leben von zwei Bergbäuerinnen, die vor 30 Jahren völlig überraschend gemeinsam Suizid begingen. Seekircher war mit „Anna und Midi“ weitschichtig verwandt, sie fragt noch lebende Verwandte, einen ehemaligen Nachbarn,

„Die Geschichte der AscherSchwestern“ von Sarah Seekircher als Ö1-„Hörbild“

landet nach Monaten schließlich im Landesarchiv und beim Verfassungsgerichtshof.

Depressionen in der bäuerlichen Bevölkerung, Armut und Entbehrung, Erbschaften und Streit um Besitz und Wegrechte, die rasanten Veränderungen, die mit dem Tourismus in die Region kamen, und die starren Dorfregeln, die nicht mitkommen: Seekircher erzählt vom Leben der beiden Schwestern als Stück Zeitgeschichte der Region. Vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig ist anfangs, dass sie dabei sich selbst immer wieder über die Schulter schaut, ihre Recherche kommentiert, Zweifel und Sackgassen ihrer Spurensuche miterzählt. Aber wer sich auf ihren Erzählstil einlässt, wird spätestens ab Ende der zweiten Folge nicht aufhören können weiterzuhören.

Der Journalismus stört das Silicon Valley. Die Unternehmen sind nicht demokratisch eingestellt.

MEDIEN

WATCHDOG

URTEILE IM MORDFALL KUCIAK

Die Ermordung des slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten im Jahr 2018 ist immer noch nicht restlos aufgeklärt. Freitag vergangene Woche wurde in Bratislava eine Angeklagte für schuldig befunden, den Mord organisiert zu haben. Sie muss 25 Jahre ins Gefängnis. Der Oligarch Marian Kočner, den die Staatsanwaltschaft als mutmaßlichen Auftraggeber des Mordes verfolgt, wurde wie schon beim ersten Verfahren 2020 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft wird in Berufung gehen. Die slowakische Öffentlichkeit reagierte geschockt.

ERSCHEINUNG

SMARTPHONES MACHEN TRAURIG

Kids werden diese Nachricht hassen: Jüngste Forschungsergebnisse des Global Mind Project mit 28.000 untersuchten Jugendlichen zeigen, dass das psychische Wohlbefinden von Jahr zu Jahr abnimmt – und dies im Zusammenhang mit dem zu frühen Besitz eines Smartphones steht. Die dringende Empfehlung der Experten: Smartphones sollten nicht vor dem 14. Lebensjahr verwendet werden. Kontakte mit Freunden kann man auch über ein einfaches Handy halten. Aber der soziale Druck, der über die gängigen Social-Media-Apps entsteht, schadet der Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins.

LEXIKON

DER ELEFANT IM RAUM

Reden wir über den Elefanten im Raum: Dieses Sprachbild taucht derzeit gerne auf. Zuletzt vergangene Woche, als der dänische Millionär Djaffar Shalchi in Wien vor dem schwarzen Kameel in der Wiener Innenstadt einen blitzblauen Elefanten aufblies. Shalchi benutzt das Tier, um darauf hinzuweisen, dass wir dringend über Steuern für Überreiche reden sollten. Wie kam es zum Elefanten als Symbol für ein Tabuthema? Es ist ein Beispiel für einen Anglizismus („elephant in the room“). Erstmals belegt ist die Formulierung in der New York Times vom 20. Juni 1959. Sie soll auf Dostojewskis „Dämonen“ (1873) zurückgehen.

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Gespräch mit Emily Bell, Seite 23
FOTO: APA/EVA MANHART FOTO: UNSPLASH FOTO: AFP/VLADIMIR SIMICEK FOTO:
BARBARA TÓTH
ORF/Ö1

„Das Silicon Valley ist

anti-journalistisch“

Emily Bell, Direktorin des Tow Centers für digitalen Journalismus, über die Bedeutung von Twitter für ihre Karriere, die Blauäugigkeit der Medienindustrie und wofür ihre Studenten ChatGPT verwenden dürfen

Für Emily Bell ist Twitter eine zerstörte Stadt. Jahrelang war die ehemalige Journalistin eine führende Stimme auf dem Kurznachrichtendienst gewesen, wenn es um Fragen rund um das Zusammenspiel von Journalismus und digitalen Technologien geht. Die gebürtige Britin ist Mitbegründerin und Direktorin des Tow Centers für digitalen Journalismus, das an der Journalism School der Columbia-Universität in New York angesiedelt ist.

Bell bildet hier Journalistinnen und Journalisten dafür aus, sich in einem digitalen Umfeld zurechtzufinden. Der Lehrplan wandelt sich ständig. In den ersten Jahren nach der Gründung des Centers 2010 war ein Schwerpunkt, Facebook-Algorithmen zu analysieren und gut formulierte Tweets zur richtigen Zeit abzuschicken. Dieser Tage diskutiert Bell mit ihren Studierenden den richtigen Umgang mit ChatGPT.

Am Tow Center, das von mehreren Stiftungen finanziert wird, aber kein Geld von Tech-Plattformen nimmt, wird auch geforscht und publiziert. Welche Art von Journalismus entsteht in E-Mail-Newslettern? Wie hat die Pandemie den Online-News-Konsum verändert? Was ist die Rolle von immer komplexeren Vorhersagemodellen, beispielsweise vor Wahlen, im Journalismus?

Bell beschäftigt sich besonders mit dem Einfluss großer Tech-Unternehmen wie Google und Facebook auf die Medienindustrie. Damit hat sie jahrelange praktische Erfahrung, war sie doch ab dem Jahr 2000 für den Onlineauftritt der britischen Tageszeitung The Guardian verantwortlich und entwickelte dessen Multimediaformate sowie die Auftritte in den sozialen Medien mit. Zuvor arbeitete sie als Reporterin im Wirtschaftsressort der Sonntagszeitung The Observer, die zum Guardian gehört.

Beim internationalen Journalismusfestival im italienischen Perugia, das heuer Ende April stattfand, ist die 57-Jährige Stammgast. Bei zwei Panels – eines über die Krisen bei Facebook und Twitter, eines über die Rolle von künstlicher Intelligenz im Journalismus – diskutierte sie mit, und auch abseits der Bühne ist sie stets von einer Menschentraube umgeben.

Für den Falter nahm sie sich Zeit für ein Gespräch an der Hotelbar über die Philosophie des Silicon Valley, das Ende von Buzzfeed News und darüber, was Twitter-Chef Elon Musk mit einem rücksichtslosen Immobilienentwickler gemeinsam hat.

Falter: Erinnern Sie sich noch, wie Sie sich erstmals für Twitter registriert haben, Frau Bell?

Emily Bell: Natürlich, das war 2007. Wir haben es damals nicht als soziales Netzwerk gesehen, sondern als einen tollen neu-

Wirtschaftsreporterin bei der britischen Sonntagszeitung The Observer in London. Bei der Tageszeitung The Guardian war sie ab 2000 für den Onlineauftritt verantwortlich. Sie ist Mitbegründerin des 2010 eröffneten Tow Centers für digitalen Journalismus an der Columbia-Universität, wo sie auch Journalismus unterrichtet. Sie lebt in New York Fortsetzung nächste Seite

MEDIEN FALTER 21/23 23
GESPRÄCH: ANNA GOLDENBERG
FOTO: TOW CENTER COLUMBIA
Emily Bell,
Jahrgang
1965, studierte Jus an der Oxford-Universität und begann 1990 als

en, interaktiven Weg, um Eilmeldungen zu konsumieren. Davor waren Journalisten alle völlig süchtig nach den Nachrichtenagenturdiensten oder ihren Pagern. Dann stiegen sie auf Twitter um. Und das finde ich nach wie vor das Besondere an Twitter: Wenn etwas irgendwo auf der Welt passiert, erfährt man es, egal, wer und wo man ist. Außerdem war es großartig, um neue Quellen zu entdecken und mit dem eigenen Netzwerk in Kontakt zu bleiben. Früher habe ich als Journalistin mindestens die Hälfte meiner Zeit damit zugebracht, Leute anzurufen oder zu treffen, um am Laufenden zu bleiben, was sie so machen. Das konnte ich nun auf ihren Twitter-Feeds nachlesen.

Und jetzt? Nutzen Sie Twitter noch?

Bell: Seit Elon Musk es vergangenen Herbst übernommen hat, verwende ich es so gut wie gar nicht mehr. Die Suche funktioniert nicht mehr und ein guter Teil meines Netzwerks hat es schon verlassen. Elon Musk ist wie ein Immobilienentwickler, der in eine lebendige Stadt kommt und einfach ein paar Häuserblocks abreißen lässt. Ihm ist es völlig egal, dass er damit funktionierende Gemeinschaften zerstört.

Fehlt es Ihnen?

Bell: Ich kann Twitter gut entbehren, weil ich es für meine Karriere nicht mehr brauche. Mir tun jene leid, die sich gerade als Journalisten etablieren wollen. Dafür ist es nämlich sehr hilfreich. Ich habe viel über die Rolle von sozialen Medien publiziert, auch wissenschaftlich. Aber erst wenn ich einen Twitter-Thread, also mehrere Tweets, zu einem Thema veröffentlicht hatte, konnte ich sicher sein, dass sich andere Medien bei mir melden und ein Interview oder einen Artikel wollten. So hat Journalismus funktioniert. Ich sage nicht, dass es gesund ist, weil es stets eine kleine Gruppe von Leuten betraf, aber es war auf jeden Fall zeitsparend.

Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Bell: Ich glaube, wir haben einfach geglaubt, was uns die Tech-Konzerne zu Journalismus gesagt haben. Sie hatten viel mehr Erfahrung im Umgang mit digitaler Technologie. Wir verwechselten das mit guten Ideen, wie Journalismus im Internet funktionieren kann und soll. Dabei hatten sie die nie. Stattdessen erklärten sie uns, was im Journalismus alles falsch läuft. So hat beispielsweise Google vor Jahren verbreitet, dass die Menschen dem Journalismus nicht mehr vertrauen und das dessen größ-

tes Problem sei. Aber das stimmte einfach nicht. Vertrauen fluktuiert, je nach Kontext und Situation; während der Pandemie war es beispielsweise sehr hoch. Aber die TechPlattformen haben es als Problem gepusht, weil sie damit sagen konnten, die Medienbranche hat ein Problem und das Publikum ist schuld. Damit lenkten sie von ihrer eigenen Verantwortung ab.

Nämlich jener, dass sie den Werbemarkt dominieren.

Bell: Genau. Google und Facebook haben auch immer wieder Medieninitiativen unterstützt. Dabei war stets das Ziel, Geschäftsmodelle zu entwickeln, die nicht auf Werbeeinnahmen basieren, denn damit würden sie ja ihren eigenen Produkten Konkurrenz machen.

Viele Medienunternehmen haben sich trotzdem abhängig von ihnen gemacht.

Bell: Natürlich ist das im Nachhinein leicht zu sagen, aber ich glaube, die Medien hätten skeptischer sein sollen. Das aktuellste Beispiel ist das Onlinemagazin Buzzfeed. Es wurde 2011 gegründet und hat auf soziale Netzwerke wie Facebook gesetzt, um die eigenen Inhalte zu bewerben.

Möglichst reißerische Titel, viele Listen, viele Quizze – Buzzfeed war legendär.

Bell: Buzzfeed News, ihre Nachrichtenabteilung, die sogar einen Pulitzer-Preis gewann, wurde im April geschlossen. Es ist ihnen nicht gelungen, ein nachhaltiges Geschäftsmodell aufzubauen.

Wird es je Tech-Firmen geben, denen Journalismus wichtig ist?

Bell: Ich glaube nicht. Für sie ist das Nachrichtenbusiness irrelevant. Wir sind ein winziger Markt. Dazu kommt, dass es eine tiefe kulturelle Spaltung gibt: Silicon Valley sieht den Umgang mit Informationen völlig anders als der Journalismus. Wenn es nach

Menschen, die nicht durch ethische Bedenken gehemmt sind, werden Technologien immer stärker auszunutzen wissen als jene, die es sind

den Tech-Firmen ginge, gäbe es lauter einzelne Content-Schaffende, so wie Influencer, die sie managen könnten, und keine journalistischen Medienunternehmen. Der Journalismus stört sie. Die Unternehmen sind, auch in ihren Strukturen, nicht demokratisch eingestellt. Viele sprechen das nicht so offen aus, aber ich finde, es gehört gesagt –die vorherrschende Philosophie des Silicon Valley ist anti-journalistisch.

Viele stellen sich nun die Frage, ob Journalisten ähnlich blauäugig mit ChatGPT und künstlicher Intelligenz umgehen.

Bell: Meine Studierenden sind gespalten, und ich denke, das veranschaulicht das Problem ganz gut. Ein Teil von ihnen benutzt es, denn die Software ist großartig für verhältnismäßig simple Programmieraufgaben, beispielsweise beim Umgang mit großen Datenbanken. Wenn man Grundkenntnisse hat, kann man sich da viel Zeit sparen. Aber wenn es um komplexere inhaltliche Fragestellungen geht, sind die Technologien noch nicht so weit. Und da sind die Studenten der Meinung, dass es reguliert werden soll. Ich halte übrigens auch den Ansatz, solche Software für alle Open Source, also frei zugänglich zum Weiterentwickeln zur Verfügung zu stellen, für höchst gefährlich.

Warum?

Bell: Weil Sicherheitsvorkehrungen oder ethische Richtlinien fehlen, um zu verhindern, dass es missbraucht wird. Es wird so getan, als sei Open Source inhärent demokratisch, aber das reicht nicht. Wenn man es jedem zur Verfügung stellt, wird nicht automatisch die beste Version entstehen. Wenn man es jedem zur Verfügung stellt, wird auch die furchtbarste Version entstehen. Denn Menschen, die nicht durch ethische Bedenken gehemmt sind, werden Technologien immer stärker auszunutzen wissen als jene, die es sind. Immer. Egal, ob es Waffen oder künstliche Intelligenz ist. Und jetzt heißt es, die Technologie ist schon draußen, wir können sie nicht mehr regulieren. Der Markt bewegt sich zu schnell. Aber wir kennen dieses Muster und wissen, dass dabei nichts Gutes herauskommt.

Wie bei den sozialen Netzwerken. Bell: Ich habe diesen Kreislauf bei Twitter durchgemacht: Der anfängliche Optimismus, der Enthusiasmus für das Neue, und dann die Verzweiflung, wenn Jobs verloren gehen. Ich glaube, das passiert jetzt alles noch einmal. Aber vielleicht schränkt meine Erfahrung auch meine Vorstellungskraft ein und es wird ganz anders. F

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Emily Bell beim internationalen Journalismusfestival in Perugia Ende April
Fortsetzung von Seite 23
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EMILY BELL FOTO: #IJF22/FRANCESO ASCONIO PEPE

NACHSPIEL DIE KULTURKRITIK DER WOCHE

AUTORINNEN UND AUTOREN STREIKEN IN HOLLYWOOD

GEGEN KÜNSTLICHE

INTELLIGENZ:

AUF ZUM LETZTEN

GEFECHT!

Die US-amerikanischen Drehbuchautorinnen und -autoren streiken. Unter anderem verlangen sie, dass die Filmstudios auf den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) verzichten. Der Einsatz von KI beim Verfassen von Exposés oder Treatments soll verboten werden. Menschen rebellieren gegen Roboter, eine Szene wie aus einem schlechten Science-Fiction-Film.

Text- und Bildprogramme wie ChatGPT werden mit Daten gefüttert, in denen sie Muster erkennen. Milliarden Fotos, Songs – oder eben auch Drehbücher – fließen in die Lernmaschinen, die in der Lage sind, eigene Werke zu produzieren. Noch wirken die KI-Erzeugnisse etwas tollpatschig, doch sie werden von Tag zu Tag besser. Und daher haben die Kreativen allen Grund zu streiken. Bald nämlich könnte ein Teil von ihnen tatsächlich durch Bots ersetzt werden.

Technikfreunde träumen bereits jetzt von Spielfilmen, die die Wünsche von Userinnen und Usern erfüllen, etwa eine Romanze mit einem Avatar des Zusehers, mit Marlon Brando und Elisabeth Bergner. Der Schauspieler Tom Hanks meinte scherzhaft, er könne in Filmen mithilfe von KI für immer jung bleiben. Die schreibende Zunft macht sich aus gutem Grund Sorgen, denn zumindest ein Teil seiner Auftragswerke setzt sich aus dem Wiederkäuen narrativer Klischees zusammen. Zumindest das deutschsprachige TV-Publikum hat sich längst an banale Dialoge, etwa: „Wo ist mein Handy“ –„Hier!“, gewöhnt. Es würde daher kaum auffallen, wenn der nächste „Tatort“ aus der Retorte käme.

Vielleicht findet der Protest bald schon mit vertauschten Rollen statt: Chat-Bots rebellieren gegen Hollywood – weil ihnen die Drehbücher, mit denen sie gefüttert werden, einfach zu schlecht sind.

FEUILL ETON

Helmut Berger, Weltstar und Wrack. In jungen Jahren der schönste

Mann, der je auf Erden wandelte. Verschwende

Die deutschen Männer hatten lange Zeit einen schlechten Ruf – und machen nun Boden gut. Eine internationale Umfrage ergab, dass 40 Prozent im Sitzen urinieren. Vom Teutonen zum Sitzpinkler, ein zivilisatorischer Quantensprung.

Die FPÖ Niederösterreich verklagt die Tagespresse auf 47.500 Euro. Das Satiremedium verschickte Fake-Gastro-Gutscheine, in denen eine patriotische Esskultur gefordert wurde. Liegt den Schnitzelfaschos schwer im Magen.

JENSEITS

Die Schuhmarke Camper versucht mit außergewöhnlichen Designs, ihr klobiges Image abzulegen. In der kommenden Saison: die Hundehaufen-Sandalette. Geeignet für Fauxpas auf Gehsteigen und Wiesen.

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deine Jugend, Seite 31 Der Autor ist Feuilleton-Chef und betrachtet die Entwicklung von KI mit Angst und Faszination
GUT BÖSE
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Das Brauhaus der Moderne

Die mondänen Villen der Industriellenfamilie Mautner Markhof in der Landstraßer Hauptstraße waren ein Zentrum der Secessionszeit. Jetzt ist eine davon vorübergehend öffentlich zugänglich. Eine Zeitreise in eine Wiener Idylle mit Rissen

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ch ja, die Sitzordnung. „Darf ich kurz?“

Die Kunstmanagerin Ema Kaiser, Bomberjacke, Getränkedose in der Hand, eilt vom Garten zurück in die Villa, wo die Vorbereitungen für ein Dinner laufen. Helferinnen in weißen Blusen tragen Tische in den Salon, Visagistinnen packen ihre Pinsel aus. Die Holzböden haben Löcher, Putz bröckelt von den Wänden. Für einen Abend wird die Villa Mautner-Jäger am weniger belebten Ende der Wiener Landstraßer Hauptstraße zur schäbig-schicken Bühne des Modelabels Chanel, das sich für ein secret dinner eingemietet hat.

Jahrelang stand die noble Villa MautnerJäger leer, Anrainer protestierten gegen den Verfall der Fassade. Nun will ein Immobilienunternehmen das Haus renovieren. Bis die Arbeiten anlaufen, finden von Kaisers Firma Node Contemporary organisierte, bedingt öffentlich zugängliche Events statt. Aktuell sind großformatige Frauenporträts der Malerin Michaela Schwarz-Weismann zu sehen. „Der Zuspruch ist enorm“, freut

Oben: Früher Salon, derzeit Galerie – Die Villa Mautner-Jäger in der Landstraße 140/142

RECHERCHE: MATTHIAS DUSINI

sich Kaiser. Gehaltvoll und bunt soll das Programm sein: „All genders and races are welcome!“

Heute wie damals gilt: Die Villa ist ein Prachtstück und gleichzeitig Zeitzeugin für ein Labor des Aufbruchs, als Wirtschaft, Kultur und Emanzipation zusammenfanden. Das stolze Gebäude symbolisiert die Hochphase der Wiener Moderne und gleichzeitig auch ihren Niedergang. Das Erbe bahnbrechender Künstler wie Kolo Moser oder Feministinnen der ersten Stunde wie Marianne Hainisch verschwand in der Versenkung.

Die erste Million

Die Geschichte dieser Villa beginnt in der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts, als ehrgeizige Unternehmer aus dem etwas rückständigen Wien eine Weltstadt machten. Eine dieser Familien hieß Mautner und kam aus einem böhmischen Weiler. Der junge Adolf Ignaz Mautner (1801–1889)

wagte 1840 den Sprung in die Metropole. Adolf Ignaz Mautner stieg innerhalb weniger Jahre vom kleinen Branntweinproduzenten zum Bierkaiser auf. Um das zu erreichen, musste er seine jüdische Identität abstreifen, die damals mit brutalen Benachteiligungen verbunden war. Die Mautners traten 1846 zum katholischen Glauben über, die Kinder sollten durch Heirat mit Adeligen den Aufstieg sichern. Die Erhebung in den Adelsstand mit dem Prädikat „von Markhof“ 1872 markierte den Höhepunkt der Assimilierung. Man hatte es, anders als der privilegierte Erbadel, aus eigener Kraft geschafft.

Die Mautners gehören nicht zu den ersten Familien, die man mit der glamourösen Wiener Ringstraßenzeit verbindet, zu den Ephrussis, Wittgensteins oder Rothschilds. Daher ist ihre Geschichte auch wissenschaftlich kaum aufgearbeitet. Dem passionierten Hobbyhistoriker Alfred Paleczny, einem pensionierten Mitarbeiter des Sparkassenverbands, ist es zu verdanken, dass

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ANDREAS TISCHLER

Grundzüge der Entwicklung bekannt sind. Paleczny rekonstruierte die jüdischen Ursprünge und den wirtschaftlichen Aufstieg. Ein Zweig der Familie, damals Mehrheitseigentümer der Schwechater Brauerei, war nach 1945 als Senfproduzent erfolgreich. Obwohl die Sparte inzwischen verkauft ist, heißen einige Produkte noch immer Mautner Markhof. Paleczny konzentriert sich auf die Frühzeit, als Adolf Ignaz den Grundstein für ein Imperium legte.

Damit nähern wir uns der Landstraßer Hauptstraße, wo Karl Ferdinand Mautner (1834–1896), der Sohn von Adolf Ignaz, einen repräsentativen Wohnsitz errichtete. Der alte Patriarch hatte in St. Marx, einem Viertel des dritten Bezirks, die drittgrößte Brauerei des europäischen Festlandes aufgebaut. „Karl Ferdinand stand im Schatten des übermächtigen Vaters“, erläutert Paleczny. Der junge Erbe heiratete im Alter von 29 Jahren eine erst 17-jährige Grazer Fabrikantentochter, die in acht Jahren sieben Kinder – davon einen Sohn – zur Welt

brachte und bereits 1872 – wohl an den Folgen einer Abtreibung – starb. Mit seiner zweiten Gattin Editha Freifrau Sunstenau von Schützenthal (1846–1918) kam ein fortschrittlicher Geist in den konservativen Haushalt. Und ein neuer Stil.

Fabrik und Atelier

Editha, Fotos stellen sie mit streng geflochtenem Haar und warmherzigem Blick dar, wollte raus aus der Fabrik, wo die Mautners bis dahin wohnten. Für ihre eigenen drei Töchter suchte sie eine Umgebung ohne Fabrikschlote. Und fand sie an der Adresse Landstraßer Hauptstraße 136.

Über dem Portal des heruntergekommenen Wohngebäudes erinnert die Jahreszahl 1891 an den Eintritt der Familie in die neue Ära. In diesem Jahr übersiedelte der Clan aus der Brauerei St. Marx in das Palais in Stadtnähe, den Kern eines repräsentativen Gebäudeensembles. Die Mautners erwarben auch die anschließende, aus dem

18. Jahrhundert stammende Nr. 138. Das Haus Nr. 140/142, wo derzeit Veranstaltungen stattfinden, war die letzte Etappe. Es wurde für die Tochter Hertha (1879–1970) und ihren Gatten Gustav Jäger geplant. Errichtet im Jahr 1902 von dem Architekten Franz Neumann jun. (1844–1905) – bekannt durch zahlreiche Villen auf dem Semmering – fällt die Villa durch barockklassizistischen Pomp auf. Sie zeigt den gesellschaftlichen Anspruch der jungen Familie. Man will zum Establishment gehören und baut im Stil des Großbürgertums, wenn auch nicht an erster Adresse. Betritt man das Haus, fällt der weitläufige Salon und die im Originalzustand erhaltene, weiß gekachelte Küche auf. Licht strömt durch den hohen Fensterbogen auf die geschwungene Steintreppe.

Um 1900 wurde diese Häuserzeile zum Schauplatz einer Gesellschaftsreform. Es geht um Aufbruch, Emanzipation, die Re-

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Doris und Josef Engelhart auf der Hochzeitsreise, 1895 Ein von Josef Hoffmann und der Wiener Werkstätte in Nr. 136 gestaltetes Arbeitszimmer, 1906 Gustav Klimt mit Martha und Editha Mautner Markhof, um 1910
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Die MM-Töchter: 2. von rechts stehend: Hertha Jäger. Links sitzend: Doris Engelhart und Ditha Moser
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ARCHIV ALFRED PALECZNY
Die Mautner Markhofs machten das Brauhaus St. Marx zur drittgrößten Brauerei von Festlandeuropa FOTO: GEMEINFREI

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bellion gegen starre Gesellschaftsregeln. Solch avantgardistische Ambition und luxuriösen Müßiggang konnte sich damals aber nur leisten, wer wohlhabend war. Für die allerjüngste Mautner-Markhof-Generation war die Zeit reif. Der Vater hatte das Vermögen aufgebaut, der Sohn es gut verwaltet und ein statusgemäßes Heim gebaut. Die Enkelinnen suchten jetzt nach Freiheit.

Salon und Emanzipation

Den Anfang machte die viertjüngste Doris Mautner (1871–1967) – markante Gesichtszüge, offener, neugieriger Blick –, die selbst Malerin werden wollte und sich weigerte, den für sie vorgesehenen Offizier zu heiraten. Stattdessen verliebte sie sich in den Maler Josef Engelhart (1864–1941). Sie hatte ihn kennengelernt, weil er auf dem Nachbargrundstück Steingasse 13–15 wohnte und hier sein Atelier hatte. Engelhart gehörte zur Keimzelle der Secession, jener Künstlergruppe, die den Wiener Jugendstil weltweit bekannt machen sollte. Die Heirat einer Mautner-Tochter 1895 bedeutete für ihn nicht nur Liebe, sondern auch wirtschaftliche Unabhängigkeit.

Auch die jüngste Tochter Editha (1883–1969), die bereits das strenge Mieder gegen bequeme Reformkleider tauschte, begeisterte sich für Kunst. Sie besuchte die Kunstgewerbeschule, an der Kolo Moser, ebenfalls Secessionist der ersten Stunde, unterrichtete. Moser und Editha wurden ein Paar und heirateten 1905.

Es war der Höhepunkt der Wiener Moderne. Die 1897 gegründete Secession suchte eine Formensprache für die industrielle Ära. 1903 gründete Moser gemeinsam mit dem Architekten Josef Hoffmann die Wiener Werkstätte, die ein Zusammenspiel zwischen Kunst, Design und Architektur anstrebte. Im großzügigen Salon der Mautners kamen die Protagonisten zusammen. Engelhart, ein begabter Netzwerker, schmiss legendäre Partys, an der auch die Tänzerin und Spionin Mata Hari teilgenommen haben soll. Kolo und Editha Moser zogen in ein Palais, das im Garten von Nr. 138 errichtet wurde. Gustav Klimt zeichnete Porträts, Hoffmann entwarf Möbel.

Hier präsentiert sich das Wien um 1900 wie aus dem Katalog: Aufgeklärte, reiche junge Frauen heiraten aufstrebende Bohemiens und verwandeln die elterliche Villa in einen Co-Working-Space. Die Ständegesellschaft wird durchlässig, zumindest in den oberen Etagen, und ermöglicht der jüdischen Minderheit die Teilhabe. Doch die Idylle bekam Risse.

Es waren nicht nur „Nervosität und Schlaflosigkeit“, die den Industriellen Karl Ferdinand Mautner Markhof in den Freitod trieben. Am 1. September 1896 erschoss er sich in der Landstraßer Hauptstraße 136 mit einer Schrotflinte. Neben dem Leichnam fand man einen Zettel, auf dem er ein Motiv für die Tat nannte – „die Kränkung darüber, dass ich in den antisemitischen Blättern wiederholt in nichtswürdiger Weise verdächtigt wurde“.

Der dritte Bezirk war nicht nur das Reich der Mautner Markhofs. Hier war auch die Homebase des damaligen Bürgermeisters Karl Lueger, eines Christlich-Sozialen mit damals milieutypischer antisemitischer Schlagseite, der seinen Aufstieg dem Engagement für die „kleinen Leute“ verdankte. Jüdische Industrielle waren damals ein beliebtes Feindbild antisemitischer Medien – und von Volkspolitikern wie Lueger. Ein

Kunstmanagerin Ema Kaiser: „All genders and races are welcome“

anderes waren Frauen, die für gleiche Rechte kämpften.

Editha von Mautner Markhof unterstützte den Wunsch ihrer jüngsten Kinder, den Partner frei zu wählen. So erfüllte sie eine Forderung der Frauenbewegung, die die Liebesheirat über die von Kalkül geleitete Standesehe stellte. Doris und Editha durften Künstler heiraten, die drittjüngste Hertha einen Physiker. Sie wohnte auf 140/142 und war weniger an der Kunst als an den damals ebenso in Mode kommenden Frauenrechten interessiert – an der Seite ihrer Mutter.

Stadt der Frauen

Die Verbindung zur Wiener Frauenbewegung war eng. Marianne Hainisch (1839–1936), die zentrale Persönlichkeit des frühen Feminismus in Österreich, wohnte nicht weit entfernt in der Rochusgasse 7. Die Aktivistinnen mussten bei null anfangen. Frauen hatten keinen Zugang zur Schule, Universität und Arbeitswelt. „Der Mann ist das Haupt der Familie“, lautete Paragraf 91 des Familienrechts.

1892 entstand in der Rahlgasse, auch auf Betreiben Mautners und Hainischs, das erste Mädchengymnasium, 1897 eine Kunstschule für Frauen und Mädchen, da Künstlerinnen der Zugang zur Akademie der bildenden Künste versperrt war. Die jungen Mautner Markhofs wichen auf die Wiener Kunstgewerbeschule (heute Angewandte) aus. Handwerkliche Techniken wie Weben oder Emailarbeiten traute man Frauen damals eher zu als Malerei oder Skulptur.

Der Buchhändler Georg Fritsch kam seit den späten 1970er-Jahren in die Villa Mautner-Jäger

Hertha Jäger, ein einziges Foto überliefert sie als schüchterne junge Frau, deren schmales Gesicht unter einem überladenen Hut verschwindet, kam nach der Mutter. 1903 gründete sie den Neuen Frauenklub mit und saß im Vorstand des Bundes österreichischer Frauenvereine. Sie unterzeichnete einen in der Neuen Freien Presse veröffentlichten Aufruf, der empört auf das angekündigte „allgemeine“ Wahlrecht reagierte: „Ausgeschlossen davon sollen in Hinkunft nur die Verbrecher, die Bettler, die notorisch Schwach- und Irrsinnigen – und die Frauen sein.“ In der Kunstfraktion gab es währenddessen Brösel.

Als die Secession 1905 auseinanderbrach, erschütterte der Streit das Familiengefüge. Zwei Parteien stritten über die Ausrichtung der Künstlervereinigung. Engelhart war der Wortführer der eher konservativen Naturalisten, die über die sogenannten Stilisten um Gustav Klimt triumphierte. Die Klimt-Gruppe, zu der auch Kolo Moser gehörte, verließ die Secession. Es gibt kein Protokoll dieser Fehde, aber wer die Villa Mautner-Jäger betritt, kann sich die damalige Szenerie in einem Roman leicht vorstellen, mit ein wenig Fantasie und Kenntnis der Personen und ihrer Zeit:

„Der einzige Künstler im Haus bin ich“, brüllt der Maler Josef Engelhart. Abrupt endet das Familienfest, das am 9. Juni 1906 auf Nr. 140/142 stattfindet. Die Mutter und Großmutter Editha Mautner Markhof, seit zehn Jahren Witwe, feiert ihren 60. Geburtstag. Der Salon der Tochter Hertha ist an diesem Samstag für das Dinner samt darauffolgender Soiree mit Pfingstrosen geschmückt. Am Montag wird der Clan auf den Semmering übersiedeln, wo Baurat Franz Neumann ein Sommerfrischehaus errichtete. Draußen spielen die Enkel zwischen blühendem Mohn.

Zuerst kreiste die Konversation um ein Feuilleton, das der Schriftsteller Stefan Zweig am Tag zuvor in der Neuen Freien Presse veröffentlichte. Darin geht es um den Londoner Hyde Park, den die Mautner Markhofs von ihren Besuchen in der englischen Hauptstadt kennen. „Zweig schreibt, das ist kein Park, sondern ein Heideland mitten in der Stadt“, berichtete die jüngste Tochter Editha. Sie liebt solche sarkastischen Vergleiche.

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FOTO: STEFAN KNITTEL
FOTOS: KATHARINA GOSSOW Georg Fritsch Antiquariat: www.selfritsch.at

Doch dann verdüsterte sich die Stimmung. Die Jubilarin, bekannt dafür, dass sie sich kein Blatt vor den Mund nimmt, ergriff das Wort. „Danken möchte ich auch meinen künstlerisch begabten und um Befreiung ringenden Töchtern, denen mitunter Steine in den Weg gelegt werden.“ Ganz klar, der Hinweis galt dem Schwiegersohn, der seiner Frau Doris das Malen untersagt. „Eine Unverschämtheit!“, murmelt Engelhart und kippt ein Glas Champagner hinunter. Und dann schlawenzelt auch noch sein Schwager Kolo herum, mit dem er seit einem Jahr kein Wort mehr gesprochen hat. Heimlich kriechen die Kinder unter dem Zaun hindurch, um mit den Neffen und Nichten in der vom verstorbenen Großvater errichteten Almhütte zu spielen. Stets gut gelaunt ist dieser Moser, hat das Lächeln von einem, der sich auf der richtigen Seite weiß.

Darauf tritt die kleine Engelhart nach vorne, um der Großmutter ein Stück auf der Geige vorzuspielen. Die kleinen Finger suchen auf den Saiten vergeblich nach den richtigen Tönen. Mit hochrotem Kopf eilt Engelhart auf das Kind zu, reißt ihm das Instrument aus der Hand und zerschmettert es auf dem Boden. „All genders and races are welcome!“, möchte man ihnen nachrufen. Entspannt euch!

Verstaubte Moderne

Während die weiteren Gebäude längst verkauft worden waren, wohnten auf Hausnummer 140/142, der Villa Mautner-Jäger, bis zuletzt Familienmitglieder. Wie in einer Zeitkapsel blieb der Geist von 1900 hier erhalten. Das erzählt ein anderer Freund des Hauses, der wie Kunstmanagerin Ema Kaiser oder Historiker Alfred Paleczny das Haus und seine Geschichte liebt: der Buchhändler Georg Fritsch, 76, Krawatte und professorale Hornbrille.

Er hat das Gebäude seit den späten 1970er-Jahren besucht, einer Zeit, als die Wiener Moderne wiederentdeckt wurde. Fritsch, immer auf der Suche nach interessanten Bibliotheken, lernte so die Nachfahren der Mautner Markhofs kennen. „Dieses Bücherregal stammt aus der Villa“, sagt Fritsch. Er sitzt in seinem Antiquariat in der Innenstadt und deutet auf ein schwarz-

lackiertes Möbel. Er hatte bis zuletzt Kontakt zu den Kindern von Hertha, geborene Mautner, und Gustav Jäger. „Links war eine geräumige Küche, rechts die Bibliothek, alles ziemlich düster.“ Fritsch kam nicht nur als Händler, sondern auch als Bewunderer: „Franz Glück, der Schwiegersohn der Jägers, war eine Legende. Er gehörte zu diesen allwissenden Herrschaften, die es damals gab. Allein in ihre Nähe zu kommen, war beeindruckend.“

Die Mautner Markhofs waren über Generationen hinweg wählerisch, was die Ehepartner betrifft. Sie gaben Kreativität und Intellekt den Vorzug vor Stand und Geld. Hilde Jäger (1903–1989) heiratete im Jahr 1924 Franz Glück (1899–1981), der im Verlagshaus Schroll & Co. arbeitete.

Er freundete sich mit dem Architekten und Essayisten Adolf Loos und – welch Ironie – dem Kritiker Karl Kraus an, der feministische Amazonen wie Hildes Mutter Hertha gerne verspottete. Im Auftrag von Kraus sollte er Briefe von und an den Kollegen Peter Altenberg herausgeben. Der studierte Germanist publizierte Anfang der 1960er-Jahre auch den ersten Band der Schriften von Adolf Loos.

Während der Nazi-Zeit durfte Glück als „Mischling ersten Grades“ keinen geistigen Beruf ausüben und verkroch sich in seiner Bibliothek, wie sein Sohn, der Filmregisseur Wolfgang Glück in einem Falter-Interview erzählte. Nach dem Krieg übernahm sein Vater die Leitung des damals noch im Rathaus untergebrachten Wien Museums. Der Gelehrte konzipierte den Neubau der

Die von Efeu überwucherte Fassade der Villa MautnerJäger, Landstraßer Hauptstraße 140/142

1 Landstraßer Hauptstr. 134, Eltern MM, 1891

2 Landstraßer Hauptstr. 136, Barockzeit

3 Gartenpalais u.a. Kolo + Editha Moser, 1898

4 Landstr. Hauptstr. 140–142, Villa Mautner-Jäger, 1902

5 Almhütte für Kinder, um 1895

6 Steingasse 13–15, Atelier Josef Engelhart, 1901

Institution am Karlsplatz, der 1959 eröffnet wurde. Seine Frau Hilde engagierte sich in der Friedensbewegung.

Inzwischen ist Buchhändler Fritsch selbst eine Legende. Sein monatlicher Newsletter Austria Drei ist eine Fundgrube der Wiener Kulturgeschichte. Hier erinnerte er auch an die Bewohner der Landstraßer Hauptstraße Nr. 140/142, die bei dem damals jungen Antiquar einen bleibenden Eindruck hinterließen: „Figuren wie Glück gehörten in der Nachkriegszeit zu einer geistigen Elite, gegen die schwer anzukommen war“, führt Fritsch aus. „Sie hatten einen hohen intellektuellen Anspruch, waren antifaschistisch und der Moderne aufgeschlossen.“

Fritsch kaufte Teile der Bibliothek von Franz Glück und seiner Korrespondenz und den Teilnachlass von Peter Altenberg. „Antiquariate sind auch Akademien“, sagt Fritsch. Hier würden Quellen freigelegt und für die Nachwelt gesichert. Orte wie die Mautner-Villen verschwinden oder werden in Luxusimmobilien verwandelt. Die darin entwickelten Ideen bleiben.

Die Ära der Familie Mautner-Jäger in der Landstraßer Hauptstraße endete standesgemäß schrullig. Die Bewohner gingen sich aus dem Weg, eine Antipathie, die so weit ging, dass im Garten imaginäre Grenzlinien gezogen wurden. 1991 verkaufte ein Großteil der Erben seine Anteile an die Raiffeisenbank.

Aus dem Archiv: „Die geniale Wienerin“ – die Futuristin und Mautner-MarkhofEnkelin Rosa Rosà, Falter 13/22

Wichtiger Hinweis

Der Besuch der Villa Mautner-Jäger ist nur nach Anmeldung möglich: nodecontemporary.com

Ein langer Rechtsstreit begann; Efeu wucherte über die straßenseitige Fassade. Die kunstsinnige Unternehmerin Kitty Reichman (Reichman-Shalom Opportunities) erwarb das Gebäude 2022. Sie will das Bauensemble einer „qualitätvollen Instandsetzung und modernen Interpretation unterziehen“.

Das secret dinner von Chanel hinterließ zufriedene Gesichter. Am nächsten Tag postete die Schauspielerin Verena Altenberger auf Instagram Fotos von dem Event. Sie war eine der Frauen, die die Malerin Michaela Schwarz-Weismann porträtiert hatte. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich Teil davon bin“, schrieb Altenberger. Markenpflege, Salonkunst und Edelfeminismus: Bis die Handwerker kommen, tanzen in der Villa Mautner-Jäger die Geister einer überschäumenden Vergangenheit. F

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Oberzellergasse Steingasse Landstraßer Hauptstraße
Das Entree der Villa Mautner-Jäger mit geschwungener Steintreppe FOTO: MATTHIAS DUSINI

Martin Amis: Kind des hedonistischen Scheiß-draufKapitalismus

NACHRUF:

KLAUS NÜCHTERN

In einer Ära, in der trigger warnings und sensitivity readings zur Selbstverständlichkeit geworden sind, muss die Karriere Martin Amis’ wie eine Story aus der Kreidezeit des literarischen Lebens anmuten. Im britischen Boys Club um Julian Barnes und Ian McEwan war der Jüngste unter ihnen zwar nicht der Höchstdekorierte – im Unterschied zu den anderen beiden wurde „Little Martin“ für den Booker Prize nur nominiert –, aber der mit dem meisten Sexappeal. Dass ihm dies den Beinamen „Mick Jagger der Literatur“ eintrug, konterte Amis adäquat arrogant mit der Frage, warum der nicht eigentlich als „Martin Amis des Rock ’n’ Roll“ apostrophiert werde.

Der meinungsfreudige Publizist – Oxford-Absolvent mit Auszeichnung, Romancier, Redakteur, Journalist und Rezensent – gab im Licht nicht nur der literarischen Öffentlichkeit, sondern auch der Klatschspalten mit Gusto das Enfant terrible und war bis zu einem gewissen Grad auch ein Kind jenes hedonistischen Scheißdrauf-Kapitalismus, den er in seinem bekanntesten Roman „Money.

A Suicide Note“ (1984, dt.: „Gier“) satirisch aufs Korn nahm. Zu den literarischen Hausgöttern Amis’, der wahlweise als brillanter Stilist oder manierierter Filou wahrgenommen wurde, zählte neben Vladimir Nabokov auch der US-Autor Saul Bellow, mit dem er befreundet war.

Neben der eigenen Person, über die er zuletzt in „Inside Story“ (2020; dt.: 2022) buchstäblich erschöpfend Auskunft gab, waren die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zu Amis’ Lebensthema geworden. Während er in „Koba, der Schreckliche“ (2002) mit Stalin und der kokett-frivolen Haltung der englischen Linken gegenüber „Uncle Joe“ abrechnete, legte er mit „Zone of Interest“ (2014; dt.: „Interessengebiet“) eine spekulative Holocaust-„Satire“ vor, die sich in etwa so las, als hätte Quentin Tarantino ein Remake von Franz Antels „Frau Wirtin bläst auch gern Trompete“ gedreht. Am 19. Mai ist Martin Amis in Florida einem Krebsleiden erlegen. F

Leben im Und

Der große bosnische Schriftsteller und Weltenerzähler

Dževad Karahasan ist gestorben

NACHRUF: STEFANIE PANZENBÖCK

Sein Geburtsort liege zwischen den Landesteilen Bosnien und Herzegowina, erzählte Dževad Karahasan in einem Falter-Gespräch vor knapp zwei Jahren. Er sei also in „Und“ geboren, im Zwischenraum, der verbindet und eint. Ein Ort, der zu Karahasan passt.

Im Jahr 1953 wurde er in Duvno geboren, heute trägt die Stadt den Namen Tomislavgrad. Immer wieder wechselte der Stadtname, ein Ausdruck der jeweiligen Staatsdoktrin. .

„Ich mag es nicht, etwas zu ideologisieren“, sagte Karahasan. „Ideologie entfernt die Wirklichkeit von uns.“ Sie produziere Vereinfachung. Als Schriftsteller habe er das Gegenteil im Sinn. „Die heiligste Aufgabe der Literatur ist, das Leben, die Komplexität eines jeden Phänomens zu artikulieren. Gegen Ideologien, gegen Vereinfachungen.“

Das heutige Tomislavgrad sei nicht schöner als das damalige Duvno. Das Licht auf der Hochebene, auf der die Stadt erbaut ist, habe seine materiell arme Kindheit „so prächtig“ gemacht.

Wenn Karahasan sprach, sprach sein ganzer Körper. Er richtete sich auf, krümmte sich, gestikulierte. Seinem Blick, der unentwegt auf seinem Gegenüber ruhte, konnte man nicht entgehen. Er zwang zur Konzentration und zum Denken.

Dževad Karahasan war BosnienHerzegowinas berühmtester Schriftsteller, ein großer Erzähler, Aufklärer und Erklärer. Er wurde in eine muslimische Familie geboren, interessierte sich in der Schule für Latein und vertiefte seine Kenntnisse bei Patres des Franziskanerordens. Später studierte er Literatur- und Theaterwissenschaft in Sarajevo und lehrte dort an der Akademie für szenische Künste. Ein Jahr nach Ausbruch des Krieges konnte Karahasan 1993 aus der be-

lagerten Stadt nach Österreich flüchten. Nach Kriegsende kehrte er wieder zurück. Er lebte bis zuletzt einen Teil des Jahres in Graz, die restlichen Monate in Sarajevo.

Karahasan veröffentlichte seit den 1990er-Jahren Theaterstücke, Essays, Erzählungen und Romane, etwa „Der nächtliche Rat“ (Insel 2006), in dem er in einem Dialog zwischen Toten und Lebenden über den drohenden Krieg in der bosnischen Stadt Foča schreibt. Oder sein monumentales Werk „Der Trost des Nachthimmels“ (Suhrkamp 2016), die Geschichte des Mathematikers und Hofastronomen Omar Chayyam. Dieser sieht eine von geistiger Vielfalt geprägte Epoche, die Zeit des Seldschukenreichs im 11. Jahrhundert, von religiösem Fundamentalismus bedroht. Karahasan vereinte in sich Geistesgröße und tiefe Empathie. Und er wusste, dass das eine ohne das andere nichts wert war. Erkenntnis, sagte er, sei dreidimensional: körperlich, emotional und kognitiv. „Eine menschliche Erkenntnis darf Emotionen nicht ausschließen“, sagte er. Es gebe Dinge, die könne man nicht durch Worte mitteilen.

Den Angelpunkt von Karahasans Schreiben bildete Sarajevo. Wobei die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas mehr eine Protagonistin als nur ein Ort des Geschehens war. Sie fungierte nach dem geografischen „Und“ Duvno als das ultimative „Sowohl-alsauch“. „Wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin, die alle Geschehnisse enthält“, schreibt Karahasan in „Tagebuch der Übersiedlung“, „alles, was ein Mensch erleben kann, alle Dinge und alle Erscheinungen der Welt, oder wie das Aleph von Borges alles, was gewesen ist, alles, was sein wird, und alles, was überhaupt sein könnte, in sich vereint, so enthält auch Sarajevo alles, was die Welt westlich von Indien konstituiert.“

Das 1993 entstandene „Tagebuch der Übersiedlung“ hieß bis vor zwei Jahren „Tagebuch der Aussiedlung“. Karahasan porträtierte in diesem Buch Sarajevo, das durch das Leid und die Zerstörung, die der Krieg brachte, zu seinem Schicksalsort geworden ist. „Sehr oft ist Verlust der Anfang von Erkenntnis. Das Leid macht das Nichterkannte sichtbar.“ Mit der Veränderung im Titel wollte Karahasan sich selbst als Autor zurücknehmen. Er sei aus der Stadt ausgesiedelt. Aber das Sarajevo, das er liebt, sei übersiedelt in eine Idealität. Es existiert nur noch in der Erinnerung.

Zu Beginn dieses Jahres erschien Karahasans neuer großer Roman auf Deutsch. „Einübung ins Schweben“ (Suhrkamp 2023) handelt von zwei Männern, einem Dichter und einem Gelehrten, zu Beginn der Belagerung. Wie verändert der Krieg den Menschen und was hat der Krieg in Sarajevo dort aus der Stadt gemacht? Der Gelehrte rettet sich in Wahnsinn und Zynismus. Der Dichter verliert seine Stadt. Aber Sarajevo hat überlebt.

Dževad Karahasan starb in seinem 71. Lebensjahr in Graz. Er wird in Sarajevo begraben sein. F

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FOTO: GERAINT LEWIS
FOTO: MARIJA KANIŽAJ Martin Amis 25. 8. 1949 19. 5. 2023
Dževad Karahasan 25. 1. 1953 19. 5. 2023

29. 5. 1944

18. 5. 2023

Verschwende deine Jugend

Der österreichische Schauspieler Helmut Berger zelebrierte zwischen Genialität und Genusssucht die Kunst des Verfalls

Helmut Berger, Weltstar und Wrack. In jungen Jahren der schönste Mann, der je auf Erden wandelte, zeigt er auch in seinen frühen Filmrollen – „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1970) etwa – bei allem Glanz auch schon eine dunkle, verdorbene Seite.

So viel Schönheit, wie der fesche Bub aus Salzburg geschenkt bekommen hatte, konnte einen mit richtigen Kontakten schnell nach ganz oben in die Filmwelt und den Jetset der 1970er befördern, sie hatte aber auch einen Preis. Sie war gefährlich. Berger strahlte diese brüchige Anmut aus.

Wo er mit seiner Entourage auftauchte, brachte er den Glanz von Cinecittà mit. Es war immer eine Gaudi. Wenn sich die Party nach ein paar Tagen auflöste, blieb eine Spur der Verwüstung. Später wurden die rauschenden Feste rarer, dafür richtete Berger sich in seinem langen Nachsommer über Jahrzehnte konsequent selbst zugrunde.

Der große Bruch in seinem Leben und seiner Karriere kam früh, mit 32, als 1976 sein Lehrmeister und Lebensgefährte Luchino Visconti verstarb. Unter dessen Regie hatte er seine größten Rollen gespielt.

Martin von Essenbeck in „Die Verdammten“ war 1969 sein spektakulärer Einstand in der Filmwelt.

Es war zwar nur eine Nebenrolle in dem Historienfilm über eine Industriellenfamilie und deren Kollaboration mit den Nazis, aber was für eine. Berger lehnte sie an den Krupp-Erben Arndt von Bohlen und Halbach an. In einer Szene trat er in Strapsen als Marlene Dietrich auf, gab die Lola aus „Der blaue Engel“ (die Dietrich schickte ihm darauf ein Foto mit Widmung: „Who’s prettier? Love, Marlene“), eine andere zeigte ihn beim inzestuösen Akt mit seiner Mutter.

Zum ersten Mal machte er Schlagzeilen. Damals noch als Schauspieler. Vier Jah-

NACHRUF: SEBASTIAN FASTHUBER

re später folgte die Rolle seines Lebens als tragischer Bayernkönig „Ludwig II.“ an der Seite von Romy Schneider und kurz darauf noch „Gewalt und Leidenschaft“, in dem Visconti ihre Beziehung verarbeitete.

So wie Schneider, mit der ihn eine Freundschaft verband, Oskar Werner oder Falco war Berger ein Vertreter der typisch österreichischen Kunst des Verfalls, bei dem Genie und Schlendrian, Genusssucht und Selbstzerstörung Hand in Hand gingen.

Der öffentlich zelebrierte Niedergang mit TV-Auftritten in diversen Stadien zwischen vollgekokst und hung over war nicht nur Teil der Show. Er stellte ab den 1980ern seinen Hauptberuf dar. Waren die meisten frühen Filmrollen schon nahe an seiner Lebensrealität angesiedelt, so spielte der spätere Berger sich praktisch nur noch selbst.

»Berger war der ultimative Hallodri, der uns einen Blick in eine dekadente Welt werfen ließ

Berger war der ultimative Hallodri, der uns bieder-spießigem Fußvolk zeigte, wie es auch geht, und uns einen Blick durchs Guckloch in eine dekadente Welt voller Vergnügungen und Ausschweifungen werfen ließ, die uns ansonsten verschlossen bleibt.

Nur war die Inszenierung leider längst nicht mehr so opulent und bis ins letzte Detail ausgetüftelt wie bei Visconti, sondern kam von der Stange und deutschen TV-Regisseuren. Es wurde billig und Berger, dem das herzlich egal zu sein schien, bisweilen vorgeführt.

Das Normalvolk sollte kurz in sein wildes Leben gucken dürfen. Selbst bei guten Auftritten, etwa in der Show von Harald Schmidt, schwang aber immer ein moralisierender Unterton mit: Hey, bleibt lieber normal und brav und 9 to 5 und schaut abends fern, sonst werdet ihr irgendwann auch so fertig wie dieser Typ. Überlasst das Verwüsten von Hotelzimmern dem Profi!

Nach Viscontis Tod trauerte er lange, unternahm auch einen Selbstmordversuch und sah sich als junge Witwe. Der große

italienische Regisseur hatte ihn in den zwölf Jahren ihrer Beziehung so ziemlich alles gelehrt, was er übers Leben und die Kunst wusste, rekapitulierte Berger in seiner grenzgenialen Autobiografie „Ich“ (1998).

1944 als Helmut Steinberger in Bad Ischl geboren, wo man ihm schon zu Lebzeiten ein schauderhaftes Denkmal gebaut hat, wuchs er in Salzburg in einer kleinbürgerlichen Hoteliersfamilie auf. Klassische Konstellation: strenger Vater, liebende Mama, die ihrem Sohn stets alles verzieh.

Mit 18 entfloh er dem Bierdunst nach Swinging London, nahm Schauspielunterricht, modelte. Zwei Jahre später verschlug es ihn für Sprachstudien nach Italien, wo er prompt den 38 Jahre älteren Visconti kennenlernte, der sich wie jede Kamera in ihn verliebte. An dem hohen Standard, den er an dessen Seite kennenlernte, maß Berger später alles. Also war ihm nichts recht. Seinen Ausflug in die USA durch eine Rolle in der TV-Serie „Der Denver-Clan“ bereute er.

Wiewohl er selbst ein Künstler des Oberflächlichen war: Hollywood und der way of life dort waren ihm dann doch zu banal. Gleichwohl machte er mit Trash weiter. Bei der Auswahl der Filme agierte er erratisch. Mal fand er den Regisseur sympathisch, mal erinnerte ihn eine Rolle an einen früheren Part.

Vielleicht war Berger Österreichs einziger Punk. Seine Jugend verschwendete er jedenfalls bis zum letzten Tropfen. Zuletzt schlich er wie ein Geist durch die Kulissen und Ruinen seiner Karriere. Im Videoclip zu „Tausend Tränen tief“ der Hamburger Band Blumfeld streift er in Erinnerungen schwelgend durch eine Hotelsuite. Kurz vor seinem 79. Geburtstag ist Helmut Berger in Salzburg, wohin es ihn am Ende doch wieder verschlagen hatte, im Schlaf gestorben. F

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Helmut Berger FOTO: TESTI/PA/PICTUREDESK.COM

SICHTBARE GRENZEN

Die Architekturbiennale in Venedig pendelt zwischen Öffnungswunsch und Elitismus. Österreichs Beitrag bringt diese Ambivalenz gekonnt auf den Punkt

Mitten in der Luft endet die Brücke, ein schwarz-gelbes Absperrband markiert eine türgroße Öffnung in der Mauer. Dahinter ein abgesperrter Saal mit Sitztribüne. Es ist ein gescheiterter Versuch, der vorige Woche bei der Eröffnung der 18. Architekturbiennale in Venedig präsentiert wurde. Und doch herrschte ausgesprochen gute Stimmung vor dem österreichischen Pavillon.

Gescheitert war die Idee des 17-köpfigen Wiener Architekturkollektivs AKT und des 86-jährigen Hermann Czech unter dem Titel „Partecipazione – Beteiligung“. Eigentlich wollten sie die Mauer des Giardini-Areals öffnen und den halben Pavillon den Bürgerinitiativen aus dem angrenzenden Viertel Sant’Elena überlassen, die sich gegen den Ausverkauf der Stadt wehren. Aber gerade dieses Scheitern macht den Beitrag zu einem der besten der internationalen Architekturschau.

auf das Rekordminimum von 50.000 gesunken, während die Biennale immer populärer wird. 300.000 Besucher werden bei der Architekturschau erwartet, bei der Kunstbiennale sind es sogar 800.000. Noch dazu agiert die Biennale selbst als Immobilienvermittlerin, und ihre stets anwachsenden collateral events kolonisieren Palazzi, Wohnhäuser, Erdgeschoßlokale. Entwicklungen, gegen die eine Vielzahl von Aktivistengruppen protestieren, weitgehend ignoriert von der Biennale-Öffentlichkeit.

Von oben nach unten: Euphorischer Afrofuturismus von Olalekan Jeyifous (Nigeria), Biennale-Kuratorin Lesley Lokko und der deutsche Pavillon als Materiallager

Nachdem der Mauerdurchbruch von Stadt, Biennale-Verwaltung und Denkmalbehörde abgelehnt worden war, schlug das Team vor, eine Brücke über ebendiese Mauer zu bauen. Auch daraus wurde nichts. Eine Stiege und ein halber Steg wurden trotzdem gebaut, als Zeichen dessen, was möglich wäre. Der Saal mit der Tribüne, die für Veranstaltungen der Initiativen vorgesehen war, bleibt permanent zugesperrt. Einerseits schade, denn die Aktivisten, die in Venedig kaum Räume für Begegnungen haben, hätten das Angebot mit Sicherheit genutzt. Aber für die plakative Illustration des Problems lieferte die Absage die Steilvorlage. Vorbereitet auf diesen Fall war man ohnehin. Schon bei der Bekanntgabe des Konzepts 2021 hatte Hermann Czech auf die Frage, was man bei einer Absage zu tun gedenke, trocken geantwortet: „Dann wird’s noch interessanter.“ Er sollte recht behalten.

Denn das Durchbrechen der Mauer war als explizite Kritik an der Biennale selbst gedacht, eine Kritik, die durch das unvollendete Bauwerk noch schärfer und klarer wird. „Die Biennale ist eine Exklave des internationalen Kunsttourismus“, erklärt Lena Kohlmayr von AKT, und diese Exklave macht sich immer mehr in der Stadt breit. Die Einwohnerzahl Venedigs ist

Die Ausstellung im Österreich-Pavillon stellt sie und ihre Forderungen in sachlicher Klarheit vor. „Zum Glück sind wir viele“, fasste Susanne Mariacher von AKT zusammen, und dank des doppelten Teamgeists aus Wien und Venedig spielten kuratorische Eitelkeiten keine Rolle, sondern gegenseitige Wertschätzung. Raum geben und machen lassen, ohne den Venezianern von oben herab zu erklären, wie Venedig funktioniert. Eine gelungene Kombination aus Kollektivgedanken, klarer Botschaft und räumlicher Umsetzung.

Das Überwinden von Grenzen und die Kritik an der Biennale selbst wurde auch anderswo verfolgt. Den Schweizern wurde der Mauerdurchbruch zum benachbarten venezolanischen Pavillon erlaubt, so ließen sich die verschränkten Biografien der beiden Architekten Carlo Scarpa und Bruno Giacometti erzählen.

Eine schöne Geste und ein Gegengewicht zum ESC-haften Länderwettbewerb, aber eben auch eine Überschreitung, die brav innerhalb der Biennale-Grenzen bleibt.

Programmatisch ambitionierter versuchen die Deutschen, über die Grenzen zu wirken. Das Konzept „Wegen Umbau geöffnet“ ist einleuchtend: Der Wechsel von Abriss und Neubau zu Reparatur und Recycling ist derzeit Hauptthema der Architekturwelt. Also wurden übriggebliebene Bauteile der Kunstbiennale gesammelt und warten nun, ordentlich sortiert und QR-Code-bepickt, in der Halle des Pavillons auf ihren Wiedereinsatz. Ein eindrückliches Bild, das an sich stark genug wäre. War es aber offenbar nicht. Es musste noch eine Werkstatt eingerichtet werden, die anscheinend dringend hilfsbedürftige venezianische Hand-

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FOTO: ARCHPLUS & SUMMACUMFEMMER & JULIANE GREB FOTO: OLALEKAN JEYIFOUS FOTO: CLELIA CADAMURO FOTO: AKT & HERMA FOTO: JACOPO SALVI
18. Internationale Architekturbiennale Venedig 2023: 20. 5. bis 26. 11. AUS VENEDIG: MAIK NOVOTNY

werker bei Reparaturen unterstützt, eine WG-Küche, in der diskutiert wird, ein Tisch für Bastelarbeiten, ein biologisches WC und eine neue, barrierefreie Rampe, die mit Performances des Tanzkollektivs Forward Dance Company bespielt wird, bis man rufen will: Schon gut, wir haben es verstanden! Ein Zuviel an guten Ideen, die sich in Summe zu einem großen, belehrenden Zeigefinger auftürmen. Hier war die tonnenschwere Diskursmaschine aus Berlin und Leipzig mit deutscher Gründlichkeit angerollt.

Ungleich vergnüglicher war die Art, wie der lettische Pavillon Kritik übte. Auf der Biennale entstehen alle zwei Jahre Ideen, die die Bubble der akademischen Welt selten verlassen. Die Motti und Beiträge der vorhergehenden Biennalen organisierten die Letten als bis ins kleinste Detail durchdachten Supermarkt: 506 verschiedene Produkte, ordentlich in Regale geschlichtet, vom Senf bis zur Tiefkühlhimbeere, gestaltet mithilfe von künstlicher Intelligenz. Inklusive echter Kassa und Dreikant-Warentrennholz, auf dem „More ideas, more architecture, more products“ geschrieben steht. Gekauft werden durften die Ideen selbstverständlich auch.

Auch die Biennale als Ganzes hat sich das Sichtbarmachen und Überwinden von Grenzen vorgenommen. Lesley Lokko, schottische Architektin mit ghanaischen Wurzeln und erste schwarze Biennale-Kuratorin, bündelte unter dem Motto „Laboratory of the Future“ mehrere Programmschienen, die Themen Dekarbonisierung und Dekolonisierung liefen als roter Faden durch. Wie all das räumlich installiert wurde, bestätigte zwar das Urteil jener Besucher, die in Venedig das Fehlen von „richtiger“ Architektur bemängeln. Doch die Schwerpunktverschiebung nach Süden sorgte für inhaltlich und visuell gut erzählte Geschichten, für neue Namen und neue Gesichter.

Eines davon ist der Londoner Performer-Poet Rhael Lionheart Cape, der auf großem Bildschirm in der langen Halle des Arsenale den Auftakt macht für eine dramaturgisch gut komponierte Reise vom Nigerdelta über Brasilia und Chicago bis Brixton. An Konflikten und Ausbeu-

Wien trifft Venedig: der zweigeteilte österreichische Pavillon und das Kollektiv AKT mit Hermann Czech im Gespräch mit Bürgerinitiativen in Sant’Elena FOTO:

tung mangelt es nicht. So zeigte der Architekt Andrés Jaque, wie die perfekten Oberflächen des milliardenteuren Investorenprojekts Hudson Yards in New York nur durch den intensiven Abbau von Chromit aus Zimbabwe und Kobalt aus Sambia möglich sind.

Neben kolonialer Aufarbeitung räumt Lokko auch der Euphorie und dem Erfindungsgeist des jungen Kontinents viel Raum ein. Olalekan Jeyifous aus Nigeria gestaltete eine großartige gelb-grüne Kathedrale des Afrofuturismus, eine technoökologische Zukunft des 21. Jahrhunderts mit schwarzen Ingenieurinnen und Yellow-Submarine-Piloten in 70er-Jahre-Kostümen. Eine afrikanische Utopie-Erzählung als willkommene Auffrischung nach endlos wiederholter Anbetung von alten Ideen weißer Architekturhelden der westlichen Moderne wie Le Corbusier oder Mies van der Rohe.

Aber auch die People-of-ColourArchitektur hat längst ihre Stars, und sie sind alle in Venedig anwesend. David Adjaye (Großbritannien, Ghana), Pritzker-Preisträger Diébedo Francis Kéré (Deutschland, Burkina Faso) oder Mariam Issoufou Kamara aus dem Niger, deren Präsentationen sich in den Ausstellungshallen eher unauffällig in das globale Panoptikum einreihten.

Dass jene Architekturstars oft aus reichen Familien stammen, wird gerne verschwiegen, und im Trubel der Eröffnungsfeierlichkeiten wurden neben den sichtbaren Grenzen von race auch die weniger sichtbaren von class deutlich. Zwar sind die Protagonisten vielfältiger, das Publikum unterschied sich kaum von dem früherer Jahre. Es war ein Familientreffen bekannter, vorwiegend amerikanisch-europäischer Gesichter.

Die anderen hatten kein Visum bekommen oder konnten sich die Reise schlicht nicht leisten. Hier spiegelt die Biennale die globale Ungleichheit, die auch Kuratorin Lesley Lokko in ihrer Eröffnungsrede unterstrich: „Die Anwesenheit dieser Menschen kann man nicht dem Zufall oder der Gnade überlassen. Eines Tages müssen die afrikanischen Länder selbst Gastgeber werden.“

Der Bau der Brücke hat begonnen, aber sie ist erst halb fertig. F

25. – 26. MAI MÉMÉ Sarah Vanhee, Theater Nestroyhof Hamakom, 25. MAI: 20 Uhr, 26. MAI: 18 Uhr

DRIVE YOUR PLOW OVER THE BONES OF THE DEAD Simon McBurney / Complicité, Theater Akzent, 20 Uhr

CANTI DI PRIGIONIA Matija Ferlin, Goran Ferčec, Luigi Dallapiccola, Cantando Admont, PHACE Jugendstiltheater am Steinhof, 20.30 Uhr

25. MAI TALK Marina Davydova, Mikheil Charkviani und Bence György Pálinkás, Odeon, 18.30 Uhr, EINTRITT FREI

CLUB LIAISON Karo Preuschl

Franz Josefs Kai 3, 22 Uhr, EINTRITT FREI

26. MAI ELECTIVE AFFINITIES Festwochen Konzertserie

Maurice Louca: The Luck Hour, Porgy & Bess, 21 Uhr

FESTIVAL LOUNGE Monsieur Smoab | Radio Superfly Porgy & Bess, 22 Uhr, EINTRITT FREI

26. – 27. MAI MUSEUM OF UNCOUNTED VOICES Marina Davydova Odeon, 17 und 21 Uhr

27. MAI –6. JUNI

LULU Marlene Monteiro Freitas, Alban Berg, Maxime Pascal, ORF Radio-Symphonieorchester Wien Halle E im MQ, 19 Uhr

27. MAI FESTIVAL PARTY Hosted by Res.Radio Club U, 21 Uhr, EINTRITT FREI

28. MAI –1. JUNI

ANGELA (A STRANGE LOOP) Susanne Kennedy, Markus Selg, Halle G im MQ, 20 Uhr

28. MAI CLUB LIAISON Jen Rosenblit Franz Josefs Kai 3, 20 Uhr, EINTRITT FREI

31. MAI –1. JUNI DĖDĖ VANIA Tomi Janežič, Anton Tschechow Theater Akzent, 18.30 Uhr

31. MAI TALK Iris Fink, Angie Ott, Alexa Oetzlinger, Antonia Stabinger und Toxische Pommes Wiener Metropol, 18.30 Uhr, EINTRITT FREI

COMISH David Scheid, Malarina, Jean Philippe Kindler: WTF?! – Über das kritische Potenzial des gemeinsamen Lachens Wiener Metropol, 20 Uhr

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Nimmt es als Aktivistin im Kampf gegen die Opioidkrise mit der mächtigen Pharmadynastie Sackler auf: Nan Goldin

„All the Beauty and the Bloodshed“, ab 25. 5. in den Kinos (OmU im Votiv, Filmcasino, Gartenbau)

„Die US-Regierung hat nichts getan“

Die Filmemacherin Laura Poitras dokumentiert die Opioidkrise – und eine berühmte Überlebende, die Fotografin Nan Goldin

Das Medikament selbst sei nicht das Problem. „Menschen mit heftigen Schmerzen, die gerade eine Operation hatten, brauchen Schmerzmittel“, sagt die USamerikanische Dokumentarfilmregisseurin Laura Poitras im Interview. „Das Problem ist, dass die Pharmafirma die Risiken, davon abhängig zu werden, falsch dargestellt hat. Mit massiver Werbung hat sie den Ärzten das Medikament aufgedrängt, und die haben es aggressiv verschrieben.“

Poitras’ neue Doku „All the Beauty and the Bloodshed“ beschäftigt sich mit Oxycontin, das die Pharmafirma Purdue Mitte der 1990er auf den Markt brachte. Viele Menschen wurden nach dem gegen alle möglichen Schmerzen verabreichten Medikament süchtig und starben an einer Überdosis. Weit mehr als eine halbe Million Amerikaner sind dem Suchtmittelmissbrauch bisher zum Opfer gefallen, während der Umsatz von Purdue durch die Decke ging. Bis heute hält die sogenannte Opioidkrise die USA im Würgegriff.

Eine überlebende Betroffene ist die 1953 in Washington, D.C., geborene Fotografin Nan Goldin, die im Zentrum von Poitras’ Film steht. Vor etwa zehn Jahren wurde ihr Oxycontin verschrieben. Abhängigkeit, Überdosis und Entzug folgten. Die Künstlerin, die durch Reportagen des New Yorker Undergrounds bekannt wurde, begann zu recherchieren. Sie fand heraus, dass hinter Purdue die Pharmadynastie Sackler steht, die sich als Mäzen in der Kunstwelt hervortut. In zahlreichen Museen, in denen auch Werke Goldins hängen, prangte der Name Sackler an den Wänden.

Hier setzte die streitbare Künstlerin an. Sie gründete die Organisation P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), die mit Aktionen in Museen auf die düstere

FEATURE: SABINA ZEITHAMMER

Wahrheit hinter der schönen Vernissagenwelt aufmerksam macht. Und dann kam Laura Poitras ins Spiel: „Nachdem Nan viele der Protestaktionen selbst dokumentiert hatte, suchte sie andere Filmemacher, die an Bord kommen wollten. Sie kannte meine Arbeit, und so trafen wir uns.“ Die Filmerin, die sich in ihrem Werk immer wieder mit Missständen auseinandersetzt – für die Doku „Citizenfour“ über den Whistleblower Edward Snowden erhielt sie 2015 den Oscar –, übernahm die Regie.

Das von Poitras dokumentierte Durchhaltevermögen der P.A.I.N.-Mitglieder wird im Lauf des Films mit Erfolgen belohnt. Museen beginnen, ihre Finanzierung durch vermeintliche Philanthropen zu überdenken. Und auch die Familie Sackler bekommt Poitras ins Bild. Im Zuge eines Gerichtsprozesses wird sie zu einem Online-Hearing mit Betroffenen der Opioidkrise verurteilt, unter denen sich auch Goldin selbst befindet. Es ist eine der erschütterndsten Sequenzen des Films, eine „Erfahrung, durch die wir uns alle emotional zerschmettert fühlten“, wie Poitras berichtet.

Die Auseinandersetzung mit der Opioid-Epidemie macht allerdings nur die Hälfte dieses ungemein dichten, vielschichtigen Films aus. Schnell war für Poitras klar, dass sie in ihrer Doku auch Goldins Leben und Werk porträtieren wollte. Über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren trafen sich die Frauen zu Gesprächen. „Als ich mit diesen Interviews begann, öffnete das einen viel persönlicheren Raum des Films“, erzählt die Regisseurin.

Sie liegen als Voiceover über dem Archivmaterial, das ein Rechercheteam zusammengetragen hat, sowie – natürlich – über den Fotos aus Goldins Werkgruppen. Von Goldins Aufwachsen in einem dysfunktio-

nalen Elternhaus bis zum Jahr 1989 führt Poitras’ Porträt, das sie meisterlich mit Goldins Aktivismus zu einem Film verwebt. Es beleuchtet, wie die bisexuelle Künstlerin in den 1970ern eine neue Familie in der queeren Community New Yorks fand. Wie sie sich mit Fotografien, die ihr direktes Umfeld zeigen und tabuisierte Themen wie Sex, Drogensucht und Gewalt aufgreifen, in der Kunstwelt etablierte.

Bemerkenswert ist, wie viel Leid Goldin im Lauf ihres Lebens verkraftet hat. „Sie war immer eine Kämpferin“, sagt Poitras, „angetrieben von ihrer Arbeit und ihrem Gerechtigkeitssinn. Ihr Werk ist voller Hoffnung und Schönheit, trotz aller Tragik drumherum.“

Vergangenheit und Gegenwart berühren sich, wo Poitras über das dunkelste Kapitel in Goldins Leben berichtet: das Sterben fast aller Freunde während der Aids-Pandemie in den späten 1980er-Jahren. In einem großen, sozial und politisch entlarvenden Bogen stellt Poitras zwei Krisen nebeneinander, die gleichermaßen von gesellschaftlicher Ignoranz und der Untätigkeit des Staates zeugen.

„Wir schauen in den USA nicht kritisch auf unsere Vergangenheit, wir ziehen Menschen nicht zur Verantwortung. So wiederholen sich diese Katastrophen“, sagt sie. „In der Opioidkrise hätte die Regierung schon vor 20 Jahren etwas tun können. Aber sie hat nichts getan. Das passiert, wenn man ein System hat, das Profit priorisiert. Es dreht sich alles um Geld, mehr als um Menschenleben. Es ist beschämend.“

So wird ihr packender Film auch ein Zeugnis der Notwendigkeit, immer wieder für Gerechtigkeit aufzustehen, die Protestkultur zu pflegen. Insbesondere mit der Kraft der Kunst. F

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FOTO: POLYFILM
Laura Poitras, Jg. 1964, bekam für die Doku über den Whistleblower Edward Snowden einen Oscar FOTO: JAN STÜRMANN

Pesls Festwochentagebuch: Notizen eines Festivalbesuchers (2)

Nur dabei statt mittendrin, und es ist gut so

Martin Pesl sieht sich fast jede Vorstellung der Wiener Festwochen an

Montag, 15. Mai: Liebes Tagebuch!

Heute war ich in „Pieces of a Woman“, der Produktion von Kata Wéber und Kornél Mundruczó, zu der es auch einen Netflix-Film gibt. Aber das Stück war zuerst da! Es hatte schon Ende 2018 in Warschau Premiere. Für diese Art Gastspiel liebt man die Festwochen: packendes Schauspiel, eine emotional mitreißende Story über eine turbulente Hausgeburt, an deren Ende das Neugeborene stirbt. So richtig fängt das Drama erst an, als sich die traumatisierte Mutter später ihrer verkorksten und ziemlich katholischen Familie stellen muss.

In Polen wurde während der Probenzeit im Zuge einer Reform der Abtreibungsgesetze heftig diskutiert, wem der weibliche Körper gehört. Beim Publikumsgespräch verriet mir der ungarische Regisseur Mundruczó, dass ihm dieser Bezug gar nicht so recht sei – er wolle einfach entgegen

der postdramatischen Theatertradition Geschichten erzählen. Dass wir aus dem Akademietheater rausmussten und ich keine Zeit mehr hatte, ihn zur politischen Situation in Ungarn zu befragen, kam ihm, glaube ich, auch gelegen. Er wolle sich nicht dauernd für Orbán entschuldigen, hatte er, der jetzt in Berlin lebt, mir zuvor erklärt.

Dienstag, 16. Mai: Wie Mundruczó arbeitet auch die belgische Theatermacherin Anne-Cécile Vandalem sowohl mit im Breitwandformat projiziertem Live-Video als auch mit ungewohntem Realismus. Das machte ihr Stück „Kingdom“ so besonders, dessen Dernière im Jugendstiltheater ich heute besucht habe. Da berichten in einem Setting aus Bäumen, Flüsschen und Waldhütten ein verschrobener Auswanderer, seine Kinder und Enkel einem Filmteam von der Feindschaft mit benachbarten Cousins. Als Gastspiel in der Fremdsprache Französisch habe ich die überdramatisch erzählte Kuriosität genossen. Auf Deutsch wäre sie mir wohl zu pathetisch gewesen.

Mittwoch, 17. Mai: Vom CinemascopeAusstattungstheater zum schlichten Solo im Hamakom: Der Iraner Key-

Justyna Wasilewska brilliert als Maja in „Pieces of a Woman“

auf

Keyvan Sarreshteh reist in der Zeit und tanzt dort auch ein bisschen

van Sarreshteh erzählt in „Timescape“ mit minimalen Mitteln eine schrullige Sci-Fi-Story von einem Zeitreisenden, der ein Paar (seine Eltern?) in diversen Lebensphasen besucht. Kompliziert, aber sympathisch.

Freitag, 19. Mai: Von „Sun & Sea“, der Operninstallation, bei der das Publikum von oben auf eine die Klimakrise besingende Strandbadgesellschaft herabschaut, habe ich schon so viel gehört, dass es sich wie ein Déjà-vu anfühlte, sie im Semperdepot tatsächlich zu erleben. Die litauische Produktion gewann 2019 bei der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen. Schwer zu sagen also, wie ich sie dann fand. Ziemlich perfekt, würde ich sagen. Dann war noch Party in der Halle

Déjà-vu: die perfekte Performance „Sun & Sea“ endlich in Wien

G: „Skatepark“ von Mette Ingvartsen ist auf dem Papier ein Tanzstück, de facto gingen einfach zehn echte Skaterinnen und Skater auf ihren Boards und Instrumenten voll ab. Sie fuhren ihre Moves und rockten ihren Punk. Ich headbangte im Sitzen mit und war fast neidisch, nur Zuschauer zu sein. Weiß aber auch: Mittendrin im Skatepark hätte ich mir sofort alle Knochen gebrochen. Passt also eh: Sichere Festwochen sind gute Festwochen. F

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FOTO:
FOTO: NATALIA KABANOW NURITH WAGNER-STRAUSS
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Foto © Marcel Urlaub Ich
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Welt im Zitat Fehlleistungsschau

Wie uns die Alten sungen

Hengameh Barzin, geboren am 16. August 1343, ist eine iranische Popsängerin. Sie hat zwei Alben veröffentlicht.

Aus www.stadthalle.com

Physikalisches Wunder

Heute sollen die gestrigen Niederschläge wieder zurückgehen.

Aus der Kleinen Zeitung

Radier dich mal wieder Bewusst gemahnt Bertlmanns noppenreiche Kunst an Schnuller. Die Feministin mischt aber auch Kontrapunkte wie Radierklingen unter. Aus der Falter:Woche

Billiger! Billiger!

Der kostenlose Gratis-Kindergarten für Drei- bis Sechsjährige sorgt in manchen Gemeinden für Debatten. Aus salzburg.orf.at

It’s magic!

Zugunsten der Konflikte der Figuren verzichtet die Inszenierung auf ein üppiges Bühnenbild, nützt dieses aber raffiniert.

Aus dem Standard

Geisterfahrermeldung

Ein 31-Jähriger war mit seinem Kleinbus falsch auf die A2 Richtig aufgefahren.

Aus dem Teletext

Unfallfolgen

Die 28-jährige Lenkerin des entgegenkommenden Pkws wird schwer, ihr 34-jähriger Beifahrer leicht. Laut Polizei war der Geisterfahrer alkoholisiert.

Ebd.

WC-Kompostierung

Der Bezirk Eggenberg setzt auf nachhaltige „Öko-Klos“: Zwei Stück dieser biologisch abbaubaren Toiletten wurden bereits im Gemeindepark Eggenberg platziert.

Aus Woche Graz

Für Nachzügler

Genua ist längst keine graue Hafenstadt mehr, sondern eine lebendige Großstadt. Erreichen kann man die Hauptstadt Liguriens ziemlich bequem mit dem Nachzug.

Aus der Presse

Auch Kleinvieh mach Mist

Eine von der Bundesregierung beauftragte Gesellschaft – etwa der Verbund, dessen Gas Connect Austria oder die OMV – sollte Gaseinkauf und -lieferung von bis zu 6,5 Kubikmeter Gas organisieren.

Aus dem Standard

Walking Dead, artenreich

Um 1850 sind sogar viele Tiroler ausgewandert, weil sie verhungert sind, so mager waren die Wiesen. Aber sie waren auch artenreich.

Aus orf.at

Für gedruckte Zitate erhalten Einsender ein Geschenk aus dem Falter Verlag (an wiz@falter.at)

Meldungen

Geld für Festspielzentrum

Die Salzburger Festspiele freuen sich über eine großzügige Spende. Zwölf Millionen Euro wird der Schweizer Unternehmer und Investor HansPeter Wild dem Festival zur Verfügung stellen. Der Mäzen macht damit die Errichtung des Festspielzentrums am Herbert-von-KarajanPlatz möglich. Den Architekten Marte.Marte sei ein wirklich guter Wurf gelungen, „also habe ich gesagt, das ist eine gute Sache, was soll es kosten?“, so Wild. Intendant Markus Hinterhäuser ist hocherfreut: „Vielleicht ist das Festspielzentrum ein Anstoß, aus der Wüste an Schildern und Ampeln einen Platz zu gestalten, der der Umgebung würdig ist.“ Das Zentrum soll bis 2026 fertig sein. Es ist die größte finanzielle Einzelzuwendung in der Geschichte der Salzburger Festspiele.

Das letzte Loos-Haus

Ein nie gebauter Entwurf des Architekten und Vorreiters der Moderne Adolf Loos wird Realität. Es handelt sich um ein kleines Einfamilienhaus, das er im Jahr 1932 für die Tochter eines Industriellen plante. Die Bauarbeiten werden morgen in Prag begonnen, teilt ein Sprecher des Technischen Nationalmuseums (NTM) mit. Anfang nächsten Jahres werde mit der Fertigstellung gerechnet. Bei dem Objekt mit dem Titel „Das letzte Haus von Adolf Loos“ handelt es sich um einen Holzbau mit einem Flachdach in Quaderform, der außen in Grün angestrichen ist. Im Inneren setzt dieser den für Loos typischen „Raumplan“ um, bei dem die Decke je nach Funktion des Zimmers unterschiedlich hoch ist.

Info: www.fa.cvut.cz

Geldmangel im MuTh

Der Konzertsaal der Wiener Sängerknaben MuTh befindet sich in finanziellen Nöten. Da der Hauptsponsor und Mäzen Peter Pühringer seine Gelder abzieht, muss der musikalische Betrieb weitgehend eingestellt werden. Allein die Aufführungen der Wiener Sängerknaben bleiben erhalten. Das MuTh befindet sich am Wiener Augartenspitz, es bietet 413 Gästen Platz. Seit seiner

Nüchtern betrachtet

Klaus Nüchtern berichtet aus seinem Leben. Die Kolumnen als Buch: faltershop. at/nuechtern

Überm Haupt hätt ich gern ein Flämmchen

Zunächst möchte ich mich für den Titel der dieswöchigen Kolumne entschuldigen. Er ist sowohl rhythmisch als auch hinsichtlich seiner Thema-Rhema-Progression suboptimal. Schlicht und bündig müsste er natürlich „Ich hätte gern ein Flämmchen überm Haupt“ lauten, aber das ist im Prokrustesbett dieses Layouts nicht möglich. Na, Hauptsache, man kennt sich aus. Es geht natürlich um Pfingsten, genau genommen um das Pfingstwunder, wie es uns Lukas im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte berichtet; um die große Gegenerzählung zur babylonischen Sprachverwirrung, den Gründungsmythos der drahtlosen Simultandolmetscherei: Ausgießung des Geistes über das Fleisch, Zungenreden, Flämmchen über den Häuptern – das volle Programm.

Geiler Stoff, keine Frage. Ich hätte das zum Anlass nehmen wollen, um in einem Essay der Frage nachzugehen, was es eigentlich mit der Nummer drei im Himmel auf sich hat, die gerne in Gestalt einer Taube aufritt. Was genau ist des Heiligen Geists Agenda? Ich weiß nicht, wie oft ich in der Kirche das Glaubensbekenntnis aufgesagt habe, ohne mich je zu fragen, was damit eigentlich gemeint ist: mit Gottes „eingeborenem“ Sohn, der zwar von Maria „geboren“, aber durch den Heiligen Geist „empfangen“ wurde? Warum heißt es dann „Mariä Empfängnis“? Und wie konnte eine Religion ihren weltweiten Siegeszug antreten, die sich über ein hochabstraktes, für jeden Normalsterblichen undurchschaubares Konzept wie jenes der Trinität die Köpfe nicht bloß heißgeredet, sondern auch gerne einmal eingeschlagen hat?

Eröffnung im Dezember 2012 lief ein ambitioniertes Programm zwischen Musik und Theater, bei einer Auslastung von 58 Prozent. Das Haus kam ohne öffentliche Subventionen aus, der Betrieb wurde zur Hälfte von der Pühringer-Gruppe finanziert. In der aktuellen Spielzeit beträgt das Gesamtbudget des Hauses 2,4 Mio. Euro. Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage reduziert Pühringer sein Investment um 75 Prozent. Gründungsdirektorin Elke Hesse gibt sich allerdings weiterhin zuversichtlich. Sie hofft, 250.000 Euro durch neue Sponsoren, Projektförderungen von Stadt und Bund sowie durch ein Benefizdinner am 14. Juni auftreiben zu können.

Es mag durchaus sein, dass ich religiös unmusikalisch bin, aber ich hätte das wirklich gerne verstanden. Ich habe mir einen ganzen Stapel Bücher besorgt, Einführungslektüre angeblich. Da landet man sehr schnell bei den soteriologischen und pneumatologischen Aspekten der Trinität und kriegt erklärt, „dass alle drei trinitarischen Hypostasen jeweils durch die Beziehungen zueinander definiert sind und dass diese Beziehungen jeweils das entscheidende definierende Merkmal dafür sind, wer die Hypostasen sind“. Echt jetzt? Auferstehung, Marienverehrung oder Witwenverbrennung kapiere ich ja noch irgendwie, aber bei sowas steig ich aus. Vielleicht wende ich mich dem Hinduismus zu. Die haben einen kleinen, dicken Elefantengott, der Hindernisse aus dem Weg räumt. Find ich cool.

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Kultur kurz Tex Rubinowitz Die falbe Seite Dem MuTh, Konzertsaal der Wiener Sängerknaben, geht das Geld aus FOTO: APA/HERBERT PFARRHOFER

STADTRAND URBANISMUS-KOLUMNE

DIE QUALITÄT DES WIENER DONAUWASSERS

IST SUPERFEIN –

IMMER NOCH

Samstag, erstmals Badewetter. Zwischen der Vorfreude auf den ersten Sprung ins Nass und adäquater (noch ziemlich extremer) Abkühlung schwimmt eine gräuliche Schicht. Ist es die Schar an Schwänen, die zwischen Donauinsel und Rudolf-Nurejew-Promenade treibt und ihre Spuren hinterlässt? Oder stimmt die subjektive Beobachtung, dass die Wasserqualität hier abgenommen hat?

Dass die Klimakrise auch Gewässer stresst, ist bekannt. Steigen die Lufttemperaturen, wird auch das Wasser wärmer. Das ist vor allem ein Problem für Fischarten wie Seeforellen, die kaltes und sauerstoffreiches Wasser brauchen. Auch mehr Algen können wachsen. Jetzt ist der Mensch kein Fisch, betroffen ist er anders: Denn über Hitzetage freuen sich Parasi-

ten wie Entenflöhe. Alle 14 Tage prüft die MA 39, die Prüf-, Inspektions- und Zertifizierungsstelle der Stadt Wien, die Wasserqualität der Neuen und Alten Donau. Vergangene Woche stand in 15 von 17 Messstellen ein Einser im Zeugnis. Im Bericht der EU-Kommission über die Qualität der Badegewässer in Europa belegt Österreich sogar den ersten Platz. Wer es genau wissen will, lädt sich zudem die App der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit herunter. Und staunt und genießt beim Betrachten der grünen Icons, dass es die „Insel“ in einer Metropole wie Wien überhaupt gibt. Für die gräuliche Schicht darf man also wohl wirklich die Schwäne verantwortlich machen. Das nächste Mal wird es die Nordspitze.

Viele Frauen sind verzweifelt, weil sie Schmerzen haben und daher bereit sind, viel Geld für mutmaßlich heilsame Produkte auszugeben. Die goldene Regel, Seite 42

STADT LEBEN

LEID

TREND DER WOCHE

Tube Tops Dass die Y2K-(sprich „Year 2000“)Mode mit tiefsitzenden Jeans und Trainingsanzügen wieder auf Wiens Straßen Einzug hält, damit finden wir uns schon langsam ab. Nun ist also auch der Schlauch um den Bauch (und Brust, aber für den Reim) wieder angesagt. Das Tube Top fehlte in keinem Kleiderkasten der frühen 2000er, von Schauspielerin Cameron Diaz bis Sängerin Britney Spears trug absolut jeder schulterfrei. Man kann also nur mutmaßen, was als Nächstes kommt. Der sichtbare String (auch so ein 2000er-Ding) ist jedenfalls fast schon wieder passé.

LINIEN

ARCHITEKTURKRITIK

Schwamm drüber! Die SPÖ-Diesel-Fraktion in Wien wird oft gezaust für ihre Freude am Asphalt. Zu Recht, aber manchmal muss man auch loben: Schließlich wird emsig begrünt. Nur leider gehen viele Jungbäume ein, wenn sich niemand ums Gießen kümmert und es das Regenwasser nicht von der Straße in die Pflanzentröge schafft. Dafür gibt es jetzt die Schwammsteine: Sie lassen bei Regen den ersten Schmutzschwall draußen und leiten das saubere Wasser Richtung Wurzelballen. Hoffen wir, dass die kleinen klugen Kuben nicht auch noch dauernd gewartet werden müssen.

SYSTEM

FRAGE DER WOCHE

Was passiert, wenn der E-Roller falsch parkt? Seit 19. Mai dürfen E-Scooter nur mehr in derzeit rund 130 eigens gekennzeichneten Parkplätzen in Wien stehen. Ob du wirklich richtig stehst, kontrollieren ab sofort Parksheriffs. Steht ein EScooter außerhalb der rot markierten Linien, bekommt der Betreiber einen Strafzettel und muss zwischen 36 und 78 Euro blechen. Der darf die Rechnung allerdings an den Fahrer weiterleiten. Bald soll allerdings die Technik helfen und es Scooterfahrern gar nicht mehr möglich machen, die Miete außerhalb der markierten Zonen zu beenden.

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Katharina Kropshofer meint: Insel muss Insel bleiben
FOTO: APA/ANGELIKA KREINER FOTO: MA 48/AIGNER FOTO: NA KD

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Foto: Șerban Florentin Roman

DIE MENSCHEN PRÄGEN WIEN

Verstaubtes Kaff, fade Touri-Kulisse oder Grantlermetropole – was wäre Wien ohne seine aufmüpfigen Stadtfiguren? Wen man jetzt kennen muss um zu wissen, wie die Stadt gerade tickt: Das steht im neuen FALTERS BEST OF VIENNA

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64 SEITEN STADTFIGUREN

Sneakerdandy, Pompfinebererpaar, feministisches Bondage-Kollektiv: Im FALTERS

BEST OF

Textilrevoluzzerin

Parnia Kosmos, die in Innsbruck geborene Tochter iranischer Dissident:innen, beschreibt sich selbst als introvertiert. Das hält die 38-Jährige jedoch nicht davon ab, ihre Kritik am Patriarchat laut kundzutun. Ob als Mitglied der feministischen Burschenschaft Furia oder mit ihrem Streetwear-Label Samtpflaume

Reinsager in*

Auf ihrer* Website stellt sie* sich als nihilistische Idealistin* vor. Ein Understatement. Das weiß man, wenn man Elena Wolff in Aktion erlebt hat. Begonnen hat die 29-Jährige* beim Poetry-Slam, inzwischen bespielt sie* fast alle Bühnen: Kabarett, Comedy, Theater und auch die virtuellen, Film und TikTok. Ihre* Figuren entwirft sie* dabei so präzise, dass es fast schon wehtut

Rahmensprengerin

Die Entscheidung für ihre künstlerische Freiheit hieß für Soli Kiani, 41, eine gegen ihre Heimat: In die kann sie nun nicht mehr einreisen. Umso mehr kämpft die Exiliranerin mit allen Mitteln für ein freies, selbstbestimmtes Leben im Iran wie anderswo. Ihre Kunst ist Ausdruck des feministischen Freiheitskampfes

Schleicher

Influencer, Unternehmer und Sneaker-Dandy

Maximilian Kern, besser bekannt als Mux Jasper, ist eine große Nummer unter den heimischen Sneakerheads. Wie für wahre Liebhabende üblich, gilt für ihn: Besitzen ist seliger denn Traden

Stichlerin

Vor drei Jahren hat die alleinerziehende Journalistin Anja Melzer das Sticken für sich wiederentdeckt. Mit der von ihr gegründeten 1. Wiener Stickerïnnen Gilde macht die 33-Jährige die Handarbeit nun zum politischen Aktivismus

VIENNA lesen Sie Interviews und Porträts über Menschen, die Wien ausmachen
Fotos: Privat/Elena Wolff, Parnia Kosmos, Liberty. 2022. Silber-Gelatine-Abzug kaschiert auf Alu/Soli Kiani, Mux Jasper, Mascha Fries

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Die goldene Regel

Start-ups werben mit nachhaltigen Periodenprodukten. Trainer erstellen an die Menstruation angepasste Work-outs. Und die Menstruation ist längst zum Geschäftsmodell geworden

FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO

Da sollen über zwei Stamperln Blut reinpassen? Zwischen den Fingern fühlt sich der Menstruationscup hauchzart und weich an, Backpapier ist kaum dicker. „Das funktioniert echt“, sagt Melanie Zemsauer, 34, man müsse das Einführen der kleinen Schale in die Vagina halt ein bisschen üben. Anfang des Jahres eröffnete sie in der Lindengasse in Neubau das Geschäft „All About Period.“, in dem sich, wie der Name schon sagt, alles um die Periode dreht. Stolze 44,90 Euro kostet das Stück medizinisches Silikon.

Eine Frau hat durchschnittlich 480-mal im Leben ihre Tage. Insgesamt sind das sieben bis neun Jahre, in denen sie menstruiert. 17.000 Tampons oder Binden braucht sie dafür. Und das geht ganz schön ins Geld: Laut der Stadt Wien gibt eine Frau in ihrem Leben rund 3000 Euro für Periodenprodukte aus. Wer, wie die Huffington Post, die ganzen Kosten für Schmerzmittel oder Wärmflaschen auch dazurechnet, kommt auf über 20.000 Euro. Armutsgefährdete Frauen können sich das nicht leisten. Immerhin: In Wien-Brigittenau können sie sich seit rund eineinhalb Jahren an vier Standorten kostenlos Binden und Tampons holen.

Dabei sind Binden und Tampons längst nicht mehr die einzigen Produkte, die eine Frau für ihre Blutung kaufen kann. Ein Blick auf die Regale im Geschäft in der Lindengasse zeigt die Vielfalt: Bio-Tampons unterschiedlichster Marken, Binden aus Baumwolle oder aus rot-grün gemusterten Stoffen zum Auswaschen, noch wilder gemusterte Lavia-Pads (sie werden zwischen die Vulvalippen gelegt, etwa um sehr leichte Blutungen aufzusaugen), Stofftampons, Menstruationstassen und Periodenunterwäsche (eine eingenähte Schicht saugt das Blut auf). Das Geschäft mit der Periode boomt.

2022 gaben Frauen in Österreich 497 Millionen Euro für Hygieneprodukte aus, 2015 waren es laut einer Studie des Beraternetzwerks Kreutzer Fischer & Partner noch 458 Millionen. Das ist ein Anstieg von neun Prozent.

Zemsauer, die erst im Februar ihr Geschäft eröffnete, weiß, dass viele ihrer Produkte teurer sind als im Drogeriemarkt. Das billigste Produkt im Laden ist ein Bio-Wegwerftampon um 25 Cent (im Drogeriemarkt gibt es den Tampon um zehn Cent), eine Periodenunterhose kostet rund 40 Euro. Aber die seien auch auswaschbar und könnten wiederverwendet werden, seien „also auf die Dauer billiger als ein Wegwerftampon“, so Zemsauer. Ihr Geschäft sieht sie als „Safe Space“, als sicheren Ort, an dem sich Menstruierende austauschen und informieren können. „Manche sind hilflos, weil es so ein großes Angebot im Netz gibt. Gleichzeitig redet im Alltag aber niemand wirklich offen über die Periode.“

In den sozialen Netzwerken ändert sich das bereits seit einiger Zeit. Auf Instagram und Tiktok fluten Postings rund um den weiblichen Zyklus die Feeds und Stories. ZyklusInfluencerinnen und Periodenaktivistinnen feiern unter dem Hashtag #periodpower die Menstruation als Kraftquelle. Ständig poppt eine neue App auf, mit der Menschen ihren Zyklus tracken können. 2019 gewann der Film „Period. The Absence of Sentence“ einen Oscar. In der westlichen Gesellschaft wird offener und öfter über die Menstrua-

tion gesprochen denn je. Noch vor 60 Jahren galten menstruierende Frauen als unrein. Über die Blutung zu sprechen war ein Tabu.

„Die Menstruation wurde lange dafür benutzt, die Unterlegenheit der unzureichenden Frau zu rechtfertigen“, sagt die Menstruationsforscherin Sophie Bauer von der Goethe-Universität in Frankfurt. Die Frauenbewegung der 1970er begann, dieses Tabu aufzubrechen. Es wurde langsam akzeptabler, über die Periode zu sprechen. In den 2010er-Jahren erreichte der Menstruationsaktivismus einen Höhepunkt: Feministische Künstlerinnen malten mit Periodenblut, die Sportlerin Madame Gandhi lief 2015 sichtbar blutend den London Marathon.

Der weibliche Zyklus war im Zentrum der Aufmerksamkeit angekommen, sodass Unternehmen die Chance ergriffen, den Aktivismus für ihre Geschäftsmodelle zu nutzen. Und sie kämpften gleichzeitig damit, ein Thema zu vermarkten, das aufgrund gesellschaftlicher Tabus immer noch schwer darzustellen ist. In der Werbung ist das Periodenblut erst seit 2021 rot und nicht mehr blau.

Das Wettrüsten hatte begonnen: In den vergangenen zehn Jahren etablierten sich immer mehr Marken, die sich vor allem auf nachhaltige Produkte fokussierten.

„Verbraucher in den USA und Westeuropa sind zunehmend bereit, mehr für ‚natürliche‘ Produkte zu zahlen, was bereits zu einer beispiellosen Nachfrage nach biologischen und biologisch abbaubaren Optionen geführt hat“, heißt es in dem Buch „Cash Flow – The Business of Menstruation“ der norwegischen Historikerin Camilla Mørk Røstvik. „Der Markt hat sich in den vergangenen Jahren stark differenziert“, sagt auch

Doktorandin Sophie Bauer forscht an der Goethe-Universität zum Thema

Menstruation

»Zu mir kommen Mütter mit ihren TeenagerTöchtern. Sie schauen sich einfach einmal um, welche Produkte es gibt MELANIE ZEMSAUER, ALL ABOUT PERIOD.

Zemsauer berät bei Periodenunterwäsche und lässt Menstruationscups auch anfassen

die Menstruationsforscherin Bauer. Während lange Zeit Großkonzerne wie Procter & Gamble dominierten, tauchen nun vermehrt Start-ups auf.

In Wien war das Start-up Erdbeerwoche ein Vorreiter. Der Name ist angelehnt an eine beschönigende Bezeichnung für die Menstruation. Seit zehn Jahren bietet das Unternehmen Menstruationstassen und ökologische Tampons im OnlineShop an. Die Erdbeerwoche sei „aus einem Nachhaltigkeitsgedanken entstanden“, sagt Generaldirektorin Rika Mader. Denn wiederverwendbare Tassen und Unterwäsche verursachen weniger Müll als EinwegKunststofftampons. Den Boom um Periodenprodukte sieht Mader aber auch kritisch. „Es gibt auch viele Schwachsinnigkeiten an Produkten“, sagt sie.

Wie die Pinky Gloves zum Beispiel. Zwei Unternehmer hatten vor zwei Jahren Handschuhe entwickelt, mit denen Frauen ihre Tampons herausziehen können, ohne sich die Finger „schmutzig“ zu machen. Der Handschuh konnte im Anschluss als „blicksicherer Müllbeutel“ verwendet werden. In der Fernsehsendung „Die Höhle der Löwen“ räumten die Unternehmer dafür eine Investition ab. In den sozialen Medien ernteten die Pinky Gloves aber einen Shitstorm. „Kann doch nicht sein, dass zwei Typen Geld damit machen, indem sie Menstruierenden einreden, ein weiteres absurdes Produkt zu brauchen, um die Periode, die ja so unfassbar ekelhaft ist, bestmöglich zu vertuschen“, schreibt die Autorin Franka Frei auf Instagram. Sie hat das Buch „Periode ist politisch: Ein Manifest gegen das Menstruationstabu“ geschrieben. Die

STADTLEBEN FALTER 21/23 43
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SHOPPINGTOUR: DANIELA KRENN, SORAYA PECHTL FOTO: HERIBERT CORN
FOTO: MERIELLI MAFRA
Denise Rosenberger ist Frauenheilkundlerin, schrieb darüber das Buch „Eat Like a Woman“
FOTO: BRANDSTÄTTER VERLAG

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Gründer nahmen die Einweghandschuhe vom Markt und entschuldigten sich. Nicht nur nachhaltige Produkte finden sich nun in den Regalen, seit einigen Jahren trendet auch die sogenannte natürliche Menstruation. Selbsternannte Zyklus-Influencer propagieren die Abkehr von hormonellen Verhütungsmitteln wie der Pille. Zu lange hätten diese den Zyklus „fremdbestimmt“ und „Probleme mit der Periode“ (etwa starke Schmerzen oder Unregelmäßigkeiten) nur vertuscht, so der Tenor auf Social Media. Tatsächlich wird die Pille oft schnell vom Frauenarzt verschrieben, und viele Frauen fühlen sich mit Nebenwirkungen wie Kopfweh oder Lustlosigkeit alleingelassen. Gleichzeitig schwirren viele Mythen herum: Wer die Pille schluckt, nimmt nicht zwangsläufig zu. Sie kann das Risiko für Gebärmutterhalskrebs senken, so eine Studie im Fachjournal Cancer Research, jenes für Thrombosen leicht erhöhen. Generell ist die Pille mittlerweile viel besser verträglich als bei ihrer Markteinführung. Wer nicht nur einen hormonfreien, sondern einen „harmonischen“ Zyklus will, bekommt vom Markt die nötige Unterstützung. Im Geschäft in der Lindengasse gibt es etwa das Nahrungsergänzungsmittel „Better Period“ um 29,90 Euro, ein Trinkgranulat mit Magnesium, Vitamin D und C. Oder den „Periodenwohlfühltee“ um 12,95 Euro, eine Kräutermischung aus Frauenmantel, Brennnessel und Rooibos. Im Internet finden sich Kochbücher, die einen harmonischen Zyklus versprechen. Coaches, die Frauen zeigen, in welcher Zyklusphase sie am produktivsten sind. Und Trainer, die an die Periode angepasste Pläne erstellen, um die Leistungsfähigkeit zu verbes-

sern. Wissenschaftlich fundiert ist davon kaum etwas. „Ich verstehe die Frauen, die keine hormonelle Verhütung mehr nehmen wollen“, sagt Dr. Ivan Seif, Frauenarzt in Favoriten. Grundsätzlich spricht bei entsprechender Eignung aber nichts gegen die Pille. Frauen sollten vor Verschreibung gynäkologisch untersucht werden. „Dazu gehört auch eine Brustuntersuchung und ein längeres Einstellungsgespräch“, so Seif. Auch nach der Verschreibung bedürfe es „regelmäßiger Kontrolluntersuchungen, wie bei jedem Medikament“. Denn auf Dauer kann es zu Nebenwirkungen kommen. Vielen Frauen mit unregelmäßigem Zyklus hilft sie aber. Und das Verhütungsmedikament kann auch positive Effekte aufweisen, etwa für „Personen mit Akne“, meint Seif.

Denise Rosenberger lässt sich davon nicht mehr überzeugen. „Die Periode ist ein Geschenk“, sagt sie zum Falter. Die Niederösterreicherin ist Yogalehrerin, Doula (also nichtmedizinische Helferin vor, bei und nach Geburten) und Frauenheilkundlerin. Ihr Wissen rund um „Frauenkräuter“ hat sie sich im Selbststudium angeeignet. Das Rosengewächs Frauenmantel soll etwa „hormonell ausgleichend“ und „stark entzündungshemmend bei Eierstockbeschwerden“ wirken. Petersilie, die Eisen und Vitamine enthält, könne „eine schwache Menstruation verstärken oder sie sogar auslösen“. Vor sieben Jahren hat Frauenberger mit zwei Freundinnen ein Buch geschrieben: „Eat Like a Woman. Rezepte für einen harmonischen Zyklus.“ Wer es durchblättert, findet „Baguette mit Mandelricotta“, „Herzhafte Frühlingspalatschinken mit Kichererbsen und Mangosauce“ oder „Wald-

480

Mal im Leben hat eine Frau durchschnittlich ihre Tage

17.000

Tampons und Binden braucht eine Frau durchschnittlich in ihrem Leben

20.000

Euro gibt eine Frau in etwa für Periodenprodukte und Schmerzmittel aus

497.000.000

Euro Umsatz wurde 2022 in Österreich mit Periodenhygieneartikeln erwirtschaftet

staudenflammkuchen mit Petersiliencreme, Kürbisspalten und Rote-Rüben-Scheiben“. Warum das für den Zyklus gut sein soll, erklären die Zeilen unter den Rezepten. Basilikum „regt den Eisprung an und steigert die Libido“, steht dort. Wissenschaftlich erwiesen ist auch das nicht. Das Kochbuch inklusive Yogaübungen kostet 24,90 Euro.

Nicht nur in die Ernährung, auch in den Sport dringt das Geschäft mit der Periode ein. Seit etwa fünf Jahren passt die Triathletin Johanna Novak ihren Trainingsplan ihrem Zyklus an. Weil es sonst niemanden in Österreich gab, der das Thema Periode im Sport behandelte, begann sie, selbst Artikel über Sportmedizin, Hormone und den Zyklus zu lesen, ihren eigenen Zyklus zu verfolgen und akribisch Tagebuch zu schreiben: In welcher Zyklusphase ist sie gerade? Wie stark ist ihre Blutung während der Periode? Fühlt sie sich schlapp, hungrig oder lustlos?

Heute weiß sie: Vom ersten Tag der Periode bis zum Eisprung könne eine Frau „sehr intensiv trainieren“, in dieser Zeit „steigert sich die Leistung“. In den Tagen danach passiert genau das Gegenteil. „In der Zeit sollten Sportlerinnen die Intensität runterschrauben.“ Denn „die Regenerationsphasen dauern jetzt länger“.

Seit mittlerweile zwei Jahren betreibt Novak ein Studio im 23. Bezirk, ein Zimmer in ihrem Wohnhaus, in dem sie auch andere Sportlerinnen nach deren Zyklus trainiert. Die Preise für die Trainingspläne beginnen bei 70 Euro pro Stunde. „Zu mir kommen Leistungssportlerinnen, aber auch Frauen, die gerade vor der Menopause stehen, weil sie merken, sie nehmen trotz Sport auf einmal zu“, erzählt Novak.

»Die Menstruation wurde lange dafür benutzt, die Unterlegenheit der unzureichenden

Frau zu rechtfertigen

FORSCHERIN SOPHIE BAUER

Aber es gibt auch Kritik an den zyklusorientierten Trainings. „Es geht oft nicht darum, dass es den Athletinnen besser geht. Im Hochleistungssport geht es um Leistungsmaximierung“, sagt Claudia Koller, Geschäftsführerin des Österreichischen Zentrums für Genderkompetenz und Safe Sport. Koller sieht die Gefahr, dass Sportlerinnen durch das zyklusorientierte Training noch mehr zur „gläsernen Athletin“ werden, weil sie auch Details zum Zyklus dokumentieren und mit ihren Trainern analysieren. „Man sollte im Training über die Periode sprechen können, aber gleichzeitig die persönlichen Grenzen achten“, sagt sie.

Johanna Novak trainiert sich und andere nach ihrem Zyklus, ihr Studio FemPower ist im 23. Bezirk

FOTO: HERIBERT CORN

Die Menstruation ist in den vergangenen Jahrzehnten also zu einer millionenschweren Industrie geworden. Viele Frauen sind verzweifelt, weil sie Schmerzen haben, und sind daher bereit, viel Geld für mutmaßlich heilsame Produkte auszugeben. Das Aufbrechen des Tabus um die Menstruation war für die Sportlerin Novak, die Unternehmerin Zemsauer und die Frauenheilkundlerin Rosenberger aber auch eine Erleichterung. Sie alle haben Endometriose, eine Unterleibserkrankung, bei der gutartiges Gewebe außerhalb der Gebärmutter wächst. Die Schmerzen waren für die drei ein Grund, sich im Selbststudium mit dem eigenen Zyklus auseinanderzusetzen – und später ihr Wissen zu teilen und ein Geschäft daraus zu machen.

Doch selbst wenn so manches Produkt nicht allen hilft: Dass mehr über die Periode gesprochen wird, ist für alle Menstruierenden positiv. „Zu mir kommen Mütter mit ihren Teenager-Töchtern. Sie schauen sich einfach einmal um, welche Produkte es gibt“, meint Melanie Zemsauer. „Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben.“ F

44 FALTER 21/23 STADTLEBEN

ZUMRA S EN WERDEN!

F ein getrimmt, der grasgrüne Halm nicht länger als vier Zentimeter. Am besten Deutsches Weidelgras, das ist besonders fein, trittfest. Wer den perfekten englischen Rasen erhalten will, muss diesen zweimal pro Woche mähen, darf Blümchen gar nicht erst aufkommen lassen und – besonders wichtig – muss das Grün ausreichend bewässern. Als Faustregel gelten 15 bis 20 Liter Wasser pro Quadratmeter –und das jede Woche.

Zwölf Liter pro Tag, also neun Prozent seines Gesamtwasserverbrauchs, nützt ein Österreicher im Durchschnitt, um das Grün seiner Gärten zu erhalten. In den USA belegt Rasen bereits Platz eins der meistbewässerten „Erntefrüchte“. Im Gegensatz zu den Hobbygärtnern interessiert sich die Erderhitzung aber wenig für ästhetische Vorgartengestaltung: In Frankreich verbot man vergangenen Sommer in 60 von 96 Départements das Bewässern der eigenen Gärten, selbst im kühlen England bekämpfte die Feuerwehr „nie dagewesene“ Rasenbrände. Und laut GeoSphere Austria (früher ZAMG) gab es bereits zu Beginn des Jahres um bis zu 85 Prozent weniger Niederschlag als in den Jahren zuvor – mit allen trockenen Folgen für die Vegetation.

„Der klassische Rasen hat eigentlich fast keine Überlebenschance mehr bei uns“, sagt Sabine Plenk. Sie forscht am Institut für Landschaftsarchitektur der Universität für Bodenkultur in Wien zu Pflanzenverwendung. Schon heute sei der Aufwand, den englischen Rasen aufrechtzuerhalten, sehr groß. Wieso ist er also immer noch das Synonym für die Wiese, ziert die Vorgärten und Parks der Stadt?

Um den Siegeszug des perfekten Grüns zu verstehen, muss man in die Geschichte blicken: Schon die alten Römer und Griechen widmeten sich der Gartengestal-

KULTURGESCHICHTE:

tung. Auch in den Klostergärten des Mittelalters griff man auf Ideen von domestizierten Pflanzen zurück. Dort liegen die Anfänge der Ziergartenkultur: Der Universalgelehrte und Bischof Albertus Magnus schrieb im 13. Jahrhundert über Rasenflächen ohne wirtschaftlichen Nutzen. Sie sollten als Entspannung und fürs Gebet dienen. Und auch die Sinne beglücken: „Das Auge wird durch nichts so sehr erquickt wie durch feines, nicht zu hohes Gras“, schrieb er in „De vegetabilibus et plantis“. Penibel beschreibt er, wie man einen solchen Lustgarten mit lieblich blühenden Pflanzen, aber natürlich auch Rasenbänke anlegt. Das schaffe man, indem man Plätze mit Rasenstücken aus feinem Gras belegt, diese mit Holzhammern andrückt und in den Boden stampft.

Später schwappte dieser „Lustgarten“ dann in die bürgerliche Gesellschaft über. Vor allem auch in den Norden: Die Engländer benötigten den Rasen für Ballspiele wie Cricket. Als der Engländer Edwin Beard Budding 1830 nach dem Vorbild einer Stoffschneidemaschine ein Gerät mit rotierenden Messern erfand, das Grashalme gegen ein feststehendes Untermesser drückte und so abschnitt, änderte sich alles: Der Ururgroßvater des Rasenroboters war geboren. Und mit ihm begann endgültig der Siegeszug des perfekt getrimmten Rasens.

Die Sucht packte vor allem die US-Amerikaner: „Vorgärten starteten als Luxus der Wohlhabenden, aber wurden zum Statussymbol der Mittelschicht“, schreibt Virginia Jenkins in ihrem Buch „The Lawn: A History of an American Obsession“. Filme verfestigten das Bild eines „normalen“ Gartens, es wurde bis nach Wien exportiert. Und mit ihm eine Monokultur in einer Welt, die dringend mehr Biodiversität braucht.

Vor allem auch, seitdem die Trockenheit in Europa Ernten und den Rasen in seiner

primären Funktion, der Ästhetik, bedroht. „In Zeiten des Klimawandels und drohenden Artenverlusts bekommt die Pflanzenwahl im öffentlichen Raum natürlich eine ganz andere Dimension“, sagt auch die Landschaftsarchitektin Plenk. Ein diverser, intakter (also nicht vertrockneter) Rasen produziert Sauerstoff, nimmt Kohlendioxid auf, verbessert die Luftqualität, reduziert die Bodenerosion.

Ein klassischer Rasen braucht außerdem viel intensivere Pflege. Im Umkehrschluss heißt das: Wer weniger düngen und pflegen muss, spart sich Geld. „Wien hat lange gebraucht, um umzurüsten“, sagt Plenk. Doch die Gegenbewegung schläft nicht: Der „No Mow“-Trend propagiert wilde(re) Gärten, rät dazu, den Rasenmäher nur ein, höchstens zweimal im Jahr aus dem Schuppen zu holen. Das gilt nicht nur für die Gärten in einer Stadt, sondern auch für ihre Parks, ihre kleinen grünen Zonen. Auch Wien verbessere sich, wenn statt Rasen blütenreiche Pflanzenmischungen ausgebracht werden, die ans pannonische Klima der Region –also gemäßigte Winter, trockene Sommer – angepasst sind. Plenk hat eine solche Mischung mitentwickelt, die „Wiener Melange“ mit Schafgarbe, Steppensalbei und Gräsern wie Silberährengras.

KATHARINA KROPSHOFER Wien kämpf mi t d er T r ock enh ei t . Wi e s o d o m i n i e r t t r o t z d e m d e r e n g l i s c h e R a s e n ? E S I S T
Die Zukunft des Rasens liegt in einer Stadt daher vor allem auch bei Arten, die tiefer wurzeln, wie Schwingelarten. Auch das Weidelgras kann bleiben, weil es robust ist, Trockenheit verträgt; aber nicht in seiner Reinform. „Wichtig ist, dass der Rasen nicht nur aus Gräsern besteht, sondern auch Thymian oder Gänseblümchen beigemischt werden“, meint Plenk. Eines sei sicher: Der reine Rasen wird sich abschaffen, allein aus ästhetischen Gründen. Denn wer will schon, dass der Nachbar auf einen Teppich mit braunen Flecken blickt? F FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO

Wien, wo es isst Kulinarischer Grätzel-Rundgang

Holzer im Grätzel: Emmerich-Teuber-Platz

Für 90er-Jahre-Liebhaber: Das Landstein ist aufgemöbelt wie eine Luxusyacht

That’s Amore 3., Messenhauserg. 13, Tel. 01/343 95 18, tägl. 11.30–15, 17.30–22 Uhr, www.thatsamore.at

wakeup

3., Landstraßer Hauptstr. 105, Tel. 01/908 90 92, Mo–Fr 10–18.30, Sa 10–17 Uhr, www.wakeup-espresso.com

Sattva Vegan

3., Apostelg. 29–31, Tel. 01/966 44 78, Mo–Fr 11.30–16 Uhr, www.sattva-vegan.at

Aida

3., Landstraßer Hauptstr. 116, Tel. 01/890 89 88-219, tägl. 8–19 Uhr, www.aida.at

Zur Alten Weinpresse

3., Landstraßer Hauptstr. 126, Tel. 01/967 14 50, tägl. 11–23 Uhr, www.heuriger-zur-alten-weinpresse.at

Landstein

3., Landstraßer Hauptstr. 132, Tel. 01/713 01 08, Di–Sa 17–24 Uhr, www.landstein.at

Osvaldo Bortolotti

3., Baumg. 1, tägl. 11–21 Uhr, osvaldo-bortolotti.eatbu. com/

Wilhelm Baidinger

3., Baumg. 16, Tel. 01/713 11 90, Di–Fr 7.30–12.30, Di, Fr 14.30–17, Sa 7.30–12 Uhr, members.chello.at/philipp. baidinger/

Ton Mai Thai

3., Baumg. 18/1, Tel. 0676/418 63 54, Di–So 11–21 Uhr, www.tonmai.at

46 FALTER 21/23 ESSEN • TRINKEN
Im That’s Amore serviert Christoph Silberbauer seit 2011 straighte Pizza In ihrer Fleischerei machen Wilhelm Baidinger und Sonja Gersthofer fast alles selbst Das Koffein kommt bei Mario Sciurti im Wakeup aus süditalienischen Kaffeebohnen FOTOS: HERIBERT CORN GRAFIK: ARGE KARTO

Florian Holzer begibt sich auf die Suche nach kulinarischen Mikrokosmen in Wiener Grätzeln

Wer nie bei den Pfadfindern war, wird wahrscheinlich nicht wissen, wer Emmerich Teuber war. Nämlich der Gründer der österreichischen Pfadfinderbewegung.

Und nachdem der nach ihm benannte Platz auch erst seit 2008 so heißt, ist er selbst langjährigen Anrainern kaum geläufig. Dieser Platz, gebildet durch das Zusammentreffen von Landstraßer Hauptstraße, Apostel-, Baum-, Eslarn- und Juchgasse, trägt gemeinhin die Bezeichnung

„Bei der schirchen Uhr“. Denn es ragt ein Traversengerüst schräg über den Platz, an dessen Ende sich eine große, kreisförmige Uhr befindet. Die ein bisschen an die Runden-Anzeige bei alten Autorennstrecken erinnert.

Generell scheint am EmmerichTeuber-Platz die Zeit ein bisschen stehen geblieben zu sein, in den 90ern sah das da sicher auch nicht sehr anders aus.

Das ist noch nicht unbedingt ein Grund für Niedergeschlagenheit, denn am und um den Platz gibt’s ein paar wirklich interessante Adressen.

Die Pizzeria That’s Amore zum Beispiel. Auf den ersten Blick eine kleine, unspektakuläre Vorstadt-Pizzeria wie hunderte andere auch. Tatsächlich starteten der Ex-Do&Co-Mann Christoph Silberbauer und seine Compagnons hier 2011 mit straighter Pizza. Die mit guten Zutaten belegt und nur im unmittelbaren Umfeld ausgeliefert wurde, weil sonst ja labbrig.

Legendärer Pizzaboten-Spot

Mit der Zeit kam dann noch ein bisschen feine Italo-Cuisine dazu und 2017 schließlich drehte der damalige Bundeskanzler Christian Kern hier seinen legendären PizzabotenSpot. Er sehe sich nach wie vor als Nahversorger, sagt Silberbauer. Größer werden und expandieren? „Nicht unbedingt, man muss nicht immer wachsen.“

Ums Eck geht’s dann klein und italienisch weiter, nämlich im Laden wakeup von Mario Sciurti. Sciurti verkauft hier italienische Espressomaschinen, die zwar nicht von schillernden Labels aus Milano stammen, dafür auch nur die Hälfte kosten. Und er verkauft Kaffeebohnen aus hauptsächlich süditalienischen Röstereien, mit enormem Anteil an „proletarischen“ Robusta-Bohnen, erdig im Geschmack, irrsinnig viel Crema und Koffein ohne Ende. Nichts für Nespresso-Trinker.

Die Apostelgasse wird keinen Schönheitswettbewerb gewinnen, dafür machte der frühere Software-Entwickler Michael Schultz Klein hier Ende 2020 ein kleines Lokal für ayurvedische, biologische, vegane Küche auf. Das heißt, sein Sattva Vegan ist eigentlich ein Buffet, man stellt sich an, Michael reicht die Speisen über die Budel. „Und oft ist es schon aus“,

sagt ein Stammkunde in der Reihe hinter mir, der keine Safran-Karottencremesuppe mehr bekam.

Der Aida -Filiale blieb ein bisschen rosiges Refurbishing nicht erspart, das ändert zum Glück kaum etwas an der harten, völlig charmebefreiten Mid-Century-Atmosphäre dieser Filiale: braunes Furnier galore, Fliesenboden, niedrige Decke, Neon, gleich kommt Peter Vogel als Major Kottan herein.

Das Heurigenrestaurant Zur Alten Weinpresse macht ästhetisch keine Gefangenen: Heurigenkitsch ganz dick aufgetragen, inklusive Girlanden mit Plastikweintrauben und ganz viel hölzerner Bauernstube. Das war sicher nicht billig. Auf die Frage, was die Leute denn am liebsten nehmen, erfahren wir: „Paniertes.“

Das Kommunikator-Curry

Das nächste Lokal ist auch nicht uninteressant: Das Landstein wurde 2012 von einem ehemaligen Rapidler gegründet, der dann ins Bankwesen einstieg, viel Geld verdiente, in österreichische Weine investierte und die hier absetzen wollte. Klappte nur mittelmäßig, vorigen November übernahmen der frühere Lifestyle-Redakteur Alexander Rinnerhofer und Matthias Euler-Rolle, Radiomoderator und kurzzeitig Kommunikationschef der SPÖ, das Lokal. Das Interieur wurde luxusyachtmäßig aufgemöbelt, bei der Karte erinnert man sich mit Surf & Turf, Gemüsecurry, Backhendlstreifen und Lachsforelle mit Limettenschaum dann wieder an die guten alten 90er-Jahre. Passt also gut hierher. Was gibt’s in der Baumgasse? Zuerst einmal den Eissalon Osvaldo Bortolotti, ein Gelato-Urgestein, hier schmeckt Eis noch so wie früher. Wie sich das schlechte Wetter auswirkt? „Katastrophal, wir sind arbeitslos.“

Grätzel-Würstel

Bei der kleinen Grätzel-Fleischerei Baidinger ist dagegen auch bei zehn Grad und Regen was los. Erstens, weil Wilhelm Baidinger fast alles selbst macht, in kleinen Chargen, seine Frau Sonja Gerstorfer bäckt auch Kuchen, macht Marmeladen, sie füllen Reisfleisch, Rindfleischsalat oder was auch immer in kleine Plastikschüsserln. Und sie erklären ihren Kunden einfach alles, Herkunft, Zubereitung, das hat man im Supermarkt nicht. Und noch eine erfreuliche Nachricht: Der kleine, urige SouterrainThai von Sri Gumpoldsberger wurde nach ihrem Ruhestand neu übernommen, optisch aufgefrischt, heißt jetzt Ton Mai Thai. Das strenge Regime von Frau Gumpoldsberger, wie, wann und in welcher Reihenfolge man etwas zu bestellen hat oder eben nicht, ist Geschichte. Man kann da jetzt einfach hineingehen und bekommt etwas zu essen.

Basics Grundkurs Kochen (513)

Italienisches Germbrot erfreut auch unbegabte Bäckersleut

Der Kochlöffel lag quasi neben der Autorin in der Wiege, das mit Brunoise und Julienne klappt auch schon ganz gut. Nur mit der Küchenwaage konnte sie sich nie anfreunden – kein Raum für Improvisation.

Wer also nicht backen kann, muss kneten. Und da kommt ins Spiel, was noch so in der Wiege lag: Der Hang zum Italienischen und die Faustregel dieser Küche, „semplice ma buono“.

Wir machen Focaccia, ein fluffig weiches Fladenbrot aus Germteig und neben Ciabatta das einzig akzeptable Brot der italienischen Küche. Das einfachste Rezept (alle Nonnas dieser Welt mögen verzei hen) stammt vom US-amerikanischen Kochblog bon appétit und geht in etwa so:

Einen halben Würfel Germ mit 2 TL Honig und 700 ml lauwarmem Wasser vermengen, 5 min rasten lassen. Mit 625 g Mehl und 5 TL Salz geduldig zu einem Teig vermengen.

Jetzt 4 EL feinstes Olivenöl in die Schüssel geben (wichtigster Hinweis zur Größe: sie sollte in den Kühlschrank passen).

Mit Öl überzogen und mit Plastikfolie bedeckt ins Kühle stellen, bis der Teig doppelt so groß ist (zumindest acht Stunden, bis zu einem Tag). Eine rechteckige Backform vorbereiten, zuerst mit Butter, dann mit etwas Öl bestreichen (Sie werden es nicht bereuen).

Mit einer Gabel den Teig von den Seiten Richtung Mitte heben, die Schüssel drehen und ein paar Mal wiederholen.

Fluffig-ölige Focaccia lässt sich auch gut einfrieren und noch einmal aufbacken

Den Teig in die Form geben, nochmal 1–4 Stunden warten, diesmal im Warmen. Der Teig sollte zurückspringen, wenn man mit dem Finger reindrückt – einige Male wiederholen, als würden Sie Klavier spielen. Nochmal Olivenöl und Meersalzflocken drüber, 20–30 min bei 225 °C backen. Geriebenen Knoblauch in 4 EL Butter rösten, mit Rosmarinblättern über die fertige Focaccia geben. Semplice und buono!

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Gemeinsam. Zeit. Erleben.

Eine Landschaft voll prächtiger Natur und unvergleichlichen Bergpanoramen als ideales Umfeld für Tage voller Erlebnisse. Das Falkensteiner Hotel Sonnenalpe am Kärntner Nassfeld bietet beste Voraussetzungen für einen traumhaften Sommerurlaub – ein abwechslungsreiches Aktivprogramm, Acquapura SPA, Indoor- und Outdoorpool, Kinderbetreuung, unzählige Ausflugsziele und vieles mehr.

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ESSEN • TRINKEN FALTER 21/23 47
FOTO: KATHARINA KROPSHOFER KATHARINA KROPSHOFER
Falkensteiner Hotel Sonnenalpe GmbH · Nassfeld 9 · 9620 Hermagor Till Schäfer / Markus Röder · FN 136298p · LG Klagenfurt

Mehr davon: Feinkost

Nichts erscheint logischer, als bei Vitrinen, in denen köstliche Würste, Schinken, Käse und Antipasti präsentiert werden, diese auch zum Sofortverzehr mit einem Glas Wein anzubieten. Also zumindest in Italien, Frankreich und Spanien ist das logisch, bei uns sträubt sich die Bürokratie ein bisserl, abgesehen davon, dass die Leute ihre Wurst, in Plastik verpackt, eh am liebsten im Supermarkt kaufen. Hier ist alles gut:

Urbanek Das winzige Geschäft am Naschmarkt beherbergt eine ganz erstaunliche Auswahl erlesener Feinkost, wirklich bemerkenswerter Käse und beachtlicher Weine. Kann man sich alles auf einen Pappendeckel schneiden und ein Glas Wein dazugeben lassen. Ist aber nicht billig.

6., Naschmarkt 46, Tel. 01/587 20 80, Mo 10–18.30, Di–Do 9–18.30, Fr 8–18.30, Sa 7.30–16 Uhr

Ignacio Ignacio Garcia Vicente betreibt hier seit zehn Jahren Wiens beste Vinothek und beste Feinkosthandlung mit Schwerpunkt Spanien. Von sortenreinen Olivenölen mit Brot bis zur Auswahl von Delikatessen vom eichelgefütterten Schwein ist alles auch vor Ort zu genießen.

1., Salztorg. 7/1, Tel. 01/922 08 51, Mo–Sa 17–22 Uhr, www.ignacio.at

Lingenhel Eines der bestsortierten Feinkostgeschäfte, vor allem, was Käse betrifft. Ein kleines Bistro ist angeschlossen, für das warm gekocht wird, in dem man aber auch Sachen aus der Vitrine naschen kann.

3., Landstraßer Hauptstr. 74, Tel. 01/710

15 66, Mo–Do 9–10, Fr 9–22, Sa 8–16 Uhr, www.lingenhel.com

La Salvia Wunderbares in fest und flüssig aus Istrien und der KarstRegion. Kann man mitnehmen, das meiste wird gleich vor Ort zu einem Glas Malvasia verputzt.

16., Yppenmarkt 139, Tel. 01/236 72 27, Mi, Do 16.30–21.30, Fr 10–21.30, Sa 8–13 Uhr, www.lasalvia.at

Thum Schinkenbar Das Pop-up im Hochhaus Herrengasse wurde verlängert: Roman Thum, bester Beinschinkenmacher des Landes, präsentiert hier eine repräsentative Auswahl seines Sortiments. Bekommt man auch aufgeschnitten und mit einem Glas Wein gleich vor Ort. 1., Herreng. 6, Mo–Sa 10–19 Uhr, www.thum-schinken.at

Ihr Aufschnitt, bitte

Georg Leitenbauer ist Kulturvermittler. Wurstkulturvermittler

LOKALKRITIK: FLORIAN HOLZER

Schwer, die berühmteste Wurst der Welt zu ermitteln. Aber dass das Frankfurter Würstel (zu Weltruhm gelangt unter der Bezeichnung „Wiener Würstchen“) auf dem Podest zu liegen käme, ist unumstritten.

Besagtes Würstel wurde 1805 von Johann Georg Lahner erfunden, einem aus Franken eingewanderten Fleischhauer, der in der Neustiftgasse 111 die klassische Frankfurter Rezeptur (nur Schweinefleisch) mit Rindfleisch ergänzte, essenziell für den kernigen Biss.

Die Geschichtsforschung hat die Sache ein bisschen verschlafen, muss man sagen, Belege sind kaum vorhanden, irgendwo soll es angeblich eine Gedenktafel geben, auf Nummer 111 jedenfalls nicht. Eigentlich peinlich.

Zwei Gassen weiter, in der Neubaugasse, gab es seit 2012 ein etwas obskures Delikatessen-Sammelsurium namens G’schäft, MarketingMann Georg Leitenbauer ging dort immer wieder auf ein Achterl Wein.

Während der Lockdowns erkrankte der G’schäft-Betreiber schwer, was Leitenbauer dazu bewog, gemeinsam mit einer anderen Stammkundin einzuspringen, um dem Mann eine Einkommensgrundlage zu sichern. Der

Gesundete ging aber in Pension und Leitenbauer dachte sich, „keine Bullshit-Jobs mehr, ich mach das jetzt“.

Er entrümpelte die denkmalgeschützten Wiener-Werkstätten-Auslagen, entfernte die Zwischendecke, vor allem aber ging er auf die Suche nach Produkten, die der Bezeichnung „Wurstkultur“ würdig sind: Leberkäse von Hannes Hönegger aus dem Lungau, Prosciutto und Culatello (ein entbeinter, 30 Monate in der Schweinsblase gereifter Prosciutto) aus Bayern, wahnsinnig gut.

Dann getrüffelte Käsekrainer aus Hernals, eine blassrosa Mortadella ohne Nitritpökelsalz aus Oberös-

4000 weitere Lokale finden Sie im Lokalführer „Wien, wie es isst“. www.falter.at

Käsekrainer oder Gin-Salami: Georg Leitenbauer widmet sich vollends der „Wurstkultur“

FOTO: HERIBERT CORN

terreich, Weltmeister-Blutwurst und Salsicce vom Dormayer aus Langenzersdorf, Gin-Salami vom bemerkenswerten Demeter-Projekt der Brauerei Stiegl im oberösterreichischen Wildshut, woher auch das offene Bier stammt.

Außerdem eine Kabanossi, die noch genau so mürb und wunderbar ist, wie Kabanossis früher waren und heute, fein gewolft, nicht mehr sind; die Leitenbauer malerisch in der Auslage trocknen lässt und die Spitzenkoch Gerd Sievers angeblich im Burgenland eigenhändig herstellt. Dieser Gerd Sievers bezog von einer Urahnin Lahners übrigens auch das Originalrezept des Frankfurter Würstels, die Fleischerei Windisch in Wiener Neustadt stellt sie her.

Und beim Leitenbauer kann man sie essen. Oder sich einfach was vom guten Zeug aufschneiden lassen, je nach Appetit um 14, 25 oder 36 Euro. Dazu ein schönes Glas Wein aus der Vinothek oder ein Glas Prosecco aus dem Fass. Auf Lahner!

Resümee:

Ein kleiner Delikatessenladen, der Ehrerbietung gegenüber der Wurst verpflichtet. Nur einen Sprung vom Geburtshaus der weltberühmten „Wiener Würstchen“ entfernt. F

48 FALTER 21/23 ESSEN • TRINKEN im DIE SENDUNG MIT RAIMUND LÖW Rad i o FALTER T V
Wie rechts
Donnerstag, 25. Mai, 19 und 23 Uhr auf W24
Bei Raimund Löw diskutieren Laura Sachslehner (ÖVP), die Autorin Natascha Strobl, Franz Fischler (ehem. EU-Kommissar, ÖVP) und Barbara Tóth (FALTER)
wird die ÖVP?
Leitenbauer 7., Neubaug. 71, Tel. 0660/353 70 62, Mo–Fr 10–19, Sa 9–14 Uhr, www.leitenbauer.wien
GRAFIK: ARGE KARTO

Spargel macht den Kuchen geil

Für den perfekten Sonntagabend: ein unverschämt gutes Clafoutis mit Spargel, Käse und Crème fraîche

GERICHTSBERICHT: NINA KALTENBRUNNER

Stimmt schon, eigentlich ist es der Gugelhupf, der den Sonntag zu einem Sonntag macht. Aber jetzt wollen wir einmal nicht so pingelig sein. Es ist doch die Kernkompetenz jedes Kuchens und jedes Backwerks, jeden Wochentag zu einem besonderen Tag machen zu können.

Sobald die Kirschen reif sind, zum Beispiel der Kuchenauflauf Clafoutis, jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung. Gelingt es oder nicht? Geht es auf und/oder fällt es gleich wieder in sich zusammen, oder, oder … Die Geschichte schreibt sich mit den ersten reifen Marillen fort.

Und neulich, auf der Suche nach einem originellen Spargelrezept, stoße ich dann auf „Spargel-Clafoutis“ und erstarre: Noch eine Back-Herausforderung, der ich mich stellen muss. Weil keiner gesagt hat, dass Clafoutis immer süß sein muss.

Der französische Auflauf mit seiner pudding- beziehungsweise flanartigen Konsistenz ist in Kombination mit weißem Spargel, Crème fraîche und reichlich vom feinen Gruyère-Käse ein Festtagsgedicht.

Über den Pfeffer reden wir nicht Wir besorgen uns zuerst einmal schönen, festen weißen Spargel – je dünner, desto besser, er lässt dann beim Backen weniger Flüssigkeit. Das Rezept funktioniert zwar auch mit grünem Spargel, aber dann arbeiten wir halt nicht mehr Ton in Ton. Und Kochen nach Farben ist gerade schwerstens in Mode.

Wir brauchen noch frische Eier, Milch, Crème fraîche und guten Käse zum Reiben. Der Rohmilchkäse Gruyère passt schon deshalb, weil er ebenfalls Franzose ist, zum Spargel-Clafoutis. Ähnlich bravourös er-

füllen aber guter Emmentaler oder junger Bergkäse die Rolle des harmonischen Aromagebers. Parmesan ginge auch … – alles eine Frage des Geschmacks.

In den „Nebenrollen“ besetzen wir Butter, Mehl und Salz, lauter Crème- und Weißtöne, wie unsere gesamte Mise en place. Über den Pfeffer reden wir nicht, außer es handelt sich dabei um weißen Pfeffer, der auch gut passt. Und schon kann es losgehen:

Wir heizen das Backrohr auf 200 °C vor und buttern eine feuerfeste Auflaufform großzügig aus. Vom Spargel schneiden wir, wenn nötig, die trockenen Enden ab, schälen ihn vorsichtig und blanchieren ihn wenige Minuten in kochendem Wasser. Danach mit Eiswasser abschrecken, gut trockentupfen und beiseitestellen.

Nun kommt der Teig dran: Dafür vermischen wir in einer Schüssel die Eier und das Mehl gut miteinander, geben die Milch und

die Crème fraîche dazu und rühren oder mixen (am besten mit dem Stabmixer), bis die Masse eine gleichmäßige Textur hat. Danach schmecken wir sie mit Salz und Pfeffer ordentlich ab. Nun heißt es den Käse zu reiben und einen Großteil davon vorsichtig unter die Masse zu mischen – den Rest heben wir für später auf. Und schon geht es an das Befüllen der Form. Dafür schneiden wir den Spargel in gefällige Stücke und legen damit den Boden der Form gleichmäßig aus. Darüber kommt der Überguss (Masse), darauf wird der restliche Käse verteilt, und ab damit ins Rohr für circa 20 bis 35 Minuten.

Zehn Minuten Selbstbeherrschung

Woran wir erkennen, dass das Clafoutis fertig ist? Die Oberfläche soll schön braun gefärbt und der Überguss gänzlich gestockt sein (Stäbchenprobe). Sobald dies der Fall ist: Ofen aus, Tür einen großen Spalt aufmachen und den Auflauf darin noch etwa 10 Minuten rasten lassen, bevor wir ihn herausnehmen und anschneiden. Das erfordert etwas Selbstbeherrschung, denn der Duft, der sich nun verbreitet, ist unwiderstehlich.

Diese Zeit lässt sich mit der Zubereitung eines Beilagensalats vertreiben. Wer im Farbton bleiben möchte, nimmt, wenn gerade am Markt erhältlich, einen wunderschönen Radicchio „Variegata di Castelfranco“ (auch Orchideensalat), der mit seinen crèmefarbenen, rotgesprenkelten Blättern auch geschmacklich hervorragend passt.

Noch einen Radicchiosalat dazu und Sie werden den Frühling in Frankreich erleben

Hier behandeln Nina Kaltenbrunner, Werner Meisinger und Katharina Seiser jede Woche das Thema Kochen aus unterschiedlicher Perspektive

Dann geht’s endlich an den Tisch: Den Auflauf mit der Form in die Mitte stellen (so sieht er einfach am hübschesten aus), portionsweise herausschöpfen und, am besten mit genießend geschlossenen Augen, verzehren. Obwohl, dann sieht man das schöne Farbenspiel ja nicht … F

Clafoutis mit weißem Spargel und Gruyère

für 4 Personen

Zutaten

400 g Spargel

3 Eier

200 ml Milch

100 g Mehl

200 ml Crème fraîche

75 g Gruyère

20 g Butter

Salz, Pfeffer

Zubereitung siehe Lauftext

ESSEN • TRINKEN FALTER 21/23 49
Ebenda Über diese Seite Ton in Ton: Weißer Spargel und Gruyère-Käse machen einen anmutigen Auflauf FOTOS: NINA KALTENBRUNNER

PETERS TIERGARTEN

WETTER, DASS …?

Das Schöne am Wetter ist, dass jeder eine kontroversielle Meinung dazu hat. Fatal sind journalistische Texte, die zwar gelesen, aber nur mit einem „Hmm“ kommentiert werden. Bei Kommentaren zum Wetter ist das nie der Fall, wie vor kurzem Barbara Tóth im Falter.morgen ausführte. Eva Biringer, eine Kollegin aus Deutschland, kritisierte in der Berliner Zeitung wiederum die Wiener Wetter-Kritisierer und fand lyrische Beschreibungen für die 50 Shades of Gray des Wiener Winterhimmels. Die feucht-fröhlichen Fakten: Wien und Berlin sind sich sowohl mit ihren grantigen bzw. schnoddrigen Bewohnern ähnlich als auch beim Wetter. Beide Städte liegen in einer Übergangszone zwischen ozeanischem und kontinentalem Klima. Beide haben gleich viel Sonnenscheintage pro Jahr (4,8 Stunden am Tag), nur beim Regen liegt Berlin mit 13,8 Tagen pro Monat im Jahresdurchschnitt knapp vor Wien (12,6 Tage).

Es gibt dazu auch den nervigen Spruch, mit dem Ski- und Bergführer urbane Stubenhocker in Regen

und Kälte treiben: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung. Ich sitze, während ich das schreibe, in der Emilia-Romagna, jener Gegend in Italien, über der sich das Adria-Tief austobt und die Gegend massiv überflutet. Dagegen hilft weder Friesennerz noch Südwester.

Wie können sich also zarte, nicht regenfeste Gemüter gegen wetterbedingte Depressionen schützen? Mein Trick für Naturführungen, denen oft regenbedingte Absagen drohen: Nicht nur auf Schönwettertiere fokussieren, sondern die Chance nutzen, jene tierischen Freunde zu sehen, die 100 Prozent Luftfeuchtigkeit bevorzugen. Um es als Sinnspruch zu formulieren: Glück ist, wenn man auf Ausflügen bei Schönwetter Insekten bewundern kann und bei Re-

ZEICHNUNG: GEORG FEIERFEIL

gen viele verschiedene Schneckenarten findet. Gerade letztere Tiergruppe ruft bei Hausgärtnern meist nur Tobsuchtsanfälle hervor.

Aber wenig bekannt ist, dass es in Österreich über 450 Schneckenarten gibt. 76 dieser Arten kommen exklusiv nur in Österreich vor und sind in den verschiedenen Ökosystemen von großer Bedeutung.

Wem das zu biologisch und langweilig vorkommt, dem empfehle ich einen Besuch bei den „World Snail Racing Championships“, die jedes Jahr in Congham im Osten Englands stattfinden. Snails nennt man dort Gehäuseschnecken im Unterschied zu „slugs“, den Nacktschnecken. Das Rennen geht über die Distanz von 13 Inch (33,02 cm) und die Bestzeit liegt bei zwei Minuten.

Die Wetternachricht: In England regnete es letztes Jahr an 159 Tagen.

NATUR

Schlimm

sind notorische ADHSler wie das winzige Wintergoldhähnchen, das keine zwei Sekunden still sitzen bleibt. Eine Mönchsgrasmücke klingt wie eine Amsel auf Speed, Seite 51

Große Artenvielfalt in der Mekong-Region. Forscher entdeckten laut einem Bericht der Umwelt-NGO WWF innerhalb von nur zwei Jahren 380 Tier- und Pflanzenarten in Südostasien, darunter etwa die Blaukopf-Schönechse, die zur Verteidigung ihre Farbe wechselt, und einen Frosch, der sich mit einer moosähnlichen Hautstruktur tarnt.

Kärntner Tierarten sind vom Aussterben bedroht. 78 Autoren erarbeiteten in den vergangenen drei Jahren die Rote Liste für das südlichste Bundesland. Von den 8468 gelisteten Tierarten haben etwa die Hälfte (4179) ein erhöhtes Aussterberisiko. Zu den bedrohten Arten zählen auch welche, die weltweit nur in Kärnten vorkommen.

2023 bis 2027 werden die heißesten fünf Jahre. Den Grund dafür sieht die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) neben der Klimakrise im Wetterphänomen El Niño, das schon in wenigen Monaten für enorme Hitze sorgen wird. Die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klimaabkommens könnte laut WMO bereits in zehn Jahren fallen.

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Peter Iwaniewicz wird auf Wetter-Aphoristiker umsatteln
HIMMEL HEIMAT HÖLLE
FOTO: APA/ROLAND SCHLAGER FOTO: ENTOMOLO/CC BY-SA 3.0 FOTO: FAKSIMILE WWF

In der Falter-Redaktion ist Klaus Nüchtern der schrägste Vogel von allen – im besten Sinne. Er ist intelligent wie ein Kolkrabe, elegant wie eine Blauracke, grundsätzlich schrägen Tönen und melodischen Klängen zugeneigt (Jazz) und zwitschert selbst gerne. Dass er sich für Vögel interessiert, kann also niemanden ernstha überraschen. Jetzt hat Nüchtern das famose Buch „Famose Vögel“ herausgebracht –ein Werk für Laien von einem Laien, wobei sich der Literaturkritiker in seiner Rolle als Falter-Vogel-Wart in Wahrheit natürlich seit Jahren viel Expertise angeeignet hat. Ein Gespräch über die Liebesbekundung der Goldammer, das Problem mit dem Pirol und den hässlichsten Vogel Österreichs.

Falter: Lieber Klaus, Du trägst den Titel FaVoWa, das steht für Falter-Vogel-Wart. Ich habe mich schon immer gefragt: Was zur Hölle ist das und wer hat Dir diesen Fantasietitel verliehen?

Klaus Nüchtern: Den habe ich mir selbst verliehen. Es gab auch schon einmal die extended version, den „FaVoWaWa“: den Falter-Vogel-und-Wanderwart. Ich habe eine, zugegeben, etwas infantile Schwäche für Akronyme und irgendwann auch einmal die „VAMFHAAV“ („Vereinigung aller Menschen, denen Falco hinten am Arsch vorbeigeht“) gegründet. Mit der Selbstbetitelung wollte ich einfach meine Zuständigkeit anmelden.

Seit geraumer Zeit bewegst Du Dich in der Birder-Community, also in der Gemeinscha der Vogelbeobachter. Woran erkennt man einen Birder – außer am Fernglas?

Nüchtern: Stimmt schon: am Fernglas, am Spektiv samt Stativ und die Hardcore-Fraktion an armlangen Teleskopen und ihrer Camouflage-Kleidung. Tatsächlich bewege ich mich aber nicht in diesen Kreisen, sondern meide sie sogar: Für seriöse Birder bin ich gar nicht satisfaktionswürdig, und mir sind die auch nicht ganz geheuer.

In Deinem Buch hast du 90 heimische Vögel beschrieben. Insgesamt gibt es hierzulande etwa viermal so viele. Welchen hättest Du noch gern in der Sammlung gehabt – und welchen hättest Du dafür eingetauscht?

Nüchtern: Ich habe in der freien Wildbahn noch nie einen Uhu gesichtet, keinen Seidenschwanz, keinen Wachtelkönig und auch keinen Weißrückenspecht (so viel ich weiß). Die stünden sehr weit oben auf der Liste meiner Begehrlichkeiten. Für jeden von denen hätte ich gerne auf den Höckerschwan verzichtet, der mir mit seinem arroganten majestätischen Getue nicht sehr sympathisch ist.

„Famose Vögel“ ist ein Buch von einem Laien für Laien. Woran erkenne ich als Laie die Dinger am Himmel?

Nüchtern: An der Flugsilhouette, am Flügelschlag, an der Formation. Starschwärme oder Gänse in der klassischen V-Formation sind nicht schwer zu identifizieren. Eine gute Anfängerübung ist Storch versus Reiher: annähernd gleich groß, aber der Storch streckt den Hals durch, der Reiher hat einen Knick.

Und welche Vögel sollte ich als Erstes lernen, damit ich vor noch Ahnungsloseren angeben kann?

Nüchtern: Wenn die Basics à la „Amsel, Drossel, Fink und Star“ einmal gesichert sind – inklusive des Wissens, dass die Amsel eine Drossel ist –, kann man mit Goldammer, Grünfink, Girlitz und Erlenzeisig weitermachen. Erfahrungsgemäß erreicht jemand, der einen Hausrotschwanz identifizieren oder Schwalben von einem Mauersegler unterscheiden kann, unter blutigen Laien aber schnell einmal Ornithologen-Status.

Ich habe einmal erfolglos versucht, Vogelstimmen zu lernen. Wie merkst Du Dir die?

Nüchtern: Ehrlich gesagt: sehr schwer. Ich glaub, ich habe auf dem Sektor tatsächlich eine milde Behin-

INTERVIEW: BENEDIKT NARODOSLAWSKY

derung und muss das auch jede Saison wieder ein bisschen einüben. Es gibt aber ganz gute Eselsbrücken: Die Goldammer singt „Wie, wie hab ich dich lieb“; eine Mönchsgrasmücke klingt in etwa wie eine Amsel auf Speed; und der Grünspecht lacht ganz eindeutig.

Dein akustischer Liebling ist der Drosselrohrsänger. Liegt das an Deinem Faible für Jazz, oder was macht den so leiwand?

mücke klingt

Nüchtern: Nein, jazzig wäre eher die Amsel. Die hört sich im Hinblick auf die Intervalle ein wenig an wie der große Saxofonist, Bassklarinettist und Flötist Eric Dolphy (1928–1964), beziehungsweise umgekehrt. Der Drosselrohrsänger klingt einfach bizarr: So, als ob er eine Knarre eingebaut hätte. Momentan ist der dort, wo’s etwas dichtere Schil estände gibt, gut zu hören.

Alle beschriebenen Vögel hast Du selbst fotografiert. Welcher hat sich am meisten geziert?

Nüchtern: Schlimm sind notorische ADHSler wie das winzige Wintergoldhähnchen, das keine zwei Sekunden still sitzen bleibt. Und eine spezielle Herausforderung ist der Pirol. Der ist an sich – akustisch wie visuell – sehr auff ällig: Das harmonische Flöten merkt man sich sofort, und auch das monarchische Schwarz-Gelb ist sehr prägnant. Er hält sich aber vorzugsweise in den Kronen von Laubbäumen in Auwäldern auf und ist sehr scheu. Man steht dann buchstäblich im Wald und weiß: Der sitzt da jetzt zehn oder 15 Meter entfernt, pfei sich eins, lässt sich aber ums Verrecken nicht blicken. Unlängst hatte ich aber Glück: Da ließ er sich auf einem dürren Ast eines exponierten Baumes beim Himmelteich, unweit der Seestadt nieder und dann auch noch gleich neben einem Kuckuck. Mir sind dann auch ein paar ganz hübsche Fotos geglückt –nicht eben National Geographic-Niveau, aber allemal gut genug.

Die US-amerikanische Schri stellerin Nell Zink, die Schwanzmeisen verehrt, nannte auf Deine Frage nach dem hässlichsten Vogel den Marabu – eine ziemlich unansehnliche Storchenart aus Afrika. Aber welcher ist der hässlichste Vogel in Österreich?

Nüchtern: Unser Marabu ist eindeutig der Waldrapp. Wenn Du mich fürs Birden anfi xen willst, wohin nimmst Du mich als Erstes mit? Der Seewinkel gilt nicht.

Nüchtern: In die Seestadt, gerade jetzt! Wir steigen schon in Aspern Nord aus und überqueren die Baubrache Richtung Süden, wo die Haubenlerchen steigen und singen. Beim See wenden wir uns dann gen Osten und schlagen uns zu besagtem Himmelteich durch. Apropos schlagen: Die Nachtigallen schlagen auf dem Weg dorthin, und am Teich selbst trifft man dann zumindest akustisch auf Schwanzmeisen, Drosselrohrsänger, Kuckuck und Pirol. Und zuletzt habe ich sogar zwei Zwergdommeln gesichtet.

Speed“

Gibt es eigentlich einen Grund, warum Du Deine Vogelserie damals ausgerechnet mit einer Wacholderdrossel begonnen hast?

Nüchtern: Nur einen jahreszeitlichen. Die sind halt zu Beginn des Jahres, wenn’s kalt ist, in den Gärten und sonst wo recht präsent, die meisten Menschen aber kennen die nicht.

Weil Du neben Deiner Rolle als FaVoWa auch Staatspreisträger für Literaturkritik bist, spielen wir zum Schluss noch Amazon: Kundscha , die „Famose Vögel“ gelesen hat, liest auch ...

Nüchtern: Also da muss ich natürlich zwei Frauen nennen, die beide auf ihre je eigene Art ganz tolle, kluge und witzige Schri stellerinnen sind. Bei Nell Zink fällt die Wahl naturgemäß auf deren Debüt „Der Mauerläufer“ – an sich ein alpiner Vogel, der aber in einem Steinbruch bei Bad Vöslau überwintert –, und von Helen Macdonald nehmen wir den Reportagen- und Essay-Band „Abendflüge“, dessen Titelstück den fantastischen Mauerseglern gewidmet ist. F

NATUR FALTER 21/23 51
„Eine Mönchsgras-
wie eine Amsel auf
Wie Klaus Nüchtern, unser Staatspreisträger für Literaturkritik, Österreichs Vogelwelt rezensiert
FOTO: LEO SKORUPA Fortsetzung nächste Seite
Klaus Nüchtern mit einem Kolkraben

ALLE ILLUSTRATIONEN: SILVIA UNGERSBÖCK

TIER-RÄTSEL: WIE VIELE VON DIESEN

ZWÖLF

VÖGELN

KENNEN SIE?

Vor zwei Jahren sorgte eine Umfrage zur Artenkenntnis für Schlagzeilen. Der bayrische Landesbund für Vogelschutz (LBV) ließ in Deutschland erheben, wie viele Erwachsene

15 der häufigsten Gartenvogelarten kennen. Nur fünf der 1003 befragten Personen konnten alle Vögel richtig benennen. Den Buchfink – der Singvogel, der in Deutschland am häufigsten vorkommt – erkannten bloß zwölf Prozent.

Wir präsentieren

Ihnen nun das FalterVogelrätsel. Alle Vögel kommen nicht nur in Österreich vor, sondern auch im neu erschienenen Buch „Famose Vögel“ von Klaus Nüchtern, der auch die Kurzbeschreibungen

für dieses Rätsel lieferte. Silvia Ungersböck hat die Vögel illustriert. Die Auflösung des Rätsels finden Sie auf dieser Doppelseite rechts unten

FALTER .morgen

Falter.morgen

Das Buch „Famose Vögel“ ist eine Sammlung von Klaus Nüchterns Vogelbeschreibungen, die er für den Falter. Morgen-Newsletter unter der Rubrik „Vogel der Woche“ veröffentlicht hat. Den Falter. Morgen-Newsletter können Sie kostenlos unter folgender Adresse abonnieren: www.falter.at/morgen

52 FALTER 21/23 NATUR
2. Nomen est omen: Pionier der Patchworkfamilie 1. Gegen aggro Agrarindustrie hilft ihm sein Mut leider wenig 5. War vor einem Jahr zu Gast im Museumsquartier 9. Der scheue Flötist der Auwälder ist derzeit bestens gebucht 10. Klein, aber ganz schön laut: Troglodytes troglodytes 6. Optisch eher unscheinbar, gesanglich hingegen virtuos

4. War in Österreich bereits ausgestorben, großes Comeback in den 2000ern

Klaus Nüchtern: Famose Vögel. 90 heimische Vö gel, beobachtet und beschrieben vom Falter-Vogel-Wart, illustriert von Silvia Ungersb ö ck. Falter Verlag, 224 S., € 24,90

8. Der einzige heimische Singvogel, der tauchen kann

Drei Erkenntnisse

Drei Tage reiste Benedikt Narodoslawsky durch drei Nationalparks und nahm daraus drei Erkenntnisse für die Umweltbewegung mit. Kostenlose Nachlese sowie Falter. Natur-Newsletter-Abo unter: www.falter.at/natur

DES RÄTSELS LÖSUNG

Wenn Sie das Heft drehen, sehen Sie unterhalb –oder in dem Fall eigentlich oberhalb – die Lösung

NATUR FALTER 21/23 53
1. Kiebitz 2. Kuckuck 3. Wintergoldhähnchen 4. Seeadler 5.Waldohreule 6. Nachtigall 7. Mauersegler 8. Wasseramsel 9. Pirol 10. Zaunkönig 11. Schellente 12. Bartmeise 3. Unser Kleinster, die Neutronenbombe der Niedlichkeit 7. Born to fly high: spät zu Gast und schnell wieder weg 11. Anzutreffen bei der GerhardWeber-Wehrbücke (wer’s kennt) 12. Männchen mit ausgeprägtem sekundärem Geschlechtsmerkmal
FALTER .natur

Phettbergs Predigtdienst Sargnägel

Hermes Phettberg führt seit 1991 durch das Kirchenjahr

Das Himmelreich ist immer ein Zweiter!

Evangelium des Christi-Himmelfahrtstags, Lesejahr A: „In jener Zeit gingen die elf Jünger nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte. Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder.“ (Mt 28,16–20)

Evangelium des 7. Sonntags der Osterzeit, Lesejahr A: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ (Joh 17, 1–11a)

Nachdem ich geboren wurde, fuhr die Mama mit mir, indem sie mich oft auf den Babysitz des Fahrrads gesetzt hatte, zu ihrer Schwester, der Poldi-Tant. Du musst dir vorstellen, dass die Gottheit die Menschheit in die Welt hineindenken musste, quasi so, wie die Mama oft und oft mich in den Kindersitz gesetzt hat, um mich zu ihrer Schwester, meiner geliebten Poldi-Tant, zu bringen.

Wenn jetzt heute Christi Himmelfahrt stattfindet, musst du dir ausmalen, wie die Glanzvolligkeit im Glanz des Gottvaters der Dreifaltigkeit erstrahlt, quasi wie ich aufblühte, als die Mama mich bei der Poldi-Tant ablieferte. So wie jetzt Hannes mich umstrahlt, wenn er mich zum Dessert betreut. Immer gibt er mir dazu einen schwachen Kaffee mit einer Apfeloder Bananen-Tasche.

Vielleicht ist mein Unternalb der Himmel Jesu Christi in Bethlehem? Der Hannes hat ein Automobil, das mit E-Motor betrieben wird und für mich das Himmelreich der Mama ersetzt. Immer brauch ich einen Zweiten. Das Himmelreich ist immer ein Zweiter!

Unsere Rosenkranzbesessenheit erscheint mir als eine Leistungsideologie, möglichst viele Jahrtausende fürs Jenseits einzuheimsen: weiter – weiter – weiter. Jesus und ich verstehen uns doch längst. Wenn das Jenseits einen „hellen“ Helfer braucht, dann steh ich auf jeden Fall parat, lieber Jesus! Mit Jesus mitfahren, Christi Himmelfahrt!

Dr. Aschauer verschrieb mir den TCM-Kräutertee und seither hab ich kaum mehr Schwindel beim Geleitetwerden. Alles Anzeichen für den kommenden Himmel!

Soeben meldet das Internet, dass mein so sehr verehrtes goldenes Klavier aus dem Parlament verschwinden muss. Ich, der absolut kein Musikinstrument beherrscht und auch absolut keine Musik leiden kann, hätte aber trotzdem gern ein goldenes Klavier als himmlisches Sinnbild! Schade!

Phettbergs Predigtdienst ist auch über www.falter.at zu abonnieren. Unter www.phettberg.at/gestion.htm ist wöchentlich neu zu lesen, wie Phettberg strömt

Fragen Sie Frau Andrea Informationsbureau

Wo

Liebe Frau Andrea, je älter ich werde, desto mehr Ausdrücke aus meiner Kindheit und Jugend im oberen Murtal fallen mir ein. Können Sie erforschen, woher der Ausdruck „olle biad“ für in „kurzen Abständen“ kommt? Beste Grüße, Utz Uhl, Graz, per E-Mail

Suchmaschinen steuern, können das Lemma nicht fassen.

comandantina.com; dusl@falter.at, Twitter: @Comandantina

Mastodon: @comandantina@ mastodon.social

Lieber Utz, gerne steige ich für Sie ins Archiv der schwierig zu fassenden Austriazismen und berichte Ihnen aus der spezifischen Forschung. Noch vor wenigen Generationen hätte niemand im bairisch-österreichischen Sprachraum Schwierigkeiten gehabt, den Ausdruck aus ihrer steirischen Kindheit richtig zu verstehen. Wäre er in die Schriftsprache übersiedelt, schrieben wir ihn heute „allebot“. So zirkuliert er in Dialektforen und Mundartblasen in vielerlei Form. Olle bot, ollebod, olli Bout, olliboud, alle Bot, alle bad, allbot, und wie im oberen Murtalfall: „olle biad“.

Mit dem Effekt, dass die Suche nach Bedeutung und Herkunft extrem erschwert, ja ins Unmögliche gestellt wird. Die Algorithmen, die die Suche in Google und anderen

Allebot, alle Bot, ollebod, olle Bod heißt alles zwischen „alle Augenblicke“, „sehr häufig“, „öfter“, „immer wieder“, „hie und da“, „dann und wann“. In „Bod“, „Bot“ sehen wir das veraltete, nur mehr in bairisch-österreichischen Dialekten konservierte Substantiv des Zeitworts „bieten“. Es versteckt sich allerdings auch in der Hochsprache noch erfolgreich in Wörtern wie Gebot, Verbot, Anbot, botmäßig und dessen Gegenteil unbotmäßig.

Auch der Bote und sein Mitbringsel, die Botschaft, kommen vom Verb „bieten“. Im alten Wienerisch sagte und sagt man „Olle Bod long“, was zwar anders geschrieben wird, aber ident ist mit dem „olle biad“ des oberen Murtals Ihrer Kindheit. Wörtlich ist damit „alle Angebote lang“ gemeint, „so oft es sich anbietet“, „so oft es geboten erscheint“. Ein anderer in Vergessenheit geratener Ausdruck aus der Bot-Wortwolke lautet „Ka Bod auf wos legn“, was so viel bedeutet wie: „keinen Wert auf etwas legen“, „kein Angebot legen“, „nichts dafür bieten“. Allebot sagt es irgendwer einmal, irgendwo zwischen Scheibbs und Nebraska.

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Bot wohnt. Und wann er kommt
Andrea Maria Dusl beantwortet seit 20 Jahren knifflige Fragen der Leserschaft ILLUSTRATION: STEFANIE SARGNAGEL

Bitte, was erlaubt sich die überhaupt?

Nachdem ich schon vielversprechende

Posts über „Das Baby ist nicht das verdammte Problem“, den Ratgeber der Wiener Journalistin Ana Wetherall-Grujić (Kremayr & Scheriau), bemerkt hatte, fand ich überraschenderweise in meiner Post ein Rezensionsexemplar. Danke, interessiert mich! Hätte ich mir ja eher nicht gekauft, denn ich bin seit genau 21 Jahren nicht mehr schwanger.

Trotzdem, ich bin komplett begeistert. Wobei ich mir erstmal die Augen rieb. Weil was erlaubt sich die? Hat nur ein einziges Kind, kaum ein Jahr alt, und will schon Expertin sein? Erstgebärende haben zaghaft zu sein und verunsichert: Die haben doch keine Ahnung, was für sie gut ist, was für ihr Kind das Beste ist, wie sie es zu machen haben. Als müsse man mindestens fünf Kinder geboren haben, bevor man eine gute, kompetente Mutter sein kann. Wetherall-Grujić fährt da rein wie ein feministisches Vorurteils-Räumfahrzeug, und das ist großartig. Denn viel zu viel hat sich nicht verändert in den vergangenen 21 Jahren. Das weiß ich aus Gesprächen mit Müttern kleiner Kinder, und auch Wetherall-Grujićs Erfahrungsbericht zeigt, wie sehr sie sich mit dem gleichen Scheiß herumschlagen musste, mit dem ich und andere Mütter schon vor Jahrzehnten kämpften. Etwa die Unterstellung, ich hätte keine ordentliche Geburt gehabt, weil meine Kinder mit Kaiserschnitt zur Welt kamen, etwas, das ich selbst nie als Nachteil empfand, im Gegenteil. Oder dass ich meine Kinder nicht stillte: Was wurde

Doris Knecht las begeistert Ana Wetherall-Grujić Ratgeber „Das Baby ist nicht das verdammte Problem“

WetherallGrujić schlägt sich mit dem gleichen Scheiß herum, mit dem ich und andere Mütter schon vor Jahrzehnten kämpften

WAS LOS

Es tut sich einiges in Wien, bistu. Das Wichtigste: Man kann jetzt seine Kinder im Rahmen der Aktion „Wien schwimmt“ zu Schwimmkursen im Sommer anmelden. Die Hälfte der Achtjährigen in Wien kann nicht schwimmen. Das geht nicht.

Ich streue dazu die Geschichte eines Buben ein. Er schwamm, damals neunjährig, zu so einer aufblasbaren Trampolininsel in einem Teich. Die war recht groß, es hatten sicher 20 Leute drauf Platz. Und immer mehrere konnten drauf herumspringen. An der Seite der Insel waren einige unübersehbare Warnungen angebracht, dafür, dass man nicht unter die Insel tauchen soll. Denn die war an einem Seil befestigt und durch das Gehüpfe schwamm sie ein wenig herum, immer ein paar Meter.

Leider tauchte er doch darunter, und als er auftauchte, pumperte er mit dem Kopf gegen die Insel. Also tauchte er weiter. Pumperte wieder mit dem Kopf gegen die Insel. Bekam keine Luft. Tauchte weiter. Wieder war da die Insel über ihm. Seine Kräfte verließen ihn langsam, also tauchte er noch einmal so weit und so lange es möglich war und kam dann doch japsend an die Oberfläche. Er war aber so schwach von der Panik, dass

ich unter Druck gesetzt und verurteilt, weil ich ihnen damit physischen und psychischen Schaden zufüge; wovon, soweit ich das beurteilen kann, nichts eingetreten ist.

Wetherall-Grujić hat das auch erlebt, und auch sie empfand sich, obwohl sie die Sache sehr selbstbewusst anging, in ihrer PostGebär-Geschwächtheit als wehrlos. Aber sie erzählt auch, wie sie eine Hebammensprechstunde mit rückwärts ausgestreckten Mittelfingern verlassen wollte. Sie ist oft wütend. Und sie verteilt, wo es die Situation erfordert, verbale Ohrfeigen: an Ärztinnen und Ärzte, an Hebammen, die ihr mit Alternativmedizin kommen wollen, an werdende Väter, die sich in Ausreden flüchten. Und sie empfiehlt etwas, mit dem sich Erstgebärende schwertun: Nein zu sagen, wenn ihnen was nicht passt und falsch erscheint. Das ist ein wirklich guter Rat.

»Ich habe auch viel gelacht. Wenn sie über Besserwissende mit einem „Doktor in Stillologie mit Nebenfach Busen“ spricht, wenn sie anstatt der Verwendung von Stoffwindeln empfiehlt, lieber jede Woche die dreckigen Pampers ans Kanzleramt zu schicken (und völlig schlüssig argumentiert, wieso.)

Aber sie spricht auch an, wie sehr ein Baby in ein Frauenleben eingreift: wie ein Teil von ihr mit der Mutterschaft gestorben sei, wie ihr Leben in Scherben liegt und wie sie es jetzt neu und anders zusammensetzen muss. Wo ich sagen kann: Kenn ich auch, wird aber gut. Und ich wünschte, ich hätte damals genau so ein Buch zur Verfügung gehabt.

er sich nicht mehr oben halten konnte. Da erinnerte er sich an eine Technik aus dem Schwimmkurs. Er drehte sich auf den Rücken und glitt so langsam über den Teich.

Ich stand am Ufer und es kam mir komisch vor, ihn so zu sehen. Bin zu ihm geschwommen und habe ihn herausgeholt. Gesund und am Leben. Meinen Buben. Man kann gar nicht so gut aufpassen, dass nicht doch was passiert. Sie müssen gut schwimmen können, die Kinder, wissen, wie sie sich helfen können. Also: Schwimmkurs, jetzt, wo der Sommer endlich daherkräult.

Nun das Deppertste: Ein Pop-up-Store wurde eröffnet für ein Fetzenlabel. Die haben es fantastisch hingekriegt mit dem Hysterisieren (ja, das ist ein Wort jetzt einfach) der Leute, indem sie kiloweise Gratiskleidung versprochen haben. Slogan: „Nehmt, was ihr wollt, so viel ihr wollt.“ Dafür mussten die Jugendlichen eine Schnitzeljagd durch Mariahilf machen. Wurden zu irgendwelchen Locations gelotst, wer „Glück“ hatte, zur richtigen. Die ersten 80 hatten die Chance auf die Gratisfetzen, so viel sie in ihre Taschen stopfen können. Super, oder? Genau das, was man 2023 den Leuten vermitteln sollte. Geifer. Sabber.

Die Folge waren Verletzte und Polizeieinsatz. Die Aktion passte zu den T-Shirts, die sie verkaufen. Da steht drauf: MUM SAYS I’M SPECIAL SO FUCK YOU.

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