FALTER 24/22

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FA LTER DIE WOCHENZEITUNG AUS WIEN NR. 24 / 22 – 15. JUNI 2022 MIT 64 SEITEN FALTER : WOCHE ALLE KULTURVERANSTALTUNGEN IN WIEN UND ÖSTERREICH TERMINE VON 17.6. BIS 23.6. Falter mit Falter: Woche Falter Zeitschri en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG Retouren an Postfach 555, 1008 Wien laufende Nummer 2855/2022 € 4,90 24 9 004654 046675 ANZEIGE EINE VERANSTALTUNG DER NÖ FESTIVAL UND KINO GMBH IN KOOPERATION MIT ÖSTERREICH 1 15. – 31.7.2022 26. Festival ILLUSTRATION: DANIEL JOKESCH Des Kanzlers weiße Weste Rücktri e, Rechnungsho erichte, Ermi lungen: wie Karl Nehammer das Korruptionsproblem der ÖVP verleugnet

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1Lind M et al. Continuous Glucose Monitoring vs Conventional Therapy for Glycemic Control in Adults With Type 1 Diabetes Treated With Multiple Daily Injections – The GOLD Randomized Clinical Trial. JAMA. 2017;317(4):379-387.

2Beck RW et al. E ect of initiating use of an insulin pump in adults with type 1 diabetes using multiple daily insulin injections and continuous glucose monitoring (DIAMOND): a multicentre, randomised conrolled trial. [published online ahead of print July 12, 2017]. The Lancet Diabetes & Endocrinology.

3Beck RW et al. Continuous glucose monitoring vs usual care in type 2 diabetes on multiple daily injections: a randomized trial. Ann Int Med. 2017 Sep 19;167(6):365-374

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FALTER & MEINUNG

4 Leserbriefe

5 Armin Thurnher

6 Eva Konzett, Florian Klenk, Tessa Szyszkowitz

8 P.M. Lingens,

9 Isolde Charim, Melisa Erkurt

POLITIK

11 Warum der Rechnungshof die Finanzen der ÖVP von einem externen Prüfer durchleuchten lässt

14 Gut genug fürs

Sommerloch: der Präsidentschaftswahlkampf

16 SPÖ-Nachwuchshoffnung Sven Hergovich

17 Das Rätsel Long Covid

18 Das politische Buch

MEDIEN

20 Porträt der Medienmacherin Tina Brown

22 Katia Wagner gegen Wolfgang Fellner

FEUILLETON

24 Nach dem NFTRausch: das Belvedere in Katerstimmung

26 „Jurassic World“

oder die Kunst der Verfolgungsjagd

27 FestwochenTagebuch

28 Zeitgeschichte: der deutsche Politiker Walther Rathenau (1867–1922)

30 Neue Bücher, neue Platten

31 FeuilletonSchlussseite

STADTLEBEN

34 Kulinarische Aneignung: wie vietnamesisches Essen vom Mobbinggrund zum Hipster-Food wurde

37 Der Blogger Georg Scherer entblättert Wiener Bausünden

38 Greta Hofer: Kann ein Supermodel Klimaaktivistin sein?

39 Der neue Praterwirt macht Fleisch zukunftsfähig

NATUR

42 Spargel bleibt auf dem Feld, Erdbeeren verderben: Was ist da los?

45 Ein Chalet-Projekt wird zum Fall fürs Verwaltungsgericht

KOLUMNEN

46–47 Phettbergs

Predigtdienst, Doris Knecht, Heidi List, Fragen Sie Frau Andrea

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Im Geschäft der Eitelkeiten

Tina Brown brachte als Chefredakteurin Vanity Fair und The New Yorker auf Vorderfrau. Jetzt geht sie die Royals an.

4Theater in der FALTER : WOCHE Vorhang auf für die Sommerbühnen: Sara Schausberger, Miriam Damev und Martin Pesl geben einen ProgrammÜberblick.

Köpfe der Woche Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Es gibt Tage, da kann man nur die Welle machen. Programm-Chefin Lisa Kiss und ihr fantastisches Team haben den Kultursommer gestaltet. Er liegt bei. Mit 53.002 Veranstaltungsterminen. Wow! Danke! Was für eine Mega-Arbeit.

Falter-Kolumnist Raimund Löw hat seine Analysen als Buch veröffentlicht. Der ehemalige Spitzendiplomat Wolfgang Petritsch hat es kritisch gelesen. Seine Rezension finden Sie im Politischen Buch.

SEITE 18

Neben seiner Arbeit für die Falter:Woche hat Martin Nguyen 2014 seine Familiengeschichte verfilmt. Nun beschreibt er, was ihn das Leben über die Aneignung der asiatischen Küche gelehrt hat.

SEITE 34

Errata Unsere Fehler

Mehlspeise statt Kopfbedeckung: In der Covergeschichte im Falter 20/22 auf Seite 28 berichteten wir über die Spenden, die das ukrainische Paar Yaryna Arieva und Sviatoslav Fursin für Soldaten sammelten. „Bis jetzt kamen aber nur 7000 Dollar zusammen, für die sie Munitionstaschen, Gewehrgurte, Rucksäcke, Baklavas und Schutzbrillen besorgten“, hieß es dort. Gemeint waren natürlich Balaklavas. Dank an die vielen Leserinnen und Leser, die uns darauf hinwiesen.

Die Kunst der Affen

Mit einem KlimtNFT stieg das Belvedere in die Welt der Kryptotechnik ein. Auf den euphorischen Start folgt nun Katerstimmung.

KULTUR SOMMER

Der Sommer kann kommen

Was in den kommenden Monaten österreichweit so läuft, können Sie im beiliegenden Sonderheft Kultursommer nachlesen.

Nachrichten aus dem Inneren Wir über uns

Drei Jahre ist es nun her, dass Josef Redl die Falter-Redaktion über einen ungeheuren Vorgang informierte. Ein Anonymus – wir wissen bis heute nicht, wer es ist – habe die gesamte Buchhaltung der Österreichischen Volkspartei in Händen und sei bereit, sie an uns zu übergeben. Das Falter-Politikressort veröffentlichte in einer Serie tiefe Einblicke in die Gebarung einer Regierungspartei. Ihre Spender, ihre Spesen, ihre Wahlkampfkostenüberschreitungen: All das lag auf einmal offen da. Sebastian Kurz und Karl Nehammer starteten damals eine öffentliche Schmutzkampagne gegen uns. Sie bezichtigten uns zwischen den Zeilen, die Daten gefälscht und manipuliert zu haben. Ihr Anwalt Werner Suppan versuchte, uns mit Klagen mundtot zu machen. Doch wir bekamen recht: Unsere Berichterstattung war korrekt. Nur ein Detail konnten wir nicht beweisen: dass die ÖVP auch den Rechnungshof täuschen wollte. Der fühlt sich nun getäuscht. Warum? Das lesen Sie in unserer dieswöchigen Coverstory. Wir hätten unser Wissen übrigens auch gerne im ORF ausgebreitet – in einer „Im Zentrum“-Sendung am Sonntag. Aber der ORF lud uns nicht ein. Der Falter ist in ORF-Diskussionen immer noch nicht gern gesehen, zumal wenn es um die ÖVP geht. Wir glauben, die Sendung wäre spannend geworden.

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INHALT : WIR ÜBER UNS FALTER 24/22 3
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20

Post an den Falter

Wir bringen ausgewählte Leserbriefe groß und belohnen sie mit einem Geschenk aus dem Falter Verlag. Andere Briefe erscheinen gekürzt. Bitte geben Sie Ihre Adresse an. An: leserbriefe@falter.at, Fax: +43-1-53660-912 oder Post: 1010 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

Betrifft: „Zahlt es sich aus, eine gute Lehrerin …?“ von M. Erkurt, Falter 22/22 In der Ausgabe 22 spricht Frau Erkurt älteren Lehrerinnen die Expertise ab. Ich unterrichte seit 1986 im AHS-Bereich. Ich werde im August 62 Jahre alt und liebe meinen Job. Ich habe meine Schüler mithilfe von Moodle, Zoom

Die Autorin ist AHS-Lehrerin in Wien

und Teams durch die Lockdowns begleitet. Ich habe von Tiktok keine Ahnung, finde Instagram zeitraubend.

Ich weiß allerdings, wie ich mit verschiedenen Gruppen umgehen muss, wann es notwendig ist, Inhalte vermehrt zu wiederholen, welche Schülerinnen das Potenzial zur Unruhe zeigen, wie ich trotzdem für alle eine gute Arbeitsatmosphäre schaffen kann. Ich erlebe, dass Masterstudentinnen ihre Unterrichtsstunden mit so vielen unterschiedlichen Methoden vollstopfen, dass Schülerinnen noch gar nicht

FALTER V E RLAG

wissen, was sie zu tun haben, wenn sie schon mit der nächsten Methode konfrontiert werden.

„So lernen wir das auf der Uni“, ist die gängige Antwort der Studierenden. Ich weiß, dass den Schulen unter anderem unterstützendes Personal fehlt. Ich weiß auch, dass die Kollegenschaft dies seit Jahrzehnten fordert und nichts geschieht. Ich weiß auch, dass man das Praktikumsjahr der Absolventen von Lehramtsstudien gestrichen hat und durch 60 Stunden Masterpraxis ersetzt hat, von denen 20 zu unterrichten sind. Ich weiß auch, dass dies eine Katastrophe ist, und ich könnte diese Liste noch eine Weile fortsetzen.

Und ich erlebe auch, dass junge Kolleginnen zu mir kommen und mich um Rat fragen und meine Expertise schätzen. So viel zum Thema „Ich habe keine Ahnung“.

MAG. WALTRAUD FELBER

Wien 14

Betrifft: „Dürfen wir es töten? Ja, es ist glitschig“ von F. Klenk, Falter 21/22 Kritik geht meist rasch von der Hand, Lob dauert leider oft ein bisserl länger: Ich möchte mich auf diesem Wege ganz herzlich bei Ihnen bedan-

Als inhabergeführtes Medienhaus mit Sitz in der Wiener Innenstadt betreiben wir eine Vielzahl an elektronischen Medien wie Websites, Newsletter, Apps, Onlineshops und Podcasts und verlegen zahlreiche hochwertige Zeitschriften, Bücher, Magazine sowie Corporate Publishing-Titel.

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ken. Dass Tiere keine Parzellengrenzen kennen, dass Mähen keine Bürgerpflicht sein sollte und Abscheu oft erlernt ist – all das an prominenter Stelle im Falter zu lesen hat mir wirklich Freude bereitet.

Ich hoffe, dass Ihr Artikel viele Menschen dazu gebracht hat, auch die Urteilssprüche im eigenen Garten zu überdenken. Danke für diesen gedanklichen Blühstreifen des Miteinander.

ALEXANDER UJCIK 9520 Annenheim

Betrifft: „Böse: Ulrike Guerot“, redaktionell, Falter 23/22

Ulrike Guerot hat 2017 ein Buch über einen diskursiven Bürgerkrieg in Europa geschrieben. Vorab stellte sie dort klar, dass sie damit einen Bürgerkrieg zwischen den Rechten wie Marie Le Pen, Norbert Hofer u.a. und jenen, die sich der Aufklärung im Sinne der Französischen Revolution verpflichtet fühlen, meint. In diesem Zusammenhang redet sie explizit davon, dass sie in diesem Essay nicht über die Bürgerkriege in Syrien und der Ukraine (Donbass) spricht.

Vor kurzem machte sie sich bei Markus Lanz für eine umfassende Analyse des russischen Angriffskrieges stark. In diesem Zusammenhang sprach sie von einem Bürgerkrieg, der im Donbass vor Putins Angriff stattfand. Es ist also nicht so, dass sie den Angriffskrieg als Bürgerkrieg bezeichnet. Warum der Falter das so darstellt, ist mir unerklärlich, mehr noch, ich finde es unverzeihlich. Statt genau zu recherchieren, findet eine Hetze gegen eine äußerst differenzierte Wissenschaftlerin statt, wie ich sie sonst nur aus den sozialen Medien kenne.

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Betrifft: „Die Kinder vom Rosenhügel“ von L. Paulitsch, Falter 22/22 Gratulation zu Artikel und Cover Kinder ohne Psychiater. Sie schreiben auf Seite 13: Insgesamt ist die KJP ein sehr junges Fach, erst seit 2007 gibt es einen eigenen Ausbildungsweg.

Dies ist nur zum Teil korrekt, bis zu dieser Reform gab es das Additivfach Kinder- & Jugendpsychiatrie, man konnte es entweder als FA für Psychiatrie (in allen seinen Modalitäten) oder als FA für Kinder- & Jugendheilkunde in einer Zusatzausbildung absolvieren. Je nach fachlichem Schwerpunkt zeigten sich dadurch einige Vorteile. Auch in Bezug auf die Niederlassung hätte es nur Vorteile, da man die Verträge mit den Krankenkassen nur um Honorarposten erweitern müsste, und im Sinne der Gruppenpraxen mit interner fachlicher Spezialisierung wären das zielführende Optionen geworden. Leider wurde diese Möglichkeit zu Grabe getragen, beide Ausbildungen parallel wären durchaus denkbar gewesen.

www.falter.at/radio

Der Podcast mit Raimund Löw www.falter.tv

Bereits online

„War on the West“. Der anglo-niederländische Kommentator Ian Buruma seziert Attacken von innen und von außen auf die liberale Demokratie, Chinas Vormarsch und den Ukrainekrieg. Ein Gespräch mit der Außenpolitikexpertin Eva Nowotny im Bruno Kreisky Forum

Ian Buruma, Eva Menasse, Gerhard Mangott, Campino

Dienstag, 14. 6. 2022

So sind wir vielleicht doch, oder? Eva Menasse über die politische Moral zu Bruno Kreiskys Zeit und heute. Die Dankesrede bei der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch 2022

Donnerstag, 16. 6. 2022 und auf W24

Der Uno-Atomwaffenverbotsvertrag: Warum die Ächtung von Atomwaffen so schwierig ist, wo die Weltpolitik versagt und was Österreich tun kann. Nationalratsabgeordneter Martin Engelberg (ÖVP), die Politikwissenschaftler Gerhard Mangott (Universität Innsbruck) und Heinz Gärtner und die Journalistin Eva Konzett (Ressortchefin Politik)

Samstag, 18. 6. 2022

Alltag im Krieg. Schauspielerinnen und Schauspieler des Burgtheaters haben das Falter-Tagebuch des russischen Ukrainekrieges vertont

Sonntag, 19. 6. 2022

Die deutsche Rockband Tote Hosen wird 40. Der Sänger Campino über die Pandemie, Glücks- und Katastrophenmomente und die Fußball-WM in Katar in einem Gespräch mit Gerhard Stöger

4 FALTER 24/22 AN UND ÜBER UNS
3100 St. Pölten
Der Falter Auf allen Kanälen Podcast & Falter-TV
FALTER R adi o DER PODCAST MIT RAIMUND LÖW FOTOS: NATIONAAL COMITÉ/ILVY NJIOKIKTJIEN, APA/ROLAND SCHLAGER, TWITTER, APA/DPA/RALF HIRSCHBERGER
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FALTER

Seinesgleichen geschieht Der Kommentar des Herausgebers

Die ÖVP als Blätterteig.

Oder: Rettung kommt vom Berg

Nun übergibt auch der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter sein Amt. Als seinen Nachfolger hat er den Galtürer Bürgermeister und Bergretter Anton „Toni“ Mattle bestimmt. Überraschung. Schlamassel. Pallawatsch. Hilfe bei der Beschreibung von derlei bieten gern Politikberater an. Es ist ihr Job, Formulierungen zu finden, die das Hirn zum Stoppen bringen. Meines hielt inne, als der Politikberater meines Vertrauens im ORF von einem „dramatischen Wermutstropfen“ sprach und damit die knappe Frist zwischen dem überraschend verkündeten Rücktritt des Landeshauptmanns Günther Platter und dem Datum der Wahl meinte.

Schon im Herbst soll gewählt werden, nicht erst in zwei Jahren, wie in der Steiermark, wo Kaplan Schützenhöfer seinem Kooperator Drexler zwei Jahre gönnte, um jene Beliebtheit aufzubauen, die ihm nicht bei Schützenhöfer, nur bei der Bevölkerung noch fehlt.

In Tirol, sagte der Politikberater, kann der naturgemäß ebenfalls von Platter selbst erwählte Nachfolger Toni Mattle „nicht mit seiner eigenen Handschrift in die Wahl gehen“. Man ahnt, was er meint, der Politikberater.

Die ÖVP beherrscht in der schwersten Krise ihrer Geschichte noch immer die Kommunikation über sich. Wenn einer ihrer Skandale – die absichtliche Überschreitung der Wahlkampfkosten – im mächtigsten Medium des Landes, im ORF, diskutiert wird, darf der Aufdecker dieses Skandals, Falter-Journalist Josef Redl, nicht dabei sein. Dafür aber der Parteianwalt der ÖVP, ein ihr freundlich gesonnener Anwalt und eine Journalistin des Kurier, dessen Eigentümer Raiffeisen man eine gewisse Nähe zur ÖVP nicht absprechen wird.

Die Führung des ORF ist schwarz, der Vorsitzende des ORF-Kuratoriums ist grün. Private TV-Anstalten tendieren aufgrund ihrer Eigentümerschaft nach rechts. Die wichtigsten Blätter im Land außerhalb von Wien sind allesamt schwarz oder konservativ grundiert. Die Stimmung der großen Boulevard-Tageszeitungen hängt von Regierungsinseraten ab. Ja, in all diesen Medien gibt es journalistische Inseln, ja, es gibt die sozialen Medien, es gibt eine starke rechte Suböffentlichkeit, aber man kann nicht sagen, die Krise der ÖVP sei einer ihr kritisch gesonnenen Medienöffentlichkeit geschuldet.

Der berühmte Essayist Hans Magnus Enzensberger verwendet in seinem Essay „Der Blätterteig der Zeit“ dieses Wunder der Konditorkunst, um Geschichte zu veranschaulichen. Durch Falten, Drehen, Übereinanderklappen, Ausrollen, Zusammenfalten, Drehen, Ausrollen und so weiter wird aus einem Stückchen Butter, Mehl, Salz und Wasser ein vielblättriger Teig. Enzensberger stellt sich einen Punkt vor, der sich in den gefalteten Teigblättern bewegt. Man kann zwar berechnen, wo er bei zunehmender Zahl der Blätter, die sich aus den Faltungen ergeben, auftaucht. Und dennoch ist seine Bewegung völlig unvorhersehbar. Soll heißen, vieles erscheint wieder, gerade wenn man nicht damit rechnet.

Kann man die ÖVP als Blätterteig der Zweiten Republik betrachten? Die ländlich-föderale Basis aus Milch und Korn spräche nicht dagegen. Mehrfach bündisch gefaltet, großko-

ARMIN THURNHER ist Mitbegründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter

Der angekündigte Rücktritt des Tiroler Landeshauptmanns erschüttert die skandalgeschüttelte ÖVP

alitionär eingeschlagen, um die Achse gedreht in einer ersten Alleinregierung, dann dünn ausgewalkt im von Bruno Kreisky angeführten roten Gegenteil. Wieder großkoalitionär, dann tabubrechend als erste Koalition mit der extremen Rechten, wieder rotschwarz, in erneuter Wendung als Neue Volkspartei wieder rechts, und dann noch in der ersten Koalition mit den Grünen: oft war die schwarze Macht an Stellen, wo man sie nicht erwartete.

Die Partei der Bürgermeister und der Bundesländer, des Regionalen, Katholischen, Alterhergekommenen, verschwitzt verdrängt Austrofaschistischen, entdeckte zur Jahrtausendwende ihr Faible für das wurzellose Wunderkind. Sie ist eben nicht nur Natur, Alm und Ziehharmonika. Zwar hasst sie die Ästhetik der USA als „Schmutz und Schund“, doch bewundert sie zugleich deren politische Ästhetik, an der sie sich in ihren Kampagnen stets orientiert. Deswegen sucht sie, oft geführt von „kalten Knackwürsten mit Brillen“ (Josef Taus über sich und Erhard Busek, beide Obmänner der ÖVP), sehnsuchtsvoll nach Charisma, nach Kassenschlager-Hollywood-Politik. Aber wer hat schon Charisma?

Richtig, die schönen jungen Knaben, ungehindert von Charakter oder ethischen Flausen. Schüssel versuchte, KarlHeinz Grasser ins Spiel zu bringen; ums Haar wäre der Schönbehaarte Spitzenkandidat der ÖVP geworden. Und dann Sebastian Kurz, ins Amt gebracht von Michael Spindelegger, dem spurlosesten Obmann von allen.

Wir reden von einer bürgerlichen Partei. Aber was ist das für eine Bürgerlichkeit, die ohne weiteres solchen Leuten freie Bahn gibt? Schüssel ließ das FPÖ-Personal, zu dem Grasser als Finanzminister gehörte, nach Belieben schalten, Kurz installierte Gefolgsleute aus seiner Generation, bei denen nicht Rückgrat, sondern Loyalität das Kriterium war. Der Blätterteig wird luftig und gibt Skandal um Skandal preis. Die politischen Folgen sind verheerend, die juristischen werden aufgearbeitet.

Eine Partei löst sich auf. Ihren nun zurücktretenden sogenannten Patriarchen fehlt bereits die Knorrigkeit ihrer Vorgänger, da war noch eine gewisse Festigkeit, da war konservative Beharrungskraft, regionale Eigenart, nicht nur provinzielle Sturheit und geschwollenes Daherreden aus Leere.

Günther Platter: Er geht schnell, um einer Wahlpleite zu entgehen

Anton Mattle, Platters Nachfolger: Retter oder Pleitenerbe?

Der Autor digital: Tägliche Seuchenkolumne: falter.at Twitter: @arminthurnher

Die Patriarcherln haben zu hundert Prozent für Sebastian Kurz gestimmt, ihm mit ihren Unterschriften Treue geschworen, um kurz danach von ihm abzufallen. Wortbrüchige, die selbst schon Notlösungen waren. Platter, einst von Qualitätskommentatorinnen- und kommentatoren abfällig „der Gendarm aus Zams“ genannt, spürte vielleicht das Unheil, das mit Kurz kam, und beharrte schwächlich darauf, die Tiroler ÖVP sei schwarz, nicht türkis. In der Pandemie, im Versagen nach Ischgl, in den Versuchen, Schuld abzuschieben und zu leugnen, zeigte sich das andere Gesicht der schwarzen Tiroler Machtelite. Was von der ÖVP bleibt, ist der Eindruck überforderten und zu weit nach oben getragenen Personals, das die posttürkise Katastrophe zu verwalten hat und nur da ist, weil die Konkurrenz auch nichts anderes bietet. Vielleicht kommt ihr neues Heil mit Toni Mattle, dem Bergretter aus Galtür? Allein der Blätterteig weiß es.

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Heiße Rohre, kalte Politik

Wien muss den Preis für Fernwärme verdoppeln. Dafür trägt die Stadtregierung wenig Schuld. Ihre Versäumnisse wiegen trotzdem schwer

KOMMENTAR: EVA KONZETT

Sie lernen es gerade auf die harte Tour, die meisten der 440.000 Kunden der Wien Energie: Der kommunale Versorger verheizt für seine Fernwärme nicht nur Christbäume und Müll, sondern auch Putins Gas. Und das ist auch der Grund dafür, dass die Stadt den Preis für die Fernwärme im Oktober fast verdoppeln wird. Zum Beginn der Heizsaison. Ausgerechnet.

Fernwärmenetz als besonders umweltfreundlich präsentierten. Das ist ihr großes Versäumnis. Es sollte nicht das einzige bleiben.

St. Pölten hat die Fernwärmepreise schon Anfang des Jahres um 160 Prozent erhöht, München im März um 116 Prozent. Städte, die ihre Fernwärmepreise nur moderat gesteigert haben, arbeiten mit anderen Brennstoffen, mit Wasserkraft oder Biomasse. Wer aber Wien nur mit Biomasse beheizen wollte, müsste den Wienerwald fällen.

Trotzdem: Die Wien Energie weiß seit langem, dass sie die Fernwärmepreise letztlich wird anheben müssen. Sie sieht es an der Entwicklung der Energiemärkte: Um 600 Prozent haben die Gaspreise im Großhandel im Jahresvergleich angezogen.

wärme nachhaltig geschädigt und potenzielle Neukunden abgeschreckt. Das ist das zweite Versäumnis.

Und dann war da noch die Intransparenz: Fernwärmesysteme sind Monopole. Derjenige, der die Leitungen baut, bespielt sie auch. Bei grenzüberschreitenden Märkten wie Strom und Gas hat die EU eine Liberalisierung durch- und Kontrollbehörden eingesetzt. In Österreich schaut jetzt die EControl darauf. Auf die Fernwärme schaut keiner. Kunden können auch nicht auf andere Anbieter umsteigen: Das Monopol trifft auf Alternativlosigkeit. Dementsprechend undurchsichtig ist die Preisbildung. Die Preise der Fernwärme Wien nickt nun eine Preiskommission ab, die wiederum nur ein Stellungnahme- und Anhörungsrecht hat.

Am Montag hat die Bundesregierung ein umfassendes Entlastungspaket

vorgelegt: Sechs Milliarden Euro sollen die hohen Energiepreise und die Inflation für die Haushalte und Unternehmen abfedern. Und: Die Kalte Progression wird abgeschafft.

Wie gut ist das Paket?

Peter Michael Lingens kommentiert auf Seite 8.

Die türkis-grüne Regierung kann nun das tun, was die Sozialdemokraten vorgemacht haben: Sie zeigt mit dem Finger auf die angeblich unsoziale Energiepolitik des politischen Gegners. Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) ließ ausrichten, dass es „bei gutem Willen“ Möglichkeiten für Unternehmen gebe, „die Menschen in der aktuellen Situation zu entlasten“. Das gelte zumal für Betriebe in öffentlicher Hand. Brunner verwies auf den Verbund. Der hatte nicht nur brav die Preise gesenkt, sondern (auf politischen Druck hin) eine Sonderdividende ausgezahlt.

Die Kritik war mehr politisch motiviert als durch sachliche Argumente abgesichert. Der Wasserkraftproduzent Verbund streift durch die komplizierte Preisgestaltung auf dem Strommarkt („Merit-Order“) gerade ohne Zutun Milliarden ein. Die Wien Energie aber erzeugt Strom in den Kraftwerken in Simmering und in der Donaustadt zu einem beträchtlichen Teil aus Erdgas. Und damit schafft sie auch das Abfallprodukt, die Fernwärme. Müll macht nur ein Drittel im Energiemix aus.

Man kann eine Großstadt nicht mit Unrat allein beheizen. Diese Information haben die regierenden Sozialdemokraten gerne verschwiegen, wann immer sie das

Ausland Die Welt-Kolumne

Man kann eine Stadt nicht nur mit ihrem Müll beheizen, das hat die SPÖ aber gerne verschwiegen

Sie sieht es auch in den eigenen Büchern: Die „Businessverträge“ der Wien Energie (rund ein Drittel der Kunden, bei Neuanschlüssen verpflichtend) sind an Marktindizes gebunden: Die steigen seit Monaten. Doch die Wien Energie wartete zu. Warum hat man dann nicht wenigstens die Kommunikation auf die Horrorzahl von 92 Prozent ausgerichtet?

Die Stadt braucht neue Fernwärmeanschlüsse, um die Energiewende zu stemmen. Eine jede Fernwärmeleitung hat den Vorteil, dass der Energieträger, der das Wasser erhitzt, gewechselt werden kann. In Zukunft könnte die Wien Energie statt des Erdgases Biogas heranziehen oder Geothermie aus dem unterirdischen Aderklaaer Konglomerat, jenem Heißwassersee, der sich in drei Kilometern Tiefe von der Donaustadt nach Simmering erstreckt. Vorerst hat die Stadt vor allem den Ruf der Fern-

Das führt zu Blüten wie dem sogenannten Grundpreis, der in Wien nach Wohnfläche und nicht nach Verbrauch eingehoben wird und 0,32 Euro pro Quadratmeter und Monat beträgt. Der Kunde muss ihn bezahlen, ob er heizt oder nicht. Das mag der Wien Energie einen stabilen Absatz sichern, es leitet aber niemanden zum Energiesparen an. Ganz abgesehen davon, dass die Wien Energie nicht offenlegen muss, welche Kosten ihrer Gesamtausgaben sie in den Grundpreis einberechnet.

225 Millionen Euro an Steuergeld nimmt die Stadt jetzt in die Hand, um die sozialen Folgen der Preissteigerungen abzufedern. 260.000 Betroffene erhalten noch im Juni 200 Euro, bis Ende des Jahres sollen eine Million Menschen Zuschüsse beantragen dürfen. Es ist richtig, dass die Stadt politisch und nicht operativ eingreift und etwa Preisdeckel verordnet. Die Ursache, nämlich das knappe Angebot, würde sie damit nicht abschaffen. Wer außerdem ausgerechnet Energie verbilligt, bestärkt damit die Nachfrage. Klimapolitisch ist das heikel.

Was aber auch stimmt: Bei den durchschnittlichen monatlichen Mehrkosten von 45 Euro für einen Wiener FernwärmeHaushalt wird es nicht bleiben. 2022 ist nur ein Auftakt für 2023. Darauf muss man die Menschen vorbereiten.

D ie Franzosen haben zwar im April Emmanuel Macron zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt, um die rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern. Jetzt aber zeigt sich bei den Parlamentswahlen, wie unwohl sich viele Franzosen mit dieser Wahl fühlen – Macron gilt als arrogant und selbstherrlich, er mische sich zu wenig unters Volk und regiere wie ein französischer König von seinem Élysée-Palast aus.

Bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni bricht die Wut gegen Macron durch. Der linke Demagoge Jean-Luc Mélenchon landete einen Scoop, weil er den politischen und persönlichen Unmut in einem linksgrünen Bündnis namens Nupes (Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale) bündeln konnte. Seine eigene Bewegung La France Insoumise („Das ungebeugte Frankreich“) hat sich mit Grünen, Kommunisten und Sozialisten verbunden. Kernforderung: das Pensionsalter senken.

Beim ersten Wahlgang für die Assemblée Nationale am 12. Juni erreichten beide Blöcke, das von Macron angeführte Bündnis Ensemble und eben Nupes, 25 Prozent der Stimmen und liegen bei einer beschämend niedrigen Wahlbeteiligung von 47 Prozent gleichauf. Am 19. Juni aber ist Stichwahl, da gewinnt in den 577 Wahlkreisen jeweils der stimmenstärkste Kandidat oder die stim-

menstärkste Kandidatin. Eine Mehrheit wird sich wohl für Macron ausgehen, eine absolute Mehrheit von 289 Abgeordneten bestenfalls knapp.

Macrons Projekt, das Beste von rechts und links für seine Bewegung Renaissance zu sammeln, scheint gescheitert. Sein Herausforderer Mélenchon hat eine neue Linke um sich geschart. Bis in den betuchten Pariser Mittelstand hinein wählen die Französinnen und Franzosen den linken Populisten – auch auf die Gefahr hin, dass der Präsident mit einem feindlichen Parlament in einer Kohabitation zusammenarbeiten muss und seine geplanten Reformen – Steuern senken, Pensionsalter heben – auf der Strecke bleiben. Viele halten Macron aber eben jetzt schon für eine lahme Ente. Der Präsident hatte sich siegessicher aus dem Wahlkampf herausgehalten. Inhaltlich ist er den Wählern zu rechtslastig, zu wenig

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Die Rache der Demokratie ist die Wahlurne
Die Autorin leitet das Politikressort des Falter Tessa Szyszkowitz kommentiert an dieser Stelle das Weltgeschehen
TESSA SZYSZKOWITZ

Er greift die Bedenken der Klimabewegten in seiner eigenen Argumentation auf, um dann zu erklären, dass es im Sinne der Wirtschaft und der Versorgungssicherheit

nicht anders gehe

grün, nachhaltig, feministisch und divers. Mélenchon dagegen reißt die Wähler mit aufpeitschenden Reden mit. Nicht nur viele Junge begeistern sich deshalb eher für Mélenchon. Der 70-jährige Linkspopulist konnte viele Wähler absaugen, die früher die französischen Sozialisten gewählt hätten. Heute ist der PS atomisiert.

Viele stimmen außerdem aus strategischen Gründen für Nupes, weil sie damit den Druck auf Macron erhöhen wollen. Sie hoffen, dass ihre siegreichen Nupes-Kandidaten, die ins Parlament einziehen, dann dort wieder mit ihren ursprünglichen Parteien wie den Grünen Politik machen.

Die Renaissance sehr alter weißer Männer als Ikonen einer neuen Linken – Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien – wirkt dennoch wie aus der Zeit gefallen. Im Gegensatz zum progressiven Bernie Sanders ist Mélenchon –

Kommentar Transparenz

Grassers Steuerverfahren darf nicht geheim bleiben

Die Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor dem erkennenden ordentlichen Gericht sind mündlich und öffentlich.“ Das steht nicht in der Hausordnung der heiteren Bezirksgerichte, sondern in Artikel 90 der österreichischen Bundesverfassung. Die Öffentlichkeit im Verfahren ist ein Schutzrecht. Den Angeklagten bewahrt es vor Kabinettsjustiz. Aber vor allem auch die Öffentlichkeit soll sehen, ob Verfahren fair geführt und Urteile gerecht gesprochen werden.

Der Artikel 90 der Bundesverfassung hat allerdings noch einen zweiten Satz: „Ausnahmen (vom Öffentlichkeitsprinzip, Anm.) bestimmt das Gesetz.“ Und das ist ja auch gut so. Wer jemals „Sittlichkeit und Kriminalität“ von Karl Kraus gelesen hat, weiß um die toxische Wirkung von Öffentlichkeit in Verfahren, die den höchstpersönlichen Lebensbereich betreffen. Und auch Jugendliche sind vor dem Medienpranger zu schützen, niemand bestreitet das.

Am Montag musste die Republik allerdings zur Kenntnis nehmen, dass sich einer der mediengeilsten Politiker der Zweiten Republik die Öffentlichkeit vom Hals schaffen kann: KarlHeinz Grasser. Für die jüngeren Leser: Grasser war vor 20 Jahren das, was Sebastian Kurz bis vor kurzem war. Ein Shootingstar, ein Liebling der Medien, Grasser war der Mister „Supersauber“, der das „Nulldefizit“ propagierte und Staatsbetriebe und Staatswohnungen privatisierte. Zum eigenen Vorteil, wie man heute weiß. Grasser, politisch ursprünglich blau, dann schwarz, wurde wegen Bestechung (nicht rechtskräftig) zu acht Jahren Haft verurteilt, weil er zehn Millionen Euro Provision für

wie Corbyn – aber außenpolitisch ein gemeingefährlicher Agent. Vor allem für die EU. Das neue Bündnis Nupes will sich nicht mehr an die EU-Verträge halten, es ruft zum „Ungehorsam“ gegen die europäischen Gesetzestexte auf.

Mélenchons Ideen zur Weltpolitik sind geprägt von einem harten Antiamerikanismus und einer weichen Sicht auf den russischen Diktator Wladimir Putin. 2016 sagte Mélenchon noch, der russische Präsident würde in Syrien Ordnung schaffen. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 rang sich Mélenchon erst sehr spät dazu durch, das Vorgehen Russlands zu verurteilen. Denn, sagte er: Putin fühle sich zu Recht von der Osterweiterung der Nato provoziert. Mélenchon will Frankreich außerdem aus der Nato holen.

„Ich verstehe ja die Lust auf eine linke Opposition“, sagt Dany Cohn-Ben-

den Verkauf von 60.000 Buwog-Wohnungen verlangte, ein Viertel davon für sich. Grasser hat dagegen berufen.

Am Montag stand er in anderer Sache vor Gericht. Er soll rund vier Millionen Euro, die er von einer Julius-Meinl-Abzock-Gesellschaft verdiente, in der Steueroase Liechtenstein vor dem Fiskus, also vor uns allen, versteckt haben. Grassers Stiftungen kauften Immobilien und Wohnungen, die er bewohnte. Die WKStA klagte Grasser nun nach rund zehn (!) Jahren Ermittlungstätigkeit an, endlich wird

Der Autor ist Chefredakteur des Falter, er schreibt seit 2002 über den Fall Grasser

die Sache vor Gericht geklärt.

Grasser will dies aber im Geheimen erledigt wissen. Und er hat das Recht dazu, denn der bislang unbekannte Paragraf 213 Finanzstrafgesetz sieht einen Ausschluss der Öffentlichkeit vor, wenn es der Angeklagte verlangt. Besondere Gründe sind nicht zu nennen.

Diese Rechtslage ist – so pauschal formuliert – verfassungswidrig , meint nun auch der Verfassungsprofessor Heinz Mayer. Das Mediengesetz sieht ohnedies Schutzrechte vor, damit das Publikum nicht in den höchstpersönlichen Lebensbereich schauen kann. Die Regierung sollte den 213 Finanzstrafgesetz daher streichen. Ein Ex-Finanzminister hat Rede und Antwort zu stehen.

dit, der als Studentenführer 1968 in Paris Geschichte geschrieben hat. Später saß Cohn-Bendit für die europäischen Grünen im EU-Parlament.

Heute zeigt sich der 77-Jährige fassungslos über das Bündnis der französischen Grünen mit Mélenchon: „Das ist Verrat an der grünen und der europäischen Idee.“

Für ihn aber ist die Erklärung für das komplexe Phänomen Mélenchon relativ einfach: „In Frankreich muss man ab und zu dem König den Kopf abschneiden. Die Franzosen haben eine Leidenschaft für die Revolution.“

Aber EU-Verträge geringschätzen und Putin verehren? Das hört man sonst von der rechtsextremen Marine Le Pen. Gerade noch hat Macron fürchten müssen, dass sie ihm das Élysée streitig macht. Jetzt kommt die Gefahr von ganz links. Mit ähnlichen politischen Inhalten.

M&M droht die Kohabitation In zwei Wahlgängen am 12. und 19. Juni wählt Frankreich ein neues Parlament. Ob Präsident Emmanuel Macron als lahme Ente im Élysée sitzt, hängt davon ab, wie gut das neue linke Bündnis Nupes unter dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon am Sonntag abschneidet

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DIE FAZ VOM 13.6. ÜBER DEN DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSMINISTER ROBERT HABECK (GRÜNE) Tex Rubinowitz Cartoon der Woche Zitiert Die Welt der Weltblätter FLORIAN KLENK

Lingens Außenblick

Die richtigen Rezepte gegen die Teuerung

Deutschland hat vorgemacht, was ÖGBPräsident Wolfgang Katzian im Kampf gegen die Verteuerung von Sprit gefordert hat: Die Steuern darauf wurden gesenkt. Das Resultat: Sprit wurde kaum billiger, denn die deutsche Mineralölindustrie gab nur den kleinsten Teil der Steuersenkung an die Kunden weiter – den Großteil der Milliarden, die sie FDP-Finanzminister Christian Lindner gekostet hat, behielt sie für sich.

Das Rezept, Preise durch die Senkung auf sie bezogener Steuern zu senken oder sie gar zu deckeln, ist falsch. Wenn die Senkung gelungen wäre, wäre sie MercedesFahrern zugute gekommen, deren Ehefrauen einen VW Tuareg fahren – die Nachteile hätten die Fahrer eines Renault Clio getragen: Ihre Ersparnis wäre die geringste und die verringerten Steuereinnahmen des Staates beschränken dessen Möglichkeiten, sie zu unterstützen, massiv.

ist es eine praktische Vereinfachung, wenn die Stadt Wien einen Teil der Mehrkosten schluckt, das heißt, ihr Budget belastet. Sonst aber gilt auch hier: Vom Steuerzahler gesenkte Fernwärmepreise kommen Bewohnern von Villenetagen mehr als Bewohnern von Zimmer-Küche-Wohnungen zugute. Felbermayr, Katzian oder ich kommen auch mit drastisch erhöhten Fernwärmekosten zurande – es geht einmal mehr darum, denen genügend Geld zuzuschießen, die das nicht können.

Katzian hat freilich ins Treffen geführt,

gen, um die Digitalisierung zu fördern, so wenig glaube ich, dass man Konsum dauerhaft durch höhere Verschuldung finanzieren kann. Es wird einer Gegenfinanzierung bedürfen, und ich halte vermögensbezogene Steuern für deren sozial und wirtschaftlich verträglichste Form.

Der Autor war langjähriger Herausgeber und Chefredakteur des Profil und der Wirtschaftswoche, danach Mitglied der Chefredaktion des Standard. Er schreibt hier jede Woche eine Kolumne für den Falter. Siehe auch: www.lingens.online

lingens@falter.at

Impressum

Dass dieses falsche Rezept trotzdem auch von sozialdemokratischen Regierungen versucht wird, liegt an seiner Popularität: Die ökonomisch ungebildete Bevölkerung glaubt, dass es die Preise am ehesten senkt. In Österreich glaubt das leider auch der Präsident des ÖGB und plädierte im Gespräch mit Armin Wolf für dieses unsozialste aller Rezepte im Kampf gegen den hohen Spritpreis, während es ausnahmsweise alle Wirtschaftsforscher, von WifoChef Gabriel Felbermayr über die Steuerexpertin Margit Schratzenstaller bis zu Martin Ertl vom IHS, ablehnen und fordern, dass stattdessen die unteren Einkommen erhöht werden und Zuschüsse erhalten. So wie es die Bundesregierung in ihrem Entlastungspaket in Höhe von sechs Milliarden Euro vorgesehen hat.

Ein spezielles Kapitel ist die von der Wien Energie Fernwärme geforderte Erhöhung ihrer Preise um 92 Prozent, die ihr Geschäftsführer damit begründet, dass Wiens Fernwärme zu zwei Dritteln mit Gas erzeugt wird. Da ist nicht nur zu prüfen, ob diese Kalkulation stimmt, sondern vor allem, warum etwa Linz diese hohe Gasabhängigkeit vermeiden konnte. Sofern Fernwärme mit großer Mehrheit an Haushalte mit niedrigen Einkommen geliefert wird,

FALTER Zeitschrift für Kultur und Politik.

45. Jahrgang

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HERAUSGEBER : Armin Thurnher

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NATUR: Benedikt Narodoslawsky (Ltg.)

WOCHE: Lisa Kiss (Ltg.) FALTER.morgen: Martin Staudinger (Ltg.), Soraya Pechtl

dass er ja nichts dagegen hätte, wenn jeder, der weniger als 4000 Euro monatlich verdient, „Helikoptergeld“ in Form von 1000 Euro Teuerungsabgeltung erhielte. So ähnlich sollte es tatsächlich sein: Es sollte gestaffelte Zuschüsse geben, die bei den niedrigsten Einkommen am höchsten sind und sich ab der Mittelklasse auf null vermindern. Felbermayrs Vorschlag, alle Sozialleistungen mit der Inflation zu erhöhen, ist ein Weg in diese Richtung. Türkis-Grün ist ihn gegangen.

Was immer der Staat tut – er muss ja neben den Menschen, die mit der Teuerung kämpfen, auch Unternehmen stützen, die besonders stark von fossiler Energie abhängen –, kostet ihn eine Menge Geld. Und so sehr ich dafür bin, dass er „Schulden macht“ – in Wirklichkeit: Kredite aufnimmt –, um etwa Glasfaserkabel zu verle-

Ständige Mitarbeiter: POLITIK und MEDIEN: Isolde Charim, Melisa Erkurt, Anna Goldenberg, Franz Kössler, Kurt Langbein, Peter Michael Lingens, Raimund Löw, Markus Marterbauer, Tessa Szyszkowitz

FEUILLETON: Kirstin Breitenfellner, Miriam Damev, Sebastian Fasthuber, Michael Pekler, Martin Pesl, Sara Schausberger

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Redaktionsassistenz: Tatjana Ladstätter

Fotografen: Heribert Corn, Katharina Gossow, Christopher Mavrič Illustratoren: Georg Feierfeil, PM Hoffmann, Oliver Hofmann, Daniel Jokesch, Tex Rubinowitz, Stefanie Sargnagel, Jochen Schievink, Bianca Tschaikner Produktion, Grafik, Korrektur: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

Art Direction: Dirk Merbach (Creative Director), Raphael Moser Grafik und Produktion: Raphael Moser (Leitung), Barbara Blaha, Marion Großschädl, Reini Hackl (kar.), Andreas Rosenthal, Nadine Weiner

Denn eines muss uns klar sein: Dass das wichtigste industrielle Gut, Erdöl/Erdgas, sich aus Anlass des Ukrainekrieges erheblich verteuert hat, muss zur Folge haben, dass es auch uns etwas schlechter geht – dass wir unseren Konsum nicht im bisherigen Ausmaß aufrechterhalten können. Es ist ja nicht so, dass die Teuerung von übergroßen Lohnerhöhungen oder der lockeren Geldpolitik der EZB herrührt, sondern es liegt ihr eine reale Verknappung und damit Verteuerung der fossilen Energie zugrunde, auch wenn die durch gemeinsame Beschlüsse der Opec und Russlands unter Duldung der USA zustande gekommen ist. Eine reale Verteuerung kann man nicht negieren, sondern muss sich ihr anpassen. Und das geht sozialverträglich und wirtschaftsverträglich nur, indem die Einkommensschwachen zulasten der Einkommensstarken finanziell unterstützt werden: Es braucht eine Umverteilung von oben nach unten.

Das zweite wichtige Argument gegen die mittels Steuersenkung erzielte Senkung von Energiepreisen ist die Erderwärmung. Zum Wohle des Planeten müssten wir es nämlich begrüßen, dass fossile Energie teurer geworden ist und daher nicht im bisherigen Ausmaß verfeuert wird. Die aktuelle Lage zwingt uns, rascher alternative Energien zu erschließen. Dafür sind höhere Schulden sehr wohl sinnvoll und diese höheren Schulden kann der Staat dann getrost eingehen, wenn er sie nicht unwirtschaftlich macht, um Energiepreise zu senken.

Im Übrigen wird die Teuerung in absehbarer Zeit nachlassen, denn die Opec hat sich darauf geeinigt, ihre Öl-Förderung deutlich zu erhöhen, und mit einer gewissen Zeitverzögerung bedingt das – zum Nachteil des Planeten –, dass der Ölpreis sinkt. Diese Zeitverzögerung muss Österreich nutzen, so viel alternative Energiequellen wie möglich zu erschließen.

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Der Falter erscheint jeden Mittwoch. Veranstaltungshinweise erfolgen kostenlos und ohne Gewähr. Gültig: Anzeigenpreisliste 2021. DVR-Nr. 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.

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Peter Michael Lingens kommentiert hier jede Woche vorrangig das wirtschaftspolitische Geschehen
Die Senkung der Spritpreise durch die Senkung auf sie entfallender Steuern misslang in Deutschland gründlich. In Österreich hat man gelernt

Elisabeth II. und Angela Merkel

Isolde Charim kommentiert an dieser Stelle wöchentlich politische Zustände

W as haben die britische Queen und Angela Merkel gemeinsam? Zunächst einmal nur eine zeitliche Koinzidenz. Beide hatten dieser Tage viel beachtete Auftritte. Die Queen feierte ihr 70-jähriges Thronjubiläum. Und Angela Merkel absolvierte ihre erste öffentliche Veranstaltung seit ihrem Ausscheiden aus dem Bundeskanzleramt.

Auch wenn die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun haben, weisen sie doch etliche Parallelen auf.

So richteten sich die Scheinwerfer der Öffentlichkeit zeitgleich auf zwei einst mächtige Frauen, die heute beide – auf unterschiedliche Weise – eine alte Ordnung repräsentieren.

Die Queen ist gewissermaßen die letzte Repräsentantin des Britischen Empires, das zur Zeit ihrer Angelobung 1952 zwar nicht mehr intakt, aber noch existent war. Merkel steht für jene Ordnung, die durch die „Zeitenwende“ des russischen Angriffskrieges zu einer alten geworden ist.

Die viel gefeierte deutsche Langzeitkanzlerin hingegen sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, die ihr gesamtes politisches Erbe infrage stellen. Ein immer lauterer Chor kritisiert ihre Russlandpolitik als Appeasement und gibt ihr damit eine indirekte Schuld am derzeitigen Krieg.

Dazu gehört auch der Vorwurf einer fehlgeleiteten Energiepolitik, die Deutschland in die Abhängigkeit von russischem Gas geführt hat. Ein anderes Ende einer Ära. Sehr unterschiedlich ist demgemäß auch

Merkel hingegen verteidigte ihre Politik der Diplomatie. Diese hätte den Krieg zwar nicht verhindert – aber zumindest aufgeschoben. Wie etwa ihr Veto gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens. Denn Putin hätte eine solche als Kriegserklärung gewertet. Und die Ukraine sei damals noch nicht wehrfähig gewesen. Und angesichts von Oligarchie und Korruption auch keine gefestigte Demokratie.

Sie habe der Ukraine also jene Zeit verschafft, die diese gebraucht habe, um sich zu konsolidieren.

Die Autorin ist Philosophin, Publizistin und wissenschaftliche Kuratorin charim@falter.at

Erkurt Nachhilfe

Beide diese einst mächtigen Frauen sind heute ohne Macht. Sie stehen also nicht nur für eine alte Ordnung, sondern auch für deren Ende. Auch dies aus unterschiedlichen Gründen. In den ersten 30 Jahren der Regentschaft Elisabeths II. gingen die britischen Kolonien nach und nach verloren. Das ehemalige Weltreich zerbröselte und reduzierte sich hauptsächlich aufs Kernland. Und die Restbestände, wie etwa Australien, können heute einfach beschließen, das Commonwealth demnächst zu verlassen.

Dazu bedarf es nicht einmal mehr einer Auseinandersetzung.

Zwei viel beachtete Auftritte der Queen und der Langzeitkanzlerin – zwei Arten des Rückblicks auf vergangene Ordnungen

der Umgang der beiden Frauen mit diesem jeweiligen Ende. Die Queen hat schon seit den 1980er-Jahren von Verwaltung der Territorien auf Verwaltung der Familie umgeschwenkt, schreibt Dominic Johnson in der taz. Kinder statt Kolonien gewissermaßen.

„Die Royal Family ist die faktische Erbin des Empires.“ Statt für Macht steht das britische Königshaus nun für eine never ending soap opera mit Streit, Affären und Peinlichkeiten.

Schwimmkurse müssen Spaß machen

Melisa Erkurt kommentiert hier wöchentlich bildungspolitische Themen, aber nicht nur

Die Autorin ist Publizistin („Generation Haram“, 2020, Zsolnay) und Journalistin bei „Die Chefredaktion“, einem Medium für die junge Zielgruppe auf Instagram erkurt@falter.at

Wenn ich schwimme, muss ich an meinen Onkel denken. Er hat mir in Kroatien Schwimmen beigebracht, bei einem unserer ersten Urlaube, die wir, als vom Krieg getrennte und für den Sommer für kurze Zeit wiedervereinte Familie, verbracht haben.

Seine Söhne konnten schon schwimmen und ich wollte alles können, was sie konnten. Vormittags schwimmen, nachmittags Weißbrot mit Argeta-Aufstrich und Tomaten als Stärkung und abends durch die Stadt spazieren und einmal sogar Minigolf spielen. Das war der Sommer, in dem ich so ganz nebenbei schwimmen lernte.

Die meisten Menschen, die ich kenne, haben schwimmen von ihrem Vater gelernt. Aber mein Vater hatte nach dem Krieg keine mentale Kapazität für solche Sachen. So hätte ich damals fast nicht schwimmen gelernt, wäre der Mann meiner Tante nicht gewesen. Den Fahrten- und Allroundschwimmer brach ich in der Schule ab, weil

ich mittendrin krank wurde. Ehrlich gesagt war ich damals froh über das Timing. Ich konnte keinen Köpfler und traute mich nicht, vor den Augen aller vom Dreimeterbrett zu springen. Es schüchterte mich ein, dass der Kurs wie ein Wettkampf anmutete und einige Schülerinnen* sich über die Leistung und Körper anderer lustig machten. „Schulschwimmen ist für viele Jugendliche die größte Zumutung, die man ihnen (mental) antun kann. Keine Sportart produziert eine vergleichbare Abwesenheitsquote im Sportunterricht“, twitterte einmal ein Sportlehrer aus Deutschland und löste damit eine Diskussion über den veralteten Schwimmunterricht aus.

Die Scham, die viele im Schwimmunterricht empfinden, lässt sich nicht nur auf die Pubertät und das dazugehörige Körpergefühl zurückführen, gerade viele Migrantinnen, junge afghanische Geflüchtete beispielsweise, schämen sich, in ihrem Alter nicht schwimmen zu können. Nicht alle Menschen kommen aus Ländern mit Meer oder Seen in unmittelbarer Nähe,

Dieser unterschiedliche Umgang prägte auch die Auftritte der beiden. So trank die Queen in einem Video Tee mit Paddington Bär, wo sie sich als Wahrerin der höfischen Umgangsformen zeigen konnte – liebenswert, da diese ohne Machtfülle nur noch leere Formen sind. Dort, wo keine Macht mehr ist, werden diese zur Folklore, die einen Schwall an Ergriffenheit und Dankbarkeit auslöst. Kein Wunder – bedeutete der Machtverlust der Monarchie doch einen Fortschritt für die einstigen Kolonialvölker. Merkel hingegen blies ein etwas rauerer Wind entgegen. Sie wehrte nicht nur alle Kritik ab. Sie sehe nichts, was falsch gewesen wäre. „Weniger Fehler geht kaum“, schreibt die Hamburger Zeit. Und so schloss sie auch: Ich werde mich nicht entschuldigen.

Zeitgleich also zwei Arten des Rückblicks auf vergangene Ordnungen. Während die eine damit beschäftigt ist, sich für diese zu rechtfertigen, konnte sich die andere ihrer eigenen nostalgischen Verklärung hingeben.

es gibt auch selten wo so viele öffentliche Schwimmbäder wie bei uns und Schwimmkurse sind gar nicht so billig. Für einige Familien ist Schwimmen so unwichtig wie Skifahren, und mit 6,20 Euro Eintritt pro Person werden die Schwimmbadbesuche heuer für noch mehr Familien unleistbar. Aufgrund der Pandemie sind Millionen Schwimmstunden entfallen. 148.000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 19 Jahren können laut Kuratorium für Verkehrssicherheit nicht schwimmen, dabei gehört Ertrinken bei Kleinkindern zu einer der häufigsten Todesursachen. Ich wage die Behauptung, dass Nichtschwimmen ein soziales Problem ist und hinter den meisten Kindern und Jugendlichen, die nicht schwimmen können, traumatische Lebensgeschichten stecken. Für sie wünsche ich mir, wie Skikurse im Winter, auch Schwimmkurse am See, wo sie Minigolf spielen, grillen und ganz nebenbei schwimmen lernen.

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ISOLDE CHARIM MELISA ERKURT
Charim Einwurf
*Männer sind in dieser Kolumne immer mitgemeint

DOLM

MIT AUTOKRATEN REDEN?

WIENS BÜRGERMEISTER

MICHAEL LUDWIG TRAF DEN TÜRKISCHEN MACHTHABER.

WARUM EIGENTLICH?

Eineinhalb Stunden Audienz, abge feiert in den türkischen Medien: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schlachtete den Besuch des Wiener Bürgermeis ters und SPÖ-Chefs Michael Ludwig vergangenen Freitag in Istanbul gehörig aus. Die türkischsprachigen Migrantenme dien in Österreich ebenfalls. Viel leicht war das die „Hidden Agenda“ Ludwigs, als er den Autokraten ho fierte: seine türkischstämmige Wähler schaft in Wien beeindrucken. Politikberater Kenan Dogan Güngör zeigt sich empört über die lobenden Worte an Erdoğan, „der Menschenrechte mit Füßen tritt“. Für die Grünen ist das Treffen ein „Affront“.

Ungewöhnlich ist das Zustandekommen. Die österreichische Botschaft in Ankara war nicht informiert, Ludwig gab Außenminister Alexander Schallenberg kurzfristig erst Donnerstagabend Bescheid, per Telefon. Organisiert hatte den Trip der Städtebund, dessen türkische Präsidentin, wie Erdoğan von der regierenden AKP, Ludwig ebenfalls traf. Den Istanbuler Oberbürgermeister, Sozialdemokrat und ein Aushängeschild der Opposition, besuchte Ludwig nicht. Auch bei der roten Reisediplomatie ist Luft nach oben.

Vollumfänglich kooperieren: So formuliert normalerweise ein Beschuldigter, der auf eine milde Strafe hofft.

HERO POLITIK

WORÜBER ÖSTERREICH…

…REDEN SOLLTE

ILLEGALE PUSHBACKS

Österreichische Polizisten haben einen Migranten gesetzeswidrig über die Grenze zurückgedrängt, das hat nun das Verwaltungsgericht höchstgerichtlich festgestellt. Illegale „Pushbacks“ finden also nicht nur in Griechenland, sondern auch an der steirischen Grenze statt. Der junge Marokkaner Ayoub N. hatte am 28. September 2020 versucht, aus Slowenien über die Grenze nach Österreich einzureisen, wurde gemeinsam mit anderen geschnappt und nach Slowenien zurückgebracht. Dass er mehrfach „Asyl“ gesagt haben will, haben die Polizisten nach eigenen Angaben nicht gehört.

…REDET

DER NEUE BEIM HEER

Österreich hat eine Verteidigungsministerin. Und sie hat einen neuen Generalsekretär. Arnold Kammel (im Bild), Klaudia Tanners bisheriger Kabinettschef, übernimmt, weil Dieter Kandlhofer, seit 2020 im Verteidigungsministerium tätig, sein Büro räumen musste. Tanner soll über die von ihm erdachte Heeresreform nicht glücklich sein. Der eigentliche Grund liegt aber wohl eher in einer mutmaßlich groben Unvereinbarkeit: Für den Bau einer Großkaserne auf dem Flughafen Klagenfurt hätte ausgerechnet jener Unternehmer beauftragt werden sollen, der ein Geschäftspartner von Kandlhofer ist.

…STAUNT

HACKERANGRIFFE IN KÄRNTEN

Fünf Millionen Dollar fordert das russische Hackerkollektiv „BlackCat“ vom Land Kärnten für die vor drei Wochen erbeuteten Daten, darunter mehr als 80.000 Stammdatenblätter, Veranstaltungsdaten und interne Kommunikation. Die Grundversorgung für ukrainische Vertriebene verzögert sich. Das Passamt stellt Dokumente außerhalb der Geschäftszeiten aus. Das Softwareprogramm für die Schulzeugnisse ist lahmgelegt. BlackCat bietet Ransomware als Geschäftsmodell im Darknet an, die Hacker übernehmen als Dienstleistung den Angriff sowie die Lösegeldkommunikation.

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FOTOS:
Dunkle Kassen, weiße Westen, Seite 11
APA/HANS PUNZ, APA/DPA/ANGELIKA WARMUTH, ÖBH, ISTOCK
Der Wiener Bürgermeister setzt in der Türkei die falschen politischen Signale

ÖVP-Parteizentrale, 24. 9. 2019: Der damalige Generalsekretär Karl Nehammer enthüllt die Schlusssujets der türkisen Wahlkampagne für die Nationalratswahl 2019. Gleich zu

Dunkle Kassen, weiße Westen

Der Rechnungshof spricht der Volkspartei das Misstrauen aus: Ein Wirtscha sprüfer soll die Finanzen der ÖVP durchleuchten. Wie viele Skandale verträgt eine Regierungspartei?

Die Flugzeit von Wien nach Tallinn beträgt zwei Stunden und 15 Minuten. Schlechte Nachrichten reisen schneller. Und so kam es, dass sich Bundeskanzler Karl Nehammer am Freitag vergangener Woche in der estnischen Hauptstadt zu ganz anderen Themen äußern musste als geplant. Dabei hätte es beim Treffen mit der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gehen sollen. Ein wenig Weltpolitik statt des ewigen Korruptions-Klein-Klein zuhause. Doch genau zur selben Zeit veröffentlichte der Rechnungshof eine vernich-

BERICHT:

JOSEF REDL, BARBARA TÓTH

tende Stellungnahme über die Finanzgebarung der Österreichischen Volkspartei, deren Vorsitzender Nehammer ist und deren Generalsekretär er in der beanstandeten Zeit war.

Das oberste Kontrollorgan der Republik hegt Zweifel daran, dass sich die ÖVP im Wahlkampf 2019 an die gesetzliche Obergrenze für die Wahlkampfausgaben gehalten hat. Der Rechnungshof traut den Zahlen nicht, die die Volkspartei vorgelegt hat, und hat eine bis dato beispiellose Maßnahme beschlossen: Ein unabhängiger Wirtscha sprüfer wird bestellt, der die Finan-

zen der Österreichischen Volkspartei prü . Wieder einmal gibt die von Skandalen gebeutelte ÖVP das Bild einer bis ins Mark von Intransparenz durchdrungenen Organisation ab. Und sie hört sich auch so an. Statt an seinem geopolitischen Profil zu feilen, musste Nehammer Sätze sagen wie „Wir haben nichts zu verbergen aus dieser Zeit, ganz im Gegenteil“. Und: Die Partei werde „vollumfänglich kooperieren“. Vollumfänglich kooperieren: So formuliert normalerweise ein Beschuldigter, der

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sehen: natürlich Sebastian Kurz

Fortsetzung von Seite 11

auf eine milde Strafe hofft. Die ÖVP wirkt indes wie eine Wiederholungstäterin. Postenschacher und Freunderlwirtscha im staatsnahen Bereich, dokumentiert vor allem durch Chats auf den Handys der Spitzenbürokraten Thomas Schmid (Finanzministerium) und Michael Kloibmüller (Innenministerium). Fragwürdiger Umgang mit Parteispenden und Wahlkamp osten in den Wahlkämpfen 2013, 2017 und 2019. Mutmaßliche Inseratenkorruption und Umfragen-Tuning. Steuerhinterziehung und nicht deklarierte Parteispenden beim Wirtscha sbund Vorarlberg. Mutmaßlicher Corona-Förderungsbetrug bei ÖVP-Seniorenvereinen. Die Wirtscha s- und Korruptionsstaatsanwaltscha (WKStA) ermittelt derzeit gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz, Ex-Generalsekretär im Finanzministerium

Thomas Schmid, Ex-ÖVP-Generalsekretär

Stefan Steiner, Ex-Medienbeau ragten Gerald Fleischmann, Ex-Pressesprecher Johannes Frischmann, Ex-Familienministerin Sophie Karmasin. Längst beschä igt sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ausschließlich mit der ÖVP-Korruption.

„Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem“, mit diesem Satz versucht Nehammer seit Amtsantritt alle Angriffe abzublocken. Diesmal kommen die Vorwürfe allerdings von gänzlich unverdächtiger Seite. Denn der Rechnungshof lässt sich nicht wie die Wirtscha s- und Korruptionsstaatsanwaltscha („linke Zellen“) oder der parlamentarische Untersuchungsausschuss („Löwinger-Bühne“) als fün e Kolonne der Opposition diskreditieren. Seine Chefin, die Juristin Margit Kraker, kommt aus der steirischen ÖVP. Es war der ehemalige ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka, der sie 2016 in einem parlamentarischen Powerplay im Nationalrat durchsetzte. Er drohte dem eigenen Koalitionspartner SPÖ, mit der Opposition zu stimmen, sollten die Sozialdemokraten die ÖVP-Kandidatin nicht unterstützen. Damals wurde ihre Bestellung als parteipolitische Farce kritisiert, inzwischen hat sich Kraker einen tadellosen Ruf als Kontrollorin der Macht erarbeitet. Nun zeigt sie auch ihrer eigenen Partei ihre Verfehlungen auf.

Dass just in der Woche, in der der Rechnungshof die ÖVP vorführt, dann auch noch zwei langgediente Landeshauptleute der ÖVP ihren Abschied verkünden, komplettiert das Bild einer Partei, der es an innerer Gravitationskra fehlt. Der Steirer Hermann Schützenhöfer und der Tiroler Günther Platter sind beide pensionsreif, von ihren Nachfolgern sind keine Revolutionen in Sachen Transparenz zu erwarten, es sind brave Parteigänger.

Indes geht der Rechnungshof mehr als nur mutmaßlichen Schiebereien, um die Wahlkamp osten zu drücken, nach. Die Prüfer sind gleich mehreren fragwürdigen Transaktionen im ÖVP-Buchhaltungsuniversum auf der Spur. Eigentlich hätte die ÖVP ihren „Rechenscha sbericht“ ein Jahr nach der Nationalratswahl 2019, spätestens bis 30. September 2020, vorlegen sollen. Aber in der Zwischenzeit wurden immer wieder neue ÖVP-Skandale publik, in denen es um mutmaßliche Parteispenden gehen könnte und die die Nachfragen des Rechnungshofes verlangten. Zweimal ersucht die ÖVP um Verlängerung der Frist zur Abgabe des Rechenscha sberichts. In der Folge gibt die Volkspartei insgesamt drei verschiedene Fassungen ab, die letzte am 29. April 2022, wie die Prüfer in einer „zeitli-

Rechnungshofpräsidentin Margit Kraker: unbestechliche Kontrollorin

chen Darstellung des Kontrollverfahrens“ dokumentieren.

Am 6. Oktober 2021 wird die Aff äre um die Studien der Meinungsforscherin Sabine Beinschab bekannt, die als Unterstützung der ÖVP-Wahlkämpfe gedient haben sollen. Weil das Finanzministerium für die Kosten aufgekommen ist, kann das als eine Parteispende angesehen werden.

Am 25. Jänner 2022 die nächste Nachfrage: Da kocht die Aff äre um den Wirtscha sbund in Vorarlberg hoch. Die ÖVP-Teilorganisation lukrierte Millioneneinnahmen über das Magazin Vorarlberger Wirtscha , in dem insbesondere landesnahe Unternehmen Inserate schalteten. Der Rechnungshof vermutet darin allein für das Jahr 2019 verdeckte Parteispenden in der Höhe von 1,3 Millionen Euro.

Und auch die ÖVP-Teilorganisation Seniorenbund hat der Rechnungshof auf dem Radar. Parallel zur Seniorenbund-Organisation gibt es bereits seit Jahrzehnten Seniorenbund-Vereine, die laut ÖVP nicht der Partei zuzurechnen sind, obwohl Name, Personal und Sitz in der Regel identisch sind. Eine Spitzfindigkeit, die über Millionen entscheidet. Der oberösterreichische Seniorenbund-Verein kassierte zwischen 2020 und 2022 insgesamt knapp 1,9 Millionen Euro an Corona-Hilfen aus den Förderungen für Non-Profit-Organisationen.

Partei-Vorfeldorganisationen waren allerdings explizit von diesen Hilfsgeldern ausgeschlossen. „Nach umfangreichen Recherchen im Zuge des Kontrollverfahrens für den Rechenscha sbericht 2019 vertritt der Rechnungshof die Ansicht, dass jedenfalls für das Jahr 2019 die Vereine ‚Österreichischer Seniorenbund‘ der Teilorganisation der ÖVP zuzurechnen sind“, hält der Rechnungshof nun fest. Damit ist jetzt schon klar: Die ÖVP wird auch in den Rechenscha sberichten für 2020 und die folgenden Jahre massiven Erklärungs- und vielleicht sogar finanziellen Abschreibungsbedarf haben, sollten die Förderungen zu Unrecht geflossen sein.

auch noch in Parallelvereine und Gesellscha en gegliedert ist. Folgerichtig wird die ÖVP selbst wegen der Beinschab-Umfragen als Beschuldigte geführt, wie schon in der Telekom-Aff äre. Durch eine Zahlung an die Telekom konnte die ÖVP 2014 einem strafrechtlichen Verfahren entgehen.

Die neue Volkspartei, die alte Volkspartei, die Schwarzen und die Türkisen: Als sich Sebastian Kurz im Dezember 2021 zurückzog, hinterließ er ein Machtvakuum, das bis heute nicht gefüllt wurde. Karl Nehammer rückte nach, nicht weil er wollte, sondern weil er der einzig übriggebliebene Kandidat war: in der Machtbastion Niederösterreich verankert, im System Kurz ein Trabant, kein Prätorianer. Die ungustiösen Chats, die Beinschab-Tool-Aff äre –in diesen Causen ist Nehammer unbelastet. Aber die Frage der Wahlkamp osten 2019, die betrifft Nehammer als damaligen Generalsekretär höchstpersönlich, auch wenn Kanzlersprecher Daniel Kosak Presseanfragen dazu weg vom Ballhausplatz an die ÖVP-Parteizentrale in die Lichtenfelsgasse weiterleitet.

Der Anlassfall liegt beinahe drei Jahre zurück: die Ausgaben der Volkspartei im Wahlkampf zur Nationalratswahl 2019, die Sebastian Kurz zum zweiten Mal ins Kanzleramt brachte. Möglicherweise mit unlauteren Mitteln. Im Sommer 2019 übermittelt ein anonymer Informant dem Falter unzählige Dokumente, die direkt aus der Buchhaltung der ÖVP stammen, darunter auch Budgetberechnungen für die Nationalratswahl 2019. Diese legen den Schluss nahe, dass die Volkspartei plant, wie schon 2013 und 2017 die Wahlkamp ostengrenze von sieben Millionen Euro zu überschreiten.

Anfang September 2019, kurz vor der Wahl, veröff entlichte der Falter die ÖVP-Files

Die Trennung von Partei- und Staatsinteressen, damit scheint es die Volkspartei, seit 1986 ohne Unterbrechung an der Regierungsmacht, wenn auch nur elf Jahre davon im Kanzleramt, nie so genau genommen zu haben. Immer wieder verschwimmen die Grenzen, sei es bei der Bestellung von Managern im staatsnahen Bereich (ÖVPParteigänger Thomas Schmid, der sich den Job des ÖBAG-Chefs auf den Leib schneiderte), bei der Finanzierung von Inseraten und Umfragen in befreundeten Medienhäusern (mutmaßliche Inseratenkorruption in Wolfgang Fellners Österreich) oder beim zuletzt sichtbar gewordenen allzu lässigen Umgang mit Parteispenden und öffentlichen Fördertöpfen.

In der Woche darauf berichtete der Falter im Detail über die Buchhaltungspraxis

Was ist Korruption? Es ist das eine, wenn sich einzelne Protagonisten persönlich zu bereichern versuchten, wie der ehemalige EU-Abgeordnete Ernst Strasser, bei dem man gegen Geld Gesetze bestellen konnte (Cash-for-Law-Aff äre, 2011), oder Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser, der bei der Privatisierung von Staatseigentum mitgeschnitten hat (Buwog-Aff äre, 2009, acht Jahre Ha , nicht rechtskrä ig). Die Spur, die die Prüfer des Rechnungshofes jetzt verfolgen, geht tiefer und ist struktureller. Sie hinterfragt die Parteiorganisation als Ganzes: jene unübersichtliche Matrix aus neun Landesparteien und sechs Bünden (Senioren, Wirtscha , Arbeitnehmer, Bauern, Frauen und Jugend), die mitunter

Offenbar gingen zumindest Teile der Dokumente auch an den Rechnungshof: „Dem Rechnungshof wurden von unbekannter dritter Seite Unterlagen zu den Wahlkampfosten übermittelt. Der Rechnungshof schätzt diese Unterlagen, die Inhalte und Zahlen aus der Buchhaltung der ÖVP enthalten, als authentisch ein“, heißt es in einer Presseinformation, die der Rechnungshof am Freitag zusammen mit dem ÖVP-Rechenscha sbericht veröffentlicht. Nicht nur das: „Die Dokumente lassen die Angaben, die Wahlkamp osten-Obergrenze wurde eingehalten, zweifelha erscheinen.“ Ein Schlüsselsatz: Das oberste Kontrollorgan der Republik Österreich spricht der Volkspartei damit sein Misstrauen aus. Die vom Falter damals veröffentlichten ÖVP-Files, die nun auch die Basis für die Kontrolle durch den Rechnungshof sind, lieferten 2019 völlig neue Einblicke in die Geschä sgebarung der Österreichischen Volkspartei. Zum Beispiel, wie die Einzahlungen von Großspendern so in Teilbeträge gestückelt wurden, dass sie nicht sofort an den Rechnungshof gemeldet werden mussten. Die am Sonntag verstorbene Kau ausErbin Heidi Goëss-Horten überwies in den Jahren 2018 und 2019 insgesamt mehr als 930.000 Euro an die Volkspartei – quasi als Dauerau rag in monatlichen Raten von 49.000 Euro. Ab 50.000 Euro hätten die Zuwendungen gleich veröffentlicht werden müssen.

Die ÖVP-Files deckten auch eine freche Unwahrheit auf: die Behauptung der ÖVP, sie sei vom Überziehen der Wahlkamp osten im Jahr 2017 selbst überrascht worden. In Wirklichkeit hatte die ÖVP bereits im Juli 2017, also drei Monate vor der Nationalratswahl, mit knapp 13 Millionen Euro an Ausgaben kalkuliert. „Wir haben klar

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FOTO: APA/HERBERT PFARRHOFER

gesagt, dass wir planen, die Wahlkampfkostenobergrenze einzuhalten. Die liegt bei sieben Millionen Euro, und wir sind sehr gut im Plan“, behauptete die damalige ÖVP-Generalsekretärin Elisabeth Köstinger noch kurz vor der Wahl, obwohl sie es besser wissen musste. Sebastian Kurz war mit dem Anspruch angetreten, einen „neuen Stil“ in die österreichische Politik zu bringen. Bereits der erste Wahlsieg des ÖVPHoffnungsträgers: mit unlauteren Mitteln errungen.

Und auch der interne Voranschlag für die Kosten des Wahlkampfes 2019 warf einige Fragen auf: In einer mit 2. August datierten Datei mit der Bezeichnung „Budget NRW19 – Ausgaben“ kam das interne Controlling auf mehr als 8,9 Millionen Euro. In Österreich gilt eine Obergrenze für Wahlkampfausgaben bei Nationalratswahlen von sieben Millionen Euro. Als Wahlkampf werden dabei die 82 Tage vor dem Wahltag definiert. Und hier beginnen die Unschärfen: Wie wird bereits zuvor angeschafftes Material verrechnet? Oder Kosten für Personal, das nicht extra für den Wahlkampf eingestellt wurde? Auch der Wahlkampf von Sebastian Kurz im Jahr 2019 lieferte dazu einige Ungereimtheiten. In den internen Berechnungen wurde nämlich ein Teil der Kosten als „Soll nicht Wahlkampf“

Die Dokumente lassen die Angaben, die Wahlkampfkosten-Obergrenze wurde eingehalten, zweifelhaft erscheinen“

verbucht. Das ist per se nicht verwerflich. Auch in den Wochen vor einer Wahl fallen Kosten an, die nichts mit dem Wahlkampf zu tun haben. Zudem gibt es auch gesetzlich Ausnahmen: Die Ausgaben für Meinungsforschung fallen grundsätzlich nicht unter die Wahlkampfkosten.

Allerdings gibt es auch fragwürdige Zuordnungen in der Buchhaltung: So waren in der Aufstellung vom 2. August im Personalbudget insgesamt 260.000 Euro an „Wahlzulagen“ und „Wahlprämie“ nicht als Wahlkampfkosten ausgegeben. Wie die einzelnen Positionen aus dem Wahlkampf 2019 tatsächlich verbucht wurden, weiß der Rechnungshof übrigens auch heute nicht. „Konkrete Fragen des Rechnungshofes zu diesen Unterlagen beantwortete die ÖVP aber teilweise nicht (etwa, warum bestimmte Kosten laut dieser Unterlagen nicht in die Kosten für den Wahlkampf eingerechnet wurden)“, heißt es in der Veröffentlichung vom Freitag. Die Wahlkampfkosten der ÖVP wurden zwar von Steuerberatungskanzleien kontrolliert und bestätigt. Mehr als die Gesamtsumme der Ausgaben musste die ÖVP dem Rechnungshof laut Gesetz nicht melden. Das soll nun eben ein eigens bestellter Wirtschaftsprüfer klären. Sollte tatsächlich eine Überschreitung festgestellt werden, verhängt der Unabhängige Parteientransparenzsenat eine Geldbuße.

Einen Tag nach der Falter-Veröffentlichung der ÖVP-Files im September 2019 kündigte der damalige ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer rechtliche Schritte an. „Wir können nicht beurteilen, ob der Falter bewusst falsche Behauptungen aufgestellt hat, oder man verfälschten oder gefälschten Unterlagen aufgesessen ist“, so Nehammer in einer Aussendung. Tatsächlich brachte die ÖVP Klage auf Widerruf und Unterlassung gegen den Falter ein. Vor Gericht musste die Volkspartei allerdings einbekennen, dass die veröffentlichten Unterlagen keineswegs gefälscht oder manipuliert waren. Das Verfahren ging bis zum Höchstgericht. Alle Instanzen entschieden, der Vorwurf, die ÖVP habe bewusst die Überschreitung der Wahlkampfkostenobergrenze geplant, sei zulässig. Auch der Vorwurf, die ÖVP habe die Öffentlichkeit getäuscht, wurde vom Gericht als zulässige Bewertung des Verhaltens der Volkspartei bestätigt.

Nur in einem von der ÖVP geklagten Sachverhalt schloss sich das Gericht nicht der Argumentation des Falter an: nämlich dass die ÖVP nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch den Rechnungshof täuschen wollte. Die Stellungnahmen vom Freitag vergangener Woche lassen jedenfalls einen Schluss zu: Der Rechnungshof fühlt sich von der ÖVP zumindest nicht korrekt informiert. F

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DER RECHNUNGSHOF FOTO: APA/HERBERT NEUBAUER
„WirhabennichtszuverbergenausdieserZeit,ganzimGegenteil“

Sehr geehrte Damen und Herren und alle Menschen dazwischen.“

Bei seiner Antrittspressekonferenz zur Bundespräsidentschaftswahl zeigt der Bierpartei-Chef Marco Pogo, dass dieser Wahlkampf bunt wird. Im Beisl Addicted to Rock am Getreidemarkt werden um zehn Uhr Vormittag an diesem Montag die ersten Krügerln gezapft. Ausnahmsweise in schwarzem Hemd samt Sakko spricht Nobelpunk Pogo davon, dass das Land einen Bundespräsidenten brauche, „der eine moralische Richtschnur ist“. In seinem Österreich „ist immer noch Platz auf der Bierbank, und man holt eine Kiste Bier aus dem Keller, wenn überraschend Besuch vor der Tür steht“.

Nach der Präsidentschaftswahl, die wahrscheinlich im Oktober stattfindet, wird der neue Bundespräsident trotzdem ziemlich sicher so heißen wie der alte: Alexander Van der Bellen.

Aber an der Spaßfront ist mit Pogos Antreten ein bisschen Bewegung. Und rechts der Mitte haben die Wählerinnen und Wähler mehr Angebot als je zuvor: Da ist die FPÖ, die seit Wochen ein großes Rätselraten um ihre Kandidatin inszeniert – die höchstwahrscheinlich die bundesweit kaum bekannte Susanne Fürst, eine enge Vertraute von Parteichef Herbert Kickl, sein wird. Außenseiterchancen auf eine Kandidatur werden FPÖ-intern auch dem Welser Bürgermeister Andreas Rabl eingeräumt.

Dann ist da noch der aus Wolfgang Fellners Trashfunk Oe24.tv bekanntberüchtigte Provokateur Gerald Grosz, der einst für Jörg Haiders Bündnis Zukunft Österreich im Parlament saß und nun mehr als 100.000 Klicks mit seinen Wutbotschaften aus seinem Wohnzimmer gegen Migranten,

Trash, Bier und Schwurbel

Skurrile Mitbewerber und ein Bundespräsident, der möglichst wenig an den anderen Kandidaten anstreifen will. Was uns im kommenden Präsidentschaftswahlkampf erwartet

AUSBLICK:

NINA HORACZEK, BARBARA TÓTH

Bundespräsident Alexander Van der Bellen verkündete seine Kandidatur auf dem Jugendkanal Tiktok

aber auch gegen die Corona-Maßnahmen erzeugt. Mit der FPÖ und Grosz wird sich auch Menschen – Freiheit – Grundrechte (MFG) um Stimmen keilen. Die Partei, Sammelbecken von Menschen von links bis ganz rechts, die der Ärger über die Corona-Maßnahmen verbindet, möchte bundesweit mitmischen.

Als ob dieses ungewöhnliche Angebot auf dem Wahlzettel nicht ausreichen würde, kollidiert der Präsidentschaftswahlkampf auch noch mit politisch höchst turbulenten Zeiten, dem Ukraine-Krieg, den Teuerungen und einer ÖVP in der Dauerkrise. Nach dem steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer verkündete nun auch Tirols Landeshauptmann Günther Platter überraschend seinen Rückzug. Die Tiroler Landtagswahlen, ursprünglich für das Superwahljahr 2023 geplant, könnten auf den heurigen Herbst vorverlegt werden. Österreich steht dann ein Superwahlherbst bevor.

Als Van der Bellen 2017 gegen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer kämpfte, markierte das eine innenpolitische Zäsur: Erstmals ritterten zwei Kandidaten jenseits der „Altparteien“ um das höchste Amt im Land. SPÖ und ÖVP, die über Jahrzehnte abwechselnd ihre Vertreter für die Hofburg ins Rennen geschickt hatten, waren komplett abgemeldet. Heuer trifft Titelverteidiger Van der Bellen auf eine in der Pandemie noch ein Stück weiter radikalisierte FPÖ und auf Splittergruppen von links bis rechts außen.

Die drei Rechtsausleger-Parteien werden im selben Pool fischen, MFG könnte auch Frustrierte von links ansprechen.

Die Latte für Van der Bellens Wiederwahl liegt nicht allzu hoch, wie ein

Blick in die jüngere Geschichte zeigt. Der letzte Bundespräsident, der zur Wiederwahl antrat, war Heinz Fischer (SPÖ), er siegte bei seiner Wiederwahl 2010 mit 79,3 Prozent der Stimmen bei einer eher mauen Wahlbeteiligung von 53,6 Prozent, sein Vorgänger Thomas Klestil (ÖVP) erhielt beim nochmaligen Antreten im Jahr 2002 nur 63 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 74 Prozent.

Als politischer Ruhepol in einer stürmischen Welt, als derjenige, der von früh bis spät dafür im Einsatz ist, dass dieses Land wieder in ruhigere Gewässer kommt, als Beschützer der staatlichen Institutionen, aber auch als der Mann, der für sozialen Zusammenhalt steht – so wird sich Alexander Van der Bellen im Wahlkampf präsentieren. Und natürlich als einer, der Regierungskrisen von Ibiza über die Angelobung einer Übergangsregierung bis hin zum Rücktritt von Bundeskanzler Sebastian Kurz souverän gemeistert hat, zumindest nach eigener Lesart. Kritiker werfen ihm vor, der Regierung zu viel durchgehen zu lassen.

2016, da musste Van der Bellen noch im Privatsender Puls 4 zum „Eignungstest“ für die Hofburg antreten und verlor in einer unmoderierten TVKonfrontation mit Norbert Hofer die Nerven. Diesmal hat Van der Bellen eine praktische Begründung, an solchen Veranstaltungen gar nicht mehr teilzunehmen: Als Präsident habe er die Würde des Amtes auch im Wahlkampf zu schützen, sagt sein Wahlkampfleiter Martin Radjaby.

Außerdem werde er während des Wahlkampfes seinen Brotberuf als Staatsoberhaupt nicht vernachlässigen. Da fehle die Zeit, um von einer TV-Konfrontation zur nächsten zu tin-

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FOTOS: APA/HELMUT FOHRINGER, APA/ERWIN SCHERIAU; APA/HERBERT NEUBAUER; APA/MICHAEL GRUBER
Hofburg-Kandidaten Gerald Grosz, Marco Pogo alias Dominik Wlazny und Susanne Fürst: Wahlkampf als Profilierungsshow ohne Aussicht auf Sieg

geln. Abgesehen davon würde sich die Jugend ohnehin weniger lineares Fernsehen und damit TV-Duelle ansehen. Deshalb gibt es den Präsidenten jetzt auf den gängigen Social-Media-Kanälen. „Nicht ohne Grund hat Van der Bellen seine Wiederkandidatur über Tiktok bekanntgegeben“, sagt Radjaby. Diese besonders bei Jugendlichen beliebte Plattform sei mittlerweile sogar der reichweitenstärkste Kanal des Präsidenten.

Also keine Duelle, kein Polit-Entertainment mit Van der Bellen. Dafür werden seine Herausforderer durch die Privat-TV-Studios wandern. Der Schmäh von Marco Pogo, die Tiraden von Gerald Grosz, dazu die Schwurbelei des MFG-Kandidaten und der FPÖ: Der Präsidentschaftswahlkampf wird auch eine Herausforderung für die Medien. Es geht darum, Anti-Establishment-Positionen richtig einzuordnen und ihnen nicht zu viel Platz einzuräumen.

Im ORF plant man eine Runde der Gegenkandidaten und ein Format mit Van der Bellen allein. Es wird definitiv keine Kooperation mit Privatsendern geben wie beim Antrittsinterview mit ÖVP-Chef Karl Nehammer, das der „ZiB 2“-Moderator Armin Wolf und Puls-4-Infochefin Corinna Milborn gemeinsam führten.

Was aber bringt die anderen Parteien zur Kandidatur? Für die Freiheitlichen ist diese Wahl vor allem ein Generator für eine politisch wichtige Währung: Aufmerksamkeit. Sie können diese Wahl vor allem dafür nützen, ein weiteres Gesicht neben Kickl bundesweit für die nächste Nationalratswahl bekannt zu machen. Das Ergebnis von 2016, als mehr als zwei Millionen Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz beim blauen Kandidaten Norbert Hofer machten, ist in unerreichbarer Ferne. Kandidatin in spe Fürst, eine Rechtsanwältin, sitzt seit 2017 für die FPÖ im Parlament, aber außerhalb der Partei kennt sie kaum jemand.

Fürst ist eine blaue Hardlinerin, wettert gerne gegen die „bescheuerte Willkommenskultur“, unterstellte vergangenes Jahr auf dem Höhepunkt der Pandemie gar, die Regierung plane die rechtliche Möglichkeit, dass Impfverweigerer „in Haft genommen werden können, bis sie sich bereiterklären, die Impfung vorzunehmen“.

Auch für die MFG ist die Bundespräsidentschaftswahl eine gute Möglichkeit, ihre Bekanntschaft im Land zu erhöhen, schließlich ist die Partei derzeit nur in Oberösterreich im Landtag verankert und erhofft sich einiges bei der anstehenden Tiroler Landtagswahl. Offiziell hat die Partei noch keinen Kandidaten gekürt, aber der Wiener Allgemeinmediziner und MFG-Funktionär Edgar Hagenbichler sammelt bereits Unterstützungserklärungen für eine Kandidatur von MFGParteichef Michael Brunner.

Für MFG, FPÖ und Grosz wären eine neuerliche Corona-Welle im Herbst mit einer Impfpflichtdebatte oder neue Corona-Maßnahmen ein Mobilisierungsturbo.

Die Wahlparty von Van der Bellen crashen könnte aber höchstens

Bierpartei-Chef Pogo, rechnet der Meinungsforscher Peter Hajek vor. Nämlich dann, wenn er im linken und liberalen Spektrum stärker mobilisiert als erwartet. Pogo als Vertreter eines städtischen, linken Politikertypus spricht ein ähnliches Segment wie der amtierende Präsident an.

„Dass es zur Stichwahl kommen könnte, ist aber wirklich hochspekulativ“, warnt Hajek. „Aus heutiger Sicht ist Van der Bellens Wiederwahl absolut sicher.“ Und was sagt sein Kollege Christoph Hofinger? „Ich erwarte mir viel taktisches Wählen.“ Sollten die Umfragen suggerieren, dass Van der Bellen eine klare Mehrheit hat, „wäre es wahrscheinlich, dass ein Kandidat wie Pogo davon profitiert“.

Dass die Hofburg zur Hopfburg wird, ist trotzdem unwahrscheinlich:

»Ich erwarte mir viel taktisches Wählen. Sollten die Umfragen suggerieren, dass Van der Bellen eine klare Mehrheit hat, wird ein Kandidat wie Pogo davon profitieren

Bei der Wien-Wahl 2020 kam die Partei mit dem Kürzel BIER auf genau 13.095 Stimmen.

Auf dem Weg zur Präsidentschaftswahl muss die Bierpartei, wie die anderen Kandidaten, aber erst 6000 Unterstützungserklärungen sammeln. Kein leichtes Unterfangen, klagt Pogo „weil etwa die Steffi aus Schruns-Tschagguns, die in Wien studiert, nur in ihrer Heimatgemeinde unterschreiben darf“.

Dann muss Pogo seinen Bierfreunden noch seinen echten Namen beibringen. Den Punker Marco Pogo sucht man auf dem Wahlzettel vergeblich. Stattdessen heißt dieser Kandidat Dominik Wlazny.

Denn Künstlernamen sind bei der Bundespräsidentschaftswahl nicht erlaubt. F

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CHRISTOPH HOFINGER, SORA
MUST SEE! ««««« Edvard Munch, Madonna (Detail), 1895/96, Collection of Catherine Woodard and Nelson Blitz, Jr., Foto: Bonnie H. Morrison NUR NOCH BIS 19.6.
MUNCH IM DIALOG

Sigmundsherberg rettet bald die Welt. Mitten im tiefsten Waldviertel entsteht gerade das erste Klimaschutz-Ausbildungszentrum Europas. Etwa 400 Arbeitslose, teils mit Pflichtschulabschluss oder abgebrochener Lehre, werden hier ab dem Jahr 2023 im Auftrag des Arbeitsmarktservice (AMS) Niederösterreich zu Fachkräften im Kampf gegen die Erderwärmung ausgebildet. Die Idee dazu hatte der niederösterreichische AMS-Chef und Sozialdemokrat Sven Hergovich. „Wenn wir die Energiewende schaffen wollen, braucht es dringend viel mehr Menschen, die zum Beispiel Solarpaneele auf Dächer montieren können“, sagt er. Damit auch arbeitssuchende Frauen in Sigmundsherberg zu Energiewende-Fachfrauen ausgebildet werden, gibt es bei der Klimaschutz-Ausbildung sogar eigene Kinderbetreuungsplätze.

Es ist nicht das erste Projekt, mit dem das AMS Niederösterreich Schlagzeilen macht. In Marienthal in Niederösterreich startete Hergovich im Herbst 2020 ein Experiment, mit dem Langzeitarbeitslosigkeit abgeschafft werden soll. Jeder und jede in der Region, die ein Jahr und einen Tag arbeitslos ist, erhält ein Jobangebot in einem betreuten Projekt, um wieder zurück in die Arbeitswelt zu finden. Evaluiert wurde diese Arbeitsplatzgarantie kürzlich von Wissenschaftlern der Universität Wien und der britischen Elite-Uni Oxford. Ergebnis: Die Jobgarantie für Langzeitarbeitslose führte nicht zu einem Verdrängungswettbewerb mit anderen Arbeitssuchenden, sondern es wurden sogar neue Jobs geschaffen. Auch dass das AMS Niederösterreich seit kurzem in bestimmten Fällen die Kosten für Psychotherapie übernimmt, war Hergovichs Idee. „Die Wartezeit auf einen Therapieplatz auf Krankenkasse beträgt derzeit bis zu zehn Monate. Abgesehen von der persönlichen Belastung für die Betroffenen ist es volkswirtschaftlich völlig ineffizient, wenn Menschen mit psychischen Problemen so lange keine professionelle Unterstützung erhalten“, sagt Niederösterreichs AMS-Chef. Arbeitslose mit psychischen Problemen, die in niederösterreichischen Arbeitstrainingszentren fit für einen Job gemacht werden sollen, bekommen deshalb kostenlos Psychotherapie, bis ein Kassenplatz für sie frei ist. „So können wir Menschen mit psychischen Problemen schneller wieder in den Arbeitsmarkt integrieren.“

Und um mehr Arbeitslose für eine Fortbildung zu begeistern, verschickt das AMS in Niederösterreich an alle, die länger Job suchen, Fortbildungsgutscheine im Wert von bis zu 15.000 Euro. So können sie ihre Fortbildung selbst wählen und brechen seltener ab.

Wer ist der Mann, der sich quasi im Stakkato Innovationen für den Arbeitsmarkt ausdenkt? Obwohl ihn auf dem bundespolitischen Parkett kaum jemand kennt, ist Hergovich mit seinen 33 Jahren politisch ein alter Fuchs. Mit 24 Jahren war er im Kabinett der damaligen Verkehrsministerin Doris Bures (SPÖ) für die Berechnung der Beschäftigungseffekte von Umwelt- und Infrastrukturprojekten zuständig. Bures’ Nachfolger im Ministeramt, der rote Gewerkschafter Alois Stöger, nahm Hergovich 2016 mit ins Arbeits- und Sozialministerium, wo die-

Genosse Wunderkind

Von Marienthal bis Klimaschutz: Niederösterreichs AMS-Chef Sven Hergovich gilt als Nachwuchshoffnung der Sozialdemokratie. Was kann der Mann?

PORTRÄT: NINA HORACZEK

FOTO: HERIBERT CORN

ser die „Aktion 20.000“, ein staatlich gefördertes Jobprogramm, um ältere Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ausheckte und mit dem damaligen Koalitionspartner ÖVP auch verhandelte. „Der Sven war mit seinen 24 Jahren extrem jung, aber schon damals ein exzellenter Verhandler, der sich schnell Respekt erarbeitete bei Menschen, die seine Eltern hätten sein können“, sagt Stöger. „Er ist sicher eine der größten Personalreserven der SPÖ.“ Innerparteilich ist ebenfalls zu hören, dass Hergovich auch von der Parteispitze als ministrabel gesehen wird.

Es kommt schließlich nicht oft vor, dass sich jemand schon mit 26 Jahren zum stellvertretenden Kabinettschef hinaufarbeitet. Und – im Gegensatz zum damaligen türkisen Wunderkind Sebastian Kurz – auch sein Studium abschließt. Doch während die Volkspartei ihren Jungstar Sebastian Kurz auf ein Podest hob, ihn zum Integrationsstaatssekretär und 2013 zum Außenminister machte, arbeitete der Mittzwanziger Hergovich im Hintergrund.

Der Weg in die SPÖ war für den gebürtigen Favoritner, der Vorsitzender der Jungen Generation der SPÖ im Bezirk ist, nicht vorgezeichnet. Aufgewachsen in einer Genossenschaftswohnung in Wien-Favoriten, war Politik ein familiäres Spannungsfeld. Auf der Vaterseite steht die Familie eher rechts, die Familie der Mutter wählt traditionell links – also viel Stoff für politische Diskussionen, „und ich wollte schon als Jugendlicher wissen, was der richtige Weg ist, um etwa Arbeitslosigkeit zu senken“, sagt er. Als Schüler organisiert er mit Freunden den ersten „Kinderkongress“. In Graz diskutieren 100 Schülerinnen und Schüler über die Schule der Zukunft, und Hergovich trägt deren Wünsche samt Blumenstrauß zur damaligen Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP). Diese reagiert ziemlich verschnupft, als der 15-Jährige ihr zur Begrüßung erklärt, ihre Einsparungen im Bildungsbereich seien ein Fehler.

Von der Bildungspolitik geht es für ihn zum Umweltschutz. Nach der Matura heuert er als Zivildiener bei der Umwelt-NGO Global 2000 an, baut dort Jugendgruppen auf und initiiert eine Schmetterlingswiese im Grünstreifen auf dem Mariahilfer Gürtel. Noch während seines Volkswirtschaftsstudiums bewirbt er sich als Umweltökonom bei der Arbeiterkammer. „Wir wollten damals eine Ökosteuerreform andenken, und da war sein Wissen gefragt“, erinnert sich der damalige Arbeiterkammerchef Werner Muhm. „Dass er jetzt als Roter im tiefschwarzen Bundesland Niederösterreich reüssiert, zeigt, dass er ein wirklich tüchtiger Bursche ist.“

„Sven Hergovich ist einer, der mit dem Politikvirus infiziert ist“

AMS-CHEF JOHANNES KOPF

Doch im Jahr 2017, kurz bevor Türkis-Blau an die Macht kommt und Beate Hartinger-Klein (FPÖ) Sozialministerin wird, verabschiedet sich Hergovich Richtung AMS. „Wir arbeiten sehr gut zusammen“, sagt AMS-Chef Johannes Kopf. „Sven ist einer, der mit dem Politikvirus infiziert ist.“ Bis dieses Virus ausbricht, müsste die SPÖ aber Wahlen gewinnen. Hergovich selbst sagt auf die Frage, ob ihn die Politik reizt, aber nur: „Mir geht es darum, dass ich in der Realität etwas bewegen kann. Das gelingt mir in meinem derzeitigen Job gut.“ F

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Der Rote Sven Hergovich macht mit unkonventionellen Arbeitsprojekten Schlagzeilen und gilt als einer, der in der SPÖ zu Höherem berufen ist
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Die Virengeister

Jeder zehnte Covid-Kranke entwickelt Long-Covid-Symptome. Was ist über die Ursachen bekannt?

Eigentlich interessiert sich Timon Adolph für die menschliche Verdauung. Der 36-Jährige forscht an der Medizinischen Universität Innsbruck zu chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Doch seit vergangenen Monat eine Studie im Fachjournal Gastroenterology erschien, deren Senior-Autor er ist, erhält er auch Anfragen zu Covid.

Genau genommen zu Long Covid, definiert als eine Reihe von unterschiedlichen Symptomen, die innerhalb von drei Monaten nach Beginn einer Sars-CoV-2-Infektion auftreten und zumindest zwei Monate anhalten. Die Probleme variieren in Dauer und Intensität; die meisten Betroffenen sind enorm erschöpft und haben Konzentrationsstörungen, leiden an Atemnot, Bauchschmerzen und Schlafstörungen sowie dem Verlust von Geruch- oder Geschmackssinn.

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass rund zehn Prozent der Menschen, die eine Covid-Erkrankung durchmachen, danach an Long Covid leiden. Andere sprechen von einem deutlich höheren Anteil. Das liegt daran, dass die Definitionen nicht eindeutig sind: Manche Forscherinnen und Forscher sprechen erst bei Symptomen ab sechs Monaten nach Infektionsbeginn von Long Covid. Zudem sind die Messinstrumente nicht immer verlässlich – wird in Fragebögen nach „Long Covid“ gefragt, sind die Selbsteinschätzungen ungenau, da sich die Zusammensetzung der Symptome unterscheidet.

So oder so, da sich allein in Österreich in den vergangenen Jahren 4,2 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert haben (wobei ein großer Teil die Omikron-Variante hatte, deren Zusammenhang mit Long Covid noch unklar ist), ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung davon betroffen. Die Österreichische Gesundheitskasse zählte im vergangenen Jahr rund 46.000 Krankenstände. Und die Ursachen der Erkrankung liegen weiterhin im Dunkeln. Weltweit tragen Forscher Mosaiksteinchen zusammen, um die Mechanismen dahinter zu verstehen.

Ein solches Puzzleteil lieferte Adolph. Aus den Därmen von 46 Menschen entnahmen er und sein Team Gewebeproben – und zwar rund sieben Monate nachdem sie eine Covid-Infektion durchgemacht hatten. Bei 32 von ihnen fand er winzige Reste des Virus im Darm. Zwei Drittel dieser 32 Menschen, die noch Virenmoleküle im Körper hatten, litten an Long-Covid-Symptomen. Umgekehrt hatte kein einziger der 14 Untersuchten, in denen keine Virenreste gefunden wurden, Symptome.

Seine Ergebnisse, warnt Adolph, sind nicht auf die Allgemeinheit übertragbar –denn er untersuchte ausschließlich Menschen, die zugleich eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung hatten.

Dennoch stützen sie eine Theorie, für die auch schon andere Forschende Hinweise gefunden haben: Sie fanden Virenreservoirs im Herzen, Blinddarm, den Augen und vereinzelt im Hirn. Das Virus bleibt bei manchen im Körper zurück und verursacht, so die These, dort möglicherweise Entzündungen.

„Ein anhaltender entzündlicher Zustand könnte die Symptome erklären“, sagt Mi-

Wissenschaftlerin der Woche Montserrat Pàmies-Vilà

Seit vergangener Woche gibt es ein Web Tool, das von der Karl Landsteiner Privatuniversität entwickelt wurde und Hausärzten bei Diagnose und Behandlung von Long Covid helfen soll. Es rät zu „Pacing“, also dem Einhalten der eigenen Grenzen. Überbelastung verschlechtert den Zustand

Je früher eingegriffen wird, desto besser die Chancen, dass Long Covid nicht chronisch wird, sondern ausheilt

chael Stingl. Dem Wiener Neurologen kommen die Beschwerden der Long-Covid-Patienten vertraut vor. Er beschäftigt sich nämlich schon länger mit einer Erkrankung, die sehr viele Gemeinsamkeiten mit Long Covid hat: ME/CFS. Das steht für „myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom“.

Die Betroffenen sind schnell erschöpft; gehen sie über ihre Grenzen, verschlechtert sich der Zustand. Rund 70 Prozent der Patienten, die Stingl in seiner Ordination sieht, entwickeln ME/CFS nach einer viralen Erkrankung, etwa nachdem sie sich mit dem Epstein-Barr-Virus, Sars-CoV-1 oder Mers-CoV infiziert haben. Sind auch hier die Virenreste Schuld? Anhaltende Entzündungen? Eine überschießende Immunreaktion? Die Forschung, die nun helfen könnte, Long Covid zu verstehen, fehlt. „ME/ CFS hat ein Stiefkinddasein gefristet“, sagt Stingl.

Ein Forscherteam von der südafrikanischen Stellenbosch University lieferte zu Jahresbeginn einen weiteren möglichen Puzzlestein: Im Blut von Long-Covid-Betroffenen fanden sich vermehrt winzige Gerinnsel. In gesunden Körpern verklumpt sich das Blut nur bei offenen Wunden, um die Blutung zu stoppen. Entstehen sie anderswo, sind sie gefährlich, weil sie Gefäße verstopfen und die Sauerstoffzufuhr verringern. Und da könnte ein weiterer Hinweis im LongCovid-Rätsel liegen: Erhält bei Betroffenen das gesamte System zu wenig Sauerstoff?

Erst vergangene Woche erschien im European Journal of Neurology eine dänische Studie, in der 16 Long-Covid-Patienten untersucht wurden. Erstmals wurde Muskelgewebe entnommen – und es zeigte sich ein Muskelschwund und eine Veränderung der Blutgefäße, die durch die Verklumpungen erklärt werden könnten. Das „Microclotting“, wie die winzigen Blutgerinnsel genannt werden (das nun in einer kleinen, nicht peer-reviewten Studie des südafrikanischen Teams auch in ME/ CFS-Patienten nachgewiesen wurde), die Virenreste, die Entzündungen, sind keine Konzepte, die einander ausschließen, sagt Stingl. Sondern es sind Mosaiksteinchen, die Forscher weltweit zusammensetzen.

Warum lassen Sie einen Roboterarm Cello spielen, Frau Pàmies-Vilà?

Seit zehntausenden Jahren machen Menschen auf Instrumenten Musik. Wie sie funktionieren, ist schon recht gut erforscht. Aber die Interaktion zwischen Musikern und ihrem Instrument verstehen wir noch nicht so gut. Die Physik dahinter ist viel komplexer als die Physik des Klangs allein. Wir müssen sehr kurze Momente betrachten, in denen viel passiert, was einen großen Einfluss auf die Nuancen des Klangs hat. In meiner Doktorarbeit habe ich mich mit den Spieltechniken der Klarinette auseinandergesetzt. Wie interagiert die Zunge des Spielers mit dem Blatt, das Teil des Mundstücks ist? Dieser Kontakt ist in der Literatur nicht gut beschrieben; wir woll-

ten das erweitern. Um zu verstehen, was sich im Instrument und im Mund der Klarinettisten tut, haben wir drei winzige Sensoren auf das Mundstück der Klarinette geklebt. Die Zunge bewegt sich wahnsinnig schnell, oft berührt sie das Blatt nur rund 50 Millisekunden lang. Das ist kürzer als ein Zwinkern.

Seit September 2021 leite ich als Postdoc ein vom Wissenschaftsfond FWF gefördertes Projekt am Institut für musikalische Akustik – Wiener Klangstil der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Es geht um das Cello, ein – im Vergleich zur Geige – wenig untersuchtes Streichinstrument. Um zu verstehen, wie der Bogen mit

Montserrat PàmiesVilà, 30, forscht an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

den Saiten interagiert, brauchen wir wiederholbare Messungen. Wir machen das mit einem Roboterarm. Dazu haben wir die Musiker während des Spielens mit Motion-Capture-Technologie aufgenommen, also 3D-Aufnahmen ihrer Bewegungen gemacht, und diese Daten auf den Roboter übertragen. Der bewegt den Bogen nun so wie ein Musiker und wiederholt das Streichen viele hunderte Male gleich. Außerdem können wir einzelne Parameter verändern. Das Ziel ist, die Interaktion zwischen Musiker und Instrument erstmals systematisch zu erklären.

WISSENSCHAFT FALTER 24/22 17
ILLUSTRATION: OLIVER HOFMANN; FOTO: PRIVAT
ANNA GOLDENBERG PROTOKOLL: ANNA GOLDENBERG
BERICHT:

Ordnung in der neuen Unübersichtlichkeit

Raimund Löws gesammelte außenpolitische Analysen liefern Orientierung – und Argumente für Europa-Gläubige

REZENSION:

WOLFGANG PETRITSCH

Als Jürgen Habermas inmitten der scheinbaren geopolitischen Stasis der 1980er-Jahre eine „Neue Unübersichtlichkeit“ konstatierte, mochte er sich nicht die chaotisch anmutenden Verhältnisse unserer Zeit vorzustellen. „Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus“, stellte er damals fest und beschrieb damit das Ende der großen Erzählungen (auch der Tragödien) des 20. Jahrhunderts.

Wer in der jetzt vorherrschenden politischen und intellektuellen Verwirrung und Ratlosigkeit – bloß von der Banalität des Bösen zu sprechen wäre zu einfach – nach den politischen Ursachen und historischen Zusammenhängen sucht, dem ist der Griff nach Raimund Löws jüngst erschienenem Sammelband „Welt in Bewegung“ dringend zu empfehlen.

Erfahren in präzise getimten Reportagen und Kommentaren in Radio und Fernsehen hat Löw in ebenso prägnanter Weise in seinen zwischen 1989 und 2022 im Falter erschienenen Analysen das aktuelle Weltgeschehen auf den Punkt gebracht. In sechs Kapiteln setzt er seine über die Jahre verfassten Analysen in den je aktuellen Kontext und gewährt uns den Vorteil der rückblickenden Überprüfung des damals Geschriebenen. Tagesaktuelle Wertungen sind oftmals, was sie sind – am nächsten Tag schon nicht mehr aktuell. Tatsächlich aber haben Löws Analysen bemerkenswerten Bestand und bereichern damit das (Wieder-)Lesen seiner Texte.

Nehmen wir etwa Löws Kommentar zur russischen Okkupation der Krim im Februar 2014. Wenige Tage danach schreibt er, dass die ukrainische Revolution „zur Weltkrise geworden“ ist. Es wäre seit dem 24. Februar weniger Ratlosigkeit angesagt, wenn diese

Erkenntnis bereits damals in den europäischen Staatskanzleien angekommen wäre. Für Österreichs Außenpolitik bedeutete 2014 die Ausrichtung eines Staatsbesuches von Wladimir Putin und den Beginn einer noch größeren Abhängigkeit vom russischen Gas.

Die sechs Kapitel – vier davon spiegeln Löws berufliche Stationen wider, zwei sind den Erkundungen im Nahen Osten und in Lateinamerika gewidmet – behandeln in eingängigen Beispielen auch jene Konflikte, die zwar im Augenblick vom Krieg in der Ukraine überschattet werden, deshalb aber freilich nicht minder brisant bleiben. Daher ist die im Untertitel gestellte Frage, warum denn „das 21. Jahrhundert so gefährlich geworden ist“ das eigentliche Thema des Buches. Es wäre vermessen, sogleich passende Antworten zu erwarten. Löw versteht es jedoch, den verschlungenen Wegen dieser „seiner“ bewegten Welt – oder ist es nicht doch ein rasender Planet? - kenntnisreich nachzuspüren.

Der Autor zeichnet in breiten Zügen die dramatischen Machtverschiebungen seit dem Ende des Kalten Krieges nach, dringt aber gleichzeitig in die gesellschaftlichen Tiefen vor, indem er „Russlands Phantomschmerzen“ ebenso thematisiert wie „Chinas unheimlichen Aufstieg“. Um nichts weniger dramatisch wirken sich „Amerikas Pendelschläge“ zwischen Obama und Trump ebenso auf Europa aus wie auf die Auseinandersetzungen zwischen liberaler Demokratie und autoritärem Populismus – auf ein Europa, dem der Autor im Spannungsfeld multipler Krisen und illiberaler Tendenzen eine bemerkenswerte Resilienz zugesteht. Immer wieder aber bezieht Löw die großen Veränderungen auf das saturierte Österreich und vermag dazu beizutragen, dass sich diese schier unbeirrte Insel der Seligen der rauen Wirklichkeit der gefährlichen Unübersichtlichkeit stellt.

Daniel Jokeschs „Krisencomic“ Folge 12: Message Control

Raimund Löw: Welt in Bewegung. Warum das 21. Jahrhundert so gefährlich geworden ist. Falter Verlag, 224 S., € 22,90

Gelesen Bücher, kurz besprochen

Begriffe, um die Zeit zu verstehen Wenn es unübersichtlich wird, hilft es oft, genau hinzuschauen, mit welchen Begriffen wir gerade versuchen, unsere Welt zu benennen und sie dabei besser zu verstehen. Sehr dankbar sind dafür Glossare, also Handbücher, die mehr sind als ein Wörterbuch oder ein Wikipedia-Eintrag, die einen Begriff historisch, politisch und kulturell einordnen.

Ein solches Glossar hat der BöhlauVerlag soeben herausgebracht (und bereits 1998 herausgegeben, siehe Wieder gelesen unten). Darin finden sich nicht nur auf den ersten Blick einfache Wörter wie „Heimat“, „Asyl“ oder „Islam“ erklärt, die längst in unseren Alltagssprachgebrauch eingedrungen sind. Sondern auch Ausdrücke wie „Rassismus“, „Migrationshintergrund“ oder „Identität“, „Kultur“ oder „Moderne“, unter denen jeder etwas anderes versteht und deren Bedeutung sich im Lauf der Zeit verändert hat.

Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hg.): Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar. Böhlau, 312 S., € 30,–

Wieder gelesen Bücher, entstaubt

Fahnenwörter

Die besprochenen Bücher können Sie über Ihre Buchhandlung, aber auch über unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt www.falter.at/ rezensionen

Wie kann man die Geschichte eines Landes erzählen? Identitäten entstehen beim Reden darüber. Historiker nennen das „Diskurse“, und solche nahm sich eine Autorenschaft Ende der 1990er-Jahre als Ausgangspunkt, um ein ganz anderes Österreich-Erzählbuch zu schreiben. „Fahnenwörter der Republik“ liest sich wie ein analoger Vorläufer zur heutigen Wikipedia-Denkweise. Anhand ausgesuchter Begriffe, etwa des damals noch aktuellen „Lichtermeeres“ oder „Sozialpartnerschaft“ oder „Große Koalition“, analysierten die Autoren typisch österreichische Gedankenwelten. Zahlreiche Querverweise helfen dabei, sich in das „gelernte Österreichertum“ einzulesen. BT

Oswald Panagl: Fahnenwörter der Politik. Kontinuitäten und Brüche. Böhlau, 1998, 351 S., € 47,–

18 FALTER 24/22 POLITISCHES BUCH
Der Rezensent Wolfgang Petritsch ist Spitzendiplomat, Politiker (SPÖ) und Balkan-Experte

BLATTKRITIK

DIE WELT BESUCHT

SEBASTIAN KURZ BEI

SICH ZUHAUSE – UND

ERRICHTET IHM EINEN

JOURNALISTISCHEN

SCHREIN

Gut, dieser Hausbesuch ist im Feuilleton der deutschen Tageszeitung Die Welt erschienen. Nicht im Ressort Politik. Und auch nicht in der Satirebeilage, die Welt hat nämlich keine. Hymne ist ein Hilfsausdruck dafür, was der Autor Joachim Lottmann –„in Hamburg geborener und in Wien lebender Schriftsteller“ – über seine knapp fünf Stunden mit Ex-Kanzler Sebastian Kurz in seiner Wohnung in Wien-Meidling aufgeschrieben hat.

„Möge er auch hier ein Glückskind bleiben“, lautet Lottmanns letzter Satz, nach zehn Minuten Lesezeit. Es geht da gerade um Kurz’ neuen Job beim „globalen Risi-

Ihr Hang zu den Reichen und Mächtigen war auch nicht immer zu ihrem Vorteil. „Ich liebe die Mischung aus High und Low“, Seite 20

kokapital-Investor und Multimilliardär Peter Thiel“ und darum, wie er glaubt, damit die Welt besser zu machen. Kein Wort über Thiels rechte Schlagseite.

Wer bisher durchgehalten hat, war dabei, wie Kurz seiner vor dem Fernseher eingeschlafenen Freundin Susanne („schön, sehr blond, immer noch jung“) über die Wange streicht. Wie er in Jeans und T-Shirt dem Autor die Tür öffnet („die Natürlichkeit selbst. Kein bisschen angeschlagen, nicht eine Sekunde älter als vor den Skandalen“) und ihm drei Campari-Orange (extra für den Welt-Autor eingekauft) und drei hausgemachte Käsebrote serviert („Personal ist nicht mehr zu sehen“). Am Ende bleibt als Fazit: Das ist sicher kein Glückskind-Haushalt, wenn der Campari nicht von vornherein eingekühlt ist.

MEDIEN

WATCHDOG

RTR: FRAGWÜRDIGES HEARING

Die Regierung hat den Geschäftsführer f ür den Fachbereich „Medien“ der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR) ausgeschrieben. Das ist eine sehr sensible Stelle, zentral bei der Vergabe von Medienförderungen. Beworben hat sich unter anderen Datum-Herausgeber Sebastian Loudon. In seiner Bewerbung plädiert er für eine aktive RTR, die Reformen der Medienförderung und der in Österreich höchst problematischen Inseratenpolitik anstößt. War das zu ambitioniert? Loudon schaffte es nicht ins Hearing. „Das kam für mich doch etwas überraschend. Ich hätte mein Konzept gerne mit einer fachkundigen Kommission diskutiert.“

ERSCHEINUNG

SCHÖNER AUFSCHLAG: TWEENER

Wie sonst soll ein Tennismagazin heißen außer Tweener? Ein Tweener ist ein Schlag für die Galerie, ein Trickschuss, bei dem der Ball zwischen die Beine gespielt wird. Tweener, mit der ersten Ausgabe am Start, ist ein Projekt tennisbegeisterter Journalisten (Andreas Hagenauer, Lukas Zahrer, beide Standard ) und Politik- und Kunstschaffender und wird seinem Namen sehr gerecht. Zu lesen: eine Würdigung Roger Federers, eine Bilderstrecke über jenen steirischen Steinbruch, in dem ein Großteil des heimischen Tennissands abgebaut wird und ein „Wie ich als Hobbyspieler scheiterte“-Essay von „ZiB“-Moderator Tobias Pötzelsberger.

LEXIKON

MERIT ORDER

Die Energiekrise schwemmt Fachbegriffe aus der Energiewirtschaft in unsere Alltagssprache. Wer nicht weiß, was „Merit Order“ heißt, kann der Debatte über die Energiepreisentwicklung nicht folgen. So heißt das seit 20 Jahren herrschende System, mit dem in Europa die Strompreise – und damit auch die aktuell exorbitanten Gewinne für Verbund & Co – zustande kommen. Derzeit wird der Strompreis vom letztzugeschalteten, teuersten Kraftwerk bestimmt, aktuell meist ein Gaskraftwerk. Damit schlägt der hohe Gaspreis auf den Strom durch. Am günstigsten ist Strom aus Solaranlagen, gefolgt von Wind- und Wasserkraft.

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DIE WELT,
SCREENSHOT
APA/GEORG HOCHMUTH, SCREENSHOT TWEENER, WIKIMEDIA
Autor Joachim Lottmann besucht Ex-Kanzler Sebastian Kurz, Welt vom 9. 6. 2022

„Ich liebe die Mischung aus High und Low“

Tina Brown brachte als Chefredakteurin Vanity Fair und The New Yorker auf Vordermann. Danach gründete sie das Online-Medium Daily Beast. Jetzt geht sie die Royals an. Wenn die nur auf sie hören würden

Was liest Tina Brown als Erstes, wenn sie aufwacht? Die 68-jährige Journalistin war Chefredakteurin von klassischen Printmagazinen wie The New Yorker, aber sie hat auch mit dem Daily Beast eine der ersten Online-News-Plattformen erfunden. „Ich lese das Daily Beast noch immer, ich liebe die Mischung aus High und Low“, sagt Brown und nimmt ihr Telefon aus der Handtasche: „Sonst lese ich hier auf diesem Ding zuerst die Twitterfeeds von meinen Lieblingsautoren und die New York Times.“ Nach einer kurzen Nachdenkpause fügt sie hinzu: „Und die Daily Mail natürlich, ich muss ja wissen, was die andere Seite denkt.“

Die Engländerin, die seit ihrem Umzug vor knapp 30 Jahren nach Amerika nur zu Kurzbesuchen nach London kommt, ist überpünktlich zum Frühstück im Groucho Club in Soho eingetroffen. Ohne Umstände setzt sie sich in einen der bunten Armsessel im ersten Stock und bestellt einen koffeinfreien Cappuccino. Der Groucho Club wurde in den 80er-Jahren als Alternative zu den verzopften und verstaubten Gentlemen’s Clubs gegründet. Er bemühte sich von Anfang an um Frauen als Mitglieder.

Frauen wie Tina Brown. Mit 15 flog die Tochter eines Filmproduzenten wegen schlechten Benehmens aus dem Internat, mit 17 begann sie ihr Studium an der Elite-Uni Oxford. Mit 25 war sie schon Chefredakteurin des Tatler, eines auf die englische High Society spezialisierten Tratschmagazins.

Brown räumte dort schnell mit der ehrfürchtigen Berichterstattung über die Aristokratie auf. Schluss mit dem altmodischhöflichen Umgang mit Royals, Businesselite und Politstars. Die Hochglanzbilder blieben, wurden aber süffig inszeniert – mit jedem anzüglichen Detail, das rund um Buckingham Palace und Westminster Bubble gefunden werden konnte. Dank der englischen Exzentrizität fehlte es daran nie.

Für Brown war Tatler allerdings nur ein Sprungbrett von London nach New York. Sie folgte ihrem Mann Harry Evans 1984 in den Big Apple. Der legendäre Chefredakteur der Sunday Times hatte sich mit Rupert Murdoch zerstritten und war nach Manhattan ausgewandert. Das kompetitive, innovative und schillernde New York war der richtige soziale Spielplatz für Tina Brown. Ihr Wohnzimmer blieb über Jahrzehnte einer der beliebtesten Salons.

Kaum angekommen, wurde Tina Brown 1984 bereits Chefredakteurin von Vanity Fair. Dort wandte sie ihre bei Tatler erprobte Methode an: Sie entstaubte das etwas hochtrabende Monatsmagazin für Mode und Politik und brachte neuen Schwung hinein – ihren Schwung, eine spritzige Mischung aus harter Politik und leicht zu verdauenden Lifestyle-Storys. Das Cover einer

INTERVIEW:

hochschwangeren Demi Moore 1991 ist heute Kult.

Nach Browns Abgang lebte Vantiy Fair noch eine Weile ganz gut von ihrem Ruf. Erst 2020 aber verpasste sich das Magazin die nächste, längst dringend notwendige Modernisierungskur. Mit der indisch-amerikanischen Chefredakteurin Radhika Jones hat das 21. Jahrhundert inzwischen auch bei Vanity Fair Einzug gehalten – auf dem Cover landen jetzt Rebellinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez. Die Dominanz des weißen Jetsets von New York und Hollywood, die zu Browns Zeiten noch selbstverständlich war, wird zumindest bildlich inzwischen durchbrochen.

In ihrem jüngsten Bestseller „Palace Papers: Die Windsors, die Macht und die Wahrheit“ (Übersetzung: Ulrike Strerath-Bolz u.a., Droemer-Verlag) blickt die Expertin für royalen Tratsch und Klatsch auf über 700 Seiten hinter die Kulissen der Paläste der britischen Königsfamilie – mit dem üblichen TinaBrown-Mix: Tratsch gilt als Nachricht, ja sogar als wichtiges Element im sozialpolitischen Prozess. Die Einsichten in Kabale und Liebe am Hof der Queen sind mit 120 Interviews von Eingeweihten untermauert. Aber wie alle anderen königlichen Expertinnen und Experten geht auch sie nicht im Hause Windsor ein und aus

Tina Browns Ära in den 80er- und 90erJahren gilt als die letzte Renaissance der Printmagazine. Heute sind lukrative Werbebudgets längst zu Youtube und Google abgewandert. Sind Medien obsolet, wenn sie nicht auf Instagram reüssieren? „Die Aufmerksamkeit ist auf Instagram oder Tiktok oft riesig“, gibt Brown zu. „Aber Clicks bedeuten nicht unbedingt Wirkung.“ Da fehle oft die editoriale Richtung. Brown fürchtet auch, dass die Freiheit der neuen und sozialen Medien „nicht unbedingt Pluralität bedeutet“.

In den 90er-Jahren, als sie nach Vanity Fair das traditionelle Intellektuellenmagazin The New Yorker als erste Frau übernahm, war das noch ganz anders. Beim New Yorker ging es um Text und die berühmten schwarz-weißen Karikaturen, die bis heute im Heft verstreut sind. Hochglanzfotos von Prominenten als Clickbaits waren nicht vorgesehen.

Wieder landete sie wie eine Bombe in der Redaktion. Wie eine Atombombe genaugenommen. Sie feuerte 70 Redakteure und brachte neue Leute zur Zeitung. Einer davon, David Remnick, leitet den New Yorker bis heute. Die Autorin und HarvardProfessorin Jamaica Kincaid nannte Tina Brown „Stalin auf Stöckelschuhen“. Und verließ den New Yorker, in dem sie lange Jahre gefeierte Kolumnen geschrieben hatte.

Einem anderen aufgebrachten Kritiker, der sie in seinem Rücktrittsschreiben beschuldigte, den „Arsch von Prominenten“ zu küssen, entgegnete sie gerüchteweise: „Ich bin über Ihren Rücktritt bestürzt, aber weil Sie an sich nie etwas geschrieben haben, ist es eher eine fiktive Bestürzung.“ Hat sie das tatsächlich gesagt? Tina Brown lächelt. Gerüchte dieser Art würde sie nie dementieren.

Ihre Jahre als Chefredakteurin beim New Yorker von 1992 bis 1998 waren im wahrsten Sinne des Wortes bunt. Einige Jahre vor der New York Times verschrieb Brown dem New Yorker Farbe für die Seiten. Und mehr Farbe in den Geschichten. So wurde das Wochenmagazin, für das schon Hannah Arendt 1963 vom Eichmann-Prozess in Je-

rusalem berichtet hatte, vertratschter. Aber auch schneller, vor allem bei der politischen Berichterstattung. 1995 gewann Brown für das Magazin den Medienpreis für General Excellence, verliehen von den amerikanischen Chefredakteuren. Es war der erste in der Geschichte des New Yorker.

Wie aber sieht sie die Lage von Printmedien heute? „Ironischerweise tut sich der New Yorker, das älteste meiner Magazine, derzeit am leichtesten. Die Leser sind gewillt, ein Abo zu kaufen.“ Derzeit im Digitalabo für 59,90 Dollar im Jahr.

Niederlagen aber gab es auch. „Nichts ist langweiliger als jemand, der immer nur gewinnt“, sagt sie heute. Als sie 1999 ein neues Magazin aus der Taufe hob – zu Füßen der Freiheitsstatue, umringt von Stars

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TESSA SZYSZKOWITZ

wie Madonna und Salman Rushdie – gedachte sie mit dem neuen Magazin Talk Geschichte zu schreiben. Zweieinhalb Jahre und 50 Millionen Dollar Verlust später war der Traum vorbei.

Ihr Hang zu den Reichen und Mächtigen war auch nicht immer zu ihrem Vorteil. Ihr Partner bei Talk-Media: Harvey Weinstein. Den inzwischen wegen Vergewaltigung verurteilten Hollywood-Mogul nannte sie später einen „Verrückten, der wie ein wilder Stier durch die Redaktion stampfte“.

Kaum hatte sie die bittere Niederlage von Talk verdaut, erfand sie sich neu. 2008 gründete sie The Daily Beast. Benannt nach der fiktiven Zeitung in Evelyn Waughs Roman „Scoop“ (dt. „Der Knüller“) wechselte Brown von den sterbenden

Printmagazinen auf den Trend zum Digitalen. Das Online-Magazin wurde ein Soforterfolg, 2010 nannte Time Magazine das Daily Beast eine der fünf wichtigsten amerikanischen Nachrichtenplattformen des Jahres.

Kurz darauf wurde Daily Beast allerdings mit dem Nachrichtenmagazin Newsweek zusammengelegt – „ein letzter Versuch“, sagt Tina Brown, „Print durch die Zusammenarbeit mit Digital zu retten“. Vergeblich. Die Chefredakteurin von The Newsweek Daily Beast Company wurde als Totengräberin des Magazins gesehen, als es 2012 als gedrucktes Magazin eingestellt wurde.

#LastPrintIssue hieß der Hashtag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Tina Brown suchte bald das Weite.

Zur Person Tina Brown, 68, wurde im englischen Maidenhead geboren. Sie war Chefredakteurin des Society-Magazins Tatler (1978–82), von Vanity Fair (1984–92) und von The New Yorker (1992–98). Sie startete das kurzlebige Talk-Magazine mit Harvey Weinstein und 2008 das Online-Medium The Daily Beast. Zu ihren Bestsellern gehören „Diana: Die Biografie“ (2007) und „The Vanity Fair Diaries“ (2017)

Seit 2013 ist sie vornehmlich als Buchautorin unterwegs. Schon 2007 hatte sie mit den „Diana Chronicles“, einer Biografie der unglücklichen Ehefrau von Prinz Charles, einen Achtungserfolg erzielt. 2017 schrieb sie ihre eigene Autobiografie über ihre Jahre bei Vanity Fair.

2022 schließlich legte sie gerade rechtzeitig zum 70. Thronjubiläum von Queen Elizabeth einen weiteren royalen Wälzer vor: die „Palace Papers“. Direkten Zugang aber hat auch sie nicht. „Die Windsors haben eben zu viele Häuser“, scherzt Tina Brown. „Die Queen ist meistens in Windsor Castle. Buckingham Palace sollte für die Öffentlichkeit geöffnet werden, Charles könnte ihn in Zukunft für öffentliche Auftritte nutzen.“ Der Palast der Königin hat 101 Schlafzimmer – „kein einziges mit Badezimmer!“, verrät Brown: „Einige Gäste haben mir erzählt, wie sie in der Unterhose über den Gang schleichen mussten.“

In Ermangelung eines direkten Zugangs zur Queen und ihrer Familie verlegt sich die ehemalige Chefredakteurin eben auf Prognosen. Kann die Monarchie nach dem zu erwartenden Ableben der Queen so weitermachen wie bisher? „Die Art, wie die Queen mit den Medien umgegangen ist, ist heute nicht mehr zeitgemäß“, sagt Brown. „Sie hat ja kein einziges Interview gegeben. Das war in den 50er-Jahren noch okay –die Medien waren sehr respektvoll. Heute würden sie sofort über Prinz Philipps Affären schreiben.“

Medienqueen Tina Brown zündete in den 80er- und 90erJahren Magazine wie Raketen – im ehrwürdigen New Yorker nannten ihre Kritiker sie dafür „Stalin auf Stöckelschuhen“

Heute verwickeln sich die Königskinder oft in langwierige Medien-Prozesse, wenn ihre Privatsphäre verletzt wird. Harry und Meghan engagierten die berüchtigte Kanzlei Schillings als ihre Vertretung, nachdem die Daily Mail einen privaten Brief Meghans an ihren Vater veröffentlicht hatte. Sie gewannen. „Ich respektiere Harry dafür sehr, er wehrt sich“, sagt Brown. Gleichzeitig findet die Medienqueen Brown aber auch, dass die Royals zwar einzelne Schlachten, aber nie den Kampf mit den Medien gewinnen können. Die Royals sollen an sich über dem Tagesgeschäft stehen. Dieses veraltete Konzept führt zu Katastrophen: „Jedes Mal, wenn sich dann einer der Royals zum Interview hinsetzt, endet es schlecht.“ Bestes Beispiel ist Prinz Andrew, der in einem BBC-Interview 2019 den letzten Rest seiner Reputation verspielte.

Tina Brown wurde für ihre journalistischen Verdienste von der Queen der Orden Commander of the British Empire CBE verliehen. Dank ihrer Doppelstaatsbürgerschaft kann sie sich aussuchen, ob sie US-Republikanerin oder britische Monarchistin ist. Den Briten rät sie: „Die Monarchie abschlanken, nicht abschaffen ist die Devise.“ F

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FOTO: BRIGITTE LACOMBE

„Sex, Lügen und Audiofiles

Österreich-Herausgeber Wolfgang Fellner wollte die Veröffentlichung eines Tonbandmitschnitts seiner sexistischen Belästigungen verhindern. Stattdessen erwirkte sein Opfer Katia Wagner ein exemplarisches Urteil, das Betroffene stärkt

Fellner bekam die „entsprechende Reaktion“. Aber anders, als er sie erwartet hatte. Wagner verklagte ihn anno 2021, Michael Rami zur Seite. Fellner leugnete zuerst, all das zu Wagner gesagt zu haben. Er gestand erst, als Rami das Tonband auf die Richterbank legte. Wagner, die von Fellner als Lügnerin hingestellt worden war, war rehabilitiert, Fellner wurde verurteilt.

Doch Fellner, vertreten durch Medienanwalt Georg Zanger, gab nicht klein bei. Er versuchte, Wagner über das Zivilrecht und die Datenschutzgrundverordnung niederzuringen. Fellners Argumentation: Der geheime Mitschnitt seiner Belästigungen sei ein Eingriff in seinen höchstpersönlichen Lebensbereich und verletze seine menschliche Würde.

Tatsächlich sahen das die Gerichte in vielen Fällen bis dato so: „Eine systematische, verdeckte, identifizierende Tonüberwachung stellt einen Eingriff in das geschützte Recht auf Achtung der Geheimsphäre dar“, lautet die ständige Judikatur. Denn die „konkrete Gestaltung einer Beziehung ist – ebenso wie deren Kommunikation im häuslichen Bereich – dem engsten Kernbereich der Privatsphäre zuzuordnen“. Berichterstattung über die Privatsphäre ist in den Medien zudem tabu.

Wolfgang Fellner, der wegen Korruption verfolgte Boulevard-Herausgeber, und Katia Wagner, die von ihm anno 2015 sexuell belästigte Journalistin: Der Streit zwischen den beiden Medienprofis beschäftigt seit Jahren die Gerichte.

Sechs Klagen hat Wagner bereits gegen Fellner und seine Firmen eingebracht und keine einzige verloren. Sie wirft ihm – zu Recht – sexuelle Belästigung vor. Er nennt sie eine Lügnerin. Sie klagt erneut und gewinnt – und er muss in regelmäßigen Abständen Widerrufe, Urteilsveröffentlichungen oder Gegendarstellungen drucken.

Wagner ist nicht die Einzige, die sich gegen den Medienherausgeber wehrt. Auch die Journalistin Raphaela Scharf hatte Fellner einen Griff an den Hintern und Einschüchterung vorgeworfen. Fellner verwickelte sie in arbeitsrechtliche Kleinkriege, die er allesamt verloren oder entnervt aufgegeben hatte (Falter 18/21).

Rund 300.000 Euro haben Fellner und sein Verlag bereits an Strafen und Kosten in den #MeToo-Prozessen aufgebrummt bekommen, rechnet Wagners Anwalt Michael Rami vor. 120.000 Euro Geldstrafe gab’s obendrauf, davon 30.000 unbedingt. Nicht alles davon ist rechtskräftig.

Nun aber hat Katia Wagner ein über den Einzelfall hinaus wirkendes erstinstanzliches Urteil erkämpft. Opfer von übergriffigen Chefs, so das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, dürfen heimliche Tonaufnahmen ihrer Vorgesetzten anfertigen und den Inhalt in Medien und vor Gericht veröffentlichen. Zumal dann, wenn sie

Beklagte Katia Wagner zum Kläger Wolfgang Fellner: „Dann legen wir eben ein Tonband vor!“

sonst in Beweisnotstand geraten. Mit diesem Urteil hat der Wiener Zivilrichter Ulrich Pesendorfer neue juristische Grenzen für #MeToo-Affären gezogen.

Die Vorgeschichte: Im Jahr 2005 begann die als „Wut-Beauty“ zu Berühmtheit gekommene Pflegesalon-Eigentümerin Katia Wagner eine Karriere als Medienunternehmerin. Als solche kam sie auch mit Fellner ins Geschäft. Der damals 60-jährige Chefredakteur und das damals 26-jährige ExTop-Model planten Kooperationen, aber er wollte offenbar mehr. In ihrem Chat fliegen die Herzerl-Emojis hin und her. Fellner drängt auf gemeinsame Abendessen, beim Edelitaliener erklärt er ihr dann, dass er sie „lieben“ würde, dass er „hinten in ihr Kleid reinschauen“ und es „kurz aufzippen“ möchte. Der unausgesprochene Deal: Karriere und Geld für Sex. Wagner war dafür nicht zu haben.

Doch Richter Pesendorfer entschied anders. Für ihn ist der Fall keine „private Angelegenheit“. Im Gegenteil: Wagners Tonaufnahme von Fellners Zudringlichkeiten sei, umgangssprachlich formuliert, ein verständlicher und plausibler Akt der Notwehr gewesen. Sie war ein „geeignetes Mittel, die verbalen Belästigungen des Klägers zu dokumentieren, weil nur auf diesem Weg die Aussagen (Fellners, Anm.) als sichere Beweismittel festgehalten werden konnten“, argumentiert Pesendorfer. Die Tonaufnahmen stellten zudem „das gelindeste Mittel“ zur Beweissicherung dar. In #MeToo-Prozessen steht ja oft Aussage gegen Aussage. Objektivierbare Belege fehlen, die Wahrheitssuche wird zur Glaubensfrage.

Der höchstpersönliche Lebensbereich Fellners sei durch die Tonaufnahmen und die Weitergabe des Inhalts „nicht berührt“. Katia Wagner habe die Aufnahmen „unbedingt benötigt, um die Belästigungen zu dokumentieren. Sie nahm an, dass ihr niemand Glauben schenken würde“. Sie habe „außerdem Angst gehabt, der Kläger würde im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung ohne entsprechende Dokumentation der Belästigungen ihre Karriere ruinieren“.

Das Urteil ist ein juristischer Meilenstein

Erfahren hatte die Öffentlichkeit all dies vor Gericht von Wagner. Fellner aber bestritt die Zudringlichkeiten als „frei erfunden“. Was er nicht wusste: Wagner hatte seine Belästigungen bei gemeinsamen Geschäftsessen mitgeschnitten – heimlich. Sie sei ein „Schatz“, „ein Engel“, „schön“, und er sei so verliebt in sie, die „Brutalchinesin“ – alles auf Band. Sie wehrte ab. Fellner ließ nicht locker. Auch seine finale Liebeserklärung ist mittlerweile legendär: „Also erstens, ich liebe dich, dass das klar ist. Ich hoffe, das wird gewürdigt und erwidert. Was soll dieser komische Blick? Hallo? Da erwarte ich schon eine entsprechende Reaktion, wenn ich so was sage.“

Sie habe zudem auch „das berechtigte Interesse verfolgt, Missstände und Verfehlungen einer Person der Zeitgeschichte zu dokumentieren“. Dies sei auch mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt –und zudem etwas, das nicht nur für das Opfer Wagner, sondern auch für die Allgemeinheit wichtig und deshalb von öffentlichem Interesse sei. Kurzum: Die Causa Fellner, Österreichs erster großer #MeToo-Fall, ist eben keine Privatfehde, sondern ein gesellschaftspolitisch relevantes Ereignis. Eines, das auch Rechtsgeschichte schreiben könnte. Wagners Anwalt Michael Rami sieht das Urteil als „juristischen Meilenstein“. Es ist nicht rechtskräftig. F

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FOTO: APA/HERBERT NEUBAUER FOTOS: HERIBERT CORN, APA/HERBERT NEUBAUER
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BERICHT: FLORIAN KLENK ANWALT MICHAEL RAMI

NACHSPIEL DIE KULTURKRITIK DER WOCHE

OLIGARCHIN MIT HERZ:

WARUM DIE SPENDABLE

HEIDI HORTEN SICH DIE SYMPATHIEN VIELER ÖSTERREICHER ERWARB

Wenn es nach dem Kunsthistoriker Wolfgang Kemp geht, war die dieser Tage verstorbene Heidi Horten (siehe auch Seite 31) eine vom Klischee abweichende Oligarchin. Kemp nennt maßlose Gier und eine Vorliebe für prunkvollen Kitsch als Kennzeichen (russischer) Oligarchen. Auf die am Wörthersee lebende Witwe des Unternehmers Helmut Horten (1909–1987) trifft die Beschreibung nur bedingt zu.

Anders als die Günstlinge russischer Präsidenten fiel Horten nicht durch besondere Skrupellosigkeit auf. Sogar als die Kärntnerin mit Stiftungsvermögen in der Schweiz die ÖVP mit fast einer Million Euro bedachte, wirkte das nicht wie ein Korruptionsversuch, sondern wie die Spende an ein Tierheim. Mit Oligarchen wie Roman Abramowitsch teilte Goëss-Horten nur den Hang zum Neo-Rokoko und den Willen zur Jacht. Bei

der Venedig-Biennale wetteiferte ihre „Carinthia“ regelmäßig mit schwimmenden, unter russischer Flagge fahrenden Luxusvillen. So wie Abramowitsch mit seinen Milliarden einen englischen Fußballclub förderte, unterstützte die Lokalpatriotin den Eishockeyclub KAC mit Millionen.

Anders als die in den 1990ern durch üble Machenschaften reich gewordenen Milliardäre aus Moskau arbeitete GoëssHorten die Ursprünge ihres Vermögens auf. Kurz vor ihrem Tod gab sie bei einem Historiker eine Studie in Auftrag, die die Geschäfte ihres Mannes in der Nazizeit untersuchte. Die Analyse kam zu dem Ergebnis, dass Horten sein Imperium zwar der Zwangssituation jüdischer Firmeneigentümer verdankte, dabei aber kulant vorging. Die Formulierung vom „fairen Ariseur“ macht seither die Runde. Heidi Horten wird ebenfalls mit einem Oxymoron in die Geschichte eingehen: die nette Oligarchin.

FEUILL ETON

Die Ermordung Rathenaus ist der Höhepunkt einer Reihe von Attentaten, die die Weimarer Republik erschüttern. Ein Jesus im Frack , Seite 28

In Neuseeland wird eine Steuer auf Flatulenz von Kühen eingeführt. Für das umweltschädliche Methan, das die Tiere beim Furzen ausstoßen, soll bezahlt werden, um Anreize für nachhaltigeres Futter zu schaffen. Eine echte Steueroase!

Britney Spears’ Exmann Jason Alexander störte ihre Hochzeit, streamte das Ganze live auf Instagram und wurde festgenommen. „Britney is my first wife, my only wife“, so die besitzansprüchige Internet-Wutrede. Free Britney!

Auf seiner Tournee will Andreas Gabalier ein Zeichen gegen Schwulenfeindlichkeit setzen. Und bringt gleichzeitig einen Song heraus, der das „Bügeln von steilen Dirndln“ feiert. So wird das nichts mit der Wokeheit, Andi!

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APA/AFP/ROBYN BECK, APA/AFP/ALEX HALADA
BÖSE
Feuilleton-Chef Matthias Dusini recherchierte 2018 für den Falter das Märchen von Helmut und Heidi
GUT
JENSEITS

SOMMER KUSS VERKAUF

Das Belvedere stieg mit Klimts berühmtestem Gemälde in den boomenden NFT-Markt ein. Die Euphorie über die digitale Neuheit ist verflogen, die Preise fielen. Alles nur ein Spiel?

BERICHT:

Er würde am liebsten heulen, schrieb ein User Anfang Mai im Chat. Ein NFT, den er im Februar vom Museum Belvedere erworben hatte, tauchte im Netz um weniger als die Hälfte des bezahlten Preises auf. Der anonyme Kunstfreund hatte 1850 Euro ausgegeben, nun hielt der Wert bei 770 Euro, Tendenz stark fallend. Vom Wiener Belvedere als „einzigartiges NFT-Projekt“ angepriesen, erweist sich die „Pioniertat im Metaverse“ als Fail, der Klimt-Fans in aller Welt einiges Geld kosten dürfte. Was lief da schief?

Diese Geschichte ist eine kleine Reise: Sie führt auf den von Gier getriebenen Kunstmarkt und in die Museumswelt, in der ebenfalls nichts mehr heilig ist. Die Lust am digitalen Fortschritt trifft auf die Naivität von Usern, die sich von PR-Geschichten verführen lassen. Und es stellt sich die Frage nach der Ethik öffentlicher Institutionen.

Für Laien sind NFTs, eine Abkürzung für Non-Fungible Token, ein Rätsel. Man kann sie sich vorstellen wie einen Eintrag in einem dezentralen Register, der sogenannten Blockchain. Mit dem Zertifikat ist ein Vermögenswert verknüpft, der Käufer erwirbt mit dem NFT Eigentum. Besonders in der digitalen Welt, wo oft Unklarheit über Rechte an virtuellen Gütern herrscht, sind solche NFTs beliebt.

Finger weg!

In den Visionen von Netz-Unternehmen entsteht ein Cyberspace, in dem Kundinnen und Kunden virtuelle Grundstücke, Autos und Kleider mittels der damit verketteten NFTs erwerben. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg prägte dafür die Bezeichnung Metaverse. Doch auch im realen Leben können NFTs praktisch sein, bei Konzertkarten oder Vereinsmitgliedschaften. Generell gilt: Für Silicon-Valley-Pros sind NFTs ein Spaß. Amateure: Finger weg!

Für die Kunst sind NFTs in vielerlei Hinsicht interessant. Das Ausstellungsgeschehen hat sich von Galerien auf das Handydisplay ausgeweitet. Warum also nicht gleich dort etwas probieren?

Der Kunsthandel machte die Atelierware zum Spekulationsobjekt. Weniger die von Kunsthistorikern festgestellte ideelle Qualität bestimmt den Wert als der auf Auktionen erzielte Preis. So bildet der NFT-Hype

nur ab, was vorher bereits das Image zeitgenössischer Kunst prägte. Es geht nicht um Genuss und Geist oder die Veränderung der Gesellschaft, sondern um Rendite.

Die Blockchain-Technik monetarisiert Bereiche, die dem Markt bisher schwer zugänglich waren. Bereits die experimentellen Künstlerinnen und Künstler der 1960erJahre zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie leicht reproduzierbare Werke, Performances oder Konzepte einmalig machen können. Wer was besitzt und mit dem Werk machen darf, wurde in Kaufverträgen geregelt. Die Kunst wanderte damals in eine immaterielle Sphäre, wo nicht das ausgeführte Werk selbst im Vordergrund steht, sondern Urheber- und Nutzungsrechte.

NFTs sind wertvoll, weil sie mit dem Wandel der Medien Schritt halten. Früher ging es um Gemälde und Skulpturen, heute oft auch um Kunstwerke im Netz, die für jeden abruf- und kopierbar sind. Die neue Technik brachte den Durchbruch, denn mittels NFT werden nun auch flüchtige und virtuelle Werke einzigartig. Und nur das zählt für einen Sammler.

Als das Nerd-Thema vor etwa einem Jahr den Mainstream erreichte, stiegen Luxusmarken und Kunstmuseen ein. Die Speicher alter Kunst sehen darin eine Möglichkeit, ihr verstaubtes Image zu korrigieren. Laut Gesetz sind österreichische Bundesmuseen zwar Forschungseinrichtungen. Die wirtschaftsliberale Kulturpolitik nötigt sie allerdings, wie Unternehmen zu agieren.

Vermietungen, Shops und Charity-Dinner bessern die Budgets von Häusern wie der Albertina oder dem Kunsthistorischen auf. Auch das Belvedere ist auf zusätzliche Einnahmen angewiesen. Vor der CoronaKrise erwirtschaftete das Haus 80 Prozent der Geldmittel selbst. Die Österreichische Galerie lebt von Touristen, die vor allem ein Bild sehen wollen, Gustav Klimts „Kuss“ (1907/08).

Will haben

Das Museum überlegte, wie es das Thema NFT aufgreifen kann. Belvedere-Direktorin Stella Rollig und der kaufmännische Direktor Wolfgang Bergmann dachten anfangs nicht an das große Geld, sondern an eine PR-Aktion. Die Zeitungen waren voller Geschichte über Auktionsrekorde mit NFTs, da wollte man auch etwas „minten“, wie die Einführung eines NFTs auf der Blockchain genannt wird.

Schließlich kam das Museum auf die Idee, den „Kuss“ in die BlockchainÄra zu beamen. Am romantischen Valentinstag startete das Belvedere eine Hommage an das zärtliche Sujet: ein Foto von Klimts „Kuss“, in 10.000 Schnipsel aufgeteilt, jedes davon mit einem NFT verknüpft. Stolzer Stückpreis: 1850 Euro.

Zuerst war die Aktion ein Erfolg. Von den 10.000 Klimt-NFTs wurde rund ein Viertel verkauft. Manche erstanden einen NFT, andere mehrere. Das Museum nahm auf einen Schlag 4,4 Millionen Euro ein, ein in der Höhe nicht kommunizierter Teil ging an die Firma artèQ, die sich um die technische Einführung der NFTs kümmerte. Als An-

reiz hatte der Käufer die Möglichkeit, eine Widmung zu verschicken. Wie einen Blumenstrauß mit einem Liebesgedicht.

Anfang Mai sackten die Preise ab, und die Stimmung kippte. In einem OnlineEvent versuchte Co-Direktor Bergmann zu beruhigen. In einem ruckelnden Stream stellte er den Fans die Initiativen vor, die das Belvedere unternimmt, um den Verkauf anzukurbeln.

Er werde an Messen und Konferenzen teilnehmen, um den NFT-„Kuss“ bekannt zu machen. Während eines Auftritts in New York werde das Bild auf den Billboards des Times Square beworben. Und hey, kommen nicht jedes Jahr eine Million Leute ins Belvedere? Da werde wohl der eine oder andere zuschlagen.

Die vertraglich zugesicherten Nutzungsmöglichkeiten sind überschaubar. Der Käufer kann sein Schnipsel ausdrucken oder als Bildschirmhintergrund benutzen. Bergmann versprach weitere Anwendungen: bedruckte Hauspatschen und Whiskey-Gläser. Darüber hinaus kündigte er ein Ambassador-Programm an. Klimt-Botschafter werben potenzielle Käufer an und bekommen dafür eine Prämie.

Am 24. Mai berichtete das Magazin Newsweek vom „Kuss“-Sturz. Das Stück tauchte auf OpenSea inzwischen um 0,11 der Kryptowährung Ether auf, was, Stand 9. Juni, 168 Euro entspricht. OpenSea ist eine mit E-Bay vergleichbare Plattform für NFTs, auf der der „Kuss“ versteigert wird. Diese weltweit gelesene Nachricht bringt die Belvedere-Leitung nicht aus der Fassung.

Etherware

„Unsere NFTs sind schon jetzt ein außerordentlicher Erfolg. Wir stehen daher unter keinem Verkaufsdruck“, sagt Bergmann. Die Preisschwankungen seien im Rahmen einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzmarktkrise zu sehen. Aktuell stehe der (niedrigste) Bodenpreis zudem wieder bei 0,6 Ether: „Die Blockchain ist eine bahnbrechende Technologie. NFTs werden daher weiter an Bedeutung gewinnen.“ Andere Museen bestärken den Optimismus. So will das Leopold Museum eine Reihe von Schiele-NFTs auf den Markt bringen.

Ähnlich wie auf dem analogen Kunstmarkt verschwimmen die Grenzen zwischen Kunstliebe und Raffgier. Käufer sind Samm-

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MATTHIAS DUSINI
FOTO: ARTÈQ
Einer von 10.000 Klimt-NFTs. Der Käufer kann ihn etwa auf Hauspatschen drucken

ler und Investoren, Mäzene und Spekulanten. Auch der NFT-Hype triggert Gier. Die Zeitungen waren im März voll mit Berichten über einen NFT, Mike Winkelmanns „Everydays: the First 5000 Days“, der um um 69 Millionen Dollar verkauft wurde. Dann platzte die Blase. „Die Idee ist lieb, aber die Ausführung eine Katastrophe“, schrieb eine Userin Ende Mai auf Discord, einem populären Chat-Tool. Aber wusste sie tatsächlich, was sie da kaufte? Basiert die Enttäuschung auf einer Täuschung?

NFTs sind vor allem ein Fest für Juristen, denn wie bei der Konzeptkunst steht das Wesentliche in den (digitalen) Verträgen. Die Meinungen der Fachleute weichen stark voneinander ab, etwa was das Rücktrittsrecht betrifft. Das Fern- und Auswärtsgeschäfte-Gesetz (FAGG) sieht vor, dass Käufer ein Rücktrittsrecht haben, wenn Verträge außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossen werden.

Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) für den „Kuss“ („The Kiss“ NFT) hatten in der Urversion schlicht keine Information zum Rücktrittsrecht. Erst auf Recherchen und Nachfragen des Standard hin hat das Belvedere die AGB in Punkt 5 ergänzt und das Rücktrittsrecht ausgeschlossen, was der Verein für Konsumenteninformation (VKI) kritisiert: „Hier kann sich eine juristische Prüfung lohnen, da das Gesetz grundsätzlich Vorrang hat“, sagt VKIExperte Bernd Lausecker. „Möglicherweise besteht auch eine verlängerte Rücktrittsmöglichkeit für den Verbraucher.“

Dies sieht auch Rechtsanwalt Arthur Stadler so, der zum Thema NFT und Rücktrittsrecht publiziert hat. „Selbst wenn man davon ausgeht, dass Verbrauchern kein Rücktrittsrecht zustünde, so müssen sie darüber informiert und aufgeklärt werden.“ Einer Rückabwicklung des Geschäfts gibt Stadler daher vor Gericht gute Chancen.

Nitsch und Kitsch

All jene, die sich gelegt fühlen, könnten davon Gebrauch machen. Vielleicht nur eine Handvoll, möglicherweise aber auch Hunderte. Wie unbedarft viele vorgingen, zeigt ein Blick auf die Zahlungsabwicklung. Wenige zahlten mit der in der NFT-Welt üblichen Kryptowährung. Die meisten zückten die gute alte Kreditkarte. „Wir wollten die Leute nicht zur Kryptowährung zwingen“, sagt Bergmann.

Anruf bei Bernhard Hainz, Rechtsanwalt und Kunstsammler, der das Belvedere in der Sache juristisch betreut. Er kaufte selbst fünf Stück, aus Interesse am Neuen, wie er sagt. In seinen Augen ist der NFT so etwas wie eine elektronische Postkarte, auch einer Briefmarke vergleichbar, die man in der vagen Hoffnung sammelt, dass sie vielleicht einmal besonders gesucht sein könnte: „Der NFT ist ein digitales Novum in der Kunstwelt, aber sicher kein klassisches Kunstwerk wie ein Nitsch, bei dem ich einigermaßen sicher sein kann, dass er im Wert steigt.“

Alles nur ein Spaß? Nach den Motiven der Käufer gefragt, lässt Hainz alle Möglichkeiten offen. Für manche war der NFT eine Art Charity-Aktion, um das Belvedere in der Corona-Krise zu unterstützen. Andere betrachteten ihn als MerchandisingArtikel. Natürlich gebe es auch welche, die Geld anlegten: „Das liegt im Auge des Betrachters.“ Juristisch gesehen ist die Sache für ihn eindeutiger. Da verweist Hainz auf Fortsetzung nächste Seite

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FOTO: OURIEL MORGENSZTERN BELVEDERE VIENNA
Am Valentinstag präsentierten die Belvedere Chefs Stella Rollig und Wolfgang Bergmann den „Kiss“-NFT

eine Ausnahme im Fern- und Auswärtsgeschäfte-Gesetz, in der es um „volatile Werte“ geht. Wer etwa eine Aktie oder eine Kryptowährung kauft, kann nicht nach 14 Tagen sagen: Passt mir nicht. Auch der Wert eines NFTs kann sich innerhalb von Stunden ändern, daher gehört es in dieselbe Kategorie.

Bei den Klimt-NFTs handelt es sich also nicht um einen Seidenschal, eine Grafik oder eine Briefmarke, sondern um ein digitales Objekt mit Spekulationspotenzial, dessen Kauf nicht rückgängig gemacht werden kann. Man könnte auch sagen: Willkommen im Anarchokapitalismus!

Das Belvedere experimentiert auf einem dubiosen Marktfeld. Die Pseudonymität ermöglicht Geldwäsche. Außerdem haben Blockchains eine katastrophale Ökobilanz, da der Betrieb der dezentralen Datenbanken gigantisch viel Energie kostet. Und er unterliegt heftigen Wertschwankungen.

Nicht nur der „Kuss“ verliert an Anziehungskraft. Parallel zum Absturz der Kryptowährungen – Bitcoin fiel dieser Tage vom Höchststand 69.000 Dollar im vergangenen November auf 22.000 Dollar – platzte auch die NFT-Blase. Die Verkaufszahlen gingen seit vergangenem September laut Wall Street Journal um 92 Prozent zurück.

Für die Generation Start-up sind NFTs ein Glücksspiel, mit dem sich auf Knopfdruck ein Vermögen gewinnen oder verlieren lässt. Ein Investor wollte etwa Mitte April den ersten Tweet als NFT versteigern, den Twitter-Gründer Jack Dorsey jemals abgesetzt hatte. Der Mann hatte den NFT im letzten Jahr um 2,9 Millionen Dollar gekauft und bot den Meilenstein der Internetära um 48 Millionen Dollar an. Die Gebote blieben bei 300 Dollar hängen.

Das Geschäftsmodell gerät auch von anderer Seite unter Druck. In der Welt der Kryptowährungen treiben sich nicht nur idealistische Freibeuter herum, die vom Ende staatlicher Bevormundung träumen, sondern auch kriminelle Piraten. So berichtete die New York Times erst unlängst von einem Sammler, der auf OpenSea ein Kunstwerk um eine Million angeboten hatte.

Plötzlich bekam der US-Amerikaner die Nachricht, dass sein Affencomic, es gehört zur Serie „Bored Ape Yacht Club“, um 300.000 Dollar verkauft wurde. Ein Betrü-

ger hatte einen Systemfehler genutzt und so den Affen weit unter Wert gekauft.

Gelangweilte Affen

Die Krypto-Szene ist ein digitaler Wilder Westen, in dem jede Woche neue Betrügereien ans Licht kommen. Hier werden Fonds gegründet und durch viel PR aufgeblasen, um Investoren anzulocken. Oft verschwinden diese Geldbestände aber wieder in der Pseudonymität des Internets.

Partnerin des Belvedere ist eine Softwarefirma namens Digital First, die sich mit Kryptowährung beschäftigt. Sie hat ihren Sitz in einem kaiserlichen Wiener Palais in zentraler Lage und teilt ihre Büros mit dem Unternehmen Donau-Finanz. Eine Flügeltür geht auf. Managerin Katharina Kraus und ihr Kollege Farbod Sadeghian führen in einen Spiegelsaal. Das barocke Parkett knirscht, auf dem Screen wartet eine „Kiss“-Präsentation.

„Das Hauptproblem sind die Erwartungen“, sagt Sadeghian und führt einige Beispiele vor. 300 Prozent plus steht bei einem NFT, bei einem anderen, Ausrufpreis ein Euro, 260.000 Prozent plus. Schon hat Sadeghian bei einem Angebot auf „Buy!“ gedrückt, um zu zeigen, wie’s geht. Allmählich füllt sich der Saal mit PR-Weihrauch. Mit Klimt habe man sich bewusst in ein ruhigeres Fahrwasser begeben, sagt der Manager: „Das ist eine Liebhaberei, nichts, was

Die „Bored Apes“ gehören zu den bekanntesten NFTs. Derzeitiger Bodenpreis: 85.000 Dollar

man verkauft.“ Es gehe um ewige Werte, nicht um den Augenblick. Sadeghian und Kraus entwickelten 2021 das NFT-Auktionshaus artèQ. Auf der Website wird ein Dutzend künstlerisch gestalteter NFTs angeboten, für die sich bisher aber kein Käufer interessierte. „‚Wir haben die Auktionen noch nicht gestartet, im Moment sind wir beim Sammeln“, sagt Kraus. Die technische Entwicklung des „Kuss“ war bisher das wichtigste Projekt von artèQ, weitere Museumsaufträge stünden in der Pipeline.

Heiße Cyberluft

Die Anlageberater sind trotz gegenteiliger Fakten davon überzeugt, dass der NFT „ausgezeichnet performen“ wird. Steil rauf und runter, das sei der Markt. Aber nicht bei Klimt. Hier stehe die Beziehung zum Kunstwerk im Vordergrund. „Man will Teil einer Ikone sein“, sagt Kraus. Die Exklusivität begründet die Beraterin damit, dass nur das Belvedere berechtigt sei, NFTs aus dem Original zu machen.

Stimmt das? Mit dem Gemälde selbst hat der NFT nur auf einer sehr abstrakten Ebene zu tun, denn die Einträge verweisen nicht auf das Original, sondern auf eines der 10.000 Teile der digitalen Reproduktion. Und die Urheber- und Nutzungsrechte am „Kuss“ sind längst erloschen. „Die Bilder von Klimt sind gemeinfreie Werke“, sagt Wolfgang Mattiasch von der Verwertungsgesellschaft Bildrecht.

Das Museum besitzt zwar den Klimt in Öl, aber keine darüber hinausgehenden Rechte. Es könnte unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte also im Prinzip jeder den „Kuss“ fotografieren, auf T-Shirts drucken – oder auch 10.000 NFTs zum Verkauf anbieten. Anders ausgedrückt: Es wurde etwas als einmalig angeboten, das gar keine Rarität ist. Ließen sich Käufer vom seriösen Image eines Bundesmuseums verleiten, um ein kleines Vermögen für ein Sackerl heißer Luft auszugeben?

Das Belvedere hat den Auftrag, die Bedeutung österreichischer Kunst zu vermitteln. Stattdessen begibt sich das staatliche Museum in einen Markt, der einem Haifischbecken gleicht. In dem nicht Kunst-, sondern Zockerqualitäten gefragt sind. Der Kuss-NFT ist weniger ein Fall für die Kunstkritik – als vielmehr für den Konsumentenschutz. F

„Jurassic World: Ein neues Zeitalter“ – Aussterben in der eigenen Filmreihe

FILMKRITIK:

SABINA ZEITHAMMER

Sie brüten auf Hochhäusern, trampeln durch Wälder und gehen am Campingplatz auf Nahrungssuche: Die Dinosaurier sind wieder los. Am Ende von „Jurassic World: Das gefallene Königreich“ (2018) ließ das Mädchen Maisie die gefangenen Urzeittiere frei. In der Fortsetzung, dem sechsten Film im „Jurassic“-Universum, das Steven Spielberg 1993 begründete, haben sie sich ausgebreitet.

Die Menschheit versucht sie auszubeuten oder zu schützen, mittendrin die Hauptfiguren der zweiten Trilogie, Owen und Claire. Teenager Maisie,

ihre Adoptivtochter, weckt das Interesse eines Millionärs, der in Italien ein Saurier-Schutzgebiet aufgebaut hat. In Wahrheit aber will er die Weltherrschaft, was drei alte Bekannte aus dem allerersten „Jurassic Park“ auf den Plan ruft.

Doch, ach, die Wiedersehensfreude mit Laura Dern, Sam Neill und Jeff Goldblum ist kurz, sie können in Colin Trevorrows missglücktem „Jurassic World: Ein neues Zeitalter“ nichts ausrichten. Die Figuren stolpern durch einen verworrenen Plot, das Publikum kämpft mit Konfusion von Ort, Zeit und Logik: Wie kam Figur X so schnell hierher? Wie hat sie Figur Y gefunden? Warum steht neben

beiden immer ein hungriger Dinosaurier? Und dahinter ein noch größerer, der alle zusammen fressen will?

Verfolgungsjagden per Motorrad, Auto oder Flugzeug wechseln sich im Minutentakt ab. Wirklich schmerz-

lich ist der Umgang mit den Urzeitwesen: Einst waren sie, eingebettet in eine zauberhaft-gruselige Kinofantasie, „echte“ Tiere. Nun sind sie Zweckobjekte: Kampfmaschinen, Geisterbahnattraktionen, vermenschlichte Pathosträger. So ist es den Dinos also passiert, dass sie als „reale“ Wesen in ihrer eigenen Filmreihe ausgestorben sind.

Fans packt Nostalgie, aber nicht aus den von Trevorrow intendierten Gründen. Früher war halt alles besser: Wie wurde jeder Dino-Auftritt ausgekostet! Was war eine Lache da noch wert! Ein Wasserglas! Ein Wackelpudding! F

Verfolgungsjagden als Hauptzutat: „James Bond“ mit Dinos, sozusagen

Bereits im Kino (OF 3D im Artis und Haydn)

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FOTO: 2022 UNIVERSAL STUDIOS AND AMBLIN ENTERTAINMENT
Fortsetzung von Seite 25
ABBILDUNG: BORED APE YACHT CLUB

Pesls Festwochen-Tagebuch: Notizen eines Festivalbesuchers im Zahlenrausch (5)

Sie stahlen sogar einem Ziegenbock die Show

Martin Pesl sieht sich fast jede Vorstellung der Wiener Festwochen an

Montag, 6. Juni: Liebes Tagebuch! Das war heute Tanz nach meinem Geschmack, entwickelt von der Choreografin Lia Rodrigues mit Menschen in einer Favela von Rio. „Encantado“ heißt das Stück, in dem zuerst in stiller Konzentration ein riesiger Fleckerlteppich ausgerollt und dann zunehmend ekstatisch auf, mit und unter dessen Einzelteilen getanzt wird. Enchanté!

Dienstag, 7. Juni: Das Klangforum präsentierte das Konzert „Kraanerg“ mit Musik des „stochastischen Komponisten“ Iannis Xenakis. Die nicht wie Festwochen-Publikum aussehenden Menschen im Saal ließen mich an den Autor Neçati Öziri denken, der vergangene Festwoche den Ausdruck „People of Opera“ für gewisse Wagnerianer-Schichten verwendete. Hier konnte ich die People of Klangforum beobachten: alle 40 bis maximal 65, in perfekter Eleganz gekleidet, ohne over-

dressed zu sein, und wenn jemand zu früh klatscht, machen alle „Schhh!“. Das Konzert selbst? Ja, war cool.

Mittwoch, 8. Juni: Der Monolog „Die Enzyklopädie des Schmerzes, Band I: Das bleibt unter uns“ über Traumata des Faschismus in Spanien verlor mich leider binnen zweier Minuten bedeutungsschwangerer Larmoyanz. Will nicht wissen, wie viele Bände da noch folgen.

Donnerstag, 9. Juni: Auf der Baumgartner Höhe tanzen sie „Wittgensteins Neffe“ von Thomas Bernhard. Nein, sie sind nicht verrückt geworden, sie präsentieren im Jugendstiltheater einen Musikabend mit Experimentalsängerin Sofia Jernberg: „Hymns and Laments One“. Alle Instrumente werden anders bespielt als ursprünglich vorgesehen, auch Jernbergs Stimme macht Dinge, die eigentlich nicht möglich sind. Wenn schon jammern, dann interessant. Episode „Two“ darf kommen.

Freitag, 10. Juni: Noch so ein musikalischer Mathematiker. „1, 2, 3, 4/1, 2, 3, 4, 5, 6“, beginnt das Libretto von Philip Glass’ „Einstein on the Beach“. Und wie großartig! Susanne Kennedy und Markus Selg entwarfen für die Wie-

Bock auf Oper: Festivalhighlight „Einstein on the

deraufführung der Oper aus dem Jahr 1976 eine begehbare Installation. Ich saß oder lag auf der Bühne und beobachtete, wie die üppig bebaute Drehscheibe an mir vorüberzog, kichernde Zuschauerinnen in künstliche Höhlen krochen, nervöse Techniker vor den Tücken der Technik warnten und stoische Performer gar einem Ziegenbock die Show stahlen. Zu grandioser Musik.

Samstag, 11. Juni: Die FestwochenArithmetik geht weiter, heute mit Jahreszahl im Titel: „Joy 2022“ von Michiel Vandevelde zählt (!) aber nicht zu meinen Festivalhighlights. Allzu brav zelebrierten sexpositive Menschen ihre positive Haltung zum Sex.

Maria Happel über Michael Maertens

Was ist echt, was Show? „Ultraficción Nr. 1“ im Kurpark Oberlaa

Sonntag, 12. Juni: Auf den achtbaren Sex folgte Aufführung sieben dieser fünften Festwoche: „Ultraficción Nr. 1“ (die Reihe hat vier Teile). Etwa 100 Leute saßen auf einer Wiese und lasen auf einer Leinwand Text über 100 Leute auf einer Wiese. In der – vermeintlichen – Realität tanzten die Bäume und stachen die Gelsen. So wurden wir selbst Fiktion, nicht wissend, was echt war und was Show. Gute Nacht, Tagebuch. Vielleicht träume ich ja die Lottozahlen. F

mit 20% Ermäßigung auf reguläre Kartenpreise Konzertsaal,

FEUILLETON FALTER 24/22 27 FOTO: CATHARINA KLEBER
Enchanté! Brasilianischer Tanz bei „Encantado“ von Lia Rodrigues Beach“
FOTO: SAMMI LANDWEER FOTO: INGO HOEHN FOTO: INES BACHER
www.theaterreichenau.at
kennen uns in- und auswendig
Wir
ELENA UHLIG & FRITZ KARL – Zyklus KAMMERSTÜCKE ABOS
2022 —23
Bühne &
www.muth.at
Programm
Konzertsaal der Wiener Sängerknaben KLASSIK KLASSIK PLUS OPER & MUSIKTHEATER KAMMERSTÜCKE JUNGES MuTh © Michael Kammeter

RÜCKBLICK: KLAUS NÜCHTERN

Am Vormittag des 24. Juni 1922, einem Samstag, macht sich der erst zu Beginn des Jahres zum Außenminister bestellte Walther Rathenau im offenen Wagen auf den Weg von seiner Villa in Grunewald ins Äußere Amt. Auf diesen Moment haben die drei jungen Männer im noblen Mercedes-Cabriolet, das sie sich für diesen Anlass organisierten, schon gewartet. Ausstaffiert mit dunklen Mänteln und Fliegerkappen nehmen der Fahrer, Ernst Werner Techow, 20, Erwin Kern, 23, und Hermann Fischer, 26, die Verfolgung auf und setzen zum Überholen an. Während Fischer eine Handgranate in den Fonds des Ministerwagens wirft, gibt Kern eine Salve von Schüssen aus seiner Maschinenpistole ab. Der Chauffeur denkt bei dem Knall zunächst an einen Reifenplatzer und hält an. Vom Straßenrand läuft eine Frau auf den Wagen zu, eine Krankenschwester, die versucht, dem mehrfach Getroffenen erste Hilfe zu leisten, ehe dieser nach wenigen Minuten in ihren Armen stirbt.

Die Ermordung Rathenaus ist der vorläufige Höhepunkt einer Reihe von Attentaten, die die Weimarer Republik erschüttern. Allein für die Zeit zwischen 1919 und 1922 listet die Bundeszentrale für politische Bildung 376 politische Morde auf und ordnet ganze 354 davon der Rechten zu. Nur sechs Wochen nach Ausrufung der Republik werden am 15. Jänner 1919 die Spartakisten und KPD-Mitbegründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Freikorpsangehörigen umgebracht. Der Auftraggeber, Generalstabsoffizier Waldemar Papst, wird nie zur Rechenschaft gezogen und es später in der austrofaschistischen Heimwehr zum Stabsoffizier bringen.

Am 21. Februar desselben Jahres wird Kurt Eisner, Ministerpräsident des Freistaates Bayern vom Österreicher Anton Graf von Arco auf Valley erschossen. In den folgenden Monaten fallen der KPD-Vorsitzende Leo Jogiches und der Anarchist Gustav Landauer Attentaten von Freikorpsmännern zum Opfer. Im August 1921 wird der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der sich bereits 1916 für einen „Verständigungsfrieden“ eingesetzt hat, von Angehörigen der Organisation Consul im Schwarzwald erschossen. Als Erzbergers Parteifreund Carl Diez, der ihn begleitet hatte, blutüberströmt zu seiner Pension zurückkehrte, soll die Wirtin ungerührt angemerkt haben: „Wie kann man auch mit Erzberger spazieren gehen.“

Das Attentat auf Erzberger, einem Lieblingsfeind der Deutschnationalen, bildet den Auftakt zu der literarischen Reportage „Berlin, 24. Juni 1922“, in der sich der langjährige Spiegel-Reporter Thomas Hüetlin mit dem Rathenau-Mord und dem Beginn des rechten Terrors in Deutschland befasst. Die Täter stammen in beiden Fällen aus dem gleichen Stall: der besagten Organisation Consul, die ihrerseits aus der Marine-Brigade Ehrhardt hervorging, einem 1919 gegründeten Freikorps, das dem deutschen Histo-

Ein „Jesus im Frack“, der den Rechten ein Dorn im Auge war

Am 24. Juni 1922 wurde Walther Rathenau von Freikorps-Angehörigen ermordet. Das Attentat galt der Demokratie und war das Vorspiel zum Terror der Nazis

riker Heinrich August Winkler zufolge „die schlagkräftigste militärische Einheit“ dieser Zeit war. Geleitet wurde es vom berüchtigten Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, der sich als junger Seekadett am ersten Genozid des 20. Jahrhunderts beteiligt hatte, der „Niederschlagung des Hereroaufstandes“ in Deutsch-Südwestafrika.

Getrieben von einem abgrundtiefen Hass auf die junge Republik waren Ehrhardt und seine Mannen im März 1920 federführend am Kapp-LüttwitzPutsch beteiligt. Strafrechtlicher Verfolgung und einer kurzen Haft ent-

Walther Rathenau war der Sohn des Industriellen und AEG-Gründers Emil Rathenau. Als Politiker, Redner und Publizist war er die vielleicht charismatischste Gestalt der jungen Weimarer Republik und gleichermaßen bewundert wie verhasst

zog sich Ehrhardt durch Flucht. Sein Abstieg nach einem kurzen Flirt mit der SA verdankte sich nicht zuletzt dem Umstand, dass Ehrhardt Hitler schlicht für einen Idioten hielt. Nach seiner Heirat mit Viktoria Prinzessin zu Hohenlohe-Öhringen übersiedelte er nach Österreich, wurde 1948 österreichischer Staatsbürger und verstarb 1971 89-jährig auf Schloss Brunn am Walde im Waldviertel.

Für die rechten Putschisten, die den „Schandfrieden“ von Versailles als tiefe Demütigung empfanden, war Walther Rathenau die Verkörperung all dessen,

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FOTO: ULLSTEIN BILD/PICTUREDESK.COM

was sie verachteten. „Das Blut dieses Mannes soll unversöhnlich trennen, was auf ewig getrennt werden muss“, bekannte dessen Mörder Erwin Kern in manichäischem Furor. Keine Frage, hier wollte jemand klare Verhältnisse schaffen und musste so auch notgedrungen von allen Ambivalenzen absehen.

Tatsächlich war Rathenau eine zutiefst widersprüchliche Figur: ein Repräsentant der Weimarer Republik und doch ein Kind des Wilhelminismus; ein Industrieller von ausgeprägter künstlerischer Sensibilität; ein assimilierter Jude, der sich indes zu konvertieren weigerte und seinen jüdischen Landsleuten in seiner Schrift „Höre, Israel!“ (1897) patzig beschied, dass Gott, „der Herr des Zornes und des Sieges“, an einem „Volk von Krämern und Maklern“ längst jegliches Interesse verloren habe.

In „Die Geschichte eines Deutschen“, den bereits 1939 im englischen Exil verfassten, aber erst posthum veröffentlichten Erinnerungen des Juristen und Publizisten Sebastian Haffner (1907–1999), erscheint Rathenau als überragende Lichtgestalt, als AntiHitler schlechthin und Inbegriff eines Charismatikers, in dessen Reden man „jenseits des Inhalts, einen […] Prophetenton“ vernahm, so wie auch Rathenaus Bücher „zugleich desillusionierend und aufrüttelnd, zugleich skeptisch und gläubig“ seien.

Nicht alle fanden diese mystischmythische Melange so bekömmlich wie Haffner. In Musils „Mann ohne Eigenschaften“ tritt ein berühmter, bedeutender und allseits bewunderter Mann auf. Nur Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, kann diesen Dr. Arnheim „nicht ausstehen, schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade unerträglich.“ Mit Arnheim aber war niemand anderer gemeint als Walther Rathenau.

Nicht weniger ätzend als Musil, bloß ohne Umweg über die Fiktion, urteilte Kurt Tucholsky. „Wenn in Deutschland die Kanalisationsröhren polizeilicherseits erweitert werden, wenn der Kirchenaustritt erschwert oder der Drill erleichtert wird, so schreibt Walther Rathenau dazu ein Buch“, leitete er seine im Mai 1919 in der Weltbühne erschienene Polemik „Der Schnellmaler“ ein und empfahl, „das Opus ungelesen still beiseite zu legen“. Mit verboser Verve verhöhnt er Rathenaus „stete Bereitschaft, für alles, aber auch für alles einzustehen, und morgen nicht mehr zu wissen, was man gestern predigte“, und kreidet Rathenau insbesondere die Charakterlosigkeit an, seine Ansichten zum Krieg nach der jeweils neuesten Melodie geändert zu haben.

An öffentlichem und medialem Hohn über den „Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratstellen und Philosoph von kommenden Dingen“, der als „Aufsichtsrathenau“ oder „Jesus im Frack“ verspottet wird, herrschte kein Mangel. Sehr schnell aber schlug die Häme in schiere Hetze um. Nachdem Rathenau als deutscher Außenminister

mit seinem Visavis Georgi Tschitscherin im April 1922 den mythenumrankten Vertrag von Rapallo unterzeichnet hatte, der eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland in die Wege leitete, zog Wilhelm Henning, Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei, in einem Artikel in der Konservativen Monatsschrift vom Leder: „Die deutsche Ehre ist keine Schacherware für internationale Judenhände.“

Der antisemitische Schmähvers, der über Rathenau im Umlauf war, ist so ekelhaft, dass man ihn gar nicht zitieren mag. Menschenverachtende Launigkeit und nekro-erotischer Frohsinn aber war eine Spezialität der Freikorpsmannen. Manfred von Killinger, der – nomen est omen – den Auftrag zur Ermordung Erzbergers erteilt hatte, veröffentlichte 1934 seine Erinnerungen unter dem Titel „Ernstes und Heiteres aus dem Putschleben“. Und für den damals gerade einmal 18-jährigen Ernst von Salomon war der Angriff auf polnische Stellungen in Oberschlesien im Frühjahr 1921 schlicht „der tollste und beschwingteste, den ich je erlebt“.

Eine „Art Woodstock mit Maschinengewehren“ sei es gewesen, schreibt der keineswegs immer stil- und geschmackssichere Thomas Hüetlin, der sein Buch über den Mord an Rathenau als eine Art Doppelporträt anlegt und sich Ernst von Salomon als Vertreter der Täterseite auserkoren hat, obwohl er diesen selbst für einen „Attentäter zweiter Klasse“ hält. Vielleicht verdankt sich diese etwas mysteriöse Entscheidung dem Umstand, dass der aus Kiel stammende von Salomon

Thomas Hüetlin: Berlin, 24. Juni 1922: Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland. Kiepenheuer & Witsch, 300 S., € 24,70

kein schlichter Schlagetot, sondern ein Mann mit künstlerischen Ambitionen und ursprünglich selbst von Rathenau fasziniert war.

Während sich die eigentlichen Mörder durch Suizid und Death by Cop der Verhaftung entziehen, wird von Salomon wegen Beihilfe zum Mord an Rathenau und einem Fememordversuch an einem „Verräter“ aus der Organisation Consul zu insgesamt sieben Jahren Haft verurteilt, allerdings aufgrund eines Gnadenaktes von Reichspräsident Hindenburg bereits 1927 entlassen. Er heiratet eine

Der Friedensvertrag von Versailles, den Deutschland am 28. Juni 1919 nur unter Protest unterzeichnete, wurde der harten Bedingungen wegen von vielen Deutschen als Demütigung, als „Schand-“ und „Diktatfrieden“ empfunden. Die Ressentiments gegen Versailles trugen viel zur Delegitimierung der jungen Republik und zur Radikalisierung der anti-demokratischen Rechten bei

jüdische Frau, verfasst Drehbücher für Nazi-Filme, publiziert auf Anregung seines Freundes Ernst Rowohlt muntere autobiografische Romane, die sich auch nach dem Krieg noch gut verkaufen und in denen er keinerlei Reue zeigt. Der im Exil lebende Schriftsteller Carl Zuckmayer bescheinigte ihm in einem Bericht für das Office of Strategic Services (OSS) des US-Kriegsministeriums aus dem Jahr 1943/44 ein „menschliches Niveau“, das „zu gut“ gewesen wäre, „um sich ins Nazitum abbiegen zu lassen“. Knapp vorbei ist auch daneben. F

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FOTO: ULLSTEIN BILD/PICTUREDESK.COM

Neue Platten

bis heute präsent sind

Mary Beard ist in Großbritannien eine Institution. Die mittlerweile auch im deutschen Sprachraum bekannte Professorin für Alte Geschichte in Cambridge hat sich und der Antike durch ihre effektvoll geschriebenen Bücher „SPQR. Eine Geschichte des alten Rom“ und „Pompej. Das Leben in einer römischen Stadt“ ein großes Publikum erobert. Beard ist auch deshalb bekannt, weil sie sich mittels Vorträgen und Zeitungsartikeln in aktuel-

Mary Beard: Zwölf Cäsaren. Gesichter der Macht von der Antike bis in die Moderne.

Propyläen, 524 S., € 37,95

le Debatten einmischt, wie das auch auf Deutsch veröffentlichte Manifest „Frauen und Macht“ beweist: Quer durch die Zeiten führt sie da vor, wie Frauen in der Politik zum Schweigen gebracht wurden.

„Zwölf Cäsaren“ beweist einmal mehr das enorme Wissen der Autorin quer durch die Geschichte. Es glänzt mit Anekdotenreichtum und überraschenden Zeitsprüngen. Auch wenn der Titel einen Überblick über die Kaiserzeit römischer Geschichte vermuten lässt, folgt es anderen Spuren. Das Buch ist der reichhaltigen Rezeption der Antike in der Neuzeit gewidmet: dem Nachleben von Statuen, dem Kreieren von Bildnissen mit antiken Motiven, die die Eliten zum Sammeln, die Künstler zu Nachschöpfungen und die Archäologen zum Graben inspiriert haben. Zu einem ordentlichen englischen Landsitz gehörte einst ein Antikenensemble. Frauen trugen Medaillons mit Motiven aus der römischen Mythologie. Englische Könige bekamen Denkmäler im Format antiker Kaiser. Auf diesen oder jenen Edelmann wartete gar ein römischer Sarkophag. Berühmte Maler wie Tizian porträtierten die bekanntesten Kaiser und widmeten sich im Großformat den spektakulären Morden, von denen es im Alten Rom reichlich gab.

Beard verfolgt die Spuren der Cäsaren bis in die Gegenwart. So gilt der Lorbeerkranz noch immer als Erfolgssymbol. Auch wenn uns diese Welt heute fremder erscheinen mag: Der reich bebilderte Band mit Mary Beard als Geschichte- und Kunstvermittlerin ist nicht nur Antike-Fans zu empfehlen.

ALFRED PFOSER

Pop

Laundromat Chicks:

Trouble

Die Wahrscheinlichkeit, dass heute ein junger Mensch auf den genial-verzärtelten Früh-80er-Pop von Bands wie Orange Juice und Aztec Camera stößt und sodann eigene Songs in diesem Stil schreibt, ist verschwindend gering. Und doch hat Tobias Hammermüller, 18-jähriger Maturant und Mastermind von Laundromat Chicks, genau das getan. Die Stimmung ist traurig bis niedergeschlagen, die Melodiosität und die zum Tanzen einladenden Grooves gleichen das aus. Ein bittersüßes Patt. (Siluh) SF

Pop

Raison: So viele Leute wie möglich Schorsch Kamerun ist bekannt für produktive Quengelei und kreatives Krachschlägertum. In seinem neuen Trio mit Mense Reents und PC Nackt wählt der 59-jährige Hamburger Punksänger (Die Goldenen Zitronen) und Theatermacher eine andere Gangart: Vorrangig durch Klavier und atmosphärische Elektronik begleitet, flüstert er dem Gegenüber eher zart ins Ohr als es scharf anzufahren. Politisches Chanson trifft punkiges Kunstlied trifft Avantgardepop – einnehmend! (Buback) GS

Jazz

Alexander Hawkins : Break a Vase Fünf Musiker stehen dem britischen Pianisten zur Seite –darunter Saxofonist Shabaka Hutchings –, nicht immer sind sie alle auf einmal zu hören. Zwischen orchestral anmutenden, perkussionssatten Arrangements, Solo-Interventionen am elektronisch verfremdeten Klavier und erratisch-ephemerer Kollektivimprovisation eröffnet fast jedes der zehn Stücke eine neue Perspektive. Das letzte trägt den Titel „Even the Birds Stop to Listen“. Und ganz verdenken kann man es ihnen nicht. (Intakt) KN

Neue Bücher Streifzüge durch die Psyche und Reality-Theater

Die Seele ist ein weites Land, die Psychotherapie eine vielgestaltige Landschaft. Journalistin Dagmar Weidinger durchstreift sie mit Ortskundigen wie Verena Kast, Eugen Drewermann, Ingrid Riedel und Walter Ötsch. In 19 Interviews eröffnet sie Perspektiven und baut Brücken zu Religion, Philosophie, Soziologie, Feminismus und Politik.

Kritik an der „Reparaturwerkstatt der Gesellschaft“ bekommt Raum. Getragen wird das Buch aber von der Überzeugung, dass Psychotherapie und Psychologie mit ihrem „Wissen über Gefühle, Bewusstseinszustände und neurowissenschaftliche Zusammenhänge […] ein vertieftes Verständnis für die Welt, die Umwelt, die Mitmenschen“ ermöglichen. Mehr als um Wege zu individuellem Glück geht es daher um einen Beitrag zur Lösung kollektiver Fragen: Populismus und Neoliberalismus auf die Couch! FELICE GALLÉ

Das deutsche Regiekollektiv Rimini Protokoll hat das Theater neu erfunden. Bekannt wurde das im Jahr 2000 gegründete Trio mit seinem sogenannten „Expert*innentheater“. Darin stehen Spezialisten zu den jeweiligen Themen im Zentrum. Ein Lkw-Fahrer fährt in „Cargo X“ das Publikum wie Fracht im Laderaum durch die Gegend. In „100% Stadt“ befinden sich 100 Menschen auf der Bühne, die ihren jeweiligen Ort statistisch repräsentieren. Und die begehbare Videoinstallation „Situation Rooms“ macht den weltweiten Waffenhandel erlebbar.

Der Band „Rimini Protokoll –welt proben“ gibt mit Essays, Interviews und Fotos einen ausgezeichneten Einblick in die Arbeit der international gefeierten Theatergruppe. Besonders spannend sind die Gespräche zwischen Rimini Protokoll und Experten des Theaterbetriebs.

Noch vor einigen Jahren galt Benjamin Bernheim als große Hoffnung unter den lyrischen Tenören, mittlerweile zählt der 37-jährige Franzose zu den Besten seines Fachs. Bernheims Stimme ist Luxus pur: strahlend in den Höhen, warm in den Tiefen und mit der notwendigen Portion Schmelz. Auf seinem Album „Boulevard des Italiens“ (DG) begibt sich Bernheim ins Paris des 19. Jahrhunderts und singt Arien großer italienischer Komponisten auf Französisch. Plötzlich klingen die Herren Verdi, Mascagni, Donizetti und Puccini feiner und eleganter; großartig auch, wie Bernheim zwischen Falsett und Bruststimme wechselt. Dazu das makellose Timbre des Franzosen –zum Dahinschmelzen.

Tenoralen Schmelz der Weltklasse präsentiert auch Pene Pati aus Samoa. Sein Album-Debüt hat er schlicht „Arias“ (Warner) genannt. Neben bekannten Hits wie Rigolettos „La donna è mobile“ oder Gounods „Roméo et Juliette“ bietet Pati auch einige Kostproben aus Raritäten von Meyerbeer („L’étoile du nord“), Verdi („La battaglia di Legnano“) oder Rossini („Moïse et Pharaon“). Die Stimme ist wendig und geschmeidig, nur gelegentlich fallen die Spitzentöne etwas forciert aus. Eine Klasse für sich ist Pene Patis langer Atem mit einem unfassbaren, 19 Sekunden langen hohen C bei Rossinis „Guillaume Tell“.

Dagmar

Weidinger: Unterwegs im weiten Land. Gespräche über die Psyche. Picus, 236 S., € 26,–

Christine Wahl (Hg.): Rimini

Protokoll – welt proben. Alexander Verlag Berlin, 184 S., € 13,30

In tiefere Gefilde geht es mit Bariton Matthias Goerne. Anders als Benjamin Bernheim und Pene Pati, die sich von großen Orchestern begleiten lassen, beschließt Goerne seine „Lieder“-Trilogie (DG) mit Tastenzauberer Daniil Trifonov als kongenialem Partner am Klavier. Gemeinsam mit Alban Berg, Hugo Wolf, Dimitri Schostakowitsch und Robert Schumann erkunden die beiden ewig währende Themen wie Enttäuschung, Vergänglichkeit, Verlust und Tod. Entstanden ist ein erschütterndes Gesamtkunstwerk in Wort und Ton.

30 FALTER 24/22 BÜCHER : PLATTEN FOTO: EDUARD BRANE
DAMEV
MIRIAM
der Stunde
Superstar unter den lyrischen Tenören: der Franzose Benjamin Bernheim
Buch
Ohren auf Männerstimmen
Warum die antiken
Cäsaren
Diese drei Herren haben den Schmelz auf der Zunge
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Nüchtern betrachtet Welt im Zitat Fehlleistungsschau

Mahlzeit

Im November 2021 kochte er dasselbe Gesicht auf Tiktok in 60 Sekunden.

Aus dem Standard

Billiger, billiger!

Die Vorarlberger setzten bei freiem Eintritt auf ein ausverkauftes Haus.

Aus der Tiroler Tageszeitung

Slim Fit war gestern

Die ehemalige Kurz-Anhängerin gilt als Zukunftshoffnung der ÖVP, fleischig und sympathisch.

Aus der Kleinen Zeitung

Selbstjustiz

H. musste sich am Landesgericht Krems wegen versuchten Mordes verurteilen.

Aus dem Kurier

Mathekrise

Fast die Hälfte, genau 78 Prozent, gaben bei der Umfrage an, dass sie damit rechnen, dass Österreich vor dem Beginn einer Finanzkrise stehe.

Aus dem Standard

A Schritt vire …

Fünf Tage sollte man sich Zeit nehmen. Das erscheint großzügig bemessen, obwohl aus den 57 Flusskilometern etwa 75 auf Schusters Rappen absolviert werden.

Aus der Wiener Zeitung

Originelle Idee

Waxing- und Wein-Lokal tarnten sich als Glücksspielhölle.

Aus heute.at

Seltsam

Aber aus den Weibchen der Eier schlüpfte kein Kücken.

Aus dem Falter.natur-Newsletter

Rauschkugel 4 Life

In den Gemeindestuben, in den Ländern verfüge die Partei über Macht und Gestaltungsraum. Wöginger nennt Beispiele: Frühschoppen, Sportanlagen eröffnen, Feuerwehrfeste besuchen: „Das ist unsere DNA, wir sind breit“, sagte Wöginger. Aus derstandard.at

Ejaculatio praecox

Mit dem Auto in Bordell gebumst. Aus der Bezirksrundschau Oberösterreich

Eine Leiche zum Dessert

Gegen 2.00 Uhr früh war es im Wohnzimmer des Einfamilienhauses zu dem Streit zwischen der 49-Jährigen und ihrem 53 Jahre alten Ehemann gekommen. Um ihrem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, holte die Frau eine, im Nachtisch verwahrte, Faustfeuerwaffe und lud sie. Aus steiermark.orf.at

Marktnische

Netflix ist mit 222 Abos weltweit wohl Marktführer. Aus dem Standard

Für gedruckte Zitate erhalten Einsender ein Geschenk aus dem Falter Verlag (an wiz@falter.at)

Meldungen Kultur kurz

W. Reisinger (1955–2022)

„Der Koloss von Purkersdorf“ lautete 2016 der augenzwinkernde Titel eines Falter-Porträts des Drummers Wolfgang Reisinger. Ebendort wohnte und musizierte der gebürtige Wiener in den 1970ern mit dem Komponisten Beat Furrer zusammen. Ein anderer Wahlschweizer erwies sich als karrierebestimmend: Mathias Rüegg rekrutierte den klassisch ausgebildeten Schlagwerker als Perkussionisten für sein soeben gegründetes Vienna Art Orchestra, dem Reisinger über ein Jahrzehnt angehörte, ehe er sich verstärkt Richtung Frankreich orientierte. 1986 holte ihn Wolfgang Mitterer in sein Quartett Pat Brothers, zehn Jahre später tat er sich mit dem französischen Bassisten Jean-Paul Céléa und dem Miles-Davis-erfahrenen US-Saxofonisten Dave Liebman in einem vielbeachteten Trio zusammen, das drei Alben einspielte. Undogmatisch und stilistisch sehr breit aufgestellt, war Reisinger ein im In- und Ausland vielbeschäftigter und hochgeschätzter Musiker. Am 8. Juni ist er in einem Wiener Spital an den Folgen eines Aortarisses verstorben.

Ukraine-Hilfe für Künstler

Das Sonderbudget des Bundesministeriums für Kunst und Kultur wurde von 300.000 auf 500.000 Euro erhöht. Es soll Künstlerinnen und Künstlern aus der Ukraine helfen.

Dazu wurde Anfang März das „Office Ukraine – Shelter for Ukrainian Artists“ eingerichtet und dessen Fortbestehen nun bis zum Jahresende gesichert. Das Office Ukraine im Wiener Museumsquartier dient als Anlaufstelle für hilfesuchende Personen aus der Ukraine.

Heidi

Horten

(1941–2022)

Bei der Eröffnung ihres Kunstmuseums in der Wiener Innenstadt war Heidi Goëss-Horten nicht persönlich anwesend. Die Milliardärin baute seit den 1990er-Jahren eine Sammlung auf, die große Namen wie Francis Bacon ebenso umfasste wie Skulpturen junger Künstlerinnen und Künstler. Reich wurde die Wienerin 1966 durch ihre Heirat mit dem über 30 Jahre älteren Unterneh-

Klaus Nüchtern berichtet aus seinem Leben. Die Kolumnen als Buch: faltershop. at/nuechtern

Von Apfelstrudel nach Burenwurst

Es gibt Menschen, die müssen sich entscheiden, ob sie die Fabrik ihres Vaters fortführen, Violinvirtuose werden oder doch lieber eine nobelpreisträchtige Entdeckung machen wollen. Ich falle nicht in diese Kategorie, und zwar nicht, weil mein Vater keine Fabrik hatte. Das sind ganz schön viele Verneinungen in einem einzigen Satz, ich werde gleich noch mal versuchen, mit weniger auszukommen, um auszudrücken, was ich meine, nämlich: Ich bin durch keine Doppel- oder Mehrfachbegabung belastet und musste in Sachen Berufswahl keine schweren inneren Kämpfe bestreiten. Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch, so der ursprüngliche Plan, hätte ich wohl noch hingekriegt; ob ich oder meine Schüler glücklich dabei geworden wären, sei dahingestellt. Viel mehr als Journalismus ist dann nicht geblieben.

Eines der wenigen Talente, über das ich abseits meiner hoffentlich mit Anstand versehenen Profession verfüge, das ich aber nur hobbymäßig zum Einsatz bringe, ist Geselligkeitsmanagement. Ich bin ganz gut darin, mich mit Menschen zu treffen, Menschen einzuladen und sie zu bewirten, Menschen zusammenzubringen und zu gemeinsamen Aktivitäten anzuhalten. Das ist gewiss keine besonders flamboyante Begabung, aber wie man aus der Bibel weiß, muss man mit seinen Talenten wuchern; und im Unterschied zu vielen, die sie lieber vergraben, tue ich das. Das „Wir müssen auch wieder einmal …“ geht vielen ja recht schnell über die Lippen; ich aber sorge dafür, dass dem Adhortativ dann auch Taten folgen.

mer Helmut Horten (1909–1987), der nach 1945 ein Kaufhaus-Imperium aufgebaut hatte. 1968 veräußerte Horten die Kaufhauskette. Durch einen Steuertrick entging dem deutschen Fiskus fast eine Milliarde Euro. Das Ehepaar wohnte zeitweilig in einem Haus am Wörthersee. Nach dem Tod Helmuts trat Heidi als Mäzenin in Erscheinung. GoëssHorten, die in dritter Ehe mit Kari Goëss verheiratet war, förderte den Klagenfurter Eishockeyverein KAC und den Golfclub Dellach. Auch die Tierschutzvereine der Region profitierten von ihrer Großzügigkeit. Am Sonntagmorgen ist Heidi GoëssHorten in ihrem Kärntner Haus gestorben. Sie wurde 81 Jahre alt.

So habe ich zum Beispiel vor einiger Zeit die „Neigungsgruppe Stadtwanderweg“ ins Leben gerufen. Sie setzt sich zusammen aus drei komplizierten Pensionisten, die ständig irgendwelche Termine haben, und mir. Der letzte Ausflug hätte eigentlich eine möglichst umständliche Route zwischen den U-Bahn-Stationen Seestadt und Hausfeldstraße inklusive Durchquerung des Norbert-Scheed-Waldes vorgesehen. Er begann und endete dann mit einem außerplanmäßigen Halt: zunächst bei Apfelstrudel und Kaffee in der Buchhandlung Seeseiten, schlussendlich bei Burenwurst und Bier in einem mit Porno-Funk beschallten Würstelstand in Breitenlee. Ebendort fiel dem Ossi naheliegenderweise Harald Juhnkes Definition von Glück ein: „Keine Termine und leicht einen sitzen.“ Kannte ich nicht. Kann ich unterschreiben.

FEUILLETON FALTER 24/22 31
Tex Rubinowitz Die falbe Seite
FOTO:
Heidi Goëss-Horten starb kurz nach Eröffnung der Heidi Horten Collection
VIENNAPRESS/ANDREAS TISCHLER

STADTRAND URBANISMUS-KOLUMNE

IMMER WIEDER

ÖSTERREICH! ÜBER

DAS WUNDER DER

FUSSBALL-REZEPTION

Wer vergangene Woche eine Karte für das Fußball-Länderspiel Österreich – Frankreich loswerden wollte, kann das Wunder bezeugen: Innerhalb von zwölf Minuten antworteten 14 Menschen auf mein Willhaben-Inserat, die Hälfte davon bot mehr Geld als verlangt.

Genau zwei Spiele hatte der neue deutsche Trainer Ralf Rangnick gebraucht, um die Anziehungskraft der Nationalmannschaft wiederherzustellen. Beim dritten spielte Österreich im ausverkauften Happel-Stadion gegen den Weltmeister Frankreich unentschieden, die Zeitungen quollen über vor Lob.

Jene Versagerbande, die gerade peinlich die Winter-Weltmeisterschaft 2022 in Katar verpasst hatte, rang nun dem Titelträger heldenhaft einen Punkt ab. Dass Frankreich weit mehr

Lukas Matzinger ist gegen rot-weiß-rote Stiegl-Flaggen

Chancen hatte und die Niederlage gegen Dänemark Tage zuvor das bessere Spiel Österreichs war – wen kümmern solche Nebensächlichkeiten?

Die Überschwänglichkeit von Akita-Welpen übertreffen halt nur Fans von Fußball-Nationalteams – und Sportjournalisten sind in der Beziehung nichts anderes. Zum blinden Glaubenseifer mischen sich bei Länderteams (gekränkter) Nationalstolz, die Ergebnisfixierung der Masse und dieses dumpfe Gefühl, dass die irgendwie für uns spielen (oder uns blamieren).

Natürlich ist Ralf Rangnick kein Zauberkünstler, sondern bisweilen einfach nur ein Fußball-Lehrer, der sein Team nach fünf Jahren Handbremsen-Rennen des Trainervorgängers Franco Foda wieder annähernd so spielen lässt, wie es gerne würde.

Es gibt nur eine Handvoll österreichischer Fixsterne im internationalen

STADT LEBEN

ENTWÖHNT

TREND DER WOCHE

Das Ende der Tschick Wer heute noch Zigaretten raucht, ist Boomer, rechts, lebensmüde oder alles gleichzeitig. Auf den Werbetafeln und in den Mundwinkeln der Stadt haben Elektrogeräte im Leuchtstift- oder Antennenhandyformat die gute alte Lunte abgelöst. 2021 haben Österreicher um 115 Millionen Zigaretten weniger gekauft, dafür fast dreimal so viel „Tabak zum Erhitzen“ wie im Jahr davor. Weil die eingelegten Tabaksticks in diesen Geräten nicht verbrennen, kommen weniger krebserregende Stoffe in den Körper. Aber keine Sorge: Preis und Nikotingehalt sind ähnlich wie bei Zigaretten.

ENTWURZELT

ARCHITEKTURKRITIK

Wiens neuer Fernbusterminal Jahrzehntelang rollten hier dünne Räder, 2021 schleifte die Gemeinde mit dem Ferry-Dusika-Stadion Österreichs einzige Bahnradbahn. Auch die Sport&Fun-Halle daneben wird weichen – denn hier sollen ab 2025 Europas Fernbusse halten. Nach langem Hin und Her siedelt die Stadt den neuen Bushub nicht am Verteilerkreis, sondern neben dem Praterstadion an. Besser als die jetzige grindige Gegebenheit in Erdberg ist das allemal, zudem dürfen sich Investoren auf ein Hochhaus über dem Terminaldach freuen. Eine Radbahn wird’s auch wieder geben – in Linz.

ENTWAFFNET

FRAGE DER WOCHE

Was schützt wirklich vor Gelsen? Ein allabendliches

Massaker: Sobald sich die Sonne neigt, überfallen Stechmückengeschwader die Ufer und Bäder Wiens. Die Verzweiflung treibt Menschen zu nutzlosen Lichtfallen, Ölarmbändern und Handy-Geräusch-Apps – doch was hält bluthungrige Gelsen wirklich fern? Das deutsche Tropeninstitut und die Weltgesundheitsorganisation empfehlen den 1946 von der U.S. Army entwickelten Insektenabwehrwirkstoff Diethyltoluamid (DEET). Sprays und Cremes mit jener Aufschrift seien zu bevorzugen –ab 30 Prozent DEETAnteil hat’s Sinn.

32 FALTER 24/22 FOTOS: UNSPLASH, RENDERING APA/ZOOMVP.AT, APA/PETER FÖRSTER
Modelkosmos – sie ist einer davon, der vielleicht außergewöhnlichste.
Generation Greta, Seite 38

Wien denkt an mich.

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Energie wird immer teurer. Deshalb greift die Stadt mit einem Maßnahmenpaket ein. Ab Juni gibt es für Wiener*innen mit geringem Einkommen 200 Euro antragslos und direkt aufs Konto.

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N achdem ich mit 19 von zuhause ausgezogen war, vermisste ich als Erstes die vietnamesische Küche meiner Mutter. Also tat ich, woran ich davor nie einen Gedanken verschwendet hatte: Ich bat meine Mutter um Rezepte.

Die seien alle in ihrem Kopf, sagte sie, ich müsse ihr schon beim Kochen zuschauen. Also stand ich an einem Sonntag in ihrer Küche, schaute über ihre Schulter und versuchte, alle Geheimnisse zu verschriftlichen.

„Eine Prise Salz, ein Schuss Fischsauce, umrühren, probieren, abschmecken.“ Exakte Mengenangaben waren ihr nicht zu entlocken. Ich erkannte, dass es nicht darum ging, bestimmte Handgriffe zu lernen, sondern den Geschmack der Speisen zu speichern und zu reproduzieren. „Die Fischsauce erst ganz am Schluss“, sagte sie – immer und immer wieder. Die Frage nach dem Warum erübrigte sich, die Antwort darauf kannte ich seit meiner Kindheit.

Für das, was Wiens coole 30-Jährige heute in hippen Bezirken essen, habe ich mich als Sohn vietnamesischer Flüchtlinge heimlich geschämt. Es waren die 80er-Jahre, es war die niederösterreichische Provinz, und exotisches Essen war mehr Lebensstigma als -stil.

Meine Schuljause waren anfangs Bánh bao: mit Faschiertem gefüllte Germteigtaschen, die im Dampf vollendet ihre Saftigkeit an die umschließende Hülle abgaben. Nach Hänseleien über jenes unkonventionelle Pausenbrot („Wie das riecht!“) verweigerte ich die Bánh baos und präsentierte fortan selbstbestrichene Nutella-Semmeln. Sie waren ein Hit.

DIE FISCHSAUCE ERST GANZ AM SCHLUSS

Als Kind hat sich unser Autor für die vietnamesische Küche seiner Eltern geschämt. Plötzlich gilt dieselbe als hippstes Essen der Stadt. Über kulturelle und kulinarische Aneignung

ERINNERUNG:

MARTIN NGUYEN

FOTOS: HERIBERT CORN

Als Lieblingsspeisen habe ich stets „Pizza, Spaghetti, Pommes!“ erlogen, weil das alle unverfänglichen Kinder gesagt haben. So leben, so reden, so essen wie alle: Lange bin ich dem Beispiel meiner Eltern gefolgt – nach außen nur nicht auffallen.

Das ist auch der Grund für den späten Einsatz der Fischsauce: die goldbraune, salzige Würzsauce aus fermentierten Anchovis oder Sardellen ist exotisch. Und sie stinkt, zumindest für unbedarfte Nasen. Damit sich die Nachbarn nicht wieder beschweren, übte meine Mutter größtmögliche Zurückhaltung: die Fischsauce also ganz am Schluss. 30 Jahre nach diesen Episoden scheine ich in einer anderen Welt zu leben. Vietnamesische Restaurants und Imbisse säumen die modernen Viertel der Stadt, knappe 50 Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt. Urlaubsrückkehrer sehnen sich nach dem intensiven Fischgeruch, der sie an ihre Fernreise denken lässt. „Authentisch“ ist die Wortmarke, doch sie alleine steht noch nicht für die Qualität von Essen.

Denn natürlich verdienen auch Lebensmittelindustrie und Nicht-Vietnamesen am Hype. Das Nationalgericht Phở, die dampfende Nudelsuppe mit Brühe aus stundenlang geköchelten Rinderknochen, ist nun als fertige Suppe im Glas für zuhause erhältlich.

„Nachhaltige Zutaten, Bio, ohne Glutamat“, behauptet das Etikett. Der Markt kombiniert gern mehrere Trends: Tierfrei ist die „vegetarische Phở“ im Glas und hat wirklich gar nichts mehr mit dem Ursprungsgericht zu tun. Trotzdem: „Phở“.

Und was heißt hier eigentlich „ohne Glutamat“? Glutamat ist ein Geschmacks-

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verstärker, der von Natur aus in Parmesankäse, reifen Tomaten oder Muttermilch vorkommt. Der japanische Chemiker Ikeda Kikunae hat 1908 ein synthetisches Glutamatpulver aus Seetang isoliert. Der herzhafte Geschmack, „umami“ genannt, ist neben salzig, süß, sauer und bitter die fünfte gustatorische Sinnesqualität.

Und für meine Mutter war das Gewürzpulver ein kulinarisches Allheilmittel: Nudelsuppe, gebratenes Gemüse, mariniertes Grillfleisch – nie ohne eine Prise Glutamat. Der Westen ächtet Glutamat, weil es Kopfschmerzen, Hitzewallungen und Herzrasen auslösen soll.

Die aus Vietnam stammende deutsche Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim sieht im Erklärvideo auf ihrem Youtube-Kanal „maiLab“ keine Gesundheitsbedenken. Warum glauben es die anderen, die Weißen, besser zu wissen als meine Mutter?

Willkommen in der Debatte um kulinarische Aneignung – der Begriff ist an US-amerikanischen Universitäten aus dem Übertopos der kulturellen Aneignung („cultural appropriation“) entsprungen.

In der Musik, der Mode und nun auch beim Essen bediene sich die „Dominanzgesellschaft“ bei kulturellen Errungenschaften der Minderheiten und nutze diese zu ihrem unangemessenen Vorteil.

Selbstversunken entreißen sie Details ihrem ursprünglichen Kontext, verwenden sie als Stereotype oder Kostümierung isoliert weiter. Der Vorwurf, sich in Style und Schminke wie Schwarze zu geben („blackfishing“), traf schon die US-amerikanische Popsängerin Ariana Grande oder die welt-

bekannteste Selbstdarstellerin Kim Kardashian mit ihren geflochtenen Haaren.

Dreadlocks, Blackfishing und Turbane seien dann mehr als unschuldige Modeaccessoires, wenn sie zum Mittel der Geldvermehrung werden. Ist das ein wirkliches Problem oder wird ein Problem geschaffen?

Die Zigarettenmarke Natural American Spirit bedruckte ihre Schachteln seit der Einführung 1985 mit der Zeichnung eines Federschmuck tragenden amerikanischen Ureinwohners. Das Image der naturverbundenen nordamerikanischen Indigenen sollte den Tabak ökologisch und folkloristisch positionieren.

Das Symbol einer unterdrückten Kultur diente alleine dem Profit. Diskriminierte Minderheiten kritisieren die Aneignung ihrer Symbole und sprechen der Mehrheit das kommerzielle Nutzungsrecht auf Frisuren, Kleidung und Speisen ab.

Ich werde seit einigen Jahren höchstpersönlich von Bekannten und Fremden für die Wohltat vietnamesischer Küche gepriesen. Gesund und leicht, wohlschmeckend und frisch (als sei es mein Verdienst) sind nun jene „authentischen“ Gerichte, die mich damals zum Außenseiter in der Schule gemacht haben.

Sollte ich nun aus meiner persönlichen Diskriminierung heraus ein gewerbliches Verbreitungsverbot vietnamesischer Speisen für alle Nicht-Vietnamstämmigen fordern?

In einer Weltstadt wie Wien funktioniert kulinarische Aneignung wie urbane Gentrifizierung. Dort verwandeln Immobilienentwickler und Grätzelmanager heruntergekommene Viertel mit wenigen

Ankergeschäften und steigenden Mieten in hippe Gegenden. Beim Essen inszenieren und vermarkten Handelsriesen und Gastronomen eine Küche wie die vietnamesische so lange, bis sie als modern gilt.

Problematisch wird es, wenn kulturelle Nackerpatzerln wie das deutsche Start-up „Reishunger“ ein revolutionäres Sortiment aus Reis und Reiskochern präsentiert und als zeitgeistige Basisnahrung unters zahlende Volk bringt.

Reis sei jetzt ein Lifestyle-Produkt, darunter eine Sorte mit dem klingenden Namen „Ching Chang Chong“ – ein Ausspruch, der seit Jahrzehnten asiatisch aussehende Menschen beleidigen soll.

Ihm sei die Herabwürdigung nicht bewusst gewesen, entschuldigte sich der Reishunger-Gründer Sohrab Mohammad via Facebook-Posting und nahm das Produkt aus dem Sortiment.

Was würde meiner Mutter dazu einfallen? Sie würde lächeln, kurz innehalten – und „Sie haben es nicht gewusst, ist doch egal“ sagen. Nach dem Vietnamkrieg flüchteten meine Eltern 1979 übers Meer, strandeten auf einer malaiischen Insel, landeten schließlich in Österreich. Das Leben meiner Eltern in der niederösterreichischen Provinz der 1980er-Jahre war darauf ausgelegt, sich durch Schwerstarbeit eine Existenz aufzubauen.

Meine Mutter begann als Tellerwäscherin, später ruinierte sie sich Augen und Rücken beim Zusammensetzen winziger Schmuckteile in einer Fabrik. Mein Vater

Kochen nach Bildern: Wer in Th ị Bay Nguyens Küche die Geheimnisse der vietnamesischen Speisen erlernen will, muss Augenmaß und lernfähige Geschmacksknospen mitbringen

Familienaufstellung: Thi Bay Nguyen (links), Autor & Kochlehrling Martin Nguyen (Mitte), Quang Nguyen (rechts)

Echtes Th ị t Kho karamellisiertes Bauchfleisch mit Eiern für 3–4 Personen

500 g Schweinebauchfleisch

5 hartgekochte, geschälte Eier

1–2 Knoblauchzehen

½ Zwiebel

2 EL Zucker

½ TL Glutamat (MSG)

1 EL Fischsauce

¼ EL Salz

Pfeffer Öl zum Braten

Fleisch in 3–4 cm große Stücke schneiden, mit Zucker, Salz, Pfeffer, Glutamat und Fischsauce würzen, 30 min oder länger marinieren.

Eier 6–8 Minuten hart kochen, in kaltem Wasser 10 min ziehen lassen, dann schälen. Knoblauch und Zwiebel klein hacken und bereitlegen.

In einem Topf 1 EL Zucker mit einem Schuss Wasser heiß karamellisieren, bis es goldbraun ist. Zu dunkel = zu bitter.

Ein wenig Öl in den Topf geben, Knoblauch und Zwiebel kurz anbraten, das marinierte Fleisch anbräunen. Danach die gekochten Eier und so viel Wasser hinzufügen, bis Fleisch und Eier bedeckt sind. Deckel drauf, einen Spalt offen lassen und eine Stunde köcheln lassen. Nach halber Kochzeit Eier in der Sauce rollen. Je länger die Kochzeit, desto zarter das Fleisch! Mit Reis servieren

STADTLEBEN FALTER 24/22 35 Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung von Seite 35

war beinah sein ganzes Erwerbsleben lang Landarbeiter auf einem Hof, bewirtschaftete Wiesen, kümmerte sich um Rinder und Pferde.

Vietnamesisches Essen linderte ihre Einsamkeit, Sprachlosigkeit und Entwurzelung in der neuen Heimat. Jeder Bissen verstärkte die Sehnsucht, die er stillen sollte, und die Landesküche wurde integraler Teil der Identität in der Diaspora. Ein idealisiertes Kulturgut, das es zu konservieren galt. So wie viele Auslandsösterreicher plötzlich von reschem Brot und Manner-Schnitten träumen, die sie verschmähten, als sie noch davon umgeben waren.

Es ist nichts Schlechtes, wenn neue Geschmäcker und Gerüche in den Restaurantküchen des Westens ankommen. Weil dann Kinder fremdartiges Pausenbrot vielleicht nicht mehr zum Anlass für Mobbing nehmen. Auch kulinarische Vermischung hat etwas für sich. Bánh mì, das gefüllte Mini-Baguette der Straßenküchen Vietnams, ist erst durch den französischen Einfluss während der Kolonialzeit entstanden und stellt ein fruchtbares Ergebnis kultureller Vermengung dar.

In unseren ersten Jahren in Österreich hat es viele asiatische Lebensmittel noch nicht zu kaufen gegeben. Fischsauce, Ingwer, Reispapier? Keine Chance, meine Eltern haben die Zutaten bei französischen Exil-Vietnamesen bestellt, die uns dann mit stapelweise Kartons besuchen kamen.

Aber einen essenziellen Bestandteil der vietnamesischen Küche gab es in fast jedem Supermarkt. Es tröpfelte aus einer braunen Flasche, die ich sonst nur auf Tischen leicht abgewirtschafteter Wirtshäuser sah: Maggi. Mit der französischen Kolonialherrschaft kam Anfang des 20. Jahrhunderts die „braune proteinreiche Sauce“ des Schweizer Erfinders Julius Maggi nach Vietnam. Dort

»Die Akzeptanz von vietnamesischem Essen bescherte mir und meinen Eltern neues Selbstbewusstsein. Plötzlich trauten wir uns, Nicht-Vietnamesen exotische Speisen zu kredenzen

erlangte sie solche Popularität, dass es der Begriff „Maggi“ als generischer Markenname für alle dunklen Würzsaucen in das vietnamesische Wörterbuch schaffte. Es war das Tixo der Sojasaucen. Vietnamesischen Auswanderern diente das Gewürz mit dem gelb-roten Etikett zunächst als Sojasauce-Ersatz, wurde aber rasch zum fixen Bestandteil ihrer privaten Küchen. Kein Bánh mì oder Reis ohne einen Schuss Maggi. Auch das ist kulinarische Aneignung, immerhin nicht auf Kosten einer Minderheit.

Überhaupt ließe sich kulinarische Aneignung als unbedeutender Nebenschauplatz eines gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozesses ansehen. Doch sie reiht sich irgendwo in die Summe der Mikroaggressionen, die Menschen anderer Herkunft täglich erleben. Wie oft ließ ich Beschimpfungen wie „Schlitzauge“ und „Reisfresser“ stumm über mich ergehen. Oder Witze, die von vermeintlich verkochtem Hundefleisch handelten.

chưa?“, will die Mutter wissen, „hast du schon (Reis) gegessen?“ Gefühle sind offiziell kein Thema, stattdessen bekommen Kinder die besten Fleischstücke in die Schüssel gelegt; in geschälten und geschnittenen Früchten stecken Verbundenheit und Zuneigung.

Erst durch das Internet entdeckte ich mit der vietnamesischen Zweitgeneration über Landesgrenzen hinweg diese Gemeinsamkeiten. Ein Akt der kulturellen Übersetzungsarbeit. Die Kinder der ersten Einwanderergeneration pochen nun auf ihre Rechte, fordern Respekt mit Selbstbewusstsein ein und nehmen Verletzungen nicht mehr einfach hin.

Waren früher österreichische Freunde bei uns zu Gast, standen plötzlich Teller, Gabel und Messer auf dem Tisch. Manche Speisen traute meine Mutter westlichen Gaumen erst gar nicht zu. Blutpudding oder karamellisierter Fisch? Lieber nicht.

Auf Messers Schneide: Mama Nguyens Hacktechnik funktioniert auch ohne Sicht

FOTO: HERIBERT CORN

Mit der Corona-Pandemie wurden die Anfeindungen schlimmer, von denen ich als Kind glaubte, sie würden irgendwann von selbst verschwinden. Unter dem Hashtag #ichbinkeinVirus sammelten Betroffene Erzählungen. Auch ich konnte beitragen, im ersten Lockdown wechselten Menschen die Straßenseite, wenn sie mir begegneten, oder raunten, Masken seien „solchen wie mir“ zu verdanken. Meine Mutter erzählte mir monatelang nicht, dass sie jemand auf offener Straße beschimpft hatte. Und auch dann nur als leiser Nebensatz. Nur nicht auffallen.

Ich habe erst viel zu spät begriffen, dass Essen und Kochen Ausdruck von Liebe und Fürsorge meiner Mutter waren, ihre Art der Kommunikation. Vietnamesen fragen nicht, wie es einem geht. „Con Ăn cơm

Erst als Erwachsener konnte ich stolz erzählen, dass Essen in Vietnam ein gemeinschaftliches Ereignis ist. Während auf westlichen Tischen der Tellerrand als Demarkationslinie gilt, essen vietnamesische Familien gemeinsam aus vielen auf dem Tisch verteilten Schalen und Schüsseln. Aber das wissen Sie natürlich, ist ja jetzt modern.

Während ich diesen Text schreibe, köchelt Thịt Kho, ein Schmorgericht aus karamellisiertem Bauchfleisch und hartgekochten Eiern, auf meinem Herd, bis das Fleisch zart ist und die Eier den braunen Kochsud aufgesogen haben. Es ist Glutamat drin, die Fischsauce köchelt von Anfang an mit, die Maggiflasche steht auf dem Tisch.

Die Akzeptanz von vietnamesischem Essen bescherte mir und meinen Eltern neues Selbstbewusstsein. Plötzlich trauten wir uns, Nicht-Vietnamesen exotische Speisen zu kredenzen, ungewohnte Gerüche sorgen nicht mehr für Scham, sondern Zelebration. Leider hat es erst die Nachfrage der Mehrheitsgesellschaft gebraucht, um sich nicht mehr selbst zu zensieren.

Was lernen wir daraus? Soll der Tiroler, der auf Reisen mühselig die thailändische Kochkunst studiert hat, diese im Lokal anbieten? Nur zu! Soll die blonde Weiße nigerianische Frisuren in ihrem Salon flechten? Warum nicht? Es geht nicht ums Tragen oder Konsumieren, sondern um Vermittlung und Anerkennung.

Kulturelle Aneignung lässt sich ohnehin nicht aufhalten, schon gar nicht per Anordnung. Doch zu wissen, welche Bedeutung Flechtfrisuren in der Bürgerrechtsbewegung der USA spielten, ist eine Form der Verantwortung. Wer sich freiwillig ein kulturelles Detail aneignet, für das andere diskriminiert wurden, muss sich ihr stellen.

Und wer mit fremden Symbolen Geld verdient, sollte sich überlegen, was er an Menschen dieser Kultur zurückgeben kann. Die Grenze zwischen wertschätzender Inspiration und rücksichtsloser Aneignung ist diffus. Es ist ein Ringen um Konsens, um Vereinbarungen, wie wir miteinander leben wollen.

Als ich das Rezept für diesen Text gegen alle Gewohnheiten meiner Mutter verschriftlichen wollte, meinte sie, ich solle das Glutamat weglassen, weniger Fischsauce hinschreiben. Falls das jemand nicht so mag. Plötzlich merke ich, wie sich die Rollen in der Familie gedreht haben, wenn Kinder ihre Eltern ermutigen: dass es okay ist, wie sie sind.

Mahlzeit!

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Pfusch am Bau

In seinem Blog „Wien schauen“ enthüllt Georg Scherer Bausünden und Spekulation der Stadtplanung. Einer müsse es ja machen

PORTRÄT: MAIK NOVOTNY

F reud und Leid liegen vier Hausnummern auseinander. Georg Scherer steht auf dem U6-Steig Gumpendorfer Straße, wo Otto Wagner die Bahntrasse als Brücke über die Straße spannte.

Direkt gegenüber, Mariahilfer Gürtel Nummer 1: Freude. Ein elegantes Jugendstilhaus, jahrzehntelang vom Feinstaub verkrustet, 2018 von einer Projektentwicklungsgesellschaft mit Sorgfalt saniert. Die Farbe, die Ornamente, das Balkongeländer, die feinen Metall-Applikationen: alles erhalten und neu herausgeputzt, das Dachgeschoß zurückhaltend ausgebaut.

Ein Musterbeispiel für einen Bauherrn, der der Stadt etwas zurückgibt, sagt Georg Scherer. Nur ein paar Meter weiter rechts, Mariahilfer Gürtel Nummer 7, beginnt sein Leid.

Hier ist 2019 ein Altbau verschwunden. Das sei kein bauhistorisches Glanzstück gewesen, doch was nachkam, noch weniger. Ein Wohnblock hinter grau-weißem Putz, dunkle Fensterrahmen, maximale Ausnützung des kleinen Bauplatzes. Was Georg Scherer darüber denkt, hat er in seinem Blog „Wien schauen“ geschrieben: „Weder die Akzentuierung der Ecke, noch die Farben, noch die Anordnung der Fenster, noch die Geschosszahlen, noch die Staffelung der Gebäudehöhen, noch die Dachform sind mit Bezug auf die Umgebung entworfen.“

Seine Webseite macht Scherer seit 2018 zum bekannten Kritiker des Wiener Stadtbaus. Dabei will der etwas studentisch wirkende 36-jährige Bibliothekar „wirklich“ kein dogmatischer Gründerzeitfetischist sein. Es gehe nicht darum, nostalgisch AltWien über Neu-Wien zu verklären. „Und auch nicht darum, jedes Haus zu erhalten. Aber wenn ein Neubau keinen Bezug zur Nachbarschaft hat, ist das ein Problem.“

Solche Bauten stehen 50 Jahre oder länger, irgendwann schlagen sie auf das organische Wachstum der Stadt. Und für Georg Scherer sind wir an diesem Punkt angekommen.

Der Mann redet nicht wie ein Wutbürger und auch nicht wie ein Querulant. Sein Tonfall mag wertend sein, aber immer sachlich. Seine „Wien schauen”-Beiträge sind recherchiert und dokumentiert, er weiß, was Schutzzonen sind, wie Flächenwidmungsund Bebauungspläne funktionieren und welche Magistratsabteilung wofür zuständig ist. Der Name der Webseite hält: Georg Scherer schaut genau hin.

Dabei ist der Mann weder Stadtplaner noch Architekt, seine Postings und seinen Twitter-Account betreibt er „als Hobby“. Wie wird aus dem Bibliothekar an der Wirtschaftsuniversität Wiens oberster Baudetektiv?

„Es begann am Wiedner Gürtel. Ich wohnte in der Nähe, und der Hauptbahnhof hat die ganze Gegend ab 2015 radikal verändert. Hier wurde reihenweise abgerissen oder unsensibel umgebaut. Und niemand schien sich darum zu kümmern.“ Kurzzeitige Interessen von Investoren, sagt er, gewinnen in Wien oft gegen langfristige Stadtentwicklung. Der Wohnbau ist Be-

Bauträger, Architekten, Magistratsbeamte und Anrainer melden sich bei mir. Es zeigt schon eine gewisse Not, wenn die mir schreiben

GEORG SCHERER

tongold geworden, hier lässt sich selbst mit finsteren und schlecht geschnittenen Wohnungen Profit machen, ohne sich gestalterisch Mühe zu geben.

Seither verfolgt Scherer Widmungsverfahren bis zur Bezirksebene genau, heute weiß er praktisch auswendig, wo Schutzzonen liegen. Ein Service für seine Leser, denen er in einfachen Worten erklären will, wie eine Stadt funktioniert. „Viele melden sich bei mir: Bauträger, Architekten, Magistratsbeamte und betroffene Anrainer. Es zeigt schon eine gewisse Not, wenn die mir schreiben.“ Denn eigentlich könnte es dafür ja eine Instanz geben.

Als er am 17. April auf der Webseite des Standard einen Gastbeitrag „NeubauArchitektur in Wien: Zwischen Tragödie und Farce“ schrieb, erntete er über 1100 Kommentare, Architekten schrieben ihm, es laufe wirklich etwas falsch in der Stadt. Scherer hatte in dem Artikel eine Art Worst of Vienna präsentiert, eine Parade kontroverser Bauten der vergangenen Jahre. Manche plump, manche banal, manche grotesk.

Zu grelle Farben oder zu tristes Grau, Fassaden ohne Proportion, überwuzeltes Dekor. Bei manchen (etwa das Hotel The Rock am Donaukanal mit seiner Gewächshaus-Skybar) scheiden sich die Geister, andere, wie die stets gleich aussehenden

Balkon-Ungetüme der U.M.BAU AG, sind jenseits von Gut und Böse.

Letzte Station des Spaziergangs: 15. Bezirk, Kranzgasse 24. Ein Haus vor dem Abbruch, leere Höhlen statt Fenster. Die Magistratsabteilung für Architektur und Stadtgestaltung (MA 19) hatte es für schutzwürdig erklärt, doch der Eigentümer argumentierte mit „wirtschaftlicher Abbruchreife“. Heißt: Er könne sich die Sanierung nicht leisten. Das ist eine vielversprechende Methode für Landbesitzer, die Bauordnungsnovelle von 2018 zu umgehen: Sie erlaubt den Abriss von vor 1945 gebauten Häusern nur mit Genehmigung. „Wirtschaftliche Abbruchreife“ beschert oft eine solche. Dazu motivieren fehlende Schutzzonen und das Erlauben höherer Geschoßzahlen die Investoren. Verbesserungsvorschläge hätte Scherer genug: mehr Schutzzonen, Gestaltungsrichtlinien für Fassaden, einen unabhängigen Gestaltungsbeirat, wie ihn deutsche Städte haben. Doch die Gemeinde, sagt er, sei an den Vorschlägen nicht interessiert. Er habe sie ihr immer wieder angetragen. Aber warum nur mäkeln, statt selbst zu ändern? Warum wechselt einer wie Scherer nicht in die Verwaltung? „Da sind die Einflussmöglichkeiten Einzelner sehr begrenzt. Ich bin lieber die Irritation im System.“ F

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FOTO: KATHARINA GOSSOW Den Blog von Georg Scherer finden sie unter www.wienschauen.at Die „freiwillige Bauaufsicht“ Georg Scherer vor einem Haus, das er gut findet: das umsichtig sanierte Wohngebäude Mariahilfer Gürtel 1

Generation Greta

Die Tirolerin Greta Elisa Hofer jettet durch die Welt, um für die größten Textilkonzerne zu modeln. Dabei lehnt sie Konsum- und Klimasünden ab. Wie geht sich das aus?

ZWISCHEN DEN STÜHLEN: NATHALIE GROSSSCHÄDL

Es sei ja alles Secondhand: der lange Jeansrock, das Oberteil aus anschmiegsamem Samt und die Lederjacke, die ihr um mehrere Nummern zu groß ist. Ihre Privatgarderobe stamme nicht aus Edelboutiquen, eher von Wiener Gebrauchtgeschäften wie Humana oder Wolfmich.

Das 22-jährige Tiroler Supermodel Greta Elisa Hofer legt Wert auf die Feststellung, ihr privates Konsumverhalten solle ein Ausgleich zum Modelleben und zur vielen Fliegerei sein. Wenn sie so etwas sagt, suchen ihre blauen Augen im Raum vielleicht nicht nach Entschuldigung, jedenfalls nach Halt.

Es gibt nur eine Handvoll österreichischer Fixsterne im internationalen Modelkosmos – sie ist einer davon, der vielleicht außergewöhnlichste. 2021 hat die italienische Vogue Greta Elisa Hofer wie zum Ritterschlag aufs Cover gehoben, das Mailänder Label Prada hat sie weltweit als Exklusivmodel verpflichtet.

Die Frau zeigt auf ihren 1,75 Metern die neuesten Kollektionen der größten Modemarken, jettet zu Schauen nach Paris und Shootings an die italienische Küste. Bekommt viel Geld als Gesicht von Max-Mara- und DiorKampagnen, wie viel genau, will sie nicht sagen. Sie verhilft auch solchen

Textilkonzernen zu Umsätzen, die es nicht so gut mit dem Planeten meinen. Und dazwischen demonstriere sie in Wien für die Umweltbewegung Fridays for Future ihrer Namensvetterin Greta Thunberg. Bewohnt (immer seltener) eine Wohngemeinschaft und deckt sich mit aufgetragenen Vintageklamotten ein. Wie geht sich das alles aus?

Ihre Modelkarriere ist Greta Elisa Hofer passiert und hat sie in diese Zwischenwelt des chronisch schlechten Gewissens gebracht. Doch neu ist ihr so eine Zerrissenheit nicht. Streng genommen hat das schon in ihrer 3000-SeelenHeimatgemeinde Steinach am Brenner begonnen.

Lange, blonde Haare hatte sie als 16-Jährige – entsprach von Kopf bis Fuß dem Schönheitsideal. Trotzdem habe sie ihr Gesicht mangels Selbstvertrauen hinter den paar Strähnen versteckt, die in ihr Gesicht fielen. Das Mädchen kam im Dorf nicht sonderlich gut an. Sie war oft allein, weil sie sich weder bei der Trachtenkapelle noch im Sportverein behaupten wollte, sondern lieber Fantasy-Bücher las und die Handlung mit ihren Schwestern im Wald nachspielte. Sie wollte anders sein als alles dort und scherte zum ersten Mal aus.

„Eines Nachts habe ich beschlossen, meine Haare abzurasieren.“ Als alle schliefen, hat sie den Haarschneider des Vaters geholt und ihr Jugendzimmer von innen abgeschlossen. „Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mir die Gesellschaft die langen Haare aufdrängen wollte.“

Doch Beleidigungen hat sie nicht mehr gefürchtet, und ihre Glatze bedeutete für die Außenseiterin Souveränität. Sie gefiel sich sofort, ihr Gesicht kam zur Geltung. „In diesem Moment entdeckte ich, dass ich schön bin“, sagt sie, aber zurückhaltend. Ohne schützenden Helm stieg ihr Selbstwert, die raspelkurzen Haare sind bis heute ihr Markenzeichen.

Die 22-jährige Tirolerin ziert Editorials in internationalen Modemagazinen wie der französischen Vogue (rechts oben) oder Self Service Magazine (links oben). Für das Mineralwasser Vöslauer wirbt sie als Nachhaltigkeitsbotschafterin für die neue PET-Mehrwegflasche

Sechs Jahre später ist der Modezirkus eine neue, teils fremde Heimat geworden. Mit 20 ging sie zum Studieren nach Wien, Kunstgeschichte hätte es sein sollen, stattdessen wurde sie auf Instagram von einem Agenten entdeckt. Als das Land im Lockdown lag, startete ihr märchenhafter Aufstieg in einer Branche, mit der sie nichts zu schaffen hatte. Für Mode hatte sie nie nennenswertes Interesse, nichts in ihr erfüllte dieses Klischee, außer der androgyne Körper mit Größe 34. So ganz genau weiß die Tochter eines Masseurs und einer medizinischen Assistentin noch heute nicht, wie ihr geschieht, wenn sie sich (wie gerade) das Visum für die Vereinigten Staaten holt, um auf New Yorker Laufstegen zu arbeiten. Und wie sich der Beruf, der ihr zugewiesen wurde, eigentlich mit ihr vereinbaren lässt. Beim Erzählen hört man die Generation Z raus, „personality“ und „nice“ kommen vor. Und dieses ständige Gefühl, der Welt nicht zu genügen. Aber sie ist ja noch jung. Als Kompensation für den New-York-Flug wolle sie an eine Organisation spenden, die Bäume gegen die Klimakatastrophe pflanze. F

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FOTOS: DAVID SIMS/VOGUE PARIS MARCH 2021, ROBIN GALIEGUE/SELF SERVICE NOV 2021, VÖSLAUER

Mehr davon: Souveränes Fleisch

Hochgeschätzt 99,7 Prozent aller Wiener Lokale servieren Fleisch. Über das wir absolut nichts wissen, weder, woher es kommt, noch, wie die Tiere aufwuchsen. Nichts, nada.

„Bürokratischer Aufwand“ lautet die Ausrede und zeigt Ahnungslosigkeit, wie Marketing in der Lebensmittelbranche eigentlich funktioniert, nämlich über Transparenz. Hier einige Wirte, die es verstanden haben:

XO Grill Den Leuten vom XO Grill fehlt es derzeit wirklich nicht an medialer Unterstützung, trotzdem ist das XO-Konzept fortwährend zu loben: Fleisch von bis zu 20 Jahre alten Milchkühen aus Oberösterreich und Salzburg, stressfrei geschlachtet, gut gereift, zu herrlichem Streetfood verbraten.

5., Kettenbrückeng. 15, Tel. 0664/237 66 06, Di–Fr 17.30–22, Sa 12–22, So 12–20 Uhr, www.xo-grill.at

Zum Renner Der Renner ist gewissermaßen der thematische Vorläufer vom Praterwirt: Auch das bayerische Andechser-Bier trinkt sich äußerst leicht, und der Renner hat ebenfalls eine eigene Fleischhauerei, die Karte ist so klassisch, dass sie schon wieder modern ist.

19., Nussdorfer Platz 4, Tel. 01/378 58 58, tägl. 11.30–23.30 Uhr, www.zum-renner.at

Meinklang Hofladen Das kompromissloseste Konzept von allen: Bio-Fleisch eigener MangalitzaSchweine, eigener Angus- und Aubrac-Rinder, selbst geschlachtet und gereift, wahnsinnig tolles Fleisch, das hier auch super zubereitet wird.

5., Franzensgasse 2, Tel. 0664/384 94 70, Di–Fr 8–21, Sa 9–21 Uhr, www.meinklang.at

SoFàre Beim SoFàre nehmen sie das mit der Produktherkunft außerordentlich ernst. Beim Fleisch entschieden sich die Pasta-Macher für den Biohof Harbich, ein Aderklaaer Musterbetrieb mit alten Haustierrassen.

2., Hollandstr. 10/4–6, Tel. 0676/330 24 02, tägl. 9.30–19 Uhr, www.sofarebistrot.com

Hausmair’s Gaststätte Auch Herbert Hausmair versorgt sein Lokal selbst, zumindest mit Wildbret. Wildschwein, Reh und Hirsch bereitet er aber nicht nur zu, er gibt hier auch Zerlege-Kurse. Fleischesser sollten das einmal gemacht haben.

7., Lerchenfelder Straße 73, Tel. 0676/754 60 18, Di–Fr 11–23 Uhr, www.hausmair.at

Fleisch aus der Hand

Der neue Praterwirt zeigt, wie Fleisch doch noch zukunftsfähig werden könnte

LOKALKRITIK: FLORIAN HOLZER

Die Übernahme des Dogenhofs war einigermaßen langwierig. Und bis aus dem schon schrumpeligen Kaffeehaus vor zwei Jahren endlich das hippe Diner mit offener Feuerstelle wurde, hatten die Dogenhof-Wirten Simon Steiner und Mile Palikukovski viel Zeit zum Nachdenken. „Da waren dann so viele Ideen, die passten gar nicht alle in ein einziges Lokal“, sagt Steiner.

Weshalb von Anfang an auch gleich ein Zweitlokal mitgedacht wurde, der Praterwirt sollte niederschwelliger, bodenständiger, weniger elitär als der Dogenhof sein. Und weil Simon Steiner seit jeher von einer Zapfanlage mit Kugelventil träumte, aus der unpasteurisiertes Bier mit natürlichem Druck sprudelt, stand das Getränke-Thema fest.

In Österreich schaffte das übrigens keine einzige Brauerei, also fiel die Wahl auf Budweiser. Das mit irrsinnig viel Schaum in kugelrunde Krügeln gezapfte, wunderbare Bier geht runter wie Wasser.

Wirklich sensationell wird der Praterwirt aber beim Feststofflichen: Die Praterwirte installierten eine eigene Fleischhauerei, in der Jung-Fleischer Max Klaghofer tote Tiere zerlegt, ver-

wurstet und was man als Fleischer halt sonst noch so tut. Von der Praterstraße aus kann man ihm dabei zusehen, Fleisch-Glasnost sozusagen.

Die Tierhälften kommen aktuell von kleinen Schlachthöfen, in Zukunft soll dann auch Ungewöhnlicheres als Rind und Schwein am Haken landen, Wildbret zum Beispiel oder Ziege.

Weil der Praterwirt auch eine Fleischerei samt Fleisch-Vitrine ist, gibt’s klassische Imbiss-Pulte aus Nirosta, wo sich exzellenter Leberkäse mit zwölfmonatigem Bergkäse oder wirklich fantastische Bärlauch-Bratwürste zum Kilopreis verdrücken las-

4000 weitere Lokale finden Sie im Lokalführer „Wien, wie es isst“. www.falter.at

Ehrliches Essen: Fleischer Stefan und der mexikanische PraterwirtKoch Balam

FOTO: HERIBERT CORN

sen. Der weitläufige Wirtshausbereich fährt dann etwas edler, hier gibt’s Beef tatar, Markknochen auf Schwarzbrot oder eine Ochsenschwanzsuppe so konzentriert wie Kaffee, ohne das flaumige Leberknöderl wäre das fast schon zu viel Kraft (€ 6,–).

Ob man Wurzelfleisch wirklich aus Mangalitza-Backerln machen sollte, statt aus Schulter und Schwartel, kann man natürlich diskutieren (€ 17,80), und nachdem schon mindestens drei touristenfreundliche CityRestaurants das Schnitzel strapazieren, serviert Küchenchef Lukas Stagl das Panierte hier in Form eines Surschnitzels: sehr knusprig, saftig, nicht zu salzig, sehr super.

Dass es nicht aus der Pfanne, sondern aus dem Fritter kommt, müssen Dogmatiker erst einmal aushalten, bei ideologiefreier Betrachtung ist es tatsächlich so gut, dass man sogar das Schälchen Preiselbeermarmelade (sind wir hier in Salzburg, oder was?) verzeiht (€ 16,90). Wer Fleisch und Bier liebt, hat in der Praterstraße echt was zu lachen.

Resümee:

Praterwirt 2., Praterstr. 45, tägl. 11.30–24, Fleischerei Mo–Sa 9.30–18 Uhr, www.praterwirt.at

Ein neues Wirtshaus von den Dogenhof-Leuten mit eigener Fleischerei, idealem Bier und Fleisch, wie es sein soll.

ESSEN • TRINKEN FALTER 24/22 39 WANDER BARES WIEN WANDERN IM WIENERWALD 30 Touren in und um Wien
GRAFIK: ARGE KARTO

PETERS TIERGARTEN

LICHT AUS!

Mehr Licht“ waren angeblich die letzten Worte Goethes. Seitdem rätselt die humanistische Welt darüber, was der Dichterfürst damit der Nachwelt sagen wollte. Manche meinen, er hätte im Frankfurter Dialekt auf seinem Sterbebett „Mer lischt“ (Man liegt (hier schlecht)) geklagt oder auch nur einen helleren Kaffee verlangt.

Sicher hat er aber nicht mehr öffentliche Beleuchtung gefordert. Denn damals war man mit der aufkommenden Gasbeleuchtung der Straßen unzufrieden. In der Kölnischen Zeitung vom 28. März 1819 wurden ausführlich Gründe angeführt, warum „jede Straßenbeleuchtung verwerflich ist“. Über manche Argumente können wir heute lächeln, wenn zum Beispiel dies als „Eingriff in die Ordnung und den Weltenplan Gottes“ bezeichnet wird. Aber ein Punkt erscheint heute geradezu visionär: „Für den Leuchtstoff, Öl oder Steinkohlen, geht jährlich eine bedeutende Summe ins Ausland.“

Die öko-physiologischen Auswirkungen auf Lebewesen einschließlich des Menschen waren da-

mals aber noch kein Thema. Der Begriff „Lichtverschmutzung“ entstand erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bezeichnet die künstliche Aufhellung des Nachthimmels durch ineffizient eingesetzte Straßenlampen, Gebäudebeleuchtungen und Leuchtreklamen. Diese strahlen einen großen Teil ihrer Energie nicht in Richtung Erde, sondern nach oben ab. Auf zehn Einwohner kommt bei uns im Durchschnitt eine Straßenlampe. Das macht ca. 800.000 Stück. Die Himmelshelligkeit ist damit in Großstädten etwa hundertmal heller als der natürliche Nachthimmel und diese Aufhellung der Nacht nimmt global jedes Jahr um bis zu acht Prozent zu. Na und? Ja, man kann sich ignorant stellen, aber 60 Prozent aller Insektenarten und immerhin auch

30 Prozent aller Säugetierarten sind dämmerungsoder nachtaktiv. Die immer häufiger verwendeten LEDs senden kurzwelliges (blaues) Licht aus, das den Schlaf-Wach-Rhythmus von Menschen, Tieren und Pflanzen stört. Auch darüber könnte man läppisch witzeln, dass es deswegen so viele grantige Insekten gibt. Dumm, wenn diese dann ihrer Arbeit, Pflanzen zu bestäuben, nicht mehr nachkommen oder auch die Pflanzenblüte sich auf andere Zeitpunkte verschiebt. Auch die Meeresumwelt ist davon betroffen: Miesmuscheln filtern nächtens das gesamte Wasservolumen des Wattenmeers der Nordsee innerhalb von zwei Wochen. Bei Licht öffnen sie sich später und filtrieren entsprechend weniger. Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt, aber nichts passiert. Warum? Weil sich dafür niemand zuständig fühlt. Ja eh, da kann man halt nichts machen.

NATUR

HIMMEL HEIMAT HÖLLE

Kwirki, Sendbote der Bäume. Die Skulptur auf dem Floridsdorfer Spitz spricht Passantinnen und Passanten an und bittet sie um Spenden für ökologische Projekte des Jane Goodall Institute Austria, die sich dem Walderhalt widmen. Kwirki ist eines von elf Klima-Kunstprojekten von Kunst im öffentlichen Raum Wien.

Anschub für Windräder. In Vorarlberg, Tirol und Salzburg steht bisher noch kein Windkraftwerk. Umweltministerin Leonore Gewessler will nun den Druck auf die Bundesländer erhöhen. Projektwerber sollen künftig auch ohne die bisher nötige Widmung mit der Umweltverträglichkeitsprüfung starten können.

Hamster Opfer von Rattengift. Auch für geschützte Tiere wie Feldhamster seien prophylaktisch aufgestellte Rattengiftboxen tödlich, stellte der Verein Tierschutz Austria durch Obduktionen von Hamstern fest. Der Verein fordert nun ein Verbot für solche Boxen in der Nähe von Hamster- und Zieselvorkommen.

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KÖR/IRIS RANZINGER, APA/HELMUT FOHRINGER, APA/DPA/UWE ANSPACH
Solang es ging, ließ er das Gemüse auf dem Feld, „doch irgendwann mussten wir einackern“. Sprich: die überreifen Salate in den Boden einarbeiten.
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Peter Iwaniewicz will wieder in der Nacht Sterne sehen können ZEICHNUNG: GEORG FEIERFEIL

Gemacht für die Zukunft

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LUXUS

Erdbeeren, Salate und Spargel verro en heuer auf dem Feld oder landen auf dem Kompost, weil sie nicht genug Abnehmer finden. Werden frisches Obst und Gemüse aus Österreich zu Luxusgütern?

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FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO
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Salate, Kraut, Kohlrabi – alles gedeiht heuer so üppig, dass der Gemüsebauer Stefan Müßigang im Tiroler Thaur eine überdurchschnittlich gute Ernte hätte. Aber eben nur hätte. Der Absatz ist über mehrere Wochen um 15 Prozent eingebrochen. „Am extremsten war es bei den teureren Salaten“, erzählt er. So lang es ging, ließ er das Gemüse auf dem Feld, „doch irgendwann mussten wir einackern“. Sprich: die überreifen Salate in den Boden einarbeiten, so dienen sie wenigstens noch als Dünger. Ein befreundeter Bauer habe seine Sachen teils ab Feld verschenkt.

Bei den Salaten macht Müßigang, der auch im Vorstand des Vereins der Tiroler Gemüsebauern sitzt, dem Handel keinen Vorwurf. Die Konsumenten griffen jetzt eben eher zu billigeren Sorten. Bei den Erdbeeren aber hätten die Supermärkte heuer zu viel billige ausländische Ware in die Regale gestellt. Er habe gesehen, wie ein Bauer haufenweise Beeren wegkippen musste. Dazu kommen gestiegene Produktionspreise und fehlende ukrainische Saisonarbeiter. „Im Obst- und Gemüsebau haben wir das schlechteste Jahr aller Zeiten“, sagt Müßigang. Er hat den Anbau bereits um ein Viertel reduziert.

Vom „Erdbeer-Wahnsinn“ berichtete die deutsche Bild-Zeitung: Landwirte müssten ihre Beeren vernichten, „weil keiner sie kau “. Auch in Österreich müssen gerade teurere Früchte und Gemüse wie Spargel entsorgt oder verschenkt werden. Die Inflationsrate ist mit acht Prozent auf den höchsten Wert seit 40 Jahren geklettert, der Lebensmittel-Wocheneinkauf machte gar einen Preissprung um 14 Prozent. Also kaufen die Menschen billiger und weniger frisches Obst und Gemüse. Schon lassen Bauern Felder lieber brachliegen. Werden Erdbeeren und Spargel zum raren Luxusgut? Und wird es auch in fünf Jahren noch regionales Gemüse zu kaufen geben?

Dem Erdbeerhof Roithmayr im oberösterreichischen Hacking nahm der Handel heuer um gut ein Drittel weniger ab als erwartet. Via Facebook rief die Familie kurzerhand zur „Marmeladeerdbeerenaktion“ auf: Selbstpflücker konnten sich um 4,70 Euro das Kilo mit vollreifen Früchten, gerade recht zum Marmeladekochen, eindecken. „Bitte ganz fleißig teilen, damit wir möglichst keine Lebensmittel verschwenden müssen!“ Letztlich sei alles weggegangen, sagt Michael Roithmayr.

Jene, die es am stärksten getroffen hat, wollen nicht öffentlich reden: Sie haben Angst, es sich mit dem Handel zu verscherzen. Den nämlich sehen viele zumindest als mitverantwortlich für die Flaute. Üblicherweise bieten die Supermärkte schon vor dem österreichischen Saisonbeginn Früchte aus anderen Ländern an. Sind dann die heimischen Radieschen oder Beeren da, füllen sie die Regale. „Doch heuer“, sagt Fritz Rauer, Obmann der steirischen Gemüsebauern aus Blumau, „lässt man die Billiganbieter einfach weiter liefern.“ Bei den Beerenzüchtern sei jetzt ein „Tsunami“ im Gang. Denn das Halbkilo-Schäl-

MARKTBERICHT: GERLINDE PÖLSLER

chen mit deutschen Erdbeeren gibt’s um zwei bis drei Euro billiger.

»Die heimischen Bauern sind heuer für den Handel zu Lückenbüßern geworden

„Supermärkte haben heuer verstärkt ausländische Ware auf Riesenflächen gleich beim Eingangstürl positioniert“, sagt Stefan Hamedinger, Geschä sführer Gemüsebau im Verband der Obst- und Gemüseproduzenten in Oberösterreich. Offenbar bestellten die Ketten die großen Mengen woanders. Die heimischen Bauern dür en bloß als Lückenbüßer einspringen. Sie erhielten immer nur kleine Bestellungen, können sie doch auf kurzem Weg rasch nachliefern. Manchmal zweimal am Tag. „Diese Unarten sind niemandem anzulasten“, sagt Hamedinger, „Die bringt einfach die hohe Konzentration im österreichischen Handel mit sich: Die pro Telefonat umgeschlagenen Mengen werden immer größer.“

te von 9,3 auf zuletzt 12,5 Prozent. „Nach diesem extremen Wachstum war es klar, dass sich die Kurve wieder abflacht, wenn die Leute wieder ins Büro gehen und weniger kochen“, sagt Bio-Austria-Obfrau Gertraud Grabmann. „Bio wird weiter wachsen, aber eben so wie in den Jahren vor Corona: moderat.“

Das Spezielle im Obst- und Gemüsebau, egal ob konventionell oder Bio: Er braucht sehr viel Handarbeit, und die Arbeitskosten sind in Österreich hoch. Daher sind Bananen, die um die halbe Welt geflogen werden, billiger als heimische Äpfel.

STEFAN HAMEDINGER, VERBAND DER OBST- UND GEMÜSEPRODUZENTEN IN OBERÖSTERREICH

Manfred Kohlfürst dünnt gerade Apfelbäume aus, zup also die zu kleinen oder unförmigen Früchte herunter. „Der Schwiegervater findet, wir tun zu viel runter“, sagt Kohlfürst, Obmann der steirischen Erwerbsobstbauern. „Aber heute bringt man Äpfel, die nicht hundertprozentig perfekt sind, am Markt nicht unter.“

Mit ihren fünf Hektar kommt die Familie in St. Marein bei Graz ohne Erntearbeiter über die Runden, im Herbst helfen Eltern, Schwiegereltern und die vier Töchter mit.

Menschliche Arbeitskra ersetzt auch die selbstfahrende Arbeitsbühne, auf der Kohlfürst durch die Reihen zuckelt: So kommt er bequem auch an die höheren Äste. Der Schwiegervater musste seinerzeit noch Leiter rauf-, Leiter runterkraxeln. Kostenpunkt des Elektrogefährts: 70.000 Euro. Es ist schon das zweite, beim ersten hat die Batterie Feuer gefangen, das Wägelchen hätte beinahe auch die Scheune mitabgefackelt.

Zu investieren war auch in die Hagelnetze, die sich nun über die Kohlfürst’schen Apfelbäume spannen. Ohne sie geht es nicht mehr. Erst vor kurzem kamen wieder sieben Zentimeter große Hagelschloßen herunter.

Landwirt Manfred Kohlfürst: „Bei den Äpfeln verlieren wir in den nächsten Jahren sicher 30 Prozent Anbaufl ächen“

FOTO: MAX WEGSCHEIDLER

möglich ankaufen. „Bei uns sind die Landwirte keinesfalls Lückenbüßer, sondern im Gegenteil während der Saison die Hauptlieferanten”, so SparSprecherin Nicole Berkmann. Ebenso sagt die Diskontkette Hofer, sie verkaufe nahezu alles, was an Obst und Gemüse gerade national verfügbar sei, dann auch aus Österreich.

Ähnlich bei Rewe. „Freilich sind die Kunden jetzt preissensibler“, sagt Sprecher Paul Pöttschacher, „und Erdbeeren sind ein gewisser Luxus, auch weil sie nicht lang halten.“ Er räumt aber ein, dass bestimmte Filialen möglicherweise weniger heimische Erdbeeren eingeschlichtet haben, „weil wir basierend auf Erfahrungswerten davon ausgehen, dass die Kunden das dort nicht so annehmen“.

Keineswegs mehr als andere leidet die Biosparte. Bei Spar sieht man immer noch eine sehr gute Bio-Nachfrage, „nur die Zuwachsraten sind halt nicht mehr ganz so hoch“. Von einem Absatzeinbruch könne keine Rede sein, heißt es auch bei Rewe.

Alle vier großen Ketten – Spar, Rewe (Billa, Billa plus), Hofer und Lidl – erklären dem Falter, sie würden so viel österreichische Ware wie Mehr

gibt es jeden Freitag kostenlos per E-Mail. Anmelden unter falter.at/natur

Seit Beginn der Corona-Krise hat die Branche einen Höhenflug hingelegt: Im Jahr 2020 ist sie im Handel gleich um 23 Prozent gewachsen. Der Anteil der Ausgaben für Bio kletter-

Kaum verändert habe sich in den letzten Jahren, was die Apfelbauern für ihre Ware bekommen. „Damit es sich ausgeht, müssten wir im Schnitt pro Kilo etwa fünfzig Cent bekommen“, sagt Kohlfürst. Heuer könnten es wieder weniger werden. Im Geschä zahlen die Kunden zwei bis zwei Euro fünfzig je Kilo heimische Äpfel. Viele weitere in der Produktionskette wollen auch etwas verdienen. „Besonders die Kosten für die Verpackung werden immer extremer“, sagt Kohlfürst: „Die Kartons sind o schon teurer als das Produkt, das drin ist.“

Ewald Mayr baut im oberösterreichischen Pupping Stangensellerie, Chinakohl und Radieschen für den Handel an. „Die Produktionskosten sind extrem gestiegen“, sagt der Obmann der oberösterreichischen Obstund Gemüseproduzenten: der Diesel für den Traktor, die Energie zum Heizen von Glashäusern. Der Dünger ist jetzt bis zu dreimal so teuer. Der größte Faktor aber seien die heuer auch wieder gestiegenen Lohnkosten für die Saisonarbeiter. Von 100 verdienten Euro müsse er bei manchen Kulturen 70 Euro für die Mitarbeiter ausgeben – für Löhne, Unterkun , Arbeitskleidung. „Insgesamt haben wir um bis zu

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30 Prozent höhere Produktionskosten als im Vorjahr. Der Handel hat uns die aber bisher kaum abgegolten.“

Alle Handelsketten betonen ihr Bemühen um faire Bauernpreise. Von Spar heißt es: „Wir müssen zusehen, dass die Preise für die Lieferanten lebbar, aber für die Kunden auch leistbar bleiben.“ Jeder müsse „seinen Beitrag leisten: Wir verzichten auch auf einen Teil unserer Spanne.“

Der Oberösterreicher Mayr sieht ein Grundproblem: „Wir österreichischen Landwirte sind mit unseren Bedingungen am europäischen Markt nicht wettbewerbsfähig.“ Während die deutschen Bauern über die billigen Arbeitsstunden in Polen und Südeuropa klagen, schaut man in Österreich mit Grimm auch nach Deutschland. Dort bekomme der Erntearbeiter knapp zehn Euro pro Stunde auf die Hand, und mehr koste er auch den Bauern nicht, sagt Mayr. „Bei uns kriegen die Arbeiter keine acht Euro heraus“, die Bauern würden sie aber mehr als das Doppelte kosten. Der Grund: In Deutschland ist ein Teil der Saisonarbeiter bis zu drei Monate von der Sozialversicherung befreit, die Bauern brauchen keine Lohnnebenkosten für sie zu zahlen. Mayr beschäftigt mehr als 30 Leute, und er wolle kein Lohndumping, sagt er: „Aber wenigstens innerhalb Europas sollen für alle dieselben Bedingungen gelten.“

Oder die Pestizide: Ein Viertel der Erdäpfelernte von Mayrs Tochter war im Vorjahr so vom Draht-

wurm zerfressen, dass sie diese nur noch einem Bauernhof zum Verfüttern geben konnte. Das Spritzmittel, das die Bauern früher gegen den Wurm einsetzten, ist inzwischen als bienenschädlich verboten. „Wenn es den Bienen wirklich schadet, dann bin ich auch dagegen“, sagt Mayr. Was ihn aber ärgert, ist, wenn er dann in den Geschäften Früherdäpfel aus Zypern oder Ägypten liegen sieht. In Österreich die Bauern zu hohen Standards verpflichten, aber dann Ware (ver)kaufen, die zu niedrigeren Standards erzeugt wurde: „Das ist verlogen.“

Bei der Produktionsgewerkschaft ProGe sieht man das deutsche Saisonniermodell naturgemäß anders. Dass die Erntearbeiter dort nicht vom ersten Tag an sozialversichert sein müssen, ist für Martina Schneller, Leiterin der Internationalen Abteilung, „ein Missstand. Wir sehen das als wichtige Beiträge, damit die Arbeitnehmer abgesichert sind“. Die deutsche Regierung habe versprochen, dies zu beheben.

„Die Saisonkräfte, die bei den Bauern arbeiten, sind das schwächste Glied in der Produktionskette.“ Ihre Bezahlung sowie ihre Arbeitsbedingungen gehörten überall verbessert. Einig ist sie mit den Bauern darin, dass die Standards europaweit harmonisiert gehörten. Wenn es nach Schneller geht: nach oben.

Schmerzlich vermisst werden heuer die meisten der 2500 ukrainischen Erntehelfer. Stefan Müßigang in Tirol beschäftigte bis zum Vorjahr überwiegend Ukrainer, manche kamen seit 25 Jahren. Heuer sind nur rund zehn erfahrene Kräfte unter Müßigangs rund 70 Saisonarbeitern. Alle anderen sind neu, darunter 20 Ukrainerinnen, teils die Ehefrauen der langjährigen Saisonniers, die Müßigangs samt deren Kindern einquartiert haben.

Mit so vielen Neuen gehe das nicht ohne Anlaufschwierigkeiten. Kürzlich sollten die Saisonkräfte Bierrettich ernten. 500 Gramm solle er haben, dieses Gewicht verlangt der Handel. Doch geerntet haben die Neuen auch Rettiche mit weniger als 300 Gramm. „Die sind hin“, sagt Müßigang. „Grundsätzlich sind wir sehr zufrieden mit unseren neuen Arbeitskräften“, sagt er. „Aber Erfahrung lässt sich eben nicht so schnell ersetzen.“

Dabei ist die heimische Selbstversorgung mit Obst und Gemüse ohne-

hin nicht berauschend. Aufgrund der klimatischen Verhältnisse wird es in Österreich nie eine ganzjährige Selbstversorgung mit Erdbeeren (39 Prozent, Fünf-Jahres-Schnitt), Tomaten (20 Prozent) oder Spargel (47 Prozent) geben, zumindest nicht ohne massiven Energieeinsatz. Doch auch bei Birnen ist Österreich auf Importe angewiesen (Selbstversorgungsgrad 72 Prozent), ebenso bei Erdäpfeln (83 Prozent) und Knoblauch (ein Fünftel). Dass der Anteil der Importe nicht egal ist, spürt man in Krisen wie zu Beginn der Covid-Pandemie, wenn Grenzbalken fallen und Lieferketten stocken. „Wir haben uns schon in zu vielen Bereichen abhängig gemacht, bei den Lebensmitteln sollten wir nicht den gleichen Fehler machen“, findet Apfelbauer Kohlfürst. Was, wenn noch mehr Bauern Radieschen Radieschen sein lassen?

„Bei den Äpfeln verlieren wir in den nächsten Jahren sicher 30 Prozent Anbauflächen“, sagt Kohlfürst. „Viele können nichts mehr investieren. Und die Jungen sagen: Für dieses Einkommen arbeite ich nicht 70 Stunden die Woche.“

Nicht zu vergessen die durch den Klimawandel gestiegenen Risiken. „Marillen anzupflanzen ist fast schon Selbstmord“, so Kohlfürst. So mancher Bauer habe 2016 das letzte Mal geerntet, immer vernichteten Frühfröste und Hagel das Obst. Derzeit drohen, nach der guten Ernte, Radieschen und Salate vom vielen Regen abzusaufen. Und neue Schädlinge rücken an: Bei den Äpfeln ist es eine Wanze.

Zudem werden der Landwirtschaft gerade riesige Flächen entzogen. Wo früher Gemüse und Getreide wuchsen, steuern heute schwere Lkws Logistikzentren an oder ziehen Bagger 70-Parteien-Wohnparks hoch. Der derzeit noch starke Gemüsebau im Süden von Graz ist im Schrumpfen. Pro Hektar würden hier für einen Baugrund zwei Millionen Euro gezahlt, so Kohlfürst: „Also das Zehn- bis Zwanzigfache dessen, was ein Bauer dafür zahlen kann.“ Dass sich Landwirte zum Verkaufen entschließen, versteht er: „So viel kannst du in zehn Generationen nicht erwirtschaften.“

Im Landwirtschaftsministerium verspricht man ein Entlastungspaket für die Bauern, die Regeln für die Saisonarbeiter seien freilich Sache der Sozialpartner. Außerdem sei die Eigenversorgung bei Obst und Gemüse mit 58 und 48 Prozent, „bedenkt man die klimatischen Bedingungen in Österreich, sehr gut“. Im Vorjahr seien die Erntemengen bei Obst und Kartoffeln deutlich gestiegen.

Auch Kohlfürst sieht nicht nur schwarz. Er setzt auf Wandel. Wo heute die Apfelbäume stehen, hielten die Schwiegereltern einst Milchkühe, bis sie nicht mehr mit den Großbauern mithalten konnten. Kohlfürst hat jetzt Birnbäume gepflanzt: Für die Sorte Xenia rechnet er mit einem Euro pro Kilo.

Eines sei aber klar: „Meine Eltern mussten weit mehr von ihrem Einkommen für Lebensmittel ausgeben als wir. Unsere Kinder werden das auch wieder müssen.“ F

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Ewald Mayr mit Erntehelfern: „Wir österreichischen Bauern sind mit unseren Bedingungen nicht wettbewerbsfähig“
FOTO: GEMÜSEHOF MAYR

Chalets-Chaos am Nassfeld

Anders gebaut als angekündigt, mit fragwürdiger Wasserversorgung: Ein Chalet-Projekt wird

BERICHT: BARBARA TÓTH

Man sieht es erst, wenn man aus dem Ort in Richtung Gartnerkofel hinaufwandert: jenes gigantische Chalet-Dorf, das gerade mitten im Skigebiet Nassfeld in Kärnten knapp an der italienischen Grenze entsteht. „Almressort Sonnenalpe“ heißt das Projekt, und es schaut aus, als hätte sich in Kärntens größtem Skigebiet die Ortschaft multipliziert: 18 Häuser, manche vierstöckig, andere geduckt, reihen sich auf einer Hügelkuppe zwischen Skilift und Straßenkehre. Der Investor, die Firma Riedergarten Immobilien des Kärntners Herbert Waldner, will hier 40 bis 98 Quadratmeter große Ferienimmobilien verkaufen.

Chalets in den Alpen, das ist der Traum der Immobilienentwickler. Dort entstehen „kalte Betten“, warnen Kritiker, die die Umwelt und einen nachhaltigen Tourismus im Auge haben. Das Muster ist bekannt: Ein Investor verspricht ein Hotel mit angeschlossenen Apartments, Restaurant, Bar, Wellness & Spa. Am Ende bleiben nur schnell verwertbare Ferienwohnungen über.

Beim „Almressort Sonnenalpe“ kommt es noch schlimmer. Denn der Projektentwickler hat nicht nur anderes versprochen, als er gebaut hat, wie der Kärntner Monat und die Kleine Zeitung bereits berichteten. Das Areal wird nun auch ein Fall fürs Ge-

richt. Denn der Kärntner Naturschutzbeirat, der gleichzeitig auch Umweltanwalt ist, hat beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen das Projekt eingebracht.

Sein Argument: Es hätte in jedem Fall zu einer Umweltverträglichkeitsprüfung kommen müssen. Zum einen, weil dort mehr als 500 Betten entstehen, was von den Projektbetreibern geschickt verschleiert wurde. Zum anderen gibt es für den Megaparkplatz gar keine naturschutzrechtliche Bewilligung. Zuständig für die Kontrolle wäre die Bezirkshauptmannschaft Herma-

Der Blick vom Gartnerkofel aufs Nassfeld zeigt die Dimension des geplanten ChaletDorfs „Almressort Sonnenalpe“ (links im Bild)

zum Fall fürs Verwaltungsgericht

gor gewesen. Dort heißt es auf Falter-Anfrage, den Bau des Parkplatzes habe man ohnehin im Herbst 2021 schon gestoppt. Die Schlüsselfrage ist: Wurde am Ende das Almressort von den Entwicklern bewusst so eingereicht, um eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu umgehen? Hinter den Kulissen schwelt dazu ein Machtkampf zwischen den zuständigen Abteilungen in der Kärntner Landesverwaltung Umwelt (Abteilung 8) und Wirtschaft und Tourismus (Abteilung 7). Deren Leiter Albert Kreiner antwortet auf Falter-Anfrage nicht. Ebenso wenig wie Projektbetreiber Riedergarten Immobilien.

Interessant ist das Protokoll der Gemeinderatssitzung Hermagors vom 17. 12. 2019. Die Immobilienentwickler kündigen zuerst (Stand 2018) ein Hotel mit 495 Betten an, dazu Appartements mit 165 Betten. Dann wird überarbeitet (Stand Oktober 2019). Jetzt sind es plötzlich ein 126-Betten-Hotel, 195-Appartement-Betten und 338-Chalet-Betten. Mit ein Grund dafür dürfte auch die zukünftige Wasserversorgung im Almressort sein, die, gelinde gesagt, fragwürdig ist. Dafür soll die „Auernigquelle“ genutzt werden, die auf italienischem Gebiet liegt. Ein Wasserliefervertrag garantiert aber nur zwei Liter pro Sekunde und läuft nach 15 Jahren aus. All das störte die Gemeinderäte nicht. Das Projekt wurde ohne Gegenstimmen beschlossen. F

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NATUR FALTER 24/22 45 FOTO: BARBARA TÓTH

Phettbergs Predigtdienst Sargnägel

Hermes Phe berg führt seit 1991 durch das Kirchenjahr

Doch ich habe alles überlebt

Erste Lesung am heutigen Dreifaltigkeitssonntag im Lesejahr C: „Als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit.“ (Sprüche 8,22–31)

Jeden Mittwoch um 16.05 Uhr läu auf Ö1 die Sendung „Praxis – Religion und Gesellscha “, und da schnappe ich mir immer die spannendsten Teile heraus, wie z.B. vergangene Woche, dass der Vatikan, also der Papst, alle heurigen Priesterweihen in Frankreich für ungültig erklärt hat.

Oder: In Deutschland gibt es eine jugendliche Gruppe, „Dumpster Diver“, die Abfälle stiehlt aus den Hinterhöfen der großen Supermärkte, sie grasen alles ab und stehlen Lebensmittel, die noch genießbar sind, die die Supermärkte aber weggeschmissen haben, weil die das den armen Leuten wegen des Ablaufdatums nicht verschenken dürfen oder wollen. Ihnen hat sich der großartige Nürnberger Jesuit Pater Jörg Alt angeschlossen und geht Nacht für Nacht stehlen. Und sie verschenken das Erfladerte an Arme.

In der Praterstraße 28 gibt es nun ein Papst-Johannes-Paul-II.-Zentrum, ein großes ehemaliges Hotel, das nun den Namen „Papst Johannes Paul II. Segnung“ tragen soll. Mir kommt vor, in der Praterstraße 28 soll aus der katholischen Kirche eine „katholische Sekte“ errichtet werden.

Unter seinem Stiefvater Josef war Jesus Zimmermann-Lehrling, und dann hat ihn Johannes der Täufer fest eingetaucht. Josef ist sehr bald verstorben, eigentlich hätte ich meinem Vata folgend Bauer werden sollen, doch aus mir wurde nix! Niemals hat sich wer in mich zu verlieben vermocht.

Zur heurigen Schwulenparade führte Hannes Florian Moser mich mit seiner Band Scarabeusdream in seinem nagelneuen Elektroauto gegen den Uhrzeigersinn um den Ring, beginnend vom Rathausplatz bis zur Oper, da war ich dann schon voll erschöp und musste heim. Die engelsgleichen Samariter haben mich hinaufund hinuntergetragen! Doch ich habe alles überlebt.

Diese elektronischen Steckdosenautos mit allem denkbaren elektronischen Zeug inklusive Heizung und Kühlung und so weiter und die schmutzigen engen Blue Jeans der Mistkäfer-Boys machen mich verrückt mit ihren nackten Oberkörpern!

Phe bergs Predigtdienst ist auch über www.falter.at zu abonnieren. Unter www.phe berg.at/gestion.htm ist wöchentlich neu zu lesen, wie Phe berg strömt

Fragen Sie Frau Andrea Informationsbureau

Alles übers Anhiasln

Liebe Frau Andrea, endlich konnte ich dem Falter 19/22 die elektrisierende Information entnehmen, dass Justin Bieber seinen Testarossa in geschmackvollem Blau „angehiaselt“ hat. Ich bin selbst begnadeter Hiasler, was sich aber maximal im farblichen Ausbessern meiner Werkstatt äußert, jedoch machte ich mir noch nie Gedanken über die Herkun dieses hübschen Wortes. Vielleicht können Sie meinen Wortschatz frisch anhiaseln. Ungeduldig, Dipl.-Ing. Fritz Winkler, Ampass, Tirol, per E-Mail

Lieber Herr Fritz, nach allgemeinem Verständnis ist das Anhias(e)ln ein Synonym für das ungelenke Anmalen, Ausmalen, Anstreichen. In der Gaunersprache zirkuliert der Begriff für das Anmalen des Gesichtes, um sich beim Einbruch und beim Diebstahl zu camouflieren. Das Abfotografieren für die Verbrecherkartei (die Galerie) kennt die Unterwelt als „ohiasln“ („abhiaseln“, „abmalen“).

dem Schmelztiegel Wien? „Hiasl“ ist im bairisch-österreichischen Sprachraum als Koseform des Vornamens Matthias bekannt.

Mit Hiasl wird der tumbe Tor, der Dorfdepp, der Einfältige bezeichnet. Wohl weil der Name eine große Verbreitung hatte. Der Hiasl war der Justin, der Kevin damaliger Zeit. Was aber hat der Hiasl mit der Bemalung des Gesichts zu tun? Der allgemeine Hiasl nichts, der spezielle schon eher.

Mit großer Wahrscheinlichkeit kommt das Anhiasln, das erwähnte Bemalen des Gesichtes bei verbotenem Tun (Überfälle, Einbrüche, Wildereien), von der historischen Figur des Bayerischen Hiasl, 1736 als Matthias Klostermayr im schwäbischen Kissing geboren. Als Wilderer und Anführer einer „gerechten“ Räuberbande wurde er zum Volkshelden. Friedrich Schiller soll ihn als Vorbild für den Karl Moor in seinem Stück „Die Räuber“ genommen haben.

comandantina.com; dusl@falter.at, Twi er:

@Comandantina

Dass es der vermeintlich Wienerische Ausdruck bis ins ferne Tirol geschafft hat, gibt uns Hinweise auf seinen Ursprung. Kommt das Anhiasln etwa gar nicht aus

Der Hiasl endete tragisch. 1771, nach einem Feuergefecht im Gasthof Post in Osterzell, wurde er festgenommen und später in Dillingen an der Donau spektakulär hingerichtet. Erdrosselt, anschließend zertrümmert, geköp und schließlich gevierteilt. Aufpassen beim illegalen Hiasln!

46 FALTER 24/22
ILLUSTRATION: STEFANIE SARGNAGEL
Andrea Maria Dusl beantwortet seit 20 Jahren knifflige Fragen der Leserscha

Nägel, die Hände unbrauchbar machen

Rosalía habe ich vergessen letztes Mal, läuft gerade auch bei mir. Eine fantastische katalanische Sängerin, voller anarchischer Energie, auch wenn man gleichzeitig ihre fundierte musikalische Ausbildung heraushört. Sie hat gerade „Motomami“ herausgebracht, ihr neues Album, aber „Linda“, ihr Duett – sagt man noch Duett? – mit Tokischa ist immer noch das Beste.

Nägel sind bei denen auch ein Thema. Die Jungen haben das Schuhproblem für uns alle gelöst, Frauen brauchen jetzt keine Absätze mehr zu tragen, schon gar nicht im Alltag, außer man arbeitet bei der Vogue oder im Fernsehen, aber sonst sind Turnschuhe heute überall nicht nur okay, sondern Standard.

Filmpremieren und Bälle, gut, aber Absätze im Alltag sind nicht mal mehr schick, man wirkt damit fast altmodisch, und kommt sich mitunter direkt komisch vor, wenn man doch mal in Boots unterwegs ist und mit klackernden Absätzen die Aufmerksamkeit auf sich zieht, während alle anderen geräuschlos und ergonomisch gedämpft auf dicken, weichen Sohlen an einem vorbeifedern, und man wünscht sich gleich, man hätte auch die Sneaker angezogen, die man ja sonst eh immer trägt.

Sogar Nanni, die ich schon zehn Kilometer Kiesweg am See entlang auf SechsZentimeter-Keil-Sandälchen abwandern sah, ohne einen einzigen Jammerlaut im Übrigen, sogar Nanni kam mit Sneakern aus dem Urlaub zurück, in denen man, wie sie begeistert versichert, wie in Butter gehe, als hätten

Heidi List Stadtstreife

FRUCHT

Die Filmklasse meines Buben in der Schüler_innenschule im Wuk hat einen Preis gewonnen beim ÖFB Social Award für einen Film über Sexismus im Fußball. Dafür durften sie zum Match Österreich – Frankreich ins Stadion. Werner Kogler redete, es war fast nicht zu hören, sie bekamen also kaum was mit, war aber egal, weil sie mussten währenddessen ihre Sprüche üben, die sie dann brüllen wollten.

Da waren: „Eine die Frucht!“, „Umme die Frucht!“, „Auße de Frucht!“ und „Oida, sixt du de Frucht ned!“ Nachdem die meisten von ihnen dialektmäßig nicht ganz auf der Höhe sind, lag der Fokus auf Betonung. Daher hat überhaupt gar keiner mehr gehört, was der Vizekanzler da zu ehren hatte. Der Film ist übrigens super. Am besten Simon Hirt und Foulspiel googeln, dann bekommt man den Youtube-Kanal vorgeschlagen.

Am Samstag war 14. Geburtstag und mein Bub ging im Einhornkostüm auf die Wiener Regenbogenparade. Er wurde den ganzen Nachmittag umarmt und die Leute machten Selfies. Hat ihn nicht gestört, weil er war ja ein Einhorn. Wir trafen seinen großen Bruder, der mit seiner Clique da war. Treffpunkt Barnabitensäule bei der Uni,

wir das nicht längst behauptet. Ich denke, es ist gut, wenn Frauen laufen und in jeder Situation theoretisch auch davonlaufen können, unbehindert von fürs Gehen ungeeignetem Schuhwerk.

Doris Knecht hält Billie Eilish für ein gutes Vorbild

Umso überraschter bin ich, dass die jungen Frauen mit den dicksten Sohlen unter den Füßen an ihren Fingern jetzt auch die ärgsten Nägel präsentieren, fünf, sechs Zentimeter lange Gelnägel, gebogen und hart, Nägel, die Hände unbrauchbar machen. Gut, man ist dann wenigstens so Edward-Scissorhands-mäßig naturbewaffnet, aber sonst kann man mit den Fingern nicht mehr viel anstellen.

Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, Billie Eilish kann man mitverantwortlich machen, und wer bin ich, Billie Eilish kritisieren zu wollen. Die Dokumentation über sie, „The World’s a Little Blurry“, ist fantastisch, auch aus Muttersicht betrachtet, alles sehr liebevoll, sehr rührend, und man versteht danach alles.

Gut, man ist dann so Edward-Scissorhands-mäßig naturbewaffnet, aber sonst kann man mit den Fingern nicht mehr viel anstellen

Vor allem die Faszination, die sie auf junge Frauen ausübt, es gibt wahrhaft schlechtere Vorbilder. Nur eben das mit diesen Nägeln nicht, natürlich, sie konterkarieren den Extrem-Leisure-Core-Look, das ergibt schon Sinn, sieht lustig aus.

Aber sonst: Schnall’s nicht. Aber muss ja auch nicht, passt schon so, und vielleicht geht’s auch darum, diese peinlich dauerverständnisvollen Konsensmütter, die einem auch noch die Musik weghören, auch mal ein bisschen vor den Kopf zu stoßen. Gut, danke, funktioniert.

Heidi List betrachtet die Wiener und lässt uns mitschauen.

Diesmal: Geburtstagswochenende

kein Schwein wusste, was das sein soll, bis wer auf „erste Laterne“ übersetzte, da fanden alle hin.

Geplant war, am Rathausplatz tanzen zu gehen. Mir wurde gesagt, dass es TOTAL okay wäre, wenn ich jetzt nachhause ginge, das wäre ja laut, ich sehe überhaupt müde aus, es sei ein super Tag gewesen, danke für die Geschenke, übrigens man dürfe mit 14 bis ein Uhr in der Nacht alleine unterwegs sein, tschüss. Dann saß ich in der Straßenbahn und stellte fest, dass ich soeben nachhause geschickt wurde.

Später läutete das Telefon und der Bub war dran. Er fragte, ob es ein Verrat an der Regenbogenparade sei, wenn man dann besser doch nicht um elf in der Nacht im Einhornkostüm in der U6 sitzen würde. Ich, weise: „Äh, öh, äh, wie du dich wohler fühlst.“ Er kam zu dem Schluss, wenn ihn wer anredet, wird er „Auße de Fruuuucht!“ brüllen, das wäre dann in der RegenbogenKombi verstörend genug, dass man ihn in Ruhe lässt. Und so war’s dann auch.

Sonntag Lasertag mit Freunden, sein Papa durfte mit, weil Vatertag. Bekam dann vom Buben ein selbstkomponiertes Lied vorgetragen. Am Nachmittag Torte und Grölen im Swimmingpool. Dachte ich mir, mit all den Interessen wird dem gar nicht mehr kleinen Kerl niemals, niemals fad sein im Leben. So ein Glück.

KOLUMNEN FALTER 24/22 47 faltershop.at | 01/536 60-928 In Ihrer Buchhandlung AUF SCHIENE Othmar Pruckner 33 Bahnreisen durch Österreich und darüber hinaus. Vom Bodensee, über Hallstatt und den Semmering bis zum Neusiedler See. 320 Seiten, € 29,90 FÄH ZUG RT AB
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DIE LETZTEN TAGE DER FESTWOCHEN

Karten

T +43 1 589 22 22

festwochen.at

IDIOTA

Marlene Monteiro Freitas

MAK, 20 und 22 Uhr

IS THIS A ROOM

Tina Satter / Half Straddle

Halle G im MQ, 20.30 Uhr

WELTPREMIERE DEPOIS DO SILÊNCIO

Christiane Jatahy

Odeon, 20.30 Uhr

IS THIS A ROOM

Tina Satter / Half Straddle

Halle G im MQ, 15 und 20.30 Uhr

PICKLE BAR Slavs and Tatars

Mit Onur Karaoğlu

Spitzer, 19 Uhr

ASTRONAUT WITTGENSTEIN

Nataša Rajković

Kaisermühlenbucht, 19.30 Uhr

IDIOTA

Marlene Monteiro Freitas

MAK, 20 und 22 Uhr

DEPOIS DO SILÊNCIO

Christiane Jatahy

Odeon, 20.30 Uhr

WELTPREMIERE SÓ EU TENHO A CHAVE

DESTA PARADA SELVAGEM

Mónica Calle

Jugendstiltheater am Steinhof, 20.30 Uhr

ASTRONAUT WITTGENSTEIN

Nataša Rajković

Kaisermühlenbucht, 19.30 Uhr

IDIOTA

Marlene Monteiro Freitas MAK, 20 und 22 Uhr

DEPOIS DO SILÊNCIO

Christiane Jatahy

Odeon, 20.30 Uhr

SÓ EU TENHO A CHAVE

DESTA PARADA SELVAGEM

Mónica Calle

Jugendstiltheater am Steinhof, 20.30 Uhr

ASTRONAUT WITTGENSTEIN

Nataša Rajković

Kaisermühlenbucht, 19.30 Uhr

DEPOIS DO SILÊNCIO

Christiane Jatahy, Odeon, 20.30 Uhr

SÓ EU TENHO A CHAVE DESTA

PARADA SELVAGEM

Mónica Calle

Jugendstiltheater am Steinhof, 20.30 Uhr

FESTWOCHEN FINALE

WE BEAR THE LIGHT OF THE EARTH:

XENAKIS BIRTHDAY PARTY

Belvedere 21, ab 20 Uhr: Konzerte

Mit Blectum from Blechdom (live), DJ DIaki, DJ Marcelle, Gerriet K. Sharma / IKO (live), Gilles Sivilotto (live), Guy Reibel & Construction Choir Collective (live), Isabelle Duthoit (live), Jim O‘Rourke (Hommage to Iannis Xenakis, projected by Reinhold Friedl. World Premiere.), Junko Ueda (live), Kink Gong – music of ethnic minorities (live), Lee Ranaldo (live), Puce Mary (live), Rashad Becker (live), Marcus Schmickler (live)

Hauptsponsoren

Fördergeber Sponsor

Christiane Jatahy, Depois do silêncio ©
Lage
Christophe Raynaud de
Mittwoch 15. JUNI Donnerstag 16. JUNI Freitag 17. JUNI Samstag 18. JUNI WFW22_Falter_AZ-W6_216x315_220613_d.indd 2 13.06.22 16:35

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