HEUREKA 3/20

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HEUREKA #32020

FOTO: ARNOLD PÖSCHL

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2773/2020

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Schulbildung neu Erfahrungen aus der Corona-Krise

Lernen aus der Krise Was bedeutete die Schließung von Bildungseinrichtungen für Lernende und Lehrende? Seite 12

Klassenzimmer unverzichtbar Die schwedische Bildungsexpertin Agneta Gulz zieht ein Fazit aus der Corona-Pandemie Seite 14

Der böse Algorithmus? Junge Forscher zur Frage, wie Ethik in die Künstliche Intelligenz und in Algorithmen kommt Seite 18


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WIEN ENTDE CKEN


IN TRO D U K TIO N   :   H EU R E KA  3/20   FALTER 43/20  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:  E D I TO R I A L

Schularbeit Wissenschaftliche Verbesserungsvorschläge Seite 8

Christian Fermüller, Professor für Logik an der TU Wien, mit einem Drei-Punkte-Programm

Besser lernen aus der Krise  Seite 12

FOTOS: MARTIN VANDORY, ARNOLD PÖSCHL (2), ELJUB.EU

Kopf im Bild  Seite 4 Gemma De las Cuevas will dem Phänomen der Universalität auf die Spur kommen

Studien zu den Folgen des Lockdowns an Bildungseinrichtungen und die Lehren daraus

Prüfungen in Zeiten von Corona  Seite 16

Das unverzichtbare Klassenzimmer  Seite 14

Wie die Welt Matura machte und was sie dabei lernte

Die schwedische Bildungsexpertin Agneta Gulz zieht ein Fazit der Corona-Erfahrungen an Schulen

Glossar und Bücher zum Thema  Seite 20 Weitere Informationen zum Thema Schulbildung neu

Europäische Jugendbegegnungen  Seite 8 Dafür sorgt die Initiative eljub in Krems und anderen Städten Europas

Verhöhnt, verraten und vergessen  Seite 22

Über das traurige Schicksal des DNA-Entdeckers Friedrich Miescher und anderer wissenschaftlicher Vorreiter(innen)

Ist ein Algorithmus böse? Seite 18 Ethik in Künstlicher Intelligenz

Wir sollen in die Schule gehen, um etwas zu lernen. Zuvor haben wir von denen gelernt, die wir mögen: den Eltern, den Großeltern, den Freundinnen und Freunden. Offe bar ist es nötig, dass wir jemanden mögen, um bereit zu sein, von ihr oder ihm etwas zu lernen. Andernfalls ignorieren wir, was sie oder er uns sagen will. In der Schule soll es nun anders sein. Dort gebe es einen Lernstoff, den wir in uns aufsaugen wollen, weil er so wichtig und interessant ist. Aha. Wenn er uns nicht interessiert, bekommen wir schlechte Noten. Auch interessant. Die Eltern, Großeltern und Freunde haben uns damals nicht gefragt, ob uns interessiert, was sie uns lehren. Trotzdem haben wir ihnen meistens zugehört und sehr viel von dem übernommen, was sie uns über die Welt erzählt haben. Warum sollten wir das in der Schule nicht auch so machen? Ob die Leistung eines BMW oder Algebra, gegen den Stoff haben wir nichts. Man muss uns nur dafür begeistern. Aber nicht dadurch, dass man uns erklärt, wie wichtig der sei, besonders für ein Leben nach dem Knast, pardon, nach der Schule. Wir brauchen dort keine Experten oder Superkluge. Nur Menschen, die uns begeistern.

:  G A ST KO M M E N TA R

Erfahrungen aus COVID-19: Wer den Mund aufmacht, verliert

FOTO: MEDUNI WIEN / MATERN

STEFAN THURNER

Wissenschaft im Normalmodus hat die Aufgabe, nachprüfba e Erkenntnisse zu produzieren, die so korrekt sind, dass andere darauf aufbaue können. Für die dazu notwendige Qualitätssicherung scheut sie weder Mittel noch Mühen. Zeit spielt keine Rolle. Soll Wissenschaft aber Beiträge zu Krisengeschehen leisten, fehlt genau diese Zeit zur Qualitätssicherung, man muss ihre Komfortzone verlassen. Als Mitte ­Februar klar wurde, dass die COVID-19-Krise gemanagt werden muss, idealerweise auf Faktenbasis, beschlossen viele Fachleute, lieber nichts zu sagen. Mit gutem Grund. Denn wer in unsicheren Situationen den Mund aufmacht, kann eigentlich nur verlieren: Si tacuisses, philosophus mansisses. Am Complexity Science Hub CSH Vienna haben sich dennoch viele dem Stress und Risiko ausgesetzt, in den Krisenmodus zu wechseln, um Verantwortung zu übernehmen und die Bevölkerung und Entscheidungsträger

zu informieren. Am 11. März erklärten wir, dass die Infektionskurven exponentiell verlaufen und die Kapazitäten der Intensivbetten bei gleichbleibendem Wachstum Anfang April erreicht wären. Am 21. März berichteten wir, dass der Lockdown wirkt und dadurch der Bettenengpass in die Zukunft verschoben ist. Am 26. März wagten wir die Prognose eines Bedarfs von 300 bis 400 Intensivbetten Anfang April, weit unter den damaligen Kapazitäten. Das Maximum wurde am 8. April mit 276 Intensivbetten erreicht. Doch egal, was wir kommunizierten, wurden wir als Unheilspropheten

Stefan Thurner, Mitgründer und Leiter des ­Complexity Science Hub Vienna

beschimpft oder, nach einer extrem vorsichtigen Andeutung von Optimismus Ende März, als Wahnsinnige, die alle ins Unheil stürzen wollen. Am 16. März stellten wir den CSH für sechs Wochen auf „CoronaModus“ um und stellten alle wissenschaftlichen Arbeiten ein, um an achtzehn „Challenges“ als nützliche Beiträger zur Krise zu arbeiten. Fast alle hatten mit großen Datensätzen zu tun. Damals konnten wir den vielleicht größten Flaschenhals auf dem Weg zur Digitalisierung hautnah erleben: Selbst wenn Dateneigentümer Daten zur Verfügung stellten und Datenschutzprobleme gelöst waren, ließen sich viele „Challenges“ nicht umsetzen, weil große Unsicherheiten beim Umgang mit und beim Austausch von Daten bestehen. Digitalisierung braucht also vor allem eine Kultur des Datenumgangs, bei dem niemand Angst haben muss, etwas falsch zu machen.

Zu Anfang war das primäre Ziel, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Nachdem das erreicht war, hat man meiner Meinung nach versäumt, ein Ziel für den Sommer zu definie en: nämlich logistische Strukturen im Gesundheitssektor für eine Testdauer von maximal einem Tag und Contact-tracing von zwei Tagen. Mit dem Ziel, die Seuche logistisch, ohne Impfstoff, vollkommen unter Kontrolle zu bekommen. Schade, dass wir Experten es verpasst haben, Kompetenzen aus verschiedenen Gesundheitsstellen, Behörden, Universitäten und Unternehmen zusammenzubringen, um trotz Kompetenzchaos und Föderalismuswahnsinn im Gesundheitssystem einen logistischen Vorschlag zu erarbeiten, den man jetzt diskutieren könnte. Haben wir auf einen Auftrag von einer öffentlichen Stelle gewartet? – Vielleicht müssen wir es nächstes Mal ohne Auftrag einfach aktiv und eigeninitiativ versuchen.


4  FALTER 43/20   H EUR EKA  3/20  :  P ERSÖNLIC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

Universelle Systeme „Gerade einfach aufgebaute ­Systeme sind oft universell“, sagt Gemma De las Cuevas. „Schon wenige Regeln genügen, um eine überraschende Komplexität hervorzubringen.“ Das Alphabet des Lebens etwa hat nur vier Buchstaben, nämlich die der vier DNA-Basen, wobei sich jedes Gen aus unzähligen Kombinationen dieser zusammensetzt. De las Cuevas ist Assistenzprofessorin am Institut für Theoretische Physik der Universität Innsbruck und erhielt einen START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF, um dem Phänomen der Universalität auf die Spur zu kommen. Dazu vergleicht sie mehrere wissenschaftliche Disziplinen: „Wir beginnen mit der ­Universalität in der Physik, der Theoretischen Informatik und in künstlichen neuronalen Netzen“, so die 35-Jährige. „Möglicherweise können wir die Analyse dann auf Aspekte der Biologie oder Linguistik ausdehnen und Quantenkonzepte einbeziehen.“ Das Ziel ist eine gegenseitige Befruchtung mit ­Ideen, Beweisen und Ergebnissen. „Außerdem werden wir eine der faszinierendsten Konsequenzen von Universalität untersuchen: das mathematische Problem der Unentscheidbarkeit.“ TEXT: USCHI SORZ FOTO: MARTIN VANDORY

:  J U N G FO RS C H E R I N N E N   USCHI SORZ

Agnes Dellinger, 31, Dep. f. Botanik u. Biodiversitätsforschung, Universität Wien Feldforschung im Dschungel, Laborarbeit, Datenanalyse, Tagungsreisen, Schreiben: „Ich verwirkliche meinen Lebenstraum“, erklärt die Niederösterreicherin, „ich wollte immer schon Biologin werden“. Ihr Spezialgebiet ist die Bestäubung. Für ihre Masterarbeit hat sie das komplexe Vogelbestäubungssystem des neotropischen Baums Axinaea erforscht und das Thema in ihrer Dissertation vertieft. Nun dreht sich ihr Hertha-Firnberg-Projekt um etwa 300 Arten von Schwarzmundgewächsen im tropischen Südamerika. „Die meisten davon bestäuben Bienen, doch in den Anden kam es auch zu Bestäuberwechseln auf Kolibris, Fledermäuse oder Mäuse.“ Dellinger untersucht, inwieweit die unterschiedlichen Bestäuber zur Entstehung neuer Arten und zu Anpassungen an klimatische Faktoren beitragen.

Jennifer Zwicker, 39, Inst. f. Mineralogie u. Kristallografie, Universität Wien „Ich bin Wissenschafteri aus Überzeugung“, definier sich die Geologin, „und möchte dazu beitragen, dass die Umweltsituation erträglich bleibt“. Vor allem aus den Interaktionen zwischen Geologie und Biologie könne man viel lernen und die Erde besser verstehen. In ihrem Projekt konzentriert sie sich auf Archaeen, also Mikroorganismen, die ihren Stoff echsel ohne Sauerstoff und unabhängig von Sonnenlicht betreiben. „Archaeen sind die einzigen bekannten Organismen, die Methan produzieren können.“ ­Zwicker interessiert deren Rolle bei der Gesteinsbildung, speziell an Magnesiumkarbonaten. „Ich möchte herausfinden, ob sie an der Entstehung von Magnesitlagerstätten beteiligt sind und durch Magnesitbildung die Speicherung und Abscheidung von atmosphärischem CO2 beschleunigen könnten.“

Brigitte Holzer, 34, Inst. f. Angewandte Synthese­ chemie, TU Wien Jede unserer Zellen wird durch eine Membran nach außen abgegrenzt. Die in diese eingebauten Proteine steuern den Transport von Molekülen in die Zelle und aus der Zelle heraus. Um diese Transportfunktion besser zu verstehen, entwickelt Holzer künstliche Membranen. „Bisherige Modellsysteme lieferten kein gutes Abbild einer natürlichen Zellmembran, da die Beweglichkeit der einzelnen Membranlipide eingeschränkt ist.“ Ihr Ansatz: Sie platziert passende Moleküle auf eine Goldoberfläche und sorgt damit für die nötige Beweglichkeit und Stabilität. „Synthetische Membranen ermöglichen Grundlagenforschung zu natürlichen Protein-Lipid-Interaktionen, nützen aber auch der Entwicklung pharmazeutischer Screenings und proteinbasierter bioelektronischer Systeme.“

FOTOS: STACEY STEINRÜCKEN, PRIVAT (2)

Das Hertha-Firnberg-Programm des Wissenschaftsfonds FWF fördert exzellente Nachwuchswissenschafterinnen. Auch diese drei realisieren damit ihr Postdoc-Projekt


KO M M E N TA R E   :   H EU R EKA  3/20   FALTER 43/20  5

EMILY WALTON

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

COVID -Lernen

W er zieht schneller?

Mehr Freiheit

Die Krise als Chance? Diese Fragestellung mag abgedroschen und gezwungen positiv klingen, in Brüssel aber (wo man sich ohnehin seit Jahren im Dauerkrisenmodus befindet) versucht man, diesen optimistischen Zugang zu wählen. In manchen Bereichen könnte also an der These, die Krise wäre auch ein Innovationsbeschleuniger, etwas Wahres sein – beispielsweise bei der Schaffung eines modernen, stark digitalisierten europäischen Bildungswesens. Von 2018 bis 2020 war der erste „Aktionsplan für digitale Bildung“ der Europäischen Kommission angesetzt. Anfang September endete der öffentliche Konsultationsprozess, bei dem Anregungen und Erfahrungen aus ganz Europa eingeholt wurden und die in einen aktualisierten Aktionsplan für die kommenden Jahre einfließen sollen. Der Arbeitstitel lautet nun: „Lernen aus der ­COVID-19-Krise. Lehren, Lernen und Technologie in einer sich verändernden Welt.“

Erwin Ringel, der 1994 verstorbene Psychiater der Nation und Analytiker der „österreichischen Seele“, bemerkte als mitfühlender Mensch, er schätze den Begriff „Erziehung“ nicht, da darin das Wort „ziehen“ stecke. Jeder, dem schon einmal die Ohren „langgezogen“ wurden, weiß, dass diese in früheren Zeiten weit verbreitete pädagogische Maßnahme keinerlei deeskalierende Wirkung auf den jugendlichen Widerstandsgeist hat. Es ist wohl kein Zufall, dass Erwin Ringel sowohl Experte für Pädagogik als auch für Selbstmord war – eine zutiefst wienerische Melange.

:  B R I E F AU S B RÜ SS E L

Wir wollen hier trotzdem nicht über die tragische Verkettung von schulischem Leistungsdruck und juveniler Selbstentleibung sprechen, wie sie Friedrich Torberg im Schüler Gerber beklemmend dargestellt hat und sie heute noch als Massenphänomen aus Ländern wie dem PISA-Spitzenreiter Singapur vermeldet wird, sondern über die Freude am Lesen an sich. Nahezu alle Menschen wähnen sich als Schulexperten, da jeder von ihnen einmal selbst Schüler gewesen ist, so auch ich in den 1970er und 1980er Jahren. Der schönste Moment kam, wenn die Kasernierung spätestens um halb zwei zu Ende war, ich nach Hause durft und das Leben jenseits von wachhabenden Magistern beginnen

:  F R E I B R I E F

konnte, nämlich mit dem Lesen der von mir frei gewählten Lektüre. „Leselisten“ sind mir wie die meisten oktroyierten Register suspekt, meist wegen der Werke, die nicht gelistet sind. Wie dauerten mich die armen Ganztagsschüler! Ein Internat hätte ich wohl nicht überlebt, wie ich auch nie einen Unterwerfungstrieb verspürte. Freilich genoss ich ein behütetes Zuhause, in dem ich mich entfalten konnte, was schon damals ein Privileg war. Im Lockdown gingen einige Schüler „verloren“, hört man, da sie auf die elektronischen Zurufe ihrer Lehrenden nicht reagierten. Die frechen Fratzen verpassten ihre Fernlektionen und fielen womöglich ob der Netzabstinenz intellektueller und sozialer Verwahrlosung anheim. Andererseits hätte ich damals auch keine Lust auf den „big brother“ im Kinderzimmer gehabt. Soll nun dieser Zustand, Schüler an der langen Leine elektronischer Dauererreichbarkeit zu halten, in Post-Corona-Zeiten bestehen bleiben? Ach, die sind ohnehin ständig online? Ja, eh! Aber selbst gewählt! Wer erzieht schneller? Die Obrigkeit den kleinen Untertanen oder der Jugendliche, der seine Umwelt frei erforscht? Vermutlich ist dieser Ansatz Bildungsketzerei und fällt unter die Gesinnungsgesetze gegen Schmutz und Schund und Hatz und Hass und sonst noch was …

:  F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

Die Pandemie habe die größte Störung für Bildung und Ausbildung in der jüngeren europäischen Geschichte verursacht, meint die bulgarische Kommissarin für Innovation und Jugend, Mariya Gabriel: „Viele Studierende und Lehrende haben digitale Bildungswege genutzt, um das Schuljahr fortzusetzen, und für viele war es das erste Mal, digitale Möglichkeiten zur Gänze genutzt zu haben. Aus diesen Erfahrungen möchten wir lernen.“ Der digitale Aktionsplan ist nur einer von mehreren Bausteinen zur Schaffung eines „europäischen Bildungsraums“; zwei weitere umfassen „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“ und „gemeinsame Werte“. Geht es nach der EU-Kommission, soll dieser Bildungsraum bis 2025 realisiert werden. Diese Vision sieht Studien-Auslandsaufenthalte als Normalfall und nicht als Ausnahme an; Schulund Hochschulabschlüsse sollen EU-weit anerkannt werden; neben der Muttersprache soll jeder mindestens zwei weitere Sprachen beherrschen, und der Zugang zu hochwertiger Bildung soll weniger stark als bisher von der Geburtslotterie bestimmt werden. Eines, betont man in Brüssel, soll der Fokus auf das Digitale jedoch nicht bewirken, nämlich dass die Fahrt über Ländergrenzen ersetzt wird. Im Gegenteil: Die Aktionspläne sehen auch eine Stärkung der Erasmus-Programme vor. Die Erfahrung eines Auslandsaufenthaltes lässt sich nämlich nicht am Laptop erleben.

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

Wenn ich während meiner Arbeit als Wissenschafter etwas gelernt habe, dann ist es das Lernen selbst, da nach dem offizielle Studienende das Lernen erst beginnt. Bevor man nämlich mit der Forschung an einem konkreten Projekt beginnen kann, muss man zunächst recherchieren, was alles bisher dazu erarbeitet wurde. Man kämpft sich durch die Fachliteratur und trifft dabei zwangsläufig auf neue Konzepte. Um neue Ideen umzusetzen, benötigt man sehr oft auch neue Methoden. Man muss zum Beispiel lernen, neue Computerprogramme zu verstehen oder überhaupt erstmalig selbst zu programmieren. Neue Instrumente müssen konstruiert, installiert und verstanden werden. Das lebenslange Lernen ist deshalb in der Wissenschaft Alltag. Dieses arbeitsbedingte Faktum ist mitunter auch der Grund für viele Missverständnisse im Kontakt zwischen Wissenschaft und Öffen lichkeit. Denn wer ständig lernt, lernt und entdeckt dabei auch immer wieder neue Dinge, weshalb Forschende ab und zu ihre Meinung ändern bzw. revidieren (müssen). Für viele von ihnen ist es deshalb schwierig zu verstehen, dass andere Menschen dies nicht tun. Anhänger von Verschwörungsmythen etwa „lernen“ nur so lange, bis sie ausreichend viele „Fakten“ entdeckt haben, die eine Meinung, die sie sowieso schon hatten, zu bestätigen scheinen. Weitere „Recherchen“ erfolgen selektiv und dienen nur zur Verstärkung dieser Meinung, ohne je zu einer Änderung derselben zu führen. Echte Forschung hingegen ist – im Idealfall – immer ergebnisoffen was für das Lernen ebenso gilt. Werden während meiner wissenschaftlichen Arbeit neue Themengebiete erschlossen, geschieht dies mittels eines groben Plans, jedoch ohne genau zu wissen, wohin die Recherchen führen. Am Ende bin ich oft nicht dort angekommen, wohin ich eigentlich wollte, habe dafür aber neue Verbindungen zwischen den Dingen entdeckt. Im Gegensatz dazu müssen sich Schullehrende an den vorgegebenen Lehrplänen orientieren, da hierorts schon bestehendes Wissen vermittelt, nicht aber neues erschaffen werden soll. Doch ein wenig mehr Freiheit bei der Erarbeitung des Lernstoff s könnte nicht schaden, da auch das schon Bekannte neu entdeckt werden kann. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6  FALTER 43/20   H EUR EKA 3/20  :   NAC H R I C HTE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

:  M E D I Z I N

Die Anti-HungerSpritze im Bauch Wer Gewicht verlieren will, kann sich nun eine Spritze geben lassen DIETER HÖNIG

14 Prozent der österreichischen Bevölkerung, also etwa jeder siebente, hat einen Body Mass Index (BMI) von über 30 und ist somit adipös. Für Menschen mit einem BMI von 25 bis 37 kommt eine hierzulande noch neue Behandlungsmethode in Betracht: Magenbotox, auch „Anti-­ Hunger-Spritze“ genannt. Diese wird im Zuge einer Gastroskopie (Magenspiegelung) unter Bildschirmkontrolle an zwanzig genau definierten Stellen angesetzt. Zuvor werden die Behandelten sediert, wodurch sie während der Prozedur schmerzfrei bleiben. Die Behandlungsmethode hat zum Ziel, die Magenentleerung zu verzögern und das Hungergefühl zu reduzieren, was sukzessive zu einem Gewichtsverlust führen soll, wie die ersten Anwender in Österreich, beide Fachärzte für Chirurgie, Katayoun Tonninger und Friedrich Weiser, erklären. Einige kleinere Abstracts und Studien sowie erste Erfahrungen der Chirurgen zeigen, dass Magenbotox in sechs Monaten bis zu fünfzehn Kilogramm wegschmelzen kann. Zurzeit ist diese Methode jedoch weniger erforscht als die bekannteren Adipositas-Operationen, die zumeist einen zügigeren Gewichtsverlust bewirken, aber auch das übliche OP-Risiko und dementsprechende Nebenwirkungen mit sich bringen können. Die Spritzen-Behandlung sollte allerdings nur von Fachärzten, die auf die Magenbotox-Technik eingeschult sind, durchgeführt werden, da der gewünschte Gewichtsverlust nur durch die Anwendung an den richtigen Stellen erfolgt. INFOS: WWW.MAGENBOTOX.AT

:  B I O LO G I E

:  M AT H E M AT I K

Unglaublich, aber wahr: Mein Schwein wird durchsichtig

Die Konfiguration der Krane

„Klären“ nennt man eine Methode, um milchiges Gewebe durchsichtig zu machen. Nun ist das auch bei pigmentierten Tieren gelungen

Doris Entner entwirft ­Algorithmen für komplexe Produkte

CLAUDIA STIEGLECKER

USCHI SORZ

Die Biologie beschäftigt sich mit der Erforschung der belebten Natur. Unter anderem werden die Vorgänge im Inneren von Organismen untersucht. Oft ist das aber gar nicht so einfach: „Jedes Tier, das im Licht lebt, ist voller Pigmente“, sagt ­Florian Raible von den Max Perutz Labs am Vienna Biocenter. „Diese Farbstoffe schützen vor Sonneneinstrahlung, behindern allerdings auch den Blick ins Innere.“ In Zusammenarbeit mit dem Labor von Hans-Ulrich Dodt an der TU Wien ist es Raibles Forschungsgruppe nun gelungen, auch pigmentierte Tiere transparent werden zu lassen. Dazu werden Präparate nacheinander mit verschiedenen Lösungen behandelt. Bisher diente das sogenannte „Klären“ dazu, milchiges Gewebe transparent zu machen: „Unsere Wirkstoffkombinatio ermöglicht es jetzt, auch Tiere mit Pigmenten zu klären. Die Methode funktioniert rasch und

schonend für viele unterschiedliche Arten.“ Im nächsten Schritt werden mit fluo eszierenden Molekülen jene Strukturen im transparenten Gewebe markiert, die für die Mikroskopie sichtbar gemacht werden soll. „Man kann sich das wie bei Zaubertinte

Florian Raible, Max Perutz Labs, Vienna Biocenter vorstellen“, erklärt Raible. „Zuerst wird Papier gebleicht, das danach mit Zaubertinte markiert wird. Durch Beleuchtung kann man die Tintenmarkierung dann sehen.“ Diese neue Technik sei ein großer Fortschritt, so ­Raible: „Wir erhalten damit sehr klare Aufnahmen, die in die Tiefe gehen.“

:  L I T E R AT U R

Dessen Sprache du suchst: Schreibende beteiligen sich an der Gesellschaft Dass literarisches Schreiben auch Selbstverwirklichung verheißt, kann als ­Indiz einer hochentwickelten Kultur verstanden werden ALEXANDER PEER

Aristoteles schrieb in seiner Poetik davon, dass „die Tragödie nicht die Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und Lebenswirklichkeit“ sei. Dagegen formulierte der Romancier Henry James den Aphorismus, dass „aus dem Charakter

Alexander Peer zwangsläufig das Ereignis folgt“. Ein unlösbarer Widerspruch? Nicht, wenn man daran denkt, dass bestimmte Inhalte mit bestimmten formalen Kriterien eine Symbiose eingehen. Um ein Beispiel zu nennen: Raskolnikov, der getriebene Held in Dostojewskijs Schuld und Sühne, ist zweifelsfrei nach Henry

James’ Auffa sung gestaltet. Wäre es nicht reizvoll, dieselbe Geschichte aus der Perspektive von Aristoteles zu gestalten? Schon hätte man eine lohnende Aufgabe für eine Schreibwerkstatt und eine Erkenntnis über die Wirkkraft der Erzählperspektive. Literatur schafft Intimität, weil sie den Sinnen, also dem Riechen, Tasten, Schmecken und Spüren einen Raum verschafft, den ihm andere Medien verwehren. Das Credo lautet deshalb: Zeigen und nicht erklären. Eine Rezeptur wird man vergeblich suchen; hilfreich sind aber Begleiter auf dem Weg zu derjenigen Sprache, die man sucht. „Die Lust am Text“ ist jener erotische Treibstoff, der unser Begehren buchstäblich einbettet. In der Wiener Schreibwerkstatt „Spüren, Sprechen, Schreiben“ ergibt sich nun bald eine Gelegenheit, diese Lust zu erfüllen und, besser noch, auch zu schüren. (20. bis 22. November) INFOS: WWW.PEERFACT.AT

„Es ist immer wieder spannend, sich auf Ingenieurprobleme einzulassen und zu abstrahieren“, zeigt sich Doris Entner begeistert. Die Mathematikerin ist Expertin für Digital Engineering, zu deutsch: computergestützte Produktentwicklung. Ihr Arbeitgeber,

Doris Entner V-Research, Vorarlberg das Vorarlberger Forschungsinstitut V-Research, ist Teil des Netzwerks Austrian Cooperative Research und begleitet Unternehmen im Zuge von Forschungs- und Entwicklungspartnerschaften. „Bei uns geht es um Produkte, die nicht von der Stange kommen, sondern an die jeweiligen Kundenanforderungen angepasst werden müssen“, erklärt die 36-Jährige. Zu diesen Produkten zählen etwa Krane. Mit Blick auf die Statik sind unterschiedliche Eigenschaften zu definie en und, beispielsweise, Blechdicken zu konfi urieren. „Dickere Bleche machen einen Kran stabiler, aber auch schwerer und teurer“, so Entner. „Interessant ist eine verhältnismäßig leichte und günstige Konstruktion, bei der trotzdem die Statik für die geforderten Lasten stimmt. Die Entwicklung darf außerdem nicht zu viel Zeit kosten.“ Neben Methoden aus der Datenanalyse und dem maschinellen Lernen setzt Entner dazu sogenannte Optimierungsalgorithmen ein. „Das sind Verfahren, die tausende Konstellationen auf ihr Potenzial prüfen und schrittweise verbessern.“ Optimierungsaufgaben können auf viele komplexe Probleme angewendet werden. So hat Entner auch ein Projekt mit auf den Weg gebracht, das sich um die Effizien von Roboterbewegungen in Warenlagern dreht. Es geht um Fragestellungen wie zum Beispiel: Wie weiß der Roboter, in welcher Reihenfolge er gewisse Dinge holen und wie er nicht Benötigtes zur Seite räumen soll? Auch hier gilt es, eine Fülle an Fragestellungen in eine formale Sprache zu übersetzen und potenzielle Lösungen systematisch durch einen Algorithmus auswählen und testen zu lassen. „Ich habe schon als Kind gerne gerechnet“, erzählt Entner. „Zu meiner Freude beobachte ich dieselbe Begeisterung jetzt bei meinem älteren Sohn.“

FOTOS: STEFAN MÜLLER, UNI WIEN, PRIVAT, NHM WIEN, TRANSCRIPT VERLAG

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :  H EU R E KA3/20   FALTER 43/20  7

:  L I T E R AT U RW I SS E N S C H A F T

Literarische Conquista Wie deutschsprachige Autorinnen und Autoren mit ihren Sehnsüchten in den mexikanischen Kulturraum einfallen LUKAS SCHÖPPL

„Revolte der Eingeborenen! Daran glaubte ich nicht einen Augenblick lang; dazu sind diese Indios viel zu sanft, zu friedlich, geradezu kindisch […] ein weibisches Volk, unheimlich dabei harmlos.“ So beschreibt Walter Faber, Hauptfi ur in Max Frischs Roman Homo Faber, die Bevölkerung Mexikos. Die Passage veranschaulicht gängige Zuschreibungen in der eurozentrischen Darstellung anderer Kulturen: exotisch, wild, ursprünglich, unheimlich und epistemisch unterlegen. Wie Mexiko in der deutschen Literatur beschrieben, besungen und besetzt wird, ist das Thema von ­Caroline Kodyms Dissertation, die nun im Verlag transcript erschienen ist. Kodym zeigt auf, dass Europa längst nicht mehr die Geraubte aus der griechischen Mythologie, sondern selbst „ein Eroberer“ ist. Das Bild, das deutschsprachige Autoren von Mexiko zeichnen, changiert zwischen exotischem Sehnsuchtsort, archaischem

Naturparadies, revolutionärem Projektionsraum für Gesellschafts- und Globalisierungskritik und Schauplatz kriminalistischer Geschehen. In seinen Ansätzen einer interkulturellen Philosophie beschreibt der österreichische Philosoph Franz ­Wimmer drei Arten von Stereotypen der europäischen Historiografie: Das „Fremde“ oder „Andere“ wird entweder als barbarisch, exotisch oder heidnisch dargestellt. Besonders die zweite Stereotype sei paradigmatisch für die Darstellung Mexikos in der deutschen Literatur, meint Caroline Kodym. „Mexiko ist die ursprüngliche und exotische Angebetete, die für den Eroberer deshalb so reizvoll ist, weil sie etwas verkörpert, das im Gegensatz zu der ihm bekannten Welt steht.“

der eigenen Sehnsuchtsvorstellungen und damit eine Selbstliebe Europas. Durch die Darstellung als Liebesbeziehung gelingt Kodym implizit eine weitere Erkenntnis: Die Darstellung der literarisch-kulturellen Eroberung Mexikos als phallogozentrisches Unterfangen von ­Konquistadoren. ­Dafür

Caroline Kodym: Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista

Kodym setzt bewusst das Begriffspaa „mexikanische Geliebte – europäischer Eroberer“ als Konstante ein. Mexiko ist mentaler Fluchtort, doch als Projektionsfläche oft nur eine Spiegelung

Caroline Kodym

spricht auch, dass vor allem männliche Autoren über Mexiko schreiben. Die Conclusio aus Kodyms Dissertation wurde in das Vorwort eingewoben, wodurch das Fazit in der Buchveröffentlichung sehr schmal ausfällt. Wenn Kodym schreibt, Kulturtransfers verlaufen nie unilateral, wäre als Schluss ein Blick auf die Kehrseite des Bildes lohnenswert: Erscheint Europa in den Werken mexikanischer Autoren als Geliebte Mexikos? Mitnichten. Der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz schreibt etwa: „Die Christen lieben ihre Nächsten nicht. […] Die Geschichte lehrt uns, dass sie, wo sie ihnen begegnet sind, sie bekehrt oder vernichtet haben.“ In den Büchern der jungen Generation erscheint Europa als Chiff e. So beschreibt Valeria Luiselli in Archiv der verlorenen Kinder (2019) die Migrationssproblematik an der Grenze Mexikos, die nur allzusehr an jene an Europas Außengrenzen erinnert.

:  A N T H RO P O LO G I E

:  A RC H ÄO LO G I E

Kaltes Klima bremste Einwanderungswelle von Jungsteinzeitbauern in Europa

Lebendtiertransporte nach Tirol gab es schon in der Spätbronzezeit

Diese Bremsung in Belgien, Nordfrankreich und -deutschland sowie in der Ukraine hatte Folgen: Sex mit der ansässigen Bevölkerung

Die Bewohner des bronzezeitlichen Tirols ließen sich nicht nur lebende Rinder und Schweine zustellen, sondern auch einzelne Rippenstücke

JOCHEN STADLER

JOCHEN STADLER

Es geschah vor 9.000 Jahren: Jungsteinzeitbauernfamilien aus dem Nahen Osten zogen durch Europa, um sich hier niederzulassen. Meist blieben sie unter sich und hatten kaum Kontakt mit den hiesigen Jägern und Sammlern. Es gab vier Einwande-

Philip Nigst, Universität Cambridge rungsrouten mit rasch voranpreschenden „Expansionsfronten“, so ein Team um Andrea Manica von der Universität Cambridge im Fachjournal „Nature Human Behaviour: Entlang des Mittelmeeres, durch Zentraleuropa bis England, von Mitteleuropa nach Skandinavien und vom Balkan direkt in den Nordosten Europas.

Bei drei Routen wurde die Einwanderung aber gebremst, und zwar im heutigen Belgien und Nordfrankreich vor der Überfahrt nach England vor 7.700 Jahren, in Norddeutschland vor 7.400 Jahren und im Nordwesten der heutigen Ukraine vor 8.200 Jahren. Dort mussten die jungen Bauern wohl erstmals damit zurechtkommen, dass ihr Getreide schlecht wuchs. Für ihre wärmeliebenden Nutzpflanzen gab es hier zu wenig Wachstumstage über fünf Grad Celsius, so der in Wien geborene Archäologe Philip Nigst, der an der Universität Cambridge forscht. In jenen kühlen Regionen mischten sich die Jungsteinzeitbauern mit den ansässigen Jäger- und Sammlervölkern. Wenn die Nahrungsmittelproduktion nicht mehr verlässlich funktionierte, tauschten sie wohl Waren mit ihnen, lernten ihr Wissen über die lokalen Begebenheiten zu schätzen und hatten miteinander Sex.

Die Tiroler waren schon in der Bronzeund Eisenzeit wirtschaftlich organisiert: Sie ließen sich Schweine und Rinder als Lebendvieh liefern und schlachteten diese professionell, berichten Forscher aus Wien und Innsbruck. Zusätzlich wurde ihnen auch

Konstantina Saliari, Naturhistorisches Museum Wien einzelne Rippenstücke zugestellt. Das zeigen Tierknochenfunde aus Schwaz-Brixlegg, erklären die Forscher im Fachmagazin Archaeofauna. Ein Team um Konstantina ­Saliari vom Naturhistorischen Museum Wien und Gert Goldenberg vom Institut für Archäologie der Universität Innsbruck ­inspizierte ­Tierknochen

von drei Fundstellen in Schwaz-Brixlegg (Weißer Schrofen, Rotholz und Bauernzeche). Die Knochen stammen aus Bergarbeiterorten der Spätbronzeund frühen Eisenzeit, als dort vor 3.300 bis 2.450 Jahren Kupfer abgebaut wurde. So wie die Tierskelette verteilt waren, muss das Vieh als Ganzes und lebend herangeschafft worden sein, meinen die Forscher: „Die Bergleute wurden mit bester Fleischqualität versorgt, und die Schlachtung und Verarbeitung der Tiere professionell durchgeführt.“ Es gäbe auch Hinweise auf die Lieferung zusätzlicher Fleischpakete, etwa in Form von Rippenstücken. All dies zeige eine „hervorragende ökonomische Organisation“ der frühen Tiroler. Im Wandel der Spätbronze- zur Eisenzeit änderte sich allerdings deren Kost: Hatten sie zunächst meist Schweinernes auf den Tellern, verspeisten sie später vorwiegend Rindflei ch.


8  FALTER 43/20   H EUR EKA  3/20  :  NAC H R I C H TE N

:  Z E I TG E S C H I C H T E

Arbeiten an einer europäischen Zukunft Das internationale Jugendprojekt eljub bringt junge Menschen aus ganz Europa zu gemeinsamen Workshops zusammen. Auch im Pandemiejahr VERONIKA TRUBEL

eljub ist ein Projekt für europäische Jugendbegegnungen, das einmal im Jahr stattfindet. Dabei kommen Jugendliche aus rund zehn Partnerländern bei eljub-Veranstaltungen in verschiedenen Ländern und wechselnden Konstellationen zusammen. Sie bearbeiten gesellschaft politische (Jugend-)Themen und verfassten während einer Sommerwoche in Krems ein E-Book. 2020 war das bisher achte und zweifellos bewegteste Jahr. Im Jänner konnte noch, wie geplant, ein Dialogtreffe zum Thema „Zukunft der Arbeit“ in Budapest abgehalten werden, aber alle ab März vorgesehenen Jugendaktivitäten in Bulgarien, Tschechien und Rumänien mussten aufgrund des ­Corona-Lockdowns absagt werden. Die größte Veranstaltung kam im August doch noch zustande: die internationale eljub-E-Book-Woche im niederösterreichischen Krems. Auf die Frage, ob die E-Book-Woche heuer gewagt werden soll, kam von allen Länderpartnern die einstimmige Antwort: Ja! Also haben wir es gewagt, Jugendliche aus zwölf europäischen Staaten nach Krems zu holen, wo sie gemeinsam

ein E-Book schreiben und einen Film drehen sollten. Unter den Krisenbedingungen war die Teilnehmerzahl zu reduzieren, das Programm zu ändern und möglichst viel ins Freie zu verlegen. Weniger Jugendliche pro Zimmer, Masken und Corona-Tests für ausnahmslos alle, also auch für sämtliche Beschäfti te im Quartier. Dazu kam tägliches Fiebermessen – und natürlich musste man die jungen Menschen auch immer wieder daran erinnern, Abstand zu halten. Dennoch war es ein großes Hallo, der Austausch in den Workshops intensiv. Die Jugendlichen berichteten von ihren Gedanken und Erfahrungen mit und aus dem Lockdown und wollten von anderen wissen, wie es bei ihnen war. Die Frage ,Was lehrt uns der Stillstand?’ geriet zu einem der Hauptthemen. Es wurde der Onlineunterricht analysiert, ebenso die Veränderungen im Familienleben durch Corona. Wichtig war ihnen die Frage nach der Solidarität in Europa, nach der Rolle des Journalismus in Covid-Zeiten und nach dem Umgang mit Flüchtlingen.

In Kooperation mit der TV-Community Okto drehten einige der Jugendlichen auch einen Film. Wer nicht in Krems dabei sein konnte, schrieb online mit. Denn einige Länder mussten kurzfristig absagen – die Einreisebedingungen für etwa Albanien, Bulgarien und Rumänien hatten sich so verändert, dass Jugendliche von dort nur über Videokonferenzen teilnehmen konnten. Daraus entstand die vielleicht prägendste Erfahrung der E-Book-Woche im Corona-Jahr: Es fehlten Menschen. Das war neu und kann als Zeichen der Verbundenheit verstanden werden, fehlt einem doch nur jemand, mit dem man sich verbunden fühlt. Es war schmerzhaft, beim Abendessen die live übertragenen Filmbeiträge der Jugendlichen aus Albanien oder Rumänien zu sehen und ihnen nur in einer Zoom-Konferenz applaudieren zu können. Die älteren Teilnehmenden dachten wohl: Weder ein Eiserner Vorhang noch ein Kalter Krieg hindert uns am Zusammentreffen. Es ist ein Virus, das wir gemeinsam in Schach halten müssen. Lasst es uns so versuchen, dass wir in einem gemeinsamen

Europa Normalität halbwegs aufrechterhalten und Jugendliche quer durch die Länder Bekanntschafte und Freundschaften aufbauen können. Das Jahr 2020 hat neben vielen Beschränkungen gezeigt, wie europäisches Zusammenwachsen aussehen und sich anfühlen kann. So ist das achte eljub-E-Book mit dem Titel Europa, Corona und wir: Getrennt und doch verbunden mit fast 400 Seiten ungewöhnlich umfangreich. Das liegt zum Teil auch am eljub-Hashtag #bisbaldbeieljub: Hier berichteten Jugendliche aus allen beteiligten Ländern live, wie es ihnen im Lockdown geht, was sie denken und machen – ein zeitgeschichtliches Dokument, das auf der eljub-Website kostenlos als pdf herunterzuladen ist. www.eljub.eu Veronika Trubel leitet das Projekt eljub Europäische Jugendbegegnungen

Sie waren beim eljub-Treffen in Krems dabei: Jugendliche aus europäischen Ländern

:  W I SS E N S C H A F T ST H EO R I E

Wissenschaftliche Verbesserungsvorschläge Ein Drei-Punkte-Programm eines seit vielen Jahren an der TU Wien forschenden und lehrenden Professors für Logik und Computerwissenschaften CHRISTIAN FERMÜLLER

eine durchaus effekti e Maßnahme zur Qualitätssteigerung wäre. Das ist natürlich aus den unterschiedlichsten Gründen kaum praktikabel, würde aber dem allseits beklagten Übel der Überflutung mit zu viel braver, in festen und engen Gedankenbahnen und noch engeren Formulierungsfesseln dahinschleichenden Publikationen wirksam begegnen. Da wir nun schon bei Vorschlägen zur Qualitätssicherung in der Grundlagenforschung angelangt sind, will ich hier noch einige Punkte zur Diskussion stellen, die sowohl das legitime Interesse der Allgemeinheit, die Funktion des Wissenschaftsjou nalismus als auch die Bedürfnisse der betroffenen Forschenden selbst fest im Auge behalten. Hier also ein Drei-Punkte-Programm:

1. Jeder wissenschaftliche Aufsatz, insbesondere aber jedes formalwissenschaftliche Paper, sollte erst nach Vertonung durch eine Komponistin ver-

Christian Fermüller, TU Wien öffentlicht werden dürfen. Entsprechend ist das übliche fachwissenschaftliche Begutachtungsverfahren durch ein ebenso strenges, durch Anonymität und pekuniäre Folgenlosigkeit abgesichertes musikkritisches Ausleseverfahren zu ergänzen. Die Erstveröffentl chung wird somit, was das Herz ehrlich

Forschender sicherlich schneller schlagen lassen wird, zur öffentlichen Uraufführung, die in einem angemessenen Rahmen entweder im Konzertsaal oder vorzugsweise auf einer Opernbühne zu erfolgen hat. 2. Francis Picabia hat vermutet, der Kopf sei rund, damit das Denken öfter seine Richtung wechseln kann. Es ist traurig feststellen zu müssen, dass er hierin gewaltig geirrt hat: Nicht nur Quadratschädel und Hohlköpfe, sondern durchaus arttypische Rundhäupter, auch solche mit akademischen Doktorhütchen, neigen zu ausgesprochener Richtungs- und Haltungsstarre, wenn es um ihr Denken geht. Entsprechend lautet mein zweiter Verbesserungsvorschlag: Wissenschaftliche Forschungstätigkeit hat ausschließlich unter der

FOTO: PRIVAT

Wie jede meiner Kolleginnen und jeder meiner Kollegen kenne ich meinen H-Index, meine Publikations- und Zitationszahlen, die Häufigkeit der Vortragseinladungen sowie Anzahl und mögliche Karrieren meiner Dissertanten und habe kein Problem mit der etwas pedantischen, aber nüchtern-objektiven Auflistung dieser Daten bei „Evaluierungen“: „Passables Mittelfeld im engeren Fachbereich mit seltsamen Seitwärts-Ausreißern, die man bei C. F. halt einfach hinnehmen muss.“ Meine Eitelkeit aber bezieht sich auf die richtige Einschätzung der Bedeutung dieser Fakten und auf meine Überzeugung, dass ein weitgehendes Publikationsverbot für den Großteil von uns (mich eingeschlossen), allenfalls von sehr strengen, wohldefinierten Ausnahmeregeln begleitet,


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  3/20   FALTER 43/20  9

:  W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN

FOTO: ELJUB

Gesamtwerk und erstmals veröffentlichte Gedichte des österreichischen Lyrikers

Raben, junge Mägde, eine ominöse Schwester sowie mythologische Gestalten bevölkern die Gedichte von Georg Trakl (1887–1914), der wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs in einem Krakauer Lazarett starb. Dessen Ästhetik in nuce: „Gefühl in den Augenblicken totähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert … dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.“ Das Gesamtwerk von Österreichs bedeutendstem Lyriker, der zu Lebzeiten nur einen einzigen Gedichtband veröffentlichte, in einer um neue Funde ergänzte Ausgabe samt Briefen als Pflichtlektü e.

Der alte Traum der Avantgarde propädeutisch zusammengefasst und dem Gegenstand entsprechend mustergültig illustriert und aufbe eitet: Von der Leningrader Futuristen-Oper Sieg über die Sonne aus 1913 und dem Schwarzen Quadrat des Kazimir Malewitsch bis zur Begeisterung europäischer Künstler für moderne Technik, die neue Medien wie Film und Fotografie erst ermöglichte. Lenins Entscheidung zugunsten Henry Fords Arbeitsorganisation und Fließbandkonzeption bleibt ausgespart. Im Kino und bei den Grafikern feierte der Kommunismus einen Sieg.

Georg Trakl (Hg. Hans Weichselbaum): Dichtungen und Briefe, Otto Müller Verlag, Salzburg–Wien 2020, 617 S.

Klemens Gruber: Die polyfrontale Avantgarde. Medien und Künste 1912–1936 Verlag Sonderzahl 2020, 250 S.

Was das Wien von 1927 mit dem heutigen verbindet

Beachtung streng kontrollierter Bewegungsvorschriften abzulaufen. Konkret ist auf eine rasche, rhythmisch kohärente Abfolge von Kopfstand, Rückenlage, Handstand, Zehenspitzenstand auf dem linken Bein und elegante Katzbuckelhaltung zu achten. 3. Ein relativ junger Wachstumszweig des Showgeschäfts ist die Disziplin „Wissenschafterin (vorzugsweise jung, attraktiv, schlagfertig) spricht“ bzw. „Wissenschafter (vorzugsweise kauzig, unverständlich, aber echt lieb) hantiert mit explosivem Laborgerät“, auch erhältlich in der Variante „Herr Professor erklärt die Welt“. Der Wert dieser Entertainmentform ist für die Wissenschaft auch ökonomisch nicht zu unterschätzen und mein Dank wie meine heimliche Bewunderung gelten

all jenen, die Energie, Talent und Zeit finden, auf diese Weise zur Sympathiesteigerung der Wissenschaften beizutragen. Auch ist mein Vertrauen in die Geisteskraft dieser Kolleginnen und Kollegen groß genug, um nicht von der Angst geplagt zu werden, sie könnten ihre wunderbaren Shows mit Wissensvermittlung verwechseln. Die verstohlene Ehrfurcht, die ich angesichts dieser Leistungen in mir aufsteigen spüre, führt mich zu meinem dritten Verbesserungsvorschlag: Wissenschaftliche Ergebnisse mögen erst dann einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wenn sie davor vor einer international besetzten Jury von zwölf randomisiert bestimmten Zwei- bis (maximal) Neunjährigen einen deutlichen Lacherfolg erzielt haben.

­ er Sieg der D ­Avantgarde im 20. Jahrhundert

Der Supernazi, der der Todesstrafe entging

Der Baedeker nötigt Bildungsbefli sene seit jeher, das Wichtige zu betrachten. In diesem Sinn beschreibt Ludwig Hirschfeld in neunzehn schwungvoll verfassten, feuilletonistischen Kapiteln das Wien des Jahres 1927 und das, was davon bis heute interessant geblieben ist: Die rohe Gartenmauer um das Palais Rothschild, Kraftkut cher, die Charlestongarnierung zum Wiener Schnitzel, Absteigequartiere Österreich-Ungarns, den Zahlmarkör, Max Reinhardt in der Josefstadt und warum hier so oft gefragt wurde: „Ist er ein Jud?“ Samt Nachwort zum Autor, der 1942 in Auschwitz verstarb.

„Solche jungen Männer braucht die Partei, braucht Deutschland!“ schmeichelte Adolf Hitler dem achtzehnjährigen angehenden Studenten der Germanistik und Kunstgeschichte, Baldur von Schirach. Als Reichsjugendführer schwört er die „Hitlerjugend“ auf die „braune Revolution“ ein und träumt von einem faschistischen Europa unter deutscher Führung. Beinahe gelingt ihm der Karrieresprung zum Kronprinzen des „Führers“. Als Gauleiter von Wien lässt er Juden in die Todeslager deportieren. 1946 wird er in Nürnberg zu zwanzig Jahren Haft verurteilt.

Ludwig Hirschfeld: Wien – Was nicht im Baedeker steht Milena Verlag 2020, 256 S.

Oliver Rathkolb: Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler Molden Verlag 2020, 352 S.


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T I T E LT H E M A SCHULBILDUNG NEU

Seiten 10 bis 22 Arnold Pöschl ist seit 2009 als freier Fotograf in Klagenfurt und Wien tätig und unterrichtet als freier Lehrbeauftragter Fotografie und ­Fotografieth orie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Der dort lebende Künstler befasst sich in diesem Heft fotografi ch mit den Auswirkungen der ­Digitalisierung während der Corona-Krise. Er taucht in die Welt von Schülern, Studierenden, Eltern und Lehrpersonen ein, die den neuen Herausforderungen gegenüberstanden. Doch neue Zeiten fordern und fördern auch immer neue Wege. Toleranz und gegenseitiges Verständnis sind für Pöschl der Schlüssel im wertschätzenden Miteinander. www.arnoldpoeschl.com

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

60.000

chinesische Schulen setzten bereits 2018 eine KI-Software zur Benotung von Chinesisch- und Englischaufsätzen ein. Weder Eltern noch Schüler wussten darüber Bescheid.

62.700 tägliche Nutzer verwendeten laut Bildungsministerium während des Lockdowns die Internetseiten lernplattform.schule.at (Moodle), gefolgt von LMS.at mit 50.000 und eduvidual.at (Moodle) mit 9.900.

500 Mrd.

2.500 Schülerinnen und Schüler zwischen zehn und 19 Jahren wurden von einem Team der Fakultät für Psychologie der Universität Wien online befragt, ob im Unterricht über die Zeit des HomeLearnings gesprochen wurde. 86 Prozent antworteten mit „manchmal“, zwölf mit „selten“, zwei mit „gar nicht“.

Zeichenfolgen umfasst das Training für das auf Texterstellung konditionierte US-Sprachsystem GPT3. Der Textdatensatz besteht aus 175 Mrd. Verbindungsparametern. Das menschliche Gehirn verfügt über 1014 synaptische Verbindungen.

1.760

10 bis 60% der Lern- und Unterrichtszeit gehen durch die Wiederholung von bereits vorhandenem Wissen verloren. Zehn bis 40 Prozent der Jugendlichen sind sich ihrer Defizite gar nic t bewusst. Adaptive Lernsysteme im Klassenzimmer können dabei Abhilfe schaffen, indem sie Übungsaufgaben an die Präferenzen und den Lernfortschritt anpassen.

8 Punkte umfasst der Masterplan des Bildungsministeriums für die Digitalisierung des Bildungswesens, darunter die Vereinheitlichung der bis dato unterschiedlichen Plattformen sowie die Ausgabe mobiler Endgeräte ab 2021/22. Dafür sind 200 Millionen Euro eingeplant.

Lehrpersonen aller Schultypen gaben bei einer Onlinebefragung an, zu 73 Prozent „sehr gut“ bzw. „ziemlich gut“ mit dem Unterrichten von zu Hause aus zurechtgekommen zu sein. Rund sechs Prozent meinten „eher nicht“, knapp drei Prozent „gar nicht“.

1.410.000.000 Ergebnisse spuckt die Suchmaschine Google aus, gibt man den Begriff „Dis ance Learning“ ein. Davon waren weltweit rund 1,5 Milliarden Kinder betroffen.


FOTO: ARNOLD PÖSCHL

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Im Mai 2020 hielt Schuldirektor Gerhard Hopfgartner die verschlankte Matura ab, die nur schriftlich stattfinden konnte


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Besser lernen aus der Krise Der Großteil der österreichischen Schülerschaft kam gut durch den Lockdown as bedeutete die Schließung von Bildungseinrichtungen Mitte März für Lernende und Lehrende? Ein Forschungsteam der Fakultät für Psychologie der Universität Wien befragte dazu Schüler, Schülerinnen und Lehrende. Drei Studien zum Wohlbefinden der Lernenden und Lehrenden Die Studie zeigt, dass sich zwei Drittel aller Schülerinnen und Schüler trotz der neuen Umstände wohlfühlten. Zentraler Faktor war dabei die Verbundenheit mit wichtigen Personen im näheren Umfeld. Rund sechs Prozent gaben allerdings ein geringeres Wohlbefinden an, das sind, hochgerechnet, rund 45.000 Betroffene. Sie beschrieben sich als wenig erfolgreich bei der Bewältigung schulischer Aufgaben. Sieben Prozent meinten, größere Probleme mit den schulischen Aufgaben gehabt zu haben, da sie die selbstständige Lernorganisation als besonders schwierig empfanden. 16 Prozent gaben an, keinen eigenen Computer oder kein eigenes Tablet zu besitzen; rund jedes fünfte Kind erhielt beim Lernen keine Unterstützung durch die Familie. Ende April, Anfang Mai zeigte eine zweite Erhebungsrunde, dass das Wohlbefinde bei rund der Hälft aller Schülerinnen und Schüler zugenommen hatte. Für hochgerechnet 70.000 von ihnen dürfte sich die Situation aber im selben Zeitraum deutlich verschlechtert haben. In der dritten Befragung berichteten sie von einer weiteren Verbesserung ihres Wohlbefindens durch die Rückkehr an ihre Schulen. In allen drei Erhebungsrunden waren soziale Eingebundenheit und das Erleben von Lernerfolgen zentrale Faktoren für das Wohlbefinden. Wie die Studie zeigen konnte, galt dies für Lernende wie Lehrende.

TEXT: WERNER STURMBERGER

„Es ist wichtig, Corona als Chance zu sehen und die positiven Erfahrungen mit der empirischen Bildungsforschung zu vertiefen“ BARBARA GASTEIGERKLICPERA

Der Unterricht muss auf die einzelnen Schüler eingehen Barbara Gasteiger-Klicpera vom Institut für Bildungsforschung und Pädagogenbildung an der Universität Graz sieht in den Studienergebnissen die Bestätigung bereits bekannter Befunde der Unterrichts- und Schulent- Barbara wicklungsforschung: „Erstaunt hat mich aber Gasteiger-Klicpera, die radikale Deutlichkeit, mit der diese jetzt Universität Graz sichtbar werden. Für mich zeigt die Studie klar, dass die Lehrpersonen mehr Unterstützung brauchen und es eine große Notwendigkeit für Individualisierung und Diffe enzierung im Unterricht gibt.“ Ein Fazit, das die Studienergebnisse nahelegen. Lehrpersonen berichten von der Schwierigkeit, lernschwächere Schüler mit schlechten technischen Möglichkeiten beim Home-Learning ausreichend zu unterstützen, wodurch sich die Probleme ohnehin schon benachteiligter Kinder vergrößern. Es ist davon auszugehen, dass Corona die Schere zwischen lernschwachen und -starken Jugendlichen vergrößert hat. Damit erhöht sich der Reformbedarf im hiesigen Schulsystem.

Eine Umgestaltung des Bildungssystems in Richtung Individualisierung und Diff renzierung würde nicht nur lernschwachen, sondern auch besonders guten Schülern zugute kommen. Laut der „Lernen unter Covid-19“-Studie vermisst mehr als die Hälft von ihnen die Schule, jedem Fünften fehlt sie jedoch nicht. „Das sind einerseits Lernende, welche die Schule nicht vermissen, weil sie die Zeit selbst effiziente nutzen können und so weniger Zeit mit für sie oft langweiligem Zuhören verbringen müssen“, erklärt Gasteiger-Klicpera. Diese Erklärung wird von der Studie gestützt: Die Befragten beklagen das frühe Aufstehen, den Prüfungsstress sowie den aufkommende Stress oder die Langweile, weil nicht im eigenen Tempo gelernt werden kann. Für die Grazer Bildungsforscherin ist es darum auch plausibel, dass nicht nur sehr gute, sondern eben auch leistungsschwächere Schüler und Schülerinnen die Schule nicht vermissen. Neuer Ansatz zur inklusiven Bildung für alle Kinder Für eine Gruppe dürfte das Home-Learning besonders problematisch gewesen sein. Die Studie identifiziert eine Risikogruppe mit niedrigem Wohlbefinden, die eher Probleme bei der Bewältigung der Aufgaben oder der Lernorganisation hat und zu Hause im Bedarfsfall kaum Unterstützung beim Lernen erhält. Genauere Aussagen über diese Gruppe können den Studiendaten allerdings nicht entnommen werden. „Darum ist es unbedingt notwendig, zu entsprechenden Daten zu kommen. Wir müssen feststellen, wer diese sind und was sie brauchen, um Schule als Ort erleben zu können, an dem sie sich wohlfühlen und Lernerfolge erleben. Nur so kann eine wirklich inklusive Bildung sichergestellt werden“, sagt Gasteiger-Klicpera. Sie wird im Herbst repräsentative Daten zu dieser Gruppe, deren Leistungen im Home-Learning zurückbleiben, erheben. Gemeinsam mit Lehrpersonen, Eltern und Kindern sollen in der Folge Strategien und Maßnahmen entwickelt werden, um die gewonnenen Erfahrungen in einem Prozess digitaler Schulentwicklung zu bündeln. Große bildungspolitische Weichenstellungen sind während der Krise ausgeblieben. Lehrende, Schulen und Bildungspolitiker haben alle Hände voll zu tun, um einen weitgehend reibungslosen Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen sicherzustellen. Der Corona-Gurgelprüft st dürft dabei eine der entscheidenden Kulturtechniken werden, wird aber kein erfolgreiches Schuljahr garantieren können: „Es darf nicht sein, dass ein so großer Teil der Lernenden nicht erreicht wird“, sagt Gasteiger-Klicpera. „Wir müssen jetzt Vorkehrungen in Hinblick auf die technische Ausstattung treffen, aber auch, damit diese Gruppe besondere Aufmerksamkeit erhält.

Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass die gegenwärtigen Rahmenbedingungen keine vollständige Teilnahme aller Schüler und Schülerinnen an einem möglichen neuerlichen Home-Learning sicherstellen: Fast jede sechste Befragte in der Studienstichprobe verfügt über kein eigenes Endgerät. Gasteiger-Klicpera wünscht sich darum bei einem neuerlichen Lockdown die selektive Öffnung von Schulen für lernschwächere Kinder und für jene, die zu Hause keine entsprechende Lernumgebung vorfinden Dafür werden entsprechende Räume benötigt, die es erlauben, unter Social-DistanceBedingungen lernen zu können. Alle anderen könnten sicherlich weiterhin zu Hause lernen. All jene, die mit der Selbstorganisation gut zurechtkommen, würden dadurch einen größeren Freiraum erhalten. Der durch die Corona-Pandemie ausgelöste Digitalisierungsschub sollte als Chance begriffen werden, die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Digitale Inhalte sind für das Home-Learning unverzichtbar, könnten jedoch auch im Regelbetrieb Lehrende massiv entlasten: „Schulen müssen viel stärker zusammenarbeiten: Ein einmal produzierter Videoinput als Vorbereitung für den Unterricht kann für alle auf einer digitalen Plattform verfügbar gemacht werden. Das würde Zeit und Energie für die wirklich notwendigen Aufgaben schaffen, nämlich individualisiert erklären, Fragen beantworten, vertiefen und Zusammenhänge diskutieren.“ Die Studienergebnisse zeigen, dass ein solches Vorgehen dem Wunsch vieler Lehrenden entsprechen würde. Österreich braucht eine mehr sachlich orientierte Bildungsforschung „Ich finde es ganz wichtig, dass man sich rasch des Themas angenommen hat und jene zu Wort kommen hat lassen, die am direktesten von der Schließung der Schulen betroffen waren: Schüler und Lehrpersonen“, ist Gasteiger-Klicpera überzeugt. Zudem hat die Studie auch den Wert der in Österreich oft stiefmütterlich behandelten empirischen Bildungsforschung deutlich gemacht: „Es ist ganz wichtig, Corona als Chance zu sehen und die positiven Erfahrungen mit der empirischen Bildungsforschung weiterzutragen und zu vertiefen.“ Die Schulen sollten große Veränderungen wie das Home-Learning oder eine anzustrebende Veränderung hin zu Diff renzierung und Individualisierung nicht ohne unterstützende Begleitforschung bewältigen müssen. Eine Systematisierung der Bildungsforschung könnte auch zu einer Versachlichung der in der österreichischen Politik traditionell eher ideologisch denn faktenbasiert geführten Bildungsdebatte beitragen. Damit würde sich die Qualität des Bildungssystems steigern lassen, was den Alltag an den Schulen zum Positiven verändern könnte.

FOTO: OPERNFOTO HAUSLEITNER, GRAZ

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FOTO: ARNOLD PÖSCHL

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Im Lockdown ist das Smartphone das Fenster zur Außenwelt und eine Möglichkeit, Kontakt mit Schulkollegen und Freunden zu halten


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Das unverzichtbare Klassenzimmer Die Erfahrung in Schweden zeigt: Das virtuelle Lernen funktioniert nur als Ersatz us dem Corona-Frühjahr, als auch in Schweden zahlreiche Schulen auf Fernunterricht umgestellt wurden, berichten Lehrer, dass immer mehr Schüler und Schülerinnen abgerutscht oder gar verschwunden seien. In dieser Zeit hatten Lehrende und Schüler auf der ganzen Welt „Onlineaktivitäten auf Distanz“ statt „Unterricht im Klassenzimmer“ erlebt, und zwar sowohl bei synchronen Aktivitäten, bei denen alle gleichzeitig aktiv tätig waren, als auch bei asynchronen wie etwa einer von der Lehrperson aufgezeichneten Unterrichtslektion, welche die Schüler später über den heimischen Bildschirm verfolgen konnten. Für die überwiegende Mehrheit stellte die neue Art des Lernens eine große Herausforderung dar. Durch diese Form des Unterrichts ist nämlich einiges verloren gegangen, das mit der physischen Anwesenheit im Klassenraum einhergeht, sich grundlegend positiv auf das Lernen auswirkt und dennoch oft wenig beachtet wird. Lehren ist mehr als bloße Informationsübertragung Im Klassenzimmer können die Anwesenden einander leicht und schnell Hilfestellung geben. „Wenn ich durch den Raum gehe“, erzählt eine Lehrerin, „sehe ich, wie ich jenen, die steckenbleiben oder mit der Arbeit nicht anfangen, helfen kann, oder zu zeigen, wie jemand etwas weiterentwickeln könnte. Beim Zoom-Meeting oder dergleichen gibt es diese Möglichkeit nicht.“ Auch fehlen die direkten, mitunter unbewussten Rückmeldungen der Schüler wie etwa ein Nicken mit dem Kopf, fragende Blicke, Einwände oder Kritik. Diese Formen der zum Teil nonverbalen Kommunikation sind aus Sicht vieler Lernforscher zentral und unverzichtbar für die Qualität des Unterrichts. Sie helfen den Lehrenden zu verstehen, wo der Lernstoff tatsächlich gelandet ist. „In einer normalen Unterrichtssituation sage ich: ‚Ich sehe, dass du diese Aufgabe vielleicht nicht verstanden hast, lass mich versuchen, sie auf andere Weise zu erklären‘, oder ‚Das ist ein interessanter Einwand‘ – all das ist virtuell kaum möglich.“ Wenige Möglichkeiten beim Fernlernen zur spontanen Reaktion Das gegenseitige Feedback stärkt auch die Fähigkeit der Schüler zu Disziplin und Selbstregulierung: Also zum Beispiel eine Arbeit zu erledigen, die jemand anderer verlangt und auf die man selbst keine große Lust hat, sich nicht eingehend darauf zu konzentrieren und durchzuhalten, vor allem, wenn anderes interessanter erscheint. Das ist für alle herausfordernd, ganz besonders aber für junge Menschen. Das gemeinsame Klassenzimmer mit Lehrenden und Gleichaltrigen unterstützt im Gegensatz zum Fernunterricht diese Form der Selbst-

TEXT: AGNETA GULZ

regulierung. Dort nehmen alle gemeinsam an einem Lernkontext teil und erwerben sich so eine Identität als jemand, der lernt. Das Klassenzimmer bietet Kontext und Zugehörigkeit. Beim Lernen aus der Ferne geht diese für menschliche Begegnungen so grundlegende Kommunikationsdynamik verloren, die Möglichkeit spontaner Interaktionen wird verringert. Damit nimmt die Qualität des Lehrens und Lernens deutlich ab. In der Schule ist es zum Beispiel nicht möglich, während des Unterrichts unbemerkt das Klassenzimmer zu verlassen. Natürlich schweben alle Menschen, vor allem aber Kinder, hie und da in ihren eigenen Gedanken davon und sind zeitweise geistig abwesend. In digitalen Kontexten ist es für Schüler aber viel einfacher, sich zu verstecken, etwas völlig anderes zu tun oder ganz zu verschwinden, obwohl sie an Ort und Stelle zu sein scheinen. „Im Klassenzimmer kann ich umhergehen und sagen ‚Hey, wie geht es dir?‘, oder ‚Wirst du jetzt nicht endlich anfangen?‘. Online gibt es hingegen Studierende, die nicht antworten, wenn ich sie anrufe.“ Denken und Beziehungen sind stark mit dem Raum verbunden Das gesammelte Wissen aus den unfreiwilligen Experimenten des vergangenen Frühlings bestätigt weitgehend, was wir bereits wussten: Beim Lehren und Lernen geht es um viel mehr als das Übertragen von Information, die von den Schülern verarbeitet wird. Die gemeinsame physische Anwesenheit ist für Lernprozesse von großer Bedeutung: Das Klassenzimmer ist nicht nur ein physischer, sondern auch ein relationaler und kommunikativer Raum, der unter anderem die Selbstregulierung unterstützt.

Agneta Gulz, Professorin für Cognitive Science und Direktorin der Educational Technology Group, Universität Lund

Ein Übergang zum ausschließlichen Fernunterricht könnte für eine Gesellschaft sozial desaströs enden Für bestimmte Personen und unter besonderen Umständen kann ein digitales Fernstudium von Vorteil sein, etwa für Schüler, die sich aufgrund von Krankheit, Mobbing oder psychischen Erkrankungen im Klassenzimmer nicht wohl fühlen. Für die überwiegende Mehrheit hat der persönliche Unterricht ebenso wie für die Lehrenden jedoch große Vorteile, weil unsere Informationsverarbeitung, unser Denken und unsere Beziehungen so stark mit dem Raum verbunden sind. Das Klassenzimmer ist also einzigartig: Dort ist man jemand, der gemeinsam mit anderen und vor unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen lernt und neue (Wissens-)werkzeuge erwirbt. Dieser

besondere soziale Kontext hängt stark vom physischen Raum ab. Soziale Medien als Unterrichtsraum desaströs für eine Gesellschaft? Man könnte einwenden, im Zeitalter der sozialen Medien könne man doch den sozialen Kontext des Lernens und der Bildung ebenfalls in den digitalen Raum verlegen. Nun, die Mechanismen und sozialen Strukturen des Internets haben sich zwar als gut für jene sozialen Kontexte erwiesen, an deren Inhalten man bereits interessiert ist und die einen gewissen Unterhaltungswert haben. So findet man Gleichgesinnte, es entstehen selbstorganisierende, oft gut funktionierende, soziale Zusammenhänge. Aber es ist bisher nicht gelungen, einen digitalen, sozialen Kontext zu schaffen, der dem des Klassenzimmers ähnelt, also einen, in dem sich junge Menschen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund und mit großen persönlichen Variationen treffen, um bei neuen, ihnen unbekannten Themen, die oft weder einfach noch unterhaltsam sind, zusammenzuarbeiten. Basierend auf diesem Wissen könnte ein Übergang zum ausschließlichen Fernunterricht für eine Gesellschaft sozial desaströs enden. Was wir über junge Menschen wissen, zeigt, wie wichtig es ist, neue Kenntnisse und Werkzeuge im persönlichen Austausch zu erwerben, Selbstregulierung und Sozialisation zu praktizieren und auch das zu tun, worum man von jemandem anderen gebeten wird. Der persönliche Austausch beim Lernen ist in diesem Sinne unverzichtbar. Ohne eine Schule, die dies allen bietet, besteht die Gefahr, dass die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft zunehmen, da junge Menschen aus soziokulturell starken Umgebungen zwar oft auch außerhalb der Schule viel von dem lernen, andere aber ihrem Schicksal überlassen werden und wegdriften Allen kurzfristigen finanziellen Gewinnen in Form eingesparter Lehrergehälter würden bald enorme Kosten gegenüberstehen: Jeder verliert, wenn Unterricht im Klassenzimmer wegfällt, aber am meisten verlieren Schüler aus Umgebungen mit geringen Ressourcen. Natürlich sind Forschung und Entwicklung wichtig, um das Angebot und die Qualität für das Onlinelernen zu verbessern und weiterzuentwickeln, nicht zuletzt für den Einsatz in Ausnahmesituationen wie jener im Frühjahr. Aus aktueller wissenschaftl cher Sicht spricht jedoch nichts dafür, die Unterrichtsaktivitäten im Klassenzimmer durch bildschirmvermittelte Fernaktivitäten zu ersetzen. Es mag eine Notfallmaßnahme sein, taugt aber nicht für den Dauerbetrieb. Bildschirmvermitteltes Lernen und Fernunterricht sind bis auf Weiteres für alle Beteiligten wie das Autofahren mit Ersatzreifen: Ein Ersatz für die reale, bessere Sache.

FOTO: LUNDS UNIVERSITET/KENNET RUONA

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Lernvideos, die man sich jederzeit im Internet ansehen kann, ersetzen den persönlichen Unterricht


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Prüfungen in Zeiten von Corona Die Pandemie zeigt auch die Problematik unseres Prüfungssystems auf. Lernen wir daraus? ugust 2020. Seit einiger Zeit sind Tests in aller Munde. Nicht nur wortwörtlich mit den Corona-Wattestäbchen, sondern auch im übertragenen Sinn, weil die diesjährige Matura mitten in den COVID19-Lockdown gefallen ist. Während in den meisten Klassen die Noten des vorherigen Semesters in das Jahreszeugnis einfließen, sieht es bei Schulabgängern anders aus: Es ist die letzte Schulnote, die sie erhalten und könnte für ihre Zukun” ausschlaggebend sein. Die Abschlussnote beeinflusst, an welche weiterführende Schule sie gehen können, oder ob der potenzielle Arbeitgeber eine Bewerbung annimmt. In Deutschland entscheidet die Note auch darüber, welchen Studiengang man wählen darf. Die Relevanz der Abschlussprüfung ist also unbestreitbar. Doch wie testet man das Wissen und Können tausender Schülerinnen und Schüler, wenn man mindestens 1,5 Meter Abstand halten und Mundschutz tragen muss? Zur Matura leere Aufgabenbögen abgegeben Österreich hat mit dem 3x3-System (3 Prüfungen, 3 Wochen Vorbereitung, 3 Schularbeiten) und ohne mündliche Prüfungen einen Weg gefunden, mit den Herausforderungen zurechtzukommen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das Ergebnis der Matura etwas schlechter ausgefallen, was daran liegen könnte, dass einige Schülerinnen und Schüler einen leeren Aufgabenbogen abgegeben haben. Da die Abschlussnote 2020 sich aus dem Durchschnitt der Jahres- und Maturanote zusammensetzt, konnten sie sich ausrechnen, welche Noten erreichbar waren und in welchen Fächern sie sich nicht mehr anstrengen mussten. Drei Varianten der Matura während der Pandemie Die österreichische Variante ist eine von drei Möglichkeiten, wie eine Prüfung in Pandemiezeiten aussehen kann: Sie wird abgeändert abgehalten. So ist es auch in der Türkei geschehen, wo die Abschlussprüfungen an zwei Tagen stattfanden (27. und 28. Juni). Im ganzen Land wurde zwischen 9 Uhr 30 und 15 Uhr ein Ausgangsverbot verhängt, das für alle außer für Prüflinge und deren Verwandte galt, damit diese sie zur Prüfung bringen und wieder abholen konnten. Für Schülerinnen und Schüler mit positivem Corona-Testergebnis gab es gesonderte Räume und Maskenpflicht. Eine weitere Möglichkeit, mit der Situation umzugehen, besteht in der zeitlichen Verschiebung der Prüfung auf ein anderes Datum. Die West African Senior School Certificate Examination (WASSCE), das westafrikanische Äquivalent zur Matura, wurde bis auf Weiteres ausgesetzt und erst dann nachgeholt, wenn sich die Situation verbessert. Das Diploma of Secondary Education (DSE) in Hongkong wurde von März auf April verschoben.

TEXT: THERESA PRATTES

In einer Zeit, da alles personalisiert wird, stellt sich die Frage, warum nicht auch die Art, wie Jugendliche in Schulen beurteilt werden, individualisiert werden kann

Theresa Prattes studiert an der Universität München

Die dritte Möglichkeit ist, die Prüfungen ganz ausfallen zu lassen. Diese Option hat Norwegen gewählt, was aber aufgrund des dortigen Schulsystems nicht allzu sehr ins Gewicht fiel. Die Abschlussnote der Schulabgängerinnen und -abgänger wird in Norwegen nur zu zwanzig Prozent von der Endprüfung bestimmt, achtzig Prozent ergeben sich aus der Mitarbeit während des Schuljahres. Auch Frankreich ließ die Baccalaureate examinations ausfallen und vergab stattdessen, basierend auf Mitarbeit und vorherigen Leistungen in den jeweiligen Fächern, Diplome und Kurszertifikate. Die USA haben sich ebenfalls für diese Option entschieden. Tests wie SAT und ACT wurden ausgesetzt, und nun müssen US-amerikanische Universitäten ihre Aufnahmekriterien überdenken. Viele Universitäten, darunter auch alle acht Ivy-League-Colleges wie etwa Harvard, haben sich für eine „test-optional-policy“ entschieden. Das bedeutet, dass angehende Studierende ihre Noten nicht angeben müssen, aber können. Bislang hat auch eine Ivy-League-Universität, das California Institute of Technology Caltech, angegeben, für die nächsten zwei Jahre kün” ige Studierende gänzlich testblind auszuwählen. Dafür werden andere Faktoren wie etwa die Auswahl der Schulfächer und außerschulische Aktivitäten in sozialen und sportiven Bereichen in Betracht gezogen. Neue Prüfungskriterien für die Zukunft Standardisierte Tests wie der SAT bevorzugen erwiesenermaßen Schülerinnen und Schüler mit höherem sozioökonomischen Status etwa aus Akademikerfamilien, da sich ihre Eltern eine eventuelle Nachhilfe leisten können und nicht neben der Schule arbeiten müssen wie viele andere Schüler. Eine Regelung wie bei Caltech kann also eine Chance für jene bedeuten, die unter „normalen“ Umständen nie an einer renommierten Universität angenommen geworden wären. Das hat zu einer Debatte über die Sinnha” igkeit der standardisierten Tests und Prüfungen geführt. Ist es denn überhaupt noch zeitgemäß, die Fähigkeiten einer Person aufgrund einer Leistung an einem Tag zu bewerten? Sind der psychische und der Leistungsdruck, den Noten verursachen, wirklich zielführend? Will man sich dieser Frage nähern, muss man zuerst auf die Funktion von Prüfungen und Noten blicken. Beide sollen eine Leistungsrückmeldung sein und Ausblick auf zukün” ig mögliche Leistungen bieten. Noten sollten nicht nur für die Benoteten und deren Eltern, sondern auch für den Lehrenden ein Indikator für Lehrqualität sein. Sie liefern Informationen über die E« ektivität eines Lernprogramms an Administratoren und über den Stand des Bildungssystems an Menschen in der Politik.

Freilich kann ein einzelnes Instrument wie eben die Notenvergabe nicht alle Informationen erbringen. Tatsächlich ist die beste Information, die man aus einer Note herauslesen kann, die Rangliste jedes Einzelnen innerhalb einer Klasse. Außerdem ist eine Note immer nur ein Durchschnittswert: So können kün” ige Arbeitgeber aus einem „Befriedigend“ im Fach Deutsch nicht herauslesen, ob der Bewerbende gute Reden schreiben kann oder nicht. Vielleicht kann er es, ist aber bei der Interpretation von Texten schlecht und wurde deswegen mit einer Drei benotet. Der Begri« „Bulemie-Lernen“ zeigt einen weiteren Nachteil von Noten auf: Sie spiegeln meist nur kurzfristige Lernerfolge wider. Der Begri« beschreibt jenes Phänomen, wenn Studierende eine Woche lang für eine Klausur lernen, danach aber den Großteil des Gelernten wieder vergessen. Welche Alternativen zur Notengebung gibt es? Trotz dieser Kritikpunkte, ganz zu schweigen von Prüfungsangst und psychischem Stress, der mit Prüfungen einhergeht, hält die Bildungspolitik immer noch an standardisierten Tests fest, was eigentlich schon lange als überholt gilt. In einer Zeit, in der alles personalisiert wird, stellt sich auch die Frage, warum nicht die Art, wie man Lernende beurteilt, individualisiert werden kann. Die Anforderungen an Lernende und Lehrende haben sich geändert, was nicht erst beim durch die Corona-Pandemie erzwungenen digitalisierten Lernen o« ensichtlich wurde. Weshalb prüfen wir also noch nach alten Schemata, wenn die Welt um uns herum sich ständig ändert? Weshalb werden die Prüfungen nicht angepasst? Schon der Ursprung des Wortes „Prüfung“ aus dem lateinischen probare, was erfahren, betrachten, erwägen und beweisen bedeutet, gibt eine Vorstellung davon, wie man Prüfungen alternativ gestalten könnte. So könnte man dem Prüfling zugestehen, selbst am besten erwägen zu können, wann er bereit ist, sein Wissen und Können zu beweisen. Statt einer schri” lichen Prüfung könnte man alternative Lösungsmöglichkeiten anbieten, die wohl dieselben Fähigkeiten voraussetzen, aber für jene, die etwa unter Prüfungsangst leiden, einfacher machbar sind: Verschiedene Lerntypen unterschiedlich fördern und fordern; Fähigkeiten einzeln und Rückmeldungen zum Beispiel in Form eines Kompetenznachweises zu bewerten, kann weitaus hilfreicher sein, da der Lernbedarf präziser aufgezeigt wird und weniger allgemein als „eine 3 in Mathe“. Solche Konzepte gibt es im Moment nur vereinzelt. Corona zeigt nun die Grenzen des Status quo auf, und zwar in der Wirtscha” , im sozialen Leben, aber auch in der Art, wie wir Leistungen beurteilen und Lebenswege beeinflussen. Ho« en wir, dass wir daraus etwas lernen.

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Informatiklehrer Thomas Weissel war gefordert, die IT-Infrastruktur am Europagymnasium Klagenfurt für einen reibungslosen Ablauf aufzurüsten


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Ist ein Algorithmus böse? Terminatoren oder unfaire Technik: Beide Sichtweisen behindern die Debatte über ethische KI ünstliche Intelligenz (KI) ist zum  Gegenstand gesellschaftlicher Debatten geworden. Die Beratung durch KI unterstützt uns in der Schule, im Alltag beim Einkauf, bei der Urlaubsplanung und beim Medienkonsum, manipuliert uns allerdings auch gezielt bei Entscheidungen oder führt durch Filter-Bubble-Phänomene  zur Realitätsverzerrung. Eine der jüngsten Aufregungen hierzulande galt der Nutzung moderner Algorithmik durch das österreichische Arbeitsmarktservice AMS. Der sogenannte  „AMS-Algorithmus“ soll Beratende bei der Entscheidung über Fördermaßnahmen unterstützen. Wenn KI in einem so erheblichen Ausmaß in menschliches Handeln eingreift, bedarf sie im Hinblick auf ethische Prinzipien einer sorgfältigen Bewertung. Das ist notwendig, um unethische Folgen zu vermeiden. Üblicherweise wird gefordert, KI bzw. Algorithmen sollen fair sein, was bedeutet, sie sollen nicht diskriminieren und transparent sollen sie sein, also Einblick in ihre Funktionsweise ermöglichen. Wie fragwürdige Ergebnisse der KI zustande kommen Bei der Betrachtung von KI gibt es vor allem  zwei Sichtweisen in der öffentliche Debatte: eine Vermenschlichung der laufenden KI-Systeme und eine zu technische Sicht. Vermenschlichende Darstellungen, etwa im Buch bzw. Film I, Robot, oder Zuschreibungen wie beispielsweise Bösartigkeit lenken vom entsprechenden Verständnis eines komponentenbasierten, technischen Systems ab, das aus sich wiederholenden Schleifen von Input-Algorithmus-Output besteht. Aktuelle Anwendungen sind besonders gut darin, beschränkt lernfähige Rechenoperationen auf große Datenmengen zu skalieren. Sie funktionieren als „schwache“ KI in jeweils einer „erlernten“ bzw. antrainierten Domäne. In ihrer Funktionsweise sind diese Systeme nicht besonders menschenähnlich, obwohl sie menschliches Verhalten etwa in Form eines Chatbots simulieren. Dabei liegt die Intelligenz hauptsächlich bei den Entwicklungsteams und deren Entscheidungen bezüglich Trainingsdaten, Algorithmen und Evaluation. Doch die mathematische Funktion in einem komponentenbasierten KI-System ist nur eine mögliche Ursache für ethisch fragwürdige Konsequenzen. Denn bei der Reduzierung von KI auf ein technisches System wird vor allem außer Acht gelassen, dass bei der Umsetzung von algorithmischen Ergebnissen meist noch Menschen involviert sind: Human-in-the-loop. Sie tragen zur Wirkung des Gesamtsystems MenschTechnologie bei. Die menschliche Überhöhung laufender KI-Systeme vereinfacht ebenso wie die zu sehr auf Technik fokussierte Sicht die

SEBASTIAN DENNERLEIN, CHRISTOF WOLFBRENNER, ROBERT GUTOUNIG, STEFAN SCHWEIGER, VIKTORIA PAMMER-SCHINDLER

Sebastian Dennerlein, Know-Center, TU Graz

Christof Wolf-Brenner, Know-Center

Robert Gutounig, FH Joanneum, Graz

Viktoria PrammerSchindler, Know-Center, TU Graz

Stefan Schweiger, Bongfish

­Problemstellung, wie ethisch eine KI sei.  Allerdings erschweren beide auch die Diskussion ethischer Fragestellungen. Dies lässt sich an der Diskussion um den nicht realisierten AMS-Algorithmus zeigen. Die beim maschinellen Lernen eingesetzte Klassifikationsmethod stellt, vereinfacht formuliert, fest, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person in den nächsten sechs Monaten wieder erwerbstätig sein wird. Darauf gründen ökonomisch motivierte Entscheidungen über die Vergabe von Fördermaßnahmen. Für die Bewilligung einer Fördermaßnahme an Arbeitssuchende ist jedoch die maschinelle Einschätzung allein nicht entscheidend. Das AMS hat stets betont, dass seine Beraterinnen und Berater die Verantwortung für die Entscheidung übernehmen würden. Dieses Beispiel zeigt, dass sich die ethische Diskussion über KI bzw. Algorithmen sich weder auf eine technische noch auf eine „maschinenmenschliche“ Sicht beschränken lässt. Beide Sichtweisen verschleiern den Zusammenhang von technischen Systemkomponenten (wie dem repräsentativen Datensatz) und den handelnden Menschen in der Softwa e-Entwicklung (Auftraggebe de, KI-Designer und -Entwickler) sowie bei der Nutzung der KI, im Fall des AMS Beratende und Arbeitssuchende. Ein soziotechnisches System zur Bewertung der KI Angesichts dieser Problematik schlagen wir vor, bei Diskussionen zum Thema Ethik das „soziotechnische System“ zu betrachten. Damit meinen wir die Technologie sowie alle menschlichen Akteure, die in die Erstellung einer KI sowie deren Verwendung eingebunden sind. Die Menschen stehen dabei mit der Technik in einem dynamischen Wechselspiel, genauer gesagt, sie interagieren sowohl bei ihrer Herstellung als auch bei der Nutzung auf verschiedene Art und Weise mit den Technikkomponenten. Dies geschieht im Privatgenauso wie im Arbeitsleben. Während sich die Mitarbeitenden eines Entwicklungsteams um die Akquise und Bereinigung von Daten, das Training des Algorithmus und die Visualisierung der Ergebnisse einer KI kümmern, wenden die Nutzerinnen oder Nutzer die KI etwa zur Entscheidungsfindun und Arbeitserleichterung selbst an oder sind durch prognoseninformierte Entscheidungen indirekt betroffen Dabei verlangt ihr spezifi cher Kontext, etwa die Firma von KI-Entwicklern oder die Familie von einem Jugendlichen, sich an bestimmte  Regeln zu halten. Aufgrund dieser wechselseitigen Abhängigkeit ist eine Diskussion über ethische Prinzipien bei KI-Systemen nur unter Berücksichtigung der Formen (un-)mittelbarer Mensch-Maschine-Interaktionen sinnvoll. Sie zeigt die Ankerpunkte, an denen ethische Probleme auft eten und entsprechende

Lösungen ansetzen müssen. Aus dieser Betrachtungsweise ergibt sich eine Vielzahl an Fragen, etwa über die Zusammensetzung eines KI-Entwicklungsteams oder über die Verantwortlichkeit bei der Datenvorverarbeitung und -verwendung sowie bei der Interpretation und Anwendung der Künstlichen Intelligenz durch Nutzer. Wie sieht die AMS-KI soziotechnisch aus? Aus soziotechnischer Sicht ergäben sich für den AMS-Algorithmus folgende Fragen, und zwar einerseits bei der Herstellung von KI-Systemen, andererseits bei deren Nutzung: Ist die Zusammensetzung des Teams bei der Softwa e- und KI-Entwicklung interdisziplinär, besteht es aus verschiedenen Kulturen und inkludiert bzw. repräsentiert es alle Stakeholder? Sind beispielsweise auch Arbeitssuchende in die Entwicklung eingebunden? Bilden die selektierten Daten im Sinne von Fairness überhaupt ein repräsentatives Bild der Realität ab? Sind darin unerwünschte, aber reelle Arbeitsmarktverzerrungen enthalten („gender pay gap“)? Legt das System transparent dar, wie sicher das Ergebnis ist, und weist es bereits erfolgte, nachträglich adaptierte Klassifikatione bei ähnlichen Fällen aus? Wird die Grundlage der Ergebnisfindun verständlich dargestellt, sodass die Zusage oder Ablehnung einer Förderung durch die Beratenden erklärt werden kann? Werden die Beratenden bezüglich des Klassifikationsmechanismus und der darauf aufbauenden Entscheidungsfindung des AMS-Algorithmus geschult, etwa zur richtigen Interpretation eines Klassifizierung vorschlags? Wie lauten die Leitlinien ihres Handelns? Werden Arbeitssuchende weiterhin fair behandelt, wenn man die zugrunde liegenden Daten leicht verändert? Können AMS-Beratende also erkennen, ob geringfügige Variationen in den Daten zu viel positiveren oder negativeren Konsequenzen für die Arbeitsuchenden führen? Erzielen verschiedene Beratende für ähnliche Personen vergleichbare Ergebnisse? Wie kommen wir zu einer ethischen KI? Wir plädieren dafür, diese soziotechnischen Systeme bereits während der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz zum Gegenstand ethischer Reflexio zu machen („ethical-by-design“). Zu diesem Zweck schlagen wir das Framework „Socio-technical Refl ction of Ethical Principles“ (SREP; Dennerlein et al., 2020) vor. Selbstverständlich sollten auch klassische Fragen nach algorithmischer Fairness und Transparenz Teil dieser KI-Ethik-Diskussionen sein. Klar ist aber, dass sich die ethische Problematik der KI erst aus der Gesamtheit ergibt. Für ein ethisch verantwortungsvolles KI-Design muss daher der soziotechnische Kontext kontinuierlich hinterfragt werden.

FOTOS: JORJ KONSTANTINOV, GUDRUN HAMMER, FH JOANNEUM, KNOW-CENTER, BETTINA KNAFL, PRIVAT

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Wenn Turnen und Sport ausfallen, trainiert Tom im Park und teilt Fotos davon mit seinen Freunden


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:  VO N A B I S Z

Schule neu: Das Glossar JOCHEN STADLER

Aufnahmeprüfung  Kostenpflichtig Zusatzselektion durch die Hochschulen von Anwärtern, die ihre Hochschulreife mit Ablegen der Matura eigentlich hinreichend demonstriert hätten. Ausbildung  Umformen von allgemein gebildeten Schülern in für definiert Aufgaben spezialisierte Arbeitskräfte Berufsorientierung  Ausrichtung des Unterrichts auf berufliche und arbeitsmarktpolitische Anforderungen. Wurde in Österreich per Gesetz ab dem Schuljahr 1998/99 in die Schulen gebracht. Bildungsexpansion  Das Phänomen, dass immer mehr Eltern ihre Kinder immer gebildeter sehen wollten. Dies entwertete Hauptschulen zu Restschulen und drängte viele Schüler, vor allem jene von sozial höher gestellten Eltern, in Gymnasien, wodurch deren Qualität abnahm und Mittelschulen als Puffe zone eingerichtet wurden. Bildungskosten  In Österreich werden rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bildung der kommenden Generationen aufgewendet. Das ist rund ein Drittel der Pensionszahlungen und mehr als zehnmal so viel wie für den Umweltschutz, der sichern soll, dass sie in einer lebenswerten Welt alt werden können. Distanzunterricht  Über das Internet abgehaltener Unterricht. Frontalunterricht  Vom Lehrer am besten zu kontrollierender Unterricht, der Schüler zur Pünktlichkeit, Anpassung und Passivität nötigt und Konformität mit guten Noten belohnt. Gesamtschule, integriert  Hier lernen gute und schlechte Schüler mitund voneinander und haben Zeit, ihre Qualitäten früher oder später zu entwickeln, weil sie entsprechend ihres aktuellen Leistungsvermögens unterrichtet und nicht ab einem gewissen Punkt in Schubladen gesteckt werden. Gesamtschule, kooperativ  Wenn Haupt-, Mittelschule und Gymnasium unter einem Dach, aber säuberlich getrennt sind, nennt sich das etikettenschwindlerisch ebenfalls Gesamtschule. Ganztagsschule  Verbessert die Chancengleichheit von Schülern aus sozial schwächeren Schichten und erspart es den Eltern, nachmittägliche Betreuungsaufgaben oder einen Hort zu bezahlen. Gegliedertes Schulsystem  Trennt Schüler nach der Grundstufe namens Volksschule in Kasten mit der Bezeichnung Gymnasiasten, Mittelschüler und Hauptschüler auf. Homeschooling  Heimunterricht, bei dem Schüler von Eltern oder Privatlehrern geschult werden. Khan Academy  Onlineuniversität, an der über 4.000 frei zugängliche Lern­ videos, die Hunderte Millionen Mal abgerufen wurden, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Wirtschaft

vermitteln. Der US-Pädagoge Salman Khan will damit Menschen vor allem in Entwicklungsländern, die kaum Bildungschancen haben, kostenlosen Zugang zu hochwertiger Bildung ermöglichen. Kommunikativer Unterricht  Unterrichtsform, bei dem die klassische Lernhierarchie und Frontalunterricht zugunsten von ein bisschen Gleichwertigkeit abgeschwächt werden und Kinder auch voneinander lernen dürfen. Kompetenzen  Moderne Schulsysteme wollen mehr Können und weniger Wissen vermitteln. Kreativität  Tritt gehäuft bis in das Kindergartenalter auf, wird dann von der Lehrerschaft systematisch dezimiert. Lehrplan  Staatliches Dokument, das den Lehrern vorschreibt, was sie ihren Schülern beibringen müssen. Leistungsbeurteilung  Eine Zahl von eins bis fünf oder verbale Verschlüsselung, wie gut ein Schüler mit dem System Schule zurechtkommt, Wissen aufnehmen und wieder ausspucken kann. Lernergebniskontrolle  Verklausuliert die Unworte Prüfung, Test, Schul- und Klassenarbeit. Mehrsprachigkeit  Hat im deutschsprachigen Raum nicht viel Platz. Hier glaubt man, mit der Muttersprache und gebrochenem Englisch das Auslangen zu finden Nachhilfe  Meist privat zu zahlender Nachmittagsunterricht, der in Österreich von den politischen Mehrheiten der Ganztagsschule vorgezogen wird. Neugier  Kindlicher Reflex, den die Schule durch Pflichtbewu stsein zu ersetzen versucht. Offener Unterricht  Unterricht, bei dem die Lerninteressen der Kinder und nicht ein staatlicher Lehrplan das Geschehen bestimmen, wobei sie ihr Lernen selbst organisieren müssen. Operativer Unterricht  Tätige Auseinandersetzung der Schüler mit einem Lerngegenstand, bei der ein durch geistiges und manuelles Tun zustandegekommenes sichtbares Produkt entsteht. Reifeprüfung  Attestiert einem Schüler Hochschulreife, zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, bei dem er bei einer Aufnahmeprüfung noch einmal Hochschulreife demonstrieren soll.  Schulabschluss  Ein Zeugnis, das von einem Tag auf den anderen erlaubt, großteils das zu vergessen, was man in den vergangenen Jahren gelernt hat. Udacity  Onlineakademie, welche der Standford-Professor und Google-Forscher Sebastian Thrun 2011 gründete, indem er einen Kurs über Künstliche Intelligenz auch online abhielt, um die teure Elite-Ausbildung mehr Menschen verfügbar zu machen. 160.000 Studierende nahmen teil, 23.000 schafften die Abschlussprüfung, mehr als 400 Onlinestudierende schnitten besser ab als Stanford-Insassen.

:  F R E I H A N D B I B L I OT H E K BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA VON EMILY WALTON

Die Revolution  der Schule  in Richtung Kreativität

Schule, die tiefer­gehendes Lernen ermöglicht

Viele Schulen sind den Herausforderungen nicht (mehr) gewachsen, Lehrer und Schüler erleben den Schulalltag oft eher als Belastung denn als Bereicherung, und vom System profitieren am ehestens Firmen, die standardisierte Tests vertreiben. Von dieser Skizze des Status quo ausgehend, plädiert Ken Robinson für eine Revolution im Schulwesen: Anstelle des alten, industrialisierten Bildungssystems solle ein individuell auf die Schüler zugeschnittener Ansatz treten, der diese einbindet und zum Lernen animiert. Machbar wäre dies durch die moderne Technik.

Mehrere hundert Stunden haben Jal Mehta und Sarah Fine in den Klassen der 30 innovativsten US-Schulen bei Gesprächen mit Lehrern und Schülern verbracht. Ihr Ziel: Herauszufinden, was nötig wäre, um High Schools in Orte zu verwandeln, in denen sich die Schüler tiefgreifend mit Wissen befassen. Das Ergebnis war ernüchternd: „Deeper Learning“ ist eher die Ausnahme als die Regel. In einzelnen Fächern wurden die Autoren fündig. In ihrem Buch führen sie aus, was Schulen tun müss(t)en, um den Rahmen für tiefergehendes Lernen zu schaffen

Creative Schools: The Grassroots Revolution That‘s Transforming Education. Ken Robinson, Lou Aronica. Penguin

In Search of Deeper Learning: The Quest to Remake the American High School. Jal Mehta, Sarah Fine. Harvard

Eine Bildung, die Robotern gewachsen ist

Neugierde und Kreativität als Bildungsziele   der Zukunft

Die Automatisierung galt lange als Konkurrenz und Gefahr für wenig qualifizierte Tätigkeiten. Mittlerweile können Roboter bis hin zu medizinischen Diagnosen immer komplexere Aufgaben erfolgreich erledigen. Wie werden heute Studierende ausgebildet, um Aufgaben zu übernehmen, die selbst die beste künstliche Intelligenz nicht schafft? Eine „robotersichere“ Ausbildung, so Joseph Aoun, zielt nicht darauf ab, studentische Köpfe mit Fakten zu füttern. Vielmehr fördert sie kreatives Denken und mentale Flexibilität, die man zum Entdecken, Erfinden und Erschaffen benötigt.

Der Druck, gute Abschlüsse mit guten Noten zu erreichen, steigt. Gleichzeitig fehlen – trotz der auf Papier formidablen Ausbildung – oft die Kompetenzen, um aufmerksame, engagierte Bürger zu sein und gute Jobs in einer sich rasch ändernden Wirtschafts elt zu erhalten. Den Grund dafür sehen Tony Wagner und Ted Dintersmith darin, dass das Schulsystem erschaffen wurde, um Arbeitskräfte für eine Berufswelt zu produzieren, die nicht mehr existiert. Die Autoren skizzieren ihre Vision für moderne Bildung, die Neugierde und Kreativität ins Zentrum rückt.

Robot-Proof: Higher Education in the Age of Artificial   Intelligence. Joseph E. Aoun. MIT Press

Most Likely to Succeed:   Preparing Our Kids for the   Innovation Era. Tony Wagner, Ted Dintersmith. Scribner


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Für Kaija und ihre Mutter Nora bedeutet Home-Schooling eine neue Herausforderung


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Verhöhnt, verraten und vergessen 1869 isolierte Friedrich Miescher die DNA. Dafür wurde er verspottet und ignoriert ie Geschichte der DNA wird oft folgendermaßen erzählt: Francis Crick und James Watson entdeckten 1953 die Struktur der DNA und erhielten dafür 1962 gemeinsam mit Maurice Wilkins den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Damit begann das „Goldene Zeitalter der Molekularbiologie“. Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich jedoch eine vergessene Forscherin: die britische Biochemikerin Rosalind Franklin (1920–1958). Ihre Röntgenstrukturanalysen waren für die Entdeckung der DNA-Struktur essenziell; der Zugriff auf ihre Daten durch Crick, Watson und Wilkins geschah jedoch ohne ihr Wissen. Ihr früher Tod durch ein Ovarialkarzinom geht zweifelsohne auf die permanente Strahlenüberbelastung zurück. Die unbesungenen Vorreiter der DNA-Forschung Rosalind Franklin ist einerseits eine Galionsfi ur der weiblichen Wissenschaftsg schichte, andererseits ein Paradebeispiel für das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der Wissenschaft. Der Ton, mit dem Kollegen Franklin beschrieben, ist, aus heutiger, emanzipatorischer Sicht, genauso bemerkenswert wie die Tatsache, dass die Herren Forscher mehr Informationen über Franklins Aussehen als über ihre Forschung austauschten wie auch eine ausgiebige Diskussion darüber führten, ob der Forscherin Make-up stehen würde oder nicht. Die Historie der Entdeckung der DNAStruktur ist gleichzeitig auch eine der Vernachlässigung. Und die begann nicht erst 1953, sondern schon fast ein Jahrhundert früher. 1869 isolierte der Schweizer Arzt Friedrich Miescher (1844–1895) als Erster die Substanz Nuklein, die wir heute unter dem Namen DNA kennen. Allerdings wird Mieschers Name nicht mit der von ihm isolierten Substanz in Verbindung gebracht. Mittlerweile schafft er es da und dort auf eine Vortragsfolie, gegen die schillernden Namen Crick und Watson hat er jedoch kaum eine Chance. Ist Mieschers Entdeckung des Nukleins zumindest peripher bekannt, geriet seine zweite, jene des Protamins, 1874 publiziert, vollkommen in Vergessenheit. Miescher, zu dieser Zeit Professor an der Universität Basel, nützte die Lage am Rhein für seine Forschung am Lachssperma und entdeckte, dass das Nuklein immer an ein anderes, unbekanntes Protein gebunden war. Miescher nannte es „Protamin“ und den Komplex beider Substanzen „nukleinsaures Protamin“. Heute ist besonders durch die Epigenetik bekannt, dass die DNA im Zellkern, um strukturgebende Proteine gewickelt, vorkommt. Man könnte also fragen, ob Miescher nicht nur ein vergessener Vorreiter der Genetik, sondern auch der Epigenetik war? Gemeinsam mit der Entdeckung des nukleinsauren Protamins äußerte er seine Vermutungen über die Rolle des Nuk­lein bei der Vererbung. Sollte es nicht auch dabei

TEXT: SOPHIE JULIANE VEIGL

„Mein Lachsnuclein ist natürlich identisch mit seiner Nucleinsäure“ JOHANNES FRIEDRICH MIESCHER

eine wichtige Rolle spielen? Schließlich wurde es schon in Zellen unterschiedlichster Organismen nach­gewiesen. Miescher forschte allerdings nie über Vererbung, sondern über die chemische Zusammensetzung von in Organismen vorkommenden Substanzen und war ein Vorstreiter der Physiologischen Chemie. Fragen zur Vererbung gehörten fast ausschließlich in den Bereich der Zytologie, von der er keine hohe Meinung hatte. Er zog Erlenmeyerkolben und Bunsenbrenner dem Mikroskop vor; Methoden zur Untersuchung der Vererbung lagen außerhalb seiner Disziplin. Die Erforschung der ­Zusammensetzung des ­Nukleins und die Untersuchung seiner Rolle bei der Vererbung verliefen also entlang einer Trennlinie zwischen den einzelnen Forschungsdisziplinen. In den Mühlen von Forscherneid und Nationalismus Die Entdeckung des Nukleins hatte einen schlechten Start, woran Mieschers Laborleiter, der als Begründer der Biochemie geltende Felix Hoppe-Seyler, insofern Mitschuld trug, als er Mieschers Entdeckung aufgrund einer früheren, negativen Erfahrung mit Vorsicht gegenüberstand: 1865 hatte sein Schüler Otto Liebreich eine neue Substanz, das Protagon, entdeckt. Dessen Rezeption verlief jedoch schlecht. Die internationale Kollegenschaft, besonders in Großbritannien, war rasch der Meinung, Liebreich hätte keine neue Substanz entdeckt, sondern lediglich nicht sauber genug gearbeitet. Hoppe-Seyler war also im Falle Mieschers skeptisch und wollte nicht im Zentrum eines weiteren Skandals stehen. Deswegen wiederholte er höchstpersönlich das Experiment. Der im Juli 1870 ausgebrochene deutschfranzösische Krieg verzögerte die Veröffen lichung Mieschers Entdeckung zusätzlich. 1871 kam es endlich zur Publikation in Hoppe-Seylers Zeitschrift Hoppe-Seylers medicinisch-chemische Untersuchungen. Trotz dessen Vorsicht erwartete Mieschers Nuklein ein kaum besseres Schicksal als das zuvor von Liebreich entdeckte Protagon. Der deutsche Physiologe und Hirnforscher Ludwig Thudichum (1829–1901), 1853 nach London ausgewandert, nahm Mieschers Entdeckung aus­einander. Er war schon öfter mit Hoppe-Seyler zusammengestoßen und hatte die Kampagne gegen Otto Liebreich geleitet. Hoppe-Seyler wiederum war federführend in einer Diskreditierungskampagne gegen Thudichum. So sprach sich Thudichum gegen alle durch die „Hoppe-Seylerische Schule“ isolierten Substanzen aus. Der aufgekommene Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befl gelte die Debatte zusätzlich. Das britische Autorenpaar Thomas Kingzett und Henry Hake, zwei Ärzte, setzten zu einem Rundumschlag an: Ihrer Meinung nach seien alle „deutschen“ Isolate so ungewaschen wie „gewisse Individuen“.

Um Mieschers internationale Rezeption war es also schlecht bestellt. Was aber geschah im deutschsprachigen Raum? 1887 publizierte der Histologe Richard Altmann einen Artikel, in dem er Mieschers Namensgebung auf den Kopf stellte und ­einen neuen Namen für das Nuklein einführte, der uns heute noch bekannt ist: Nukleinsäure. Der Begriff „Nuklein“ sollte fortan den Komplex von Nuklein und Protamin beschreiben. Miescher war alles andere als erfreut. In einem Brief an seinen Onkel und Mentor Wilhelm His machte er seinem Ärger Luft „Mein Lachsnuclein ist natürlich identisch mit seiner Nucleinsäure und zwar sicherlich die reinste unter allen.“ – Miescher hatte nämlich sein Lachssperma Altmann für dessen Versuche geborgt. Friedrich Miescher starb 1895 an Tuberkulose, eine Langzeitfolge seiner Arbeit am Nuklein: Über Jahre hinweg musste er, um eine erfolgreiche Extraktion zu garantieren, bei vier Grad Celsius im Labor arbeiten. Nun änderte sich einiges an der Rezeption seiner Forschung. Zu Lebzeiten war ihm vorgeworfen worden, seine Entdeckungen beruhten auf Kontaminationen und unsauberer Arbeitsweise. In den kommenden Jahrzehnten fand die Kritik einen neuen Ansatzpunkt. Sowohl in Lehrbüchern als auch in der Geschichtsschreibung der Genetik heißt es, Miescher hätte alle möglichen Substanzen durcheinandergebracht. Die von Altmann eingeführte Bezeichnungsänderung setzte sich letztlich durch. Nuklein wurde zu Nukleinsäure und schlussendlich zu DNA, wobei weder Mieschers Name noch seine Nomenklatur eine Rolle spielten. Da so die ursprüngliche Namensgebung in Vergessenheit geriet, wurde es nicht einfacher nachzuvollziehen, was genau er entdeckt hatte. Die Epigenetik lässt nun Mieschers Stern leuchten Die Wissenschafts eschichte gibt wie die Geschichtsforschung nicht nur Aufschluss über bestimmte historische Ereignisse, sondern auch über den historischen Kontext der Geschichtsschreibenden. Die historische Bewertung Mieschers erfolgte vor allem im 20. Jahrhundert, das sich durch die Molekularisierung der Biologie, der Entdeckung der DNA-Struktur und der monumentalen „Modern Synthesis“, der Zusammenschau von Genetik und Evolutionstheorie, auszeichnet. Der Fokus in Forschung und Geschichtsschreibung lag also auf der DNA. Für Miescher und das nukleinsaure Protamin blieben im Jahrhundert des Gens wenig Platz. Im Zeitalter der Epigenetik, bei der von höchstem Interesse ist, was um die Gene herum passiert, erscheint auch Mieschers Entdeckung in neuen Licht und bedarf daher einer neuen Historiografie Grundlage dieses Textes bilden zwei von Ehud Lamm und Oren ­Harmann gemeinsam verfasste Artikel, welche heuer in den Zeitschriften „Genetics“ und „Journal of the History of Biology“ publiziert wurden.

FOTO: WIKIPEDIA

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Z U G U TE R L E T Z T   :   H EU R E KA  3/20   FALTER 43/20  23

:  G E D I C H T

ERICH KLEIN

U N T E R E R N Ä H RT D E R W I N T E R – RO B E RTA DA P U N T

Roberta Dapunt Roberta Dapunt, geboren 1970 in Abtei / Badia (Italien), wo sie heute noch lebt. Sie schreibt in italienischer und ladinischer Sprache. Auf Deutsch erscheinen ihre Bücher beim Folio Verlag: Nauz (2012/2019), dies mehr als paradies | la terra più del paradiso (2016), die krankheit wunder | le beatitudini della malattia (2020)

Und rings, und rings fliegen hungrige vögel, ihre gesänge, in ihrem klang mein babeln. Und inmitten, inmitten bleibe ich stehen, verharre. Höre, indes in ihrem hunger ich mich zerglieder. Ich streue die arme und aus den händen langsam die finge . Mein sie verpflege im unterernährten winter, ohne verse bleibt mir das gierige begehren zu leben trotzdem.

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Nichts erbitte ich, hab nichts zu ersehnen von spatzen, lerchen und krächzender krähe denn beständigkeit. Hab mich ihnen zu geben, auf der mensa werden sie senken die flügel aus meinen wangen sättigen einen traurigen instinkt.

Weil aus nichts nichts mehr.

AUS: ROBERTA DAPUNT, DIE KRANKHEIT WUNDER | LE BEATITUDINI DELLA MALATTIA ÜBERSETZUNG: VERSATORIUM, FOLIO VERLAG 2020

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT) :  B I G P I C T U R E AU S B U DA P E ST

:  I M P R E SS U M Herausgeber: Armin Thurnher; Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Redaktion: Christian Zillner, Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Martina Paul; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenle ung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenle ung/falter ständig abrufba .

HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

Denk mal Als der Schriftsteller Martin ­Walser in einer zu Recht kritisierten Rede in Bezug auf den Umgang der Nachgeborenen mit Auschwitz von „Monumentalisierung der Schande“ sprach, geriet auch dieses Wort in Verruf. Der antiquierte Ausdruck werde weder der Ermordung der europäischen Juden gerecht, noch entspreche er der auch Nachgeborenen gebotenen Verantwortung für die eigene Geschichte. Die Zeiten haben sich geändert, derartige Wortklaubereien fanden gestern statt, und der in Wien periodisch wiederkehrende Disput über das Denkmal für Karl Lueger wurde jüngst um das Wort „Schande“ bereichert. Kaum origineller als die seit Jahren mit kunstfertigem Ernst vorgebrachten I­deen zur Umgestaltung des Standbildes und die mittlerweile angebrachte Tafel samt Hinweis, dass es sich bei Lueger um den Erfinder christlich-sozialen Antisemitismus und „Lehrer“ Adolf Hitlers handle, sprayten Unbekannte „Schande“ auf dessen Sockel. Die Schmiererei wurde mehrfach entfernt und wiederholt – denn die Schande sollte ewig bleiben! Zumindest nach Vorstellung jener Aktivisten, die radikal subversiv ein Absperrgitter zur Seite schoben und das Wort „Schande“ mit goldgefärbtem Beton verewigten. Gegen die eher ironische Monumentalisierung der Geschichte gingen Rechte mit Hammer und Meißel zur Verteidigung „ihres“ Lueger ans Werk. Bislang letzter Akt im Denkmalstreit: Eine „Schandwache“ der Burschenschaft „Hysteria“. Karneval. Ist damit das Ende jener Denkmäler historischer Persönlichkeiten gekommen, die vor allem um 1900 herum von Unterstützerkomitees initiiert wurden? Robert ­Musil schrieb zu Recht, sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie keiner beachtet. Vermutlich ist es eine Ironie der Geschichte, dass das Lueger-Denkmal eine Gruppe von Beachtern fand, die dessen Abbruch verlangt, zu der allerdings auffällig wenige Historiker gehören. Ist der Disput zu wenig komplex? Von Politikern ist kaum mehr zu erwarten als: Haust du mein Antisemiten-Denkmal, hau ich dein Antisemiten-Denkmal. Wie sagte die kürzlich verstorbene, aus Wien stammende Schrift tellerin Ruth Klüger? „Ich komme nicht aus Auschwitz, ich komme aus Wien.“ Klüger war nach dem Krieg Studienkollegin von­ Martin Walser gewesen.


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