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Die letzten Meter des ewigen Eises Der Jamtalgletscher in Tirol liegt im Sterben. Eine Glaziologin begleitet ihn auf seinem letzten Weg. Derweil vermarkten Touristiker den Rückgang des Eises und stellen sich auf einen grauen Berg ein, der bald ergrünen könnte REPORTAGE: BENEDIKT NARODOSLAWSKY
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unkel ist das Eis der Zukunft. Es liegt hier oben auf über 3000 Metern, in der Silvrettagebirgskette im Südwesten Tirols, wo die Jamtalspitze und die Dreiländerspitze in den Himmel ragen. Ein Laie würde das Eis für Fels halten. Geröll bedeckt es, über seine schroff abfallende Seite hat sich eine schwarzgraue Schmutzschicht gelegt. Die Form erinnert an einen gestrandeten Pottwal, der aus dem Bauch blutet. Doch aus der Wunde fließt kein Blut, sondern Schmelzwasser. Der vermeintliche Fels ist sogenanntes Toteis. So nennt man jenes Eis, das nicht mehr mit dem Gletscher verbunden ist, sich nicht mehr bewegt, sondern nur noch herumliegt und aufs Abschmelzen wartet. Man kann dem Toteis in der Silvretta-Gebirgsgruppe live beim Sterben zusehen. Es plätschert nicht nur aus ihm heraus, es rieseln auch stetig lose Steine herunter. Bräuchte man für die Klimakrise einen Soundtrack, müsste man hier bloß ein Mikrofon aufstellen. „2050 wird man den Gletscher nicht mehr erkennen können. Er zerfällt jetzt schon in viele Einzelteile, das geht sehr rasch“, sagt die Glaziologin Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften über den Jamtalferner. Dass die Erderhitzung Gletscher verschwinden lässt, ist keine Neuigkeit. Neu ist allerdings, mit welcher Geschwindigkeit das passiert. „Wir haben gedacht, dass wir mehr Zeit haben, aber es geht sehr schnell in dieser Endphase“, sagt Fischer.
FOTO: BENEDIK T NARODOSLAWSK Y
Den großen Trend zeigt ein internationales
Forscherteam, das von der ETH Zürich und der Université de Toulouse angeführt wurde. Ende April veröffentlichten die Wissenschaftler eine große Studie, in der sie mehr als 200.000 Gletscher weltweit mithilfe von speziellen Aufnahmen des Nasa-Satelliten „Terra“ untersuchten, der seit 1990 die Erde umkreist. Fast alle Gletscher werden demnach immer schneller immer dünner. Zwischen 2000 und 2004 gingen im Jahresschnitt 227 Gigatonnen Eis baden, zwischen 2015 und 2019 waren es bereits 298. Die Alpen zählen zu jenen Gebirgen weltweit, in denen das Eis besonders schnell das Zeitliche segnet. Braucht man einen Gletscher, um diese Entwicklung hautnah live zu verfolgen, kann man vom Nasa-Satelliten Terra in den Jamtalferner hineinzoomen, der sich im Südwesten Tirols an die schweizerisch-vorarlbergerische Grenze schmiegt. Seit dem Ende der Kleinen Eiszeit zieht sich der Gletscher zurück, aber die Klimakrise hat das Tempo noch einmal dramatisch erhöht. Mehr als einen halben Kilometer liegt der Stein vom Eis entfernt, auf dem man die in Rot hingepinselte Zahl 90 lesen kann. Er markiert die Stelle, bis zu der der Gletscher im Jahr 1990 seine Zunge herausstreckte. Jedes Jahr rollt er sie seither
Wo einst Eis war, blüht heute gelb die Nelkenwurz. Während der Gletscher im Sterben liegt, erobert die Vegetation neues Terrain
etwa um 20 Meter ein. Wo es einst weiß war, liegt heute eine graue Geröllhalde. Die Klimakrise hat hier auf 3000 Metern eine dystopische Kulisse geschaffen. Fischer ist als Glaziologin eine Art Sterbe-
begleiterin des Jamtalferners. Um seinen Gesundheitszustand zu messen, versenkt sie mit einer Kollegin eine Stange im unteren Ende des Gletscherkörpers. Sie kommen sechs Meter tief. Das Eis,
in der die Stange steckt, wird noch heuer weg sein, schätzt Fischer. Nicht nur die Gletscher haben sich verändert, sondern auch ihr Beruf. Einst war ihr Forschungsgebiet noch harte Arbeit. Da hatte sich noch der alte Schnee der Vorjahre über das Gletschereis gelegt und eine derart hohe Firnschicht gebildet, dass man kaum ans Eis kam. Die Fortsetzung nächste Seite