Heureka 5/19

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HEUREKA #52019 Verschwörungstheorien Wahr oder falsch?

ILLUSTRATION: P. M. HOFFMANN

Österreichische Post AG, WZ 02Z033405 W, Falter Zeitschriften GesmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Wahr oder falsch? Der Experte Didier Fassin erklärt, was sich aus Verschwörungstheorien lernen lässt Seite 12

Verschwörung. Lügenpresse Das Studium von Verschwörungstheorien in der österreichischen Forschung Seite 14

Weise! Und schwarze Magie Geheime Männerbünde in Afrika und ihre gesellschaftlichen Funktionen Seite 16


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IN TRO D U K TIO N   :   H EU R E KA 5/19   FALTER 46/19  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:   E D I TO R I A L

Meritokraten Magersucht teils vererbt Seite 8 Eine neue Studie und ihre Bedeutung

Verschwörungstheorien: Wahr oder falsch?  Seite 12

FOTO: KARIN WASNER, ILLUSTRATIONEN: P.M. HOFFMANN

Kopf im Bild  Seite 4 Historiker Walter Pohl, Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Der Experte Didier Fassin erklärt, was sich aus Verschwörungstheorien lernen lässt

Weise Männer und schwarze Magie  Seite 16

Auch in Afrika gibt es geheime Männerbünde

Weltverschwörung und Lügenpresse  Seite 14 Forschung in ­Österreich zu internationalen Verschwörungstheorien

Glossar und Bücher zum Thema  Seite 20 Verschwörungstheorien

Befehlsempfänger vor Gericht   Seite 22

Der Zeithistoriker Christan Rabl erforschte, wie Verbrecher aus dem KZ Mauthausen juristisch verfolgt wurden

Zahlen zum Thema Seite 10 Acht ausgesuchte Zahlen zu verschiedenen Aspekten von Verschwörungstheorien

Uni Wien Foto- und Infografikwettbewerb Seite 23 Die Fotos und Infografiken der (Nachwuchs-)Wissenschafter und Wissenschafterinnen, die gewonnen haben

Verschwörung der Verlierer  Seite 18 Wenn im Sport verloren wird, sind schnell Verschwörungstheorien bei der Hand

Verschwörungstheorie? Habe ich, und gleich die größte aller Zeiten. Sie geht so: Über Elbert ­County in Georgia stehen Steine mit einer Inschrift in acht Sprachen, darunter in Sanskrit, auf Babylonisch und in Hieroglyphen. Sie verkünden neue Zehn Gebote. Das erste Gebot lautet: „Du sollst die Menschheit unter 500 Millionen Personen halten.“ Das Zehnte Gebot besagt: „Du sollst kein Krebsgeschwür für diese Erde sein.“ Stimmen Sie wenigstens Letzterem zu? – Willkommen zu meiner Verschwörung! Es ist nicht leicht, einen Planeten mit beinahe acht Milliarden Menschen in ein Paradies für 500 Millionen zu verwandeln. Aber es geht. Das Zauberwort heißt „menschengemachter Klimawandel“. Sie und ich, wir helfen dabei kräftig mit. Denn wir haben im Unterschied zu den Milliarden Armen die Mittel dazu. Wir müssen nur ins Auto steigen, per Flugzeug reisen und auf alle, nur den Vermögenden und Reichen mögliche Weise Rohstoffe zur Energiegewinnung für unsere Bequemlichkeit verbrauchen. Damit graben wir den Milliarden Armen das Wasser ab und was sie sonst noch zum Überleben brauchen, ohne dass wir uns dafür anstrengen oder gar die Hände schmutzig machen müssten. Das nenne ich eine Verschwörung: Die fleißigen und tüchtigen Meritokraten gegen die armen Anderen.

:   G A ST KO M M E N TA R

Awards als Symbole für Spitzenforschung

FOTO: SCHEDL

BENEDIKT MANDL

Am 8. November wurden aus hundert Nominierungen von vier Kontinenten drei herausragende Talente, nämlich Emily Bayer (Columbia University), Justin Silpe (Princeton University) und Mohamed El-Brolosy (Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung) mit dem Birnstiel Award ausgezeichnet. Es ist ein neuer, internationaler Preis für Doktoranden in molekularen Lebenswissenschaften. Die Laureaten nahmen den Preis am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) entgegen, wo zugleich das 25-jährige Bestehen des Vienna-BioCenter-Doktorandenprogramms gefeiert wurde. Der Preis steht auch für die Ausrichtung des IMP: den Blick stets auf der Spitzenforschung, ohne nationale Vorlieben. Seit seiner Gründung 1985 haben sich das IMP und seine Nachbarn in St. Marx zu einem global

bedeutenden Wissenschaftszentrum entwickelt. Mit entsprechender Strahlkraft als Arbeitsplatz: Personen aus achtzig Ländern arbeiten am Vienna BioCenter. Ähnlich bunt ist das Umfeld am IST Austria, das der „Nature Index“ im Sommer als Leuchtturm von globalem Rang hervorhob. Generell lässt heimische Forschung mit beachtlichen Erfolgen aufhorchen: 2015 erhielt Emmanuelle Charpentier einen Breakthrough Prize (höchstdotierter Wissenschaftspreis der Welt) für Beiträge zur Entdeckung der

Benedikt Mandl, Biologe, ­leitet seit 2016 die Kommunikation des IMP

Genschere CRISPR Cas9, die sie großteils an den heutigen Max Perutz Labs leistete. 2018 ging ein Break­ through Prize an Kim Nasmyth, der am IMP die Organisation von Erbgut während der Zellteilung erforschte. Schnell wurde angemerkt, dass beide Österreich den Rücken gekehrt hätten. Aber Wissenschaft ist nicht der Song Contest, Forscherkarrieren sind praktisch nie nur einer „Nation“ zuordenbar. „Brain Circulation“ gilt als Erfolgsfaktor. Wichtig ist, dass Institutionen vor Ort attraktiv für Talente aus aller Welt bleiben. Dabei hilft auch die EU mit Förderungen, um die sich Forschende in Österreich recht erfolgreich bemühen. Anfang des Jahres teilte der Europäische Forschungsrat die Erfolgsquoten bei Anträgen für hochbegehrte ERC Grants mit. Von 195 Institutionen landete das IMP

mit 60 Prozent auf Platz drei, das IST Austria mit 49 auf Platz sechs und die BOKU mit 33 auf Platz 17. Die TU Graz belegte den 28. Platz – mit einer Erfolgsquote von 26 Prozent noch immer doppelt so hoch wie der Durchschnitt von 13 Prozent. Spitzenforschung mag kosten, aber sie zieht auch Geld an. Der Birnstiel Award erwuchs aus einem internationalen Selbstverständnis: Das IMP will Talente aus aller Welt ansprechen, Entdeckungen ermöglichen, die globale Resonanz generieren und Forschende hervorbringen, die ihre Karrieren nahtlos an weltweit führenden Institutionen fortsetzen. Die neuen Preise von IMP und Max Birnstiel Stiftung ergänzen dieses Verständnis um eine Facette: Sie feiern Talent und frühe Leistung und sind Inspiration für junge Forschende über Landesgrenzen hinaus.


4 FALTER  46/19  H EUR EKA 5/19  :   P ERSÖNL IC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

Migration Wie lebten Menschen vor 1.500 Jahren im Osten Mitteleuropas? Wie veränderten die damaligen großen Wanderungsbewegungen diese Gesellschaften? „Die moderne Genetik bietet großartige Möglichkeiten, Migrationen der Vergangenheit zu erforschen, um besser zu verstehen, wer wir sind“, sagt Walter Pohl. „Dabei müssen Genetik, Geschichte, Archäologie und Anthropologie hier eng zusammenarbeiten“ – wie in seinem neuen Projekt „HistoGenes“. Gerade konnte er dafür einen hochdotierten ERC Synergy Grant einwerben. Pohl ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Wien und Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zusammen mit internationalen Partnern nimmt sein Team nun die sogenannten „Völkerwanderungen“ vom 5. bis zum 9. Jahrhundert in Ostmitteleuropa unter die Lupe. „Wir versprechen uns neuartige Perspektiven auf das frühe Mittelalter“, freut sich der Historiker.

TEXT: USCHI SORZ FOTO: KARIN WASNER

:   J U N G FO RS C H E R

USCHI SORZ

Tobias Boos, 34, Uni Wien Bis Jänner ist der Kölner noch Fellow des Centro Maria Sibylla Merian an der Universität San Martin in Buenos Aires, dann kehrt er als Postdoc ans Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zurück. Hier hat er internationale Entwicklung und Politikwissenschaft studiert und im Mai promoviert. Sein Thema sind die populistischen Regierungen Lateinamerikas. „Speziell der Zusammenhang zwischen sozialstruktureller Verortung der Akteure und ihren politischen Realitäten.“ In seiner Dissertation hat er die Rolle der Mittelklasse für den Populismus in Argentinien untersucht. „Anders als oft angenommen, war diese eine wichtige Stütze der populistischen Kirchner-Regierungen.“ Der Blick in andere Gesellschaften schärfe auch jenen auf PopulismusPhänomene hierzulande. „Auch bei uns gilt es, vermeintliche Gewissheiten aufzubrechen.“

Raffael Heiss, 32, MCI Management Center Innsbruck „Auf social Media erreichen Politiker heute oft mehr Menschen als mit traditionellen Medien“, sagt der Tiroler. „Das bringt zwar eine größere Bürgernähe, aber auch Nachteile, weil die Informationen nicht mehr von Journalisten gefiltert und kontextualisiert werden.“ Für seine Dissertation hat er untersucht, welche Bevölkerungsgruppen sich mit welchen politischen Akteuren auf Social Media vernetzen und welche Effekte von den dort geposteten Inhalten zu erwarten sind. „Insbesondere beim Thema Fremdenfeindlichkeit zeigten sich Polarisierungstendenzen, in denen sich Einstellungen verstärkten.“ Heiss hat in Innsbruck und Wien Politik- und Kommunikationswissenschaft studiert und beschäftigt sich nun am MCI auch mit Gesundheitskommunikation. „Die Herausforderungen sind ähnlich.“

Andreas Streinzer, 35, Institut für Sozialforschung Frankfurt Der Wiener studierte Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und ist jetzt Researcher an der Universität St. Gallen sowie Fellow am Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt. Fokus seiner Dissertation war die Finanzkrise in Griechenland. Für die Feldforschung lernte er Griechisch, lebte ein Jahr in verschiedenen Haushalten in der griechischen Hafenstadt Volos und untersuchte, wie diese mit den Folgen der Sparpolitik umgingen. Seine Erfahrungen bewogen ihn dazu, neben den wirtschaftlichen Aspekten auch über Persönliches wie Freundschaft oder Zeitvorstellungen zu schreiben. „Angesichts der Diskrepanz zwischen medialen Zuschreibungen à la ,Faulheit und Misswirtschaft‘ und der Lage der Menschen in einem zerstörten Sozialsystem wollte ich das Bild zurechtrücken.“

FOTOS: MARIA C. TORTOSA, FOTO HOFER, ANNA WANKA

Am 11. November ehrte die Fakultät für Sozialwissenschaften der Uni Wien diese Jungforscher für die besten Dissertationen des letzten Studienjahrs mit dem Sowi.Doc-Award


KO M M E N TA R E   :   H EU R EKA 5/19   FALTER 46/19  5

EMILY WALTON

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Elvis in Brüssel

Verschwörung im Feldversuch

Mehr Empathie!

Elvis lebt. Der einstige „King of Rock ‘n‘ Roll“ erfreut sich guter Gesundheit. Er hat vor Jahren die Identität eines luxemburgischen Politikers angenommen und die letzten Jahre als Präsident der EU-Kommission in Brüssel verbracht. Als patriotischem Amerikaner gilt sein Interesse der Schwächung des europäischen Gemeinschaftsprojektes, womit erklärt wäre, warum in den vergangenen Jahren in vielen Fragen auf EU-Ebene nicht viel weitergegangen ist. Das glauben Sie nicht? Das ist Ihnen zu absurd? Dann beweisen Sie doch einmal das Gegenteil! Und wann haben Sie Elvis und Jean-Claude Juncker zuletzt im selben Raum gesehen? Eben. Zugegeben: Der doch nicht verstorbene Elvis als EU-Kommissionschef ist wohl wirklich etwas zu weit hergeholt. Andererseits: Trifft das nicht für viele Verschwörungstheorien zu, jedenfalls aus Sicht jener, die sie nicht glauben? Dunkle Mächte, ein abgekartetes Spiel der Eliten auf dem Rücken der Bürger – aus Brüsseler Sicht mögen viele Verschwörungstheorien, die rund um die EU-Politik die Runde (durchs Internet) machen, als völlig absurde Hirngespinste erscheinen. Der Kulturhistoriker und Amerikanist ­Michael Butter, der ein EU-Forschungsprojekt zur Analyse von Verschwörungstheorien leitet, warnt jedoch davor, alle, die so etwas glauben, als Spinner abzutun. Man müsse, meint Butter, die Anhänger von Verschwörungstheorien ernst nehmen,und zwar als Symptom dafür, dass es in der Gesellschaft Probleme gibt. Dass viele glauben, es sei egal, ob oder wen man wählt – weil es sich „die da oben“ (oder „die in Brüssel“) ohnehin untereinander richten würden. Oft würden auch grundsätzlich rationale Menschen Verschwörungstheorien verfallen, weil sie (einfache)Antworten und Erklärungen suchen. Gerade bei komplexen Materien ist die abstruse Theorie mitunter leichter anzunehmen als die tatsächliche Erklärung. In Brüssel mag eines noch erschwerend hinzukommen: Der pro-europäische Grundkonsens, der die Mehrheit der Politiker in Brüssel eint, trotz zahlreicher EU-Gegner unter den Abgeordneten im EUParlament und EU-Skeptikern in manchen Regierungen. Ein solcher Grundkonsens vermag, aus der Ferne betrachtet, den Eindruck verstärken, hier stecken alle unter einer Decke. Zu Elvis in der Chefetage des Berlaymont ist dann nicht mehr allzu weit.

Der Kulturanthropologe Didier Fassin (siehe Seite 12) ist der weltweit führende Forscher auf dem Gebiet der Verschwörungstheorien. Er meint, dass sie häufig Unter­ drückungsverhältnisse und Ängste in Gesellschaften widerspiegeln. So gesehen, nehmen die Menschen schon seit Jahrhunderten an einem Feldversuch teil, aus dem die Wissenschaft lernen kann. Erfunden hat den Begriff Karl Popper in seinem Werk über die „Offene Gesellschaft“ 1945, aber das Phänomen existierte schon lange vorher. Laut Popper ist die Verschwörungstheorie der Versuch, soziale Phänomene und historische Ereignisse durch den Nachweis zu erklären, „dass gewisse Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden.)“ Sir Karl richtete sich damals vor allem gegen die marxistischen Planspieler, die in der Geschichte überall die sinistren, globalen Mächte des Kapitals obwalten sahen, aber die Palette ist viel bunter. Es gibt faktisch nichts, aus dem man keine Verschwörung konstruieren könnte. So haben nicht nur Aliens sämtliche antiken Kulturen begründet, die CIA Kennedy, die Freimaurer

:  B R I E F AU S B RÜ SS E L

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

: FREIBRIEF

Jörg Haider ermordet und die Rauchverbote dem lebensrettenden, vor Chemtrails schützenden Schleim der Raucherlungen den Garaus gemacht, darüber hinaus kehrt durch Carola Racketes totalitäre Gedankenwelt und die Enteignungspolitik der Berliner Stadtregierung der deutsche Kommunismus wieder, auch unterwandern 3.000 Burschenschafter mit Liederbüchern in der Hand die österreichische Republik. Abgesehen von solchen Geschichten kommen auch real existierende Verschwörungen vor. Zum Beispiel das Agentennetz des ExSS-Offiziers Wilhelm Höttl, das dieser im Auftrag der US-Amerikaner zu Beginn des Kalten Kriegs im Salzkammergut aufgezogen hatte. Höttl trainierte außerdem im Toten Gebirge Guerillas (vor allem alte Nationalsozialisten) für einen Krieg in Ungarn und Rumänien. Nachzulesen in meinem neuen Buch: „Wilhelm Höttl. Spion für Hitler und die USA“ (Verlag Ueberreuter, Wien). Kläglich gescheitert ist dagegen die „Quartalsverschwörung“ von Falter Heureka-Chefredakteur Christian Zillner und mir, die zum Ziel hatte, mindestens viermal im Jahr ein „Achtelfinale“ beim Heurigen zu veranstalten. Konspirative Schlamperei haben diese Verschwörung zur Hebung der Weinkultur versanden lassen.

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

:   F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

Klimaschutzbewegungen wie „Fridays For Future“ fordern, dass sich die Politik mehr an der Wissenschaft orientieren soll. In diesem Fall zu Recht, aber in anderen Fällen wäre es angebracht, wenn die Wissenschaft das eine oder andere von der Politik lernen würde. Ich erhalte regelmäßig Post von Menschen, die von mir wissen wollen, wie sie den an Homöopathie glaubenden Onkel, die von der Astrologie überzeugte Mutter oder irgendwelche Reichsbürger/Flacherde/Impfgegner-Verschwörungstheoretiker im Internet von ihren Überzeugungen abbringen können. Welche wissenschaftlichen Argumente, so die Frage, können sie verwenden, um die Menschen von ihrer Irrationalität zu überzeugen? Gar keine, lautet die Antwort leider in so gut wie allen Fällen. Denn die Menschen glauben diesen Quatsch ja nicht deswegen, weil ihnen keiner gesagt hat, dass sie sich irren. Man kann irrationale Überzeugungen nicht mit rationalen Argumenten entkräften. Wer offen für die Vernunft ist, würde der Unvernunft gar nicht erst erliegen. Man wird kein Anhänger von Pseudowissenschaft oder Verschwörungstheorie, weil einem „nur“ das Wissen fehlt. Viel wichtiger sind „Bauchgefühl“, Emotionen, Ängste und eine Ablehnung von „denen da oben“ und dem „Mainstream“. Die Politik hat das erkannt: Dort gewinnt nicht die Partei Wahlen, die, rational betrachtet, die vernünftigsten Argumente hat. sondern jene, die auf das Bauchgefühl der Wählerschaft setzt. Die Wissenschaft soll nun natürlich keinesfalls die populistischen Methoden der Politik übernehmen. Aber wenn sie der Öffentlichkeit ihre Erkenntnisse vermitteln will, dann kann sie nicht nur auf die Kommunikation der Fakten setzen, so gut diese auch erklärt sein mögen. Sie darf bei ihren Vermittlungsversuchen auch die Empathie nicht vergessen und muss akzeptieren, dass wir Menschen eben allesamt irrationale Wesen sind. Wir vertrauen unserem Bauchgefühl mehr als irgendwelchen Fakten. Wenn Wissenschaftskommunikation das ignoriert, dann wird sie scheitern. Wer die Vorurteile gegenüber der Forschung abbauen und Aufklärungsarbeit leisten will, muss mehr tun als anderen Menschen zu erklären, wie dumm sie sind. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6 FALTER  46/19  H EUR EKA 5/19  :   NAC H R I C H TE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

: MEDIZIN

Auch im Winter hinaus an die Sonne! Denn es geht darum, Vitamin D übers Sonnenlicht aufzunehmen DIETER HÖNIG

Vitamin-D-Mangel ist in Mittelund Nordeuropa weit verbreitet. Der Körper benötigt Vitamin D, um Muskulatur und Knochen zu stärken sowie das Immun- und Hormonsystem positiv zu beeinflussen. Es ist das einzige Vitamin, das der Körper mithilfe von Sonnenlicht selbst produzieren kann. Die Hauptursache für die Häufigkeit von Vitamin-D-Mangel liegt im veränderten Lebensstil, der uns immer seltener die Natur und damit verbunden die Sonnenbestrahlung genießen lässt. „Erschwerend kommt die praktisch nicht vorhandene Möglichkeit hinzu, auch mit ausgewogener Kost Vitamin D in ausreichend großen Mengen aufzunehmen“, erklärt ­Peter Peichl vom Evangelischen Krankenhaus Wien. Vom Mangel an Vitamin D sind in der „gesunden Normalbevölkerung“ Esssüchtige sowie Mager- und Brechsüchtige betroffen. Peichl sieht auch junge Frauen in Gefahr, die allzu bereitwillig

Peter Peichl, Evangelisches Krankenhaus, Wien einem Schönheitsideal frönen, das auf dünne Menschen setzt. Vitamin D beugt auch der Muskelschwäche vor. „Eine Vielzahl unserer Untersuchungen befassen sich mit Muskelschwäche und Sturzneigung als Folge von Vitamin-D-Mangel“, sagt Peichl. Dieser Mangel erhöht das Sturz- und Frakturrisiko.

:   PA L ÄO N TO LO G I E

:   M AT H E M AT I K

Der Zahn der Schreckensechse: Ein Saurier aus dem Salzkammergut

Der virtuelle Blick ins Herz

Der Paläontologe Alexander Lukeneder entdeckte in Oberösterreich ­einen fossilen Pliosaurierzahn. Diese Saurier findet man selten

Kristian Bredies entwickelt eine Theorie zur Bildrekonstruktion

USCHI SORZ

USCHI SORZ

Zwar nicht die Nadel im Heuhaufen, aber Ähnliches hat Alexander Lukeneder gefunden: „Den Zahn im Gesteinshaufen.“ Und zwar zwischen Traun- und Attersee in den nördlichen Kalkalpen. In Gesteinsschichten, die vor 132 Millionen Jahren während der unteren Kreidezeit abgelagert wurden, entdeckte der Paläontologe des Naturhistorischen Museums Wien (NHM) im Vorjahr bei einer Grabung den etwa einen Zentimeter großen Zahn. „Ob der Seltenheit und besonderen Form des Fundes ist die Suche nach dem ,Besitzer‘ extrem kompliziert“, berichtet er. Schließlich konnte er ihn mithilfe seines Kollegen Nikolay Zverkov von der Russischen Akademie der Wissenschaften als Pliosaurier identifizieren, in internem Kreis auch „Pliosaurier austriacus“ genannt. „Pliosaurier haben einen kurzen Hals, aber einen sehr langen Schädel“, sagt der Forscher

„Im Aussehen sind sie mit den Mosasauriern aus den Jurassic-WorldFilmen vergleichbar.“ Im Mesozoikum, dem Erdmittelalter, lebten sie im Meer und jagten andere Meeressaurier, Urhaie und Ammoniten. Der bekannteste Vertreter ist der bis zu zehn

Alexander Lukeneder, Naturhistorisches Museum Wien Meter große Liopleurodon. Der Fund gilt als wissenschaftliche Sensation. Es handelt sich um einen kreidezeitlichen Erstnachweis aus dem Alpenraum und den erst zweiten Nachweis dieses Meeresreptils aus dem Hauterivium, einer zeitlichen Stufe der unteren Kreidezeit, weltweit. Ab 2020 wird er im NHM zu sehen sein.

:   T E L E KO M M U N I K AT I O N

Die 5G-Verschwörung: Tote Vögel und Steuerung unserer Gedanken? 5G soll Gedanken kontrollieren, Vögel vom Himmel fallen und Bienen

sterben lassen. Solche Ideen werden derzeit verbreitet NAME NAME

„Es werden keine Vögel vom Himmel fallen oder unsere Gedanken kontrolliert werden. Trotzdem sollten wir Befürchtungen in der Bevölkerung nicht verharmlosen. Gerade wenn es sich um schwer fassbare Umwelteinwirkungen handelt, wenn

Hans-Peter Hutter, MedUni Wien aussagekräftige Studien fehlen und massive Industrieinteressen vermutet werden, überrascht es nicht, dass derartige Hirngespinste aufkommen“, sagt Hans-Peter ­Hutter von der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin der Medizinischen Universität Wien. Mit dem 5G -Ausbau wird es infolge der geringeren

Reichweite zu einer Verdichtung des Antennennetzes kommen. „Es ist heute nicht abschätzbar, wie sich diese neuen Belastungen und der Anstieg weiterer Technologien auswirken werden. Analysen der Expositionssituation sind dringend notwendig“, sagt Hutter. 2011 hat die Weltgesundheitsorganisation Mikrowellen als möglicherweise krebserregend eingestuft. „Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, eine gewisse Vorsicht an den Tag zu legen.“ „Das Suchtverhalten in Bezug auf Mobiltelefonie vor allem bei Kindern ist ein großes Problem. Wir stehen vor einem Wendepunkt und sollten dringend überlegen, welche Folgen auf uns zukommen und wie sinnvoll solch ein Ausbau für die Menschen ist. Mit einer Verbesserung der Internetversorgung hat 5G gar nichts zu tun, da sollten sich die Konsumenten keinen Sand in die Augen streuen lassen!“ Eine 5G-Verschwörung?

Mediziner können unseren Körper von innen begutachten, ohne ihn aufzuschneiden. Etwa bei einer Magnetresonanz- oder Computertomografie. Warum funktioniert das? „Messdaten selbst sind ja nichts Sichtbares“, sagt Kristian Bredies. „Aber mit

Kristian Bredies, Universität Graz mathematischen Rekonstruktionsverfahren kann man auf dieser Basis ein Organ abbilden.“ Sie beruhen auf der Lösung inverser Probleme. Bredies ist Professor für Angewandte Mathematik an der Universität Graz und leitet eine Forschungsgruppe zu inversen Berechnungsmethoden und mathematischer Bildverarbeitung. Das Ziel ist ein immer genauerer Blick in nicht direkt zugängliche Objekte. „Sogar die berühmte Aufnahme des Schwarzen Lochs im Kosmos beruht auf diesen Verfahren.“ Dahinter stecken große mathematische Herausforderungen und immer wieder neue Forschungsfragen. „Bei Herzschlägen etwa stößt ein Tomograf auf physikalische Grenzen. Er ist nicht schnell genug, um Einzelbilder der Bewegung in der entsprechenden zeitlichen Auflösung wiederzugeben.“ In einem aktuellen Projekt entwickelt Bredies eine mathematische Theorie dafür. Der Ausgangspunkt: „Man rekonstruiert zwar zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Bilder, sie müssen aber natürlich stets dasselbe Herz zeigen, nur halt verschoben, gedreht oder verformt.“ Um äußerst präzise Bildsequenzen des schlagenden Herzens zu erreichen, verbindet er seine Theorie mit mathematischen Optimierungsmethoden. „Das Schöne an der Theorie ist ihre Universalität“, meint er. „Sie lässt sich zum Beispiel auch in der superaufgelösten Mikroskopie einsetzen, um Bewegungen von Objekten jenseits der eigentlichen Auflösungsgrenzen abzubilden.“ Seine Liebe zur mathematisch-logischen Schlussfolgerung hat der 41-Jährige einst im „Mathezirkel“ seiner Bremer Schule entdeckt. „Mich hat die erklärerische Kraft mathematischer Beweise sofort fasziniert.“

FOTOS: GROESEL, BUBU DUJMIC PHOTOGRAPHY, NHM, PRIVAT

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA 5/19   FALTER 46/19  7

:   A RC H ÄO LO G I E

:   B I O LO G I E

Prähistorische Babyfläschchen: Was die urigen Kleinen nuckelten

Forschung an Walnussschalen: Die harte Nuss als neuer Werkstoff

Die Archäologin Katharina Rebay-Salisbury und Kolleginnen konnten erstmals den Inhalt urgeschichtlicher Saugfläschchen nachweisen

Ein Team der BOKU Wien entdeckte in der Walnussschale einen Zelltyp, der sich besonders fest mit den ihn umgebenden Zellen verklammert

NAME NAME NOTHNAGEL

JASMIN GERSTMAYR

Die älteste bekannte Babyflasche stammt aus dem Neolithikum (5.500 bis 4.800 v. Chr.). „Solche Sauggefäße gibt es quasi in allen prähistorischen Perioden“, sagt die Archäologin Katharina Rebay-Salisbury vom Institut für orientalische und europäische

Katharina RebaySalisbury, ÖAW

FOTOS: ÖAW/DANIEL HINTERRAMSKOGLER, PRIVAT, NASA, WIKIPEDIA/BOBAFETTUCINE

Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Besonders häufig treten die aus Ton gefertigten Gefäße in der späten Bronze- und frühen Eisenzeit (1.200 bis 600 v. Chr.) auf. Bei einigen dieser Funde handelt es sich um Grabbeigaben aus Kinderbestattungen. Das belegt den Verwendungszweck. Nur,

womit wurden die Kinder gefüttert? Zusammen mit einem internationalen, interdisziplinären Forscherteam konnte Rebay-Salisbury diese Frage erstmals beantworten. „Wir haben eine fast zerstörungsfreie chemische Methode gefunden, die organischen Rückstände zu analysieren“, erklärt die Archäologin. Drei in Kindergräbern gefundene Gefäße wurden auf diese Weise auf ihren einstigen Inhalt untersucht. Das Ergebnis: Milch von Ziege, Schaf und Rind. „Nun wissen wir, dass Kinder tatsächlich mit Milch von Wiederkäuern gefüttert wurden anstelle von beziehungsweise nach dem Stillen“, resümiert Rebay-Salisbury. Muttermilch ist essenziell für eine gesunde Entwicklung. Das Füttern mit Tiermilch war zudem mit hygienischen Risiken verbunden. Aber: „Diese Sauggefäße belegen, dass sich neben der Mutter auch andere Menschen um Kinder kümmern konnten.“

Die Schale von Walnüssen besteht aus einem noch nie beschriebenen Zelltypen. Dies fand ein Team rund um Sebastian J. Antreich und Notburga Gierlinger von der Universität für Bodenkultur (BOKU) heraus. Die Walnussschale setzt sich aus sogenannten „vielgelappten Skleren-

Notburga Gierlinger, BOKU Wien chymzellen“ zusammen, von denen jede einzelne kleine Ärmchen besitzt, die sich wie bei einem Puzzleteil mit den benachbarten Zellen verhaken. Hingegen besteht die Schale von Haselnüssen aus einfachen, vieleckigen Zellen. „Unter dem Lichtmikroskop ist die eigentliche Form der Zellen

kaum erkennbar, weil sie so eng ineinandergreifen und die Ärmchen oft wie einzelne runde Zelle aussehen“, erklärt Gierlinger. Deshalb mussten die Forscher sie erst mit einer Mischung aus Wasserstoffperoxid und Essigsäure voneinander lösen, um den Zelltypen genau analysieren zu können. „Diese 3D-puzzleartige Struktur macht die Walnussschale so hart“, ergänzt die Biologin. Gegenstand der Forschung waren übrigens die Nüsse eines 48 Jahre alten Baums im Wiener Stadtteil Jedlersdorf. Walnussschalen fallen zuhauf als Abfallprodukt in der Lebensmittelindustrie an und werden bislang meist einfach verbrannt. Man könnte die Schalen aber stattdessen auch verdichten und in Formen gießen, die dann besonders robust sind. „Das Potenzial für alternative Nutzungsformen ist definitiv vorhanden“, fasst Gierlinger zusammen.

: MONDLANDUNG

:   A N G E WA N DT E M AT H E M AT I K

Wahnsinn: Außerirdische reflektieren mit Spiegeln das Licht vom Mond!

Je mehr Verschwörer am Werk sind, desto schneller stirbt eine Verschwörung

Oder es ist doch so, dass Apollo 11 Lasereflektoren auf dem Mond zurückgelassen hat, die heute noch funktionieren?

Die meisten Verschwörungstheorien haben ein Problem. Sie müssten nach einigen Jahren der Öffentlichkeit bekannt sein

JULIANE FISCHER

SABINE EDITH BRAUN

Buzz Aldrin betrat als zweiter Mensch den Mond. Er hätte die Zweifel ausräumen sollen. Doch als ihn der Verschwörungsfilmemacher Bart Sibrel bat, auf die Bibel zu schwören, dass er wirklich auf dem Mond war, platzte ihm der Kragen. So kursieren bis heute Gerüchte, die Mondlandung

Einer der Laserreflektoren von Apollo 11 am Mond sei eine Inszenierung im Filmstudio gewesen. Dabei lässt sich ein solches Ereignis einfach nicht faken: Die Forschung arbeitet mit Mondgestein und mithilfe der drei Laserreflektoren, die Apollo 11 auf dem Erdtrabanten zurückgelassen hat. Sie funktionieren wie die Retroreflektoren zwi-

schen den Fahrradspeichen, indem sie einfallendes Licht wieder dahin zurückwerfen, woher es gekommen ist. Mit bloßem Auge kann man den Strahl nicht sehen, aber am Computerbildschirm. Von hundert Billiarden zum Mond ausgesendeten Lichtteilchen kommt nämlich nur eines retour. Speziell ausgerüstete Observatorien etwa in menschenleeren Gebieten von Texas, einer Karstebene in Süditalien und im Bayerischen Wald können die Reflektoren ansteuern. Sie bestimmen den Abstand zum Mond zentimetergenau und messen Satellitenbahnen. Außerdem zeigen Analysen, dass sich der Mond auf seiner Bahn so verhält, wie es Einstein vorausgesagt hat. Noch viel wichtiger erscheint in Zeiten, wo Unumstößliches wieder in Frage gestellt wird, allerdings ihre Aufgabe als handfester Beleg dafür, dass tatsächlich Menschen auf dem Mond waren. Entgegen jeglicher Verschwörungstheorie.

Zu viele Köche verderben den Brei. Das gilt auch für Verschwörungen. Tausend ist die magische Zahl, hat der Oxford-Physiker David Robert Grimes errechnet. Die „Poisson-Verteilung“ gibt an, wie eine Anzahl von Ereignissen modelliert werden kann,

David Robert Grimes, Universität Oxford die bei konstant mittlerer Rate unabhängig voneinander in einem Zeitintervall oder räumlichen Gebiet eintreten. Grimes setzt die Zahl der Verschwörer mit der Zeit und der Wahrscheinlichkeit des Versagens einer Person pro Jahr in Relation. Es kommt weiters drauf an, ob es sich um ein Einzelereignis handelt, das nicht

stetig neue Verschwörer erfordert und bei dem die Beteiligten irgendwann sterben – oder nicht. Auch das Durchschnittsalter der Beteiligten wird eingerechnet. Mit Sterbe- und Fehlerwahrscheinlichkeit ergibt dies eine asymmetrische Sättigungsfunktion, die „Gompertz-Kurve“. Zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit eines Verrats rechnet Grimes auch Daten von tatsächlichen Ereignissen ein, so die NSA-PRISM-Affäre, aufgedeckt von Edward Snowden. Grimes nimmt dabei ein „Best-Case-Scenario“ für die Verschwörung an. Ergebnis: Ein Mondlandungs-Fake (411.000 Beteiligte) wäre nach 3,68 Jahren publik, ein Klimawandel-Fake (405.000 Beteiligte, auch Behörden) nach 3,7 Jahren, ein Zusammenhang zwischen Masern-Impfung und Autismus (22.000 Beteiligte) nach 34,78 Jahren und ein zurückgehaltenes Krebsheilmittel (714.000 Beteiligte von acht Pharmariesen) nach 3,17 Jahren.


8 FALTER  46/19  H EUR EKA 5/19  :   NAC H R I C H TE N

:GENETIK

„Es geht immer wieder um die Frage, wer für die Krankheit verantwortlich ist“ Genetische Studien bestätigen, dass Magersucht teils vererbt wird. Aber was bedeutet das für die Therapie und Familie? STELLA MARIE HOMBACH

Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen, über die Ergebnisse seiner Anorexie-Forschungen. Herr Zipfel, Sie und ein internationales Team von Wissenschaftlern haben das Erbgut von 17.000 Personen mit der Diagnose Anorexie untersucht. Magersucht ist zum Teil genetisch bedingt, das haben zahlreiche Familien- und Zwillingsstudien erbracht. Was haben Sie Neues entdeckt? Stephan Zipfel: Zunächst konnten wir dieses Wissen bestätigen. Dazu fanden wir starke Ähnlichkeiten mit dem genetischen Profil von Menschen mit Zwangsstörungen, Depression und Schizophrenie sowie Gene, die im Körper für bestimmte Stoffwechselprozesse zuständig sind, etwa für die Entstehung von Diabetes mellitus Typ 2. Auch den erhöhten Bewegungsdrang, den viele Betroffene empfinden, konnten wir genetisch nachweisen. Woher wissen Sie, dass die Gene, die Sie identifiziert haben, vererbt

wurden und nicht erst durch die Erkrankung entstanden sind? Zipfel: Durch die Epigenetik wissen wir, dass einzelne Gene auch durch Umwelteinflüsse verändert werden können, etwa durch bestimmte Enzyme. Um diese Veränderungen zu erforschen, schaut man sich die sogenannte Methylierung an. Wir untersuchten jedoch nicht die Methylierungen, sondern die Gene selbst. Wichtig ist zu wissen, dass die Anorexie eine sehr komplexe Erkrankung ist. Das heißt, sie wird nicht durch ein bestimmtes Gen oder Chromosom ausgelöst, sondern durch ein Zusammenspiel von einer Vielzahl von Genen und psychosozialen Konfliktkonstellationen, etwa in der Familie. Sie schlagen nun vor, Anorexie nicht mehr nur als psychiatrische, sondern auch als Stoffwechselerkrankung zu behandeln. Was genau meinen Sie damit? Zipfel: Dass Magersucht nicht nur die Psyche betrifft, sondern auch den Körper, wissen wir im Grunde seit Jahren. Daher ist es bei der Therapie auch so wichtig, das niedrige Gewicht, insbesondere die Mangel- und Fehlernäh-

rung, gezielt zu behandeln. Bei sehr ausgeprägtem Untergewicht müssen viele Betroffene zunehmen, bevor sie psychotherapeutisch behandelt werden können. Denn ab einem gewissen Grad der Unterversorgung sind die meisten gar nicht in der Lage, einem psychotherapeutischen Gespräch zu folgen. Wie sehr das Untergewicht den Stoffwechsel, die Ausschüttung von Hormonen und die Psyche beeinflusst, wird in der Praxis noch zu wenig beachtet. Anorexie auch als Stoffwechselerkrankung zu betrachten, ist daher ein Appell, dem Wechselspiel von Körper und Psyche mehr Beachtung zu schenken.

Zipfel: Vor allem in der Kommunikation. Nicht nur in Bezug auf Betroffene und deren Familie, sondern auch in Richtung Gesellschaft. In Gesprächen mit Patienten und Angehörigen taucht häufig der Begriff der Schuld auf. Es geht immer wieder um die Frage, wer für die Krankheit verantwortlich ist: Die Person, die nicht isst, die Eltern, die dem Kind zu wenig Aufmerksamkeit schenken, oder das Schönheitsideal unserer Gesellschaft? Zu wissen, dass es neben Risikofaktoren oft eine genetische Veranlagung gibt, kann Betroffene entlasten, Angehörigen helfen, die Erkrankung anzusprechen und Magersucht als Krankheit entstigmatisieren.

Ist der nächste Schritt die genetisch individualisierte Therapie? Zipfel: Davon sind wir noch weit entfernt. Ebenso wie von der Entwicklung eines Medikamentes, das die Essstörung heilen könnte. Dafür ist die Krankheit zu komplex.

Müssen Eltern, die selbst eine Essstörung hatten, befürchten, dass auch ihre Tochter eine Anorexie entwickelt? Zipfel: Nein. Es ist zwar wahrscheinlich, dass das Mädchen ein erhöhtes Risiko für die Erkrankung trägt. Die Frage, ob es magersüchtig wird oder nicht, hängt jedoch von vielen weiteren Faktoren ab. Wichtig ist, dass die Eltern ihrem Kind einen gesunden Umgang mit Essen und dem eigenen Körper vermitteln.

Wenn die genetischen Erkenntnisse nicht dazu beitragen, die Therapie zu verbessern, worin liegt dann der Mehrwert?

:   G E N D E RST U D I E N

Aliens haben kein Geschlecht Verschwörungsglaube schneidet quer durch alle Ideologien, Ethnien, Religionen, Bildungs- und Einkommensschichten. Beim Geschlecht ist die Sache etwas SABINE EDITH BRAUN

„Elvis lebt!“ – „Den Holocaust hat es nie gegeben.“ – „Impfen führt zu Autismus.“ Die Liste der Verschwörungstheorien ist lang. Wer nun tatsächlich an was glaubt und warum (nicht), darüber sind sich die Disziplinen nicht ganz einig. Dem Stereotyp zufolge ist der Verschwörungstheoretiker „ein alleinstehender und sexuell frustrierter Mann mittleren Alters. Er ist beruflich wenig erfolgreich und vielleicht sogar arbeitslos, hat keine Freunde und generell wenige soziale Kontakte.“ Das schreibt der deutsche Amerikanist mit dem Spezialthema Verschwörungs­ theorien, Michael Butter, in seinem Buch Nichts ist, wie es scheint. In der quantitativen Forschung wird der Verschwörungsglaube als

genderneutral beziehungsweise mit einer leicht verstärkten Tendenz bei den Frauen gesehen. Letztere Feststellung machte der deutsche Psychologe Sebastian Bartoschek, der im Rahmen seiner Dissertation alte Befunde replizierte. Zwar, so schickt er voraus, gebe es keine spezifischen „Frauenthemen“ und auch keine „Männerthemen“, doch er entdeckte bei seinen Studien (zwei getrennte Befragungen, Stichprobe: 1.200 Personen, Männeranteil: 54 Prozent) einen anderen Zusammenhang: Frauen kennen zwar (in Zahlen) weniger Verschwörungstheorien, glauben aber mehr daran. „Ich konnte mir das nie erklären, habe es für einen Messartefakt gehalten“, sagt Bartoschek und ergänzt: „Eventuell könnte der Zusammen-

hang mit einer mutmaßlich höheren Religiosität der Frauen zu tun haben.“ Er hätte eher mit einer Gleichverteilung gerechnet. Das Thema Impfen habe zu dem Zeitpunkt (2006 bis 2008) noch keine Rolle gespielt, sagt er. Dies wäre heute wohl anders. Radikalisierung durch soziale Medien Ein Unterschied sei jedoch, dass Männer in ihrem Verschwörungsglauben zu einer stärkeren Radikalisierung tendierten – in Richtung Extremismus bzw. sogar Waffengewalt. „Heute ist der Terrorist männlich“, sagt Bartoschek. Das sei vor einigen Jahrzehnten – Stichwort RAF – noch anders gewesen. Die sozialen Medien wirkten laut Bartoschek wie ein Katalysator

für die Radikalisierung von Männern. Er selbst sei zu dem Forschungsthema über den biografischen Kontext gestoßen, in Form einiger Erich-vonDäniken-Bücher im Elternhaus. „Ich fand das spannend, ebenso wie in den 90er Jahren ‚Akte X‘ anzuschauen“, sagt Bartoschek. Heute komme die Jugend über das Internet, meist in Facebook-Gruppen, mit Verschwörungstheorien in Verbindung. Einstieg sind „einfache“ Verschwörungstheorien, etwa Chemtrails. „Das Optische erhalte in den Theorien zu Chemtrails beweisende Kraft“, heißt es in dem Bericht „Verschwörungserzählungen“ zur 10. Tagung der Kommission für Erzählforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Dann geht es rasch: „Der Glaube an eine


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA 5/19   FALTER 46/19  9

:  W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN

FOTO: UNIVERSITÄTSKLINIKUM TÜBINGEN

Die Vorgeschichte der FPÖ im österreichischen Parlamentarismus

„Zu wissen, dass es neben Risikofaktoren oft eine genetische Veranlagung gibt, kann Betroffene entlasten.“ Stephan Zipfel, MedUni Tübingen

komplizierter

­ erschwörungstheorie ist stark mit V anderen verknüpft“, so Bartoschek. Feldarbeit eines Soziologen im konspirativen Milieu Der niederländische Soziologe Jaron Harambam hat das Thema im Rahmen seiner Dissertation „The Truth is out there“ qualitativ erforscht. Er hat nicht nur die wichtigsten Websites analysiert, sondern begab sich in Form von ethnografischer Feldarbeit zwei Jahre selbst ins konspirative Milieu. Er las Artikel, Blogs und Bücher; persönliche Kontakte kamen im Zuge von Vorträgen – etwa von David Icke – zustande. Für seine Analyse war es ihm wichtig, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen: Zwölf Männer

und neun Frauen zwischen 23 und 67 Jahren (Durchschnittsalter: 42). Harambam teilt seine Respondenten in drei Gruppen: Aktivisten, Zurückgezogene („Retreaters“) und Mediatoren. In allen Gruppen gab es männliche und weibliche Proponenten, die meisten Frauen jedoch bei den „Retreaters“. Den Grund dafür hat er nicht erforscht, vermutet aber: „In dieser Gruppe gibt es einen großen NewAge-Einfluss, und mehr Frauen engagieren sich für spirituelle Themen.“ Alles, was Körper, Ernährung und Gesundheit betrifft, spreche eher Frauen an, die technischen Sachen à la „9/11“ eher Männer. Also alles in der gewohnten Gender-Schublade. Mit einer Ausnahme: „UFO und Aliens sind definitiv geschlechterübergreifend.“

Eine Graphic Novel über ­einen Fotografen im KZ Mauthausen

Braune Flecken? Am Anfang stand der von Herbert Kraus und Viktor Reimann (Vorkämpfer für „entrechtete“ Nationalsozialisten) gegründete Verband der Unabhängigen (VdU). Das Auffangbecken für ehemalige Nazis, um deren Stimmen nicht alle Parteien gleichermaßen buhlten, war ab 1949 im Parlament vertreten. Zentraler politischer Akteur und erster Obmann der im April 1956 daraus hervorgegangenen FPÖ ist der verurteilte Ex-NS-Minister Anton Reinthaller. Die Frühgeschichte einer Partei samt Schlaglichtern auf die Republik bis zur „Liederbuchaffäre“.

Der junge katalanische Photograf Francisco Boix, FrancoGegner und Resistant, fällt unter die Rubrik „Rotspanier“, als er von der Gestapo verhaftet und 1941 nach Mauthausen verbracht wird. Dort fotografiert er für den Erkennungsdienst des SS-Hauptscharführers ­Ricken Häftlinge, Lageralltag samt „Selbstmördern“ und SSAufseher und im Mai 1945 mit einer gestohlenen Leica die Befreiung des Lagers. Beim Mauthausen-Prozess in Dachau legte Francisco Boix Zeugnis ab. Einige der viertausend erhaltenen Fotos wurden in der Graphic Novel nachgezeichnet.

Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ Wallstein 2019, 392 S.

Pedro J. Colombo, Aintzane Landa, Salva Rubio, Der Fotograf von Mauthausen bahoe books 2019, 176 S.

Ein Psychogramm des Menschen Otto Wagner

Die Autobiografie des Schriftstellers Felix Mitterer

„Liebes gutes edles braves Louiserl“ – Das ist die letzte Ehefrau von Otto Wagner, Wiens erstem Baumeister um 1900. Erst kürzlich hat er für die zwanzig Jahre Jüngere einen Witwensitz errichtet. Im August 1915 bekommt sie eine Krebsdiagnose. Wagners „Tagebuch der Krankheit“ zeigt den verzweifelt Liebenden und ein erschütterndes Bild: Der Architekt hofft auf Sieg im Ersten Weltkrieg, freut sich retrospektiv über Franz Ferdinands Tod. Sich selbst zeichnet er als „alt, gebrechlich, lieblos“, voller Wut auf Kriegsgewinnler, paranoid und antisemitisch.

Anfang der 1970er Jahre war in einem Tiroler Fremdenverkehrsort „kein Platz für Idioten“. Der 1948 geborene Dramatiker Felix Mitterer, Sohn eines rumänischen Flüchtlings und einer Landarbeiterin, die das Kind der besten Freundin schenkt, erzählt sein Leben: Ein Lehrer weckt den Traum des begabten Geschichtenerzählers, Schriftsteller zu werden. 1977 feiert er mit „Kein Platz für Idioten“ sein Bühnendebüt. Vierzig Stücke folgen, Drehbücher und der Erfolg der „Piefke-Saga“, Beziehungen, die „Flucht“ nach Irland und der Kauf eines Hauses im Weinviertel.

Otto Wagner, Andreas Nierhaus, Alfred Pfoser (Hg.): Meine angebetete Louise! Residenz Verlag 2019, 312 S.

Felix Mitterer, Mein Lebenslauf Verlag Haymon 2018, 528 S.


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T I T E LT H E M A VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Seiten 10 bis 22 Die Illustrationen für dieses Heft hat der freischaffende Illustrator und Comiczeichner Peter M. Hoffmann gestaltet. Er lebt und arbeitet mit Familie in Leipzig. Im Bereich Editorial Design ist P. M. Hoffmann für Zeitungen und Magazine in Deutschland, Österreich, Holland und Frankreich tätig. Er ­illustriert Grafic Novels und Bücher und arbeitet als freier Künstler. Zum Thema dieser Ausgabe sagt er: „Die einzige Verschwörungstheorie, der ich ­anhänge, ist die, dass sich alle Buntstiftminen gegen mich verschworen haben, da sie mir regelmäßig beim Anspitzen abbrechen.“ www.pmhoffmann.de

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

1947

hatten neunzig Prozent der USBevölkerung innerhalb weniger Monate Berichte über eine erste UFO-Sichtung gehört. Knapp zwanzig Jahre später waren es sogar 96 Prozent.

43 Internierungslager gab es laut Verschwörungstheorien in den 1990er Jahren auf US-Territorium. In den 1970er Jahren veröffentlichte der USAmerikaner William Pabst einen Bericht über die angebliche Existenz von KZ der US-Regierung für unliebsame Bürger und Steuerverweigerer. In den 1980ern schrieb das rechtsgerichtete Magazin „Spotlight“ von zehn KZ.

5

Jahre soll eine Verschwörung geheim bleiben? Dann dürfen maximal 2.531 Personen davon wissen. Das hat der Physiker David Robert Grimes berechnet. Bei zehn Jahren sind maximal 1.257 Mitwisser erlaubt.

1999

7

Verschwörungswebsites hat der Soziologe Jaron Harambam zwei Jahre lang beobachtet. Die dort ausgebreiteten Narrative teilte er in sechs Kategorien: Finanzwesen, Medien, Konzerne, Wissenschaft, Regierungen und Übernatürliches. Die Hinwendung zu Verschwörungstheorien erklärten die Befragten mit Säkularisierung, Mediatisierung, Demokratisierung und Globalisierung.

verlor Radiomoderator Alex Jones seine Show beim texanischen Sender KJFK (98,9FM), weil er Verschwörungstheorien verbreitete. Zwanzig Jahre später hat er ein eigenes Medienimperium. Obwohl von Twitter, Facebook & Co gesperrt, erreicht er ein Millionenpublikum. Über die Website infowars.com vertreibt er Wasserfilter, Notfallpakete und Nahrungsergänzungsmittel.

10 Stunden können Vorträge von David Icke dauern. Nach seiner Tätigkeit als Fußballer, BBC-Sportreporter und Sprecher der britischen Grünen enthüllt er in seinem 900-seitigen, aktuellen Buch „The Trigger“, wer für 9/11 „wirklich“ verantwortlich war. Icke behauptet auch, dass sich außerirdische Reptilien in Menschenform auf der Erde eingeschlichen haben. Elizabeth II., Barack Obama und die Clintons sollen dazugehören. Mehrere 100.000 Besucher klicken wöchentlich auf Ickes Website.

1144 soll die erste Verschwörungstheorie öffentlich geworden sein: Juden hätten ein Christenkind entführt, um es beim Pessachfest zu opfern. Für das 19. Jahrhundert listet Wikipedia acht Verschwörungstheorien, für das 20. Jahrhundert mehr als sechzig auf: von A wie „Agententheorie“ bis Z wie „Zionist occupied Government“.

6.400

Kilometer sei die Sonne maximal von der Erde entfernt. Letztere sei keine Kugel, sondern eine Scheibe. Das behauptete der Brite Samuel Rowbotham 1849 in einem 16-seitigen Pamphlet. 1956 wurde die entsprechende „Flat Earth Society“ mit Sitz in London gegründet. Anfang des 21. Jahrhunderts hatte die Gesellschaft 3.500 Mitglieder. Auf Twitter folgen den „Flat Earthers“ aktuell 86.200 Personen.


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Wahr oder falsch? Der Experte Didier Fassin erklärt, was sich aus Verschwörungstheorien lernen lässt er Anthropologe, Soziologe und Mediziner Didier Fassin hat umfangreiche Feldstudien im Senegal, in Südafrika, Ecuador und Frankreich unternommen und ist dabei immer wieder dem Phänomen der Verschwörungstheorien auf den Grund gegangen. Der Professor an der Universität Princeton und Studienleiter an der EliteHochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris erklärt, was Verschwörungstheorien von Fake-News unterscheidet, in welchem gesellschaftlichen Klima sie aufblühen und ob wir sicher sein können, dass Verschwörungstheorien wirklich unwahr sind.

TEXT: HANNAH GREBER

Was ist eine Verschwörungstheorie? Didier Fassin: Verschwörungstheorien sind Interpretationen von Phänomenen, die als unwillkommen und als Resultat von böswilligen Absichten mächtiger und geheimer Akteure gelten. So sei etwa die AIDS-Epidemie in Afrika das Ergebnis von Virenmanipulationen in westlichen Laboren, oder die Attacken rund um 9/11 vom US-Geheimdienst organisiert, oder die Migration von Muslimen nach Europa geplant, um zu einem Austausch der christlichen Bevölkerung zu führen. In den letzten Jahren wurden Verschwörungstheorien immer wieder mit Fake-News verwechselt. Diese sind aber meistens einfache, vorsätzliche Lügen. Ein Beispiel dafür ist die Unterstellung, Barack Obama sei ein in Kenia geborener Muslim, eine Behauptung, die nur aufgestellt wurde, um den Präsidenten zu delegitimieren und die Demokratie zu schwächen. Fake-News, die besonders unter der Regierung von Präsident Trump aufgekommen sind, werden absichtlich, meistens von rechtsextremen Medien und ausländischen Robotern verbreitet. Im Gegensatz dazu sind Verschwörungstheorien meist sehr diffus, haben keinen klar definierbaren Ursprung oder gar Autor. Und sie schlagen eine Theorie über die Vorgänge in der Welt vor.

„Verschwörungstheorien zwingen uns dazu, unsere Trennung zwischen wahr und falsch zu hinterfragen“

Haben Verschwörungstheorien derzeit Konjunktur? Fassin: Es ist schwierig festzustellen, ob Verschwörungstheorien heute häufiger vorkommen als vor fünfzig oder gar vor zweihundert Jahren. Der Glaube an ein Komplott der Illuminati oder der Freimaurer geht bis ins späte 18. Jahrhundert zurück, war aber auch während des Kalten Krieges sehr beliebt. Trotzdem wirkt es so, als würden viele Verschwörungstheorien in jüngster Zeit wieder aufleben. Das ist zu einem Teil ihrer größeren Sichtbarkeit geschuldet, denn sie zirkulieren weitläufig durch das Internet und durch soziale Medien. Aber es stimmt eben auch, dass sie unter autoritären und populistischen Regimen tendenziell aufblühen. Solche Regime haben sich weltweit vermehrt und profitieren von verschwörerischen Thematiken, weil sie imaginäre Feinde benötigen, um Erfolg zu haben.

DIDIER FASSIN, UNIVERSITÄT PRINCETON

Abgesehen davon wuchern Verschwörungstheorien auch in Zeiten von Angst und Furcht. Gerade moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine tiefe Unsicherheit über die Zukunft des Planeten, über internationale Spannungen und eine wachsende Ungleichheit aus. Was begünstigt sonst noch die ­Verbreitung von Verschwörungstheorien? Fassin: Es gibt ganz grundsätzliche Faktoren, die die Verbreitung von Verschwörungstheorien einfach machen. So tendieren Menschen dazu, sich bei Ungewissheiten über den Zustand der Welt unwohl zu fühlen. Sie suchen deshalb nach einem Grund, der alle Phänomene erklärt. Verschwörungstheorien liefern solche ursächlichen Interpretationen. Aber das erklärt nicht, warum verschwörerische Ideen zu gewissen Zeiten an gewissen Orten aufblühen und wieso wir einen vermeintlichen Anstieg an Verschwörungstheorien sehen. Zwei Elemente scheinen dafür wichtig zu sein. Das erste ist politisch. In den letzten Jahren hat es immer wieder Rufe nach mehr Transparenz in öffentlichen Belangen und der wissenschaftlichen Arbeit gegeben. Trotzdem haben die meisten Menschen nicht ganz zu Unrecht den Eindruck, dass die Welt immer intransparenter wird und dass Politiker wie Wissenschaftler ihnen nicht die Wahrheit sagen. Das zweite Element ist technologisch. Das zweite Element ist technologisch. Die Entwicklung des Internets und der sozialen Netzwerke sowie deren Instrumentalisierung für ideologische Projekte durch Alt-Right-Gruppierungen und ausländische Kräfte haben die Verbreitung von Verschwörungstheorien beschleunigt und die Hierarchie des Wissens verzerrt. Diese Ideologien kursieren durch die Technologie nicht nur schneller, sondern tauchen mittlerweile sogar an oberster Stelle von Suchmaschinenergebnissen auf. Wer glaubt an Verschwörungstheorien? Fassin: Es wird angenommen, dass die objektiv definierte oder subjektiv angenommene Position einer Person in der Gesellschaft eines der Elemente ist, die den Glauben an Verschwörungstheorien begünstigen. Menschen, die sich aufgrund ihres sozioökonomischen Status oder ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit wie die Afro-Amerikaner in den USA dominiert und machtlos fühlen, sind eher geneigt, daran zu glauben, dass die Mächtigen ein Komplott gegen sie schmieden. Während der ersten Jahrzehnte der AIDS-Epidemie in Südafrika haben viele schwarze Menschen geglaubt, dass Weiße den Virus eingeführt haben und dass die Regierung keine Medizin an die Bevölkerung verteilt, weil die Regierung sie loswerden wollte. Dieser sozioökonomische und ethnische Trend bedeutet jedoch nicht, dass Verschwörungstheorien in einer gebildeten Oberschicht nicht existieren.

Welchen Einfluss können Verschwörungstheorien auf eine Gesellschaft haben? Fassin: Sie benennen oft konkrete Verschwörer. Daher können sie für diese verdächtig gemachten Personen sehr gefährlich werden. Die berüchtigten ,Protokolle der Weisen von Zion‘, eine Fälschung, um Juden zu diskreditieren, haben eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung und Legitimierung von Antisemitismus in Europa gespielt. Die McCarthy-Kampagne in den USA gegen vermeintliche Kommunisten hat zur Verfolgung und sogar Hinrichtung vieler Menschen geführt. Der Mann, der vor Kurzem zwei Personen am Eingang einer Moschee im Süden Frankreichs erschossen hat, sagte, dass er die vorgebliche kriminelle Rolle von Muslimen beim Brand der Kathedrale Notre Dame in Paris einige Monate zuvor rächen wollte. Im Allgemeinen sind Verschwörungstheorien daran beteiligt, ein paranoides Klima zu kreieren, das für eine Gesellschaft schädlich ist. Dennoch verdienen sie die Aufmerksamkeit von Sozialwissenschaftlern. ­Verschwörungstheorien sollten nicht verunglimpft oder verspottet werden, denn sie sind ein gesellschaftliches Phänomen und interessant, weil sie als Prisma die Welt in ihren Spielarten zeigen. Sie helfen dabei, über Gesellschaften nachzudenken und deren Geschichte, deren Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, deren soziale Strukturen und Kräfteverhältnisse einzuordnen. Wie kann man sicher sein, dass Verschwörungstheorien nicht wahr sind? Fassin: Um von „Verschwörungstheorie“ sprechen zu können, muss man der Überzeugung sein, dass das dazugehörige Komplott in Wirklichkeit gar nicht existiert. Mit anderen Worten, aus der Perspektive des sogenannten Mainstream werden Verschwörungstheorien als falsch angesehen. Allerdings, und dies macht sie interessant, kommt es nicht selten vor, dass sie ein Körnchen Wahrheit enthalten. So sind verschiedene Epidemien auf dem afrikanischen Kontinent, über die verschwörerische Theorien existieren, bewiesenermaßen das ungewollte Resultat westlicher Interventionen, etwa von Impfungen. So diente eine Pestepidemie in Südafrika um 1900 als Begründung für erste Segregationsgesetze, die nach jeder weiteren Epidemie erweitert wurden. Egal, ob es sich dabei um die Grippe, Tuberkulose oder Syphilis handelte. Untersuchungen im Finanzsektor haben gezeigt, dass die Wirtschaftskrise im Jahr 2008 eine Konsequenz von Intrigen skrupelloser Banker, unethischer Wissenschaftler und mitschuldiger Regierungen war. Echte Verschwörungen existieren durchaus. Manchmal können sie sogar vorteilhaft sein, etwa wenn sie einen Diktator stürzen. Deshalb sind sie faszinierende intellektuelle Konstrukte, die uns dazu zwingen, unsere einfache Trennung von wahr und falsch, gut und böse zu hinterfragen.

FOTO: EMMANUELLE MARCHADOUR

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Weltverschwörung und Lügenpresse Österreichische Forschung über internationale Verschwörungstheorien  ürgen Grimm und Jens Seiffert-Brockmann, Kommunikationswissenschafter am Institut für Publizistik der Universität Wien, sowie Claus Oberhauser, Geschichtsdidaktiker und Historiker am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck (conspiracytheories.eu) untersuchen Verschwörungstheorien. Herr Grimm, in Ihrem Forschungsprojekt COMRAD untersuchen Sie Kommunikationsmuster der Radikalisierung … Jürgen Grimm: Der Klassiker ist das Konstrukt der „jüdischen Weltverschwörung“, die zur Grundlage der Nazi-Ideologie wurde und heute im arabischen Raum und bei Rechtsextremen populär ist. Die „Neue Rechte“ hat dem ein weiteres Narrativ hinzugefügt: den im Geheimen geplanten „großen Bevölkerungsaustausch“, der das Ende der nationalen europäischen Kulturen einläute. Dabei spielt der explizite Antisemitismus eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht die Bedrohung durch Migration und Islam. Allerdings lässt sich auch eine Revitalisierung des Antisemitismus beobachten, sei es als Verschiebung der Grenzen des Sagbaren, sei es als die Wiederkehr des „ewigen Juden“ in Gestalt des „Fremden“. Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien scheint bei der politischen Rechten größer zu sein. Bei einer Umfrage 2018 unter fünfhundert Österreichern war die von uns gemessene Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien bei FPÖ-Anhängern weit höher als bei denen der SPÖ und der Grünen. Linke Varianten von Verschwörungstheorien sprechen von „Diktatur des Großkapitals“ oder „US-Imperialismus“ oder bringen eine antisemitisch aufgeladene Kritik an Israel. Typisch für linke Verschwörungstheorien sind Übertreibungen real vorhandener Machtkonstellationen. Wie wirkt die Berichterstattung in Medien über politische Ausschreitungen? Grimm: Sie wirkt auf die Radikalisierungsprozesse selbst. In einer Medienwirkungsstudie über politisch motivierte Gewalt gegen Ausländer einerseits und die Krawalle auf dem G20-Gipfel in Hamburg andererseits konnten wir nachweisen, dass der Abschreckungseffekt dominiert, d.h. brennende Asylantenheime und Barrikaden sind keine Empfehlung zur Nachahmung, sondern eine Realität, die man unbedingt vermeiden möchte. Wir sprechen hier von „negativem Lernen“. Entscheidend ist dabei, dass die Polizei als Ordnungsmacht glaubwürdig in Erscheinung tritt. Eine Polizei, die das Gewaltszenario nicht mehr beherrscht, fördert hingegen den Eindruck von Anarchie mit verheerenden Wirkungen für das Sicherheitsempfinden und unkalkulierbaren Folgen für das Denken und Handeln der Zuschauer. Pointiert könnte man auch sagen: „Linke“ Gewalt desavouiert

TEXT: BARBARA FREITAG

„Historische Romane spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle bezüglich Verschwörungstheorien.“ CLAUS OBERHAUSER UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Jens SeiffertBrockmann, Universität Wien

Jürgen Grimm, Universität Wien

l­egitime friedliche Proteste, während „rechte Gewalt gegen rechtsextreme ­Ideologien immunisiert. Die Radikalisierung im Internet reproduziert die sektenartige Abschließung insofern, als Informationen, die das eigene Weltbild bestätigen, bevorzugt in der eigenen Blase weiterverbreitet werden. Alles vermittelt den Eindruck spontaner, selbstgewählter Zugehörigkeit. Das ist die „schöne neue Welt“ der Radikalisierung im Internet, die als solche gar nicht mehr empfunden werden muss. Kommen soziale Isolation und moralische Empörung hinzu, sind die Zutaten für gewaltsame Formen der Radikalisierung bereitet. Der Attentäter auf die Synagoge von Halle ist ein Verschwörungstheoretiker, der isoliert und zurückgezogen lebte und seine Lektionen von der jüdisch gelenkten „Umvolkung“ auf anonymen Internetforen gelernt hat. Herr Oberhauser, was ist die antiilluminatische Verschwörungstheorie? Claus Oberhauser: Im von mir geleiteten FWF-Projekt „Diplomatie aus dem Untergrund“ ging es um den Mönch Alexander (Maurus) Horn, der sich im späten 18. sowie 19. Jahrhundert vom Bibliothekar zum Geheimagenten entwickelte. Darüber hinaus fungierte er als Buchhändler. In dieser Rolle verschickte er wahrscheinlich anti-­ illuminatische Bücher aus dem deutschsprachigen Raum nach Großbritannien. In Edinburgh schrieb der Professor für Naturphilosophie, John Robison, das heute noch zitierte, verschwörungstheoretische Werk „Proofs of a Conspiracy“ (1797). Die Unterlagen wurden ihm u. a. von Alexander Horn zugeschickt. Diese kaum bekannte Tatsache versinnbildlicht eine wichtige Aufgabe der historischen Forschung im Hinblick auf diesen Themenkomplex: Es geht darum zu zeigen, wie ein Autor wie John Robison zu seinen bis heute wirksamen verschwörungstheoretischen Ansichten kam. Dies hilft dabei, den historischen Kontext zu verstehen. Was denken Sie über Verschwörungstheorien in Dan Browns „Illuminati“ oder Umberto Ecos „Friedhof in Prag“? Oberhauser: Historische Romane spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle bezüglich Verschwörungstheorien. Gerade Dan Browns „Illuminati“ hat die Forschung über die historischen Illuminaten befeuert. Allerdings teilen Browns Illuminaten mit den echten nur den Namen. Anders Ecos „Friedhof in Prag“. Er spielt mit historischen Fakten und stellt fiktiv Bezüge her, die zum Nachdenken anregen. Insbesondere der Protagonist Simonini ist für die historische Forschung noch immer ein Rätsel. Wir wissen mittlerweile, dass Simonini dem Verschwörungstheoretiker Augustin Barruel 1806 einen Brief geschrieben hat, in dem er nicht den Illuminaten oder Freimaurern die Schuld am Ausbruch der Französischen Revolution anlastete, ­sondern den

Juden. Eco verwendet diese historische Figur und konstruiert eine Familiengeschichte: Ein Verwandter Simoninis beeinflusst in seinem Roman die Entstehung der Protokolle der Weisen von Zion entscheidend. Sie sind Mitinitiator der Netzwerks „Comparative analysis of conspiracy theories in Europe“ … Oberhauser: Das Projekt hat zum Ziel, Forschungen über Verschwörungstheorien aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu bündeln. Dies gestaltet sich schwierig, da etwa quantitativ arbeitende Psychologen eine andere wissenschaftliche Sprache als Historiker sprechen. Am Projekt nehmen knapp über 150 Wissenschaftler aus diversen Ländern teil. Ein wichtiges Ergebnis ist ein Handbuch über Verschwörungstheorien. Meine Aufgabe besteht darin, die österreichischen Interessen gemeinsam mit Eva Horn von der Universität Wien als Mitglieder des Management Commitees zu vertreten. Herr Seiffert-Brockmann, fällt das Narrativ von der „Lügenpresse“ unter die Verschwörungstheorien? Seiffert-Brockmann: Ja. Die Kommunikationswissenschaftlerin Irene Neverla nennt es „eine Erzählung über betrügerische Medien und die Schuldigen der gesellschaftlichen Krise, vor allem die Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien“. Die Idee dahinter: Es gibt eine Verschwörung der Medien und der Eliten aus Politik und Wirtschaft, welche die Öffentlichkeit manipuliert und ihr, so wird unterstellt, die Wahrheit vorenthält. Es geht bei dieser Ideologie nicht zentral um Journalismus und Medien, sondern um das Gefühl der Betroffenen, die eigene Erzählung nicht mehr in der Hand zu haben. Vor den Anwürfen wie „Lügenpresse“ kann man sich nur schwer schützen, denn alles wird im Sinne der Verschwörung interpretiert. Man spricht auch davon, wissenschaftliche Studien seien „gefakt“. Hat das einen verschwörungstheoretischen Konnex? Seiffert-Brockmann: Denken Sie an die Flat-Earth-Bewegung, die postuliert, dass im Grunde die gesamte Naturwissenschaft in eine Verschwörung verwickelt ist, um die „Tatsache“ zu verheimlichen, dass die Erde eine Scheibe ist. Jede Studie, die diese Weltsicht widerlegt, muss per Definition gefälscht sein, sonst wäre die kognitive Dissonanz für die Betroffenen nicht auszuhalten. Was also eine gefakte Studie ist, hängt immer von der Betrachtung ab. Es ist nicht ohne Ironie, dass sich um tatsächlich gefälschte Studien wie jenen von Andrew Wakefield, der behauptet, es gäbe einen Zusammenhang zwischen Autismus und Impfen, die Verschwörungstheorien der Anti-Vaxxer bilden. Der Fake ist selbst der Ausgangspunkt der Überzeugung, dass alles andere Fake ist.

FOTOS: PABLO Á. MENDIVL, FRANZISKA CLAUFL, PRIVAT

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Weise Männer und schwarze Magie Auch in Afrika gibt es geheime Männerbünde. Stärker als im Westen stehen sie unter Druck ei Geheimbünden denkt man an Männerbünde des Westens wie llluminaten, Bilderberger, Templer, Rosenkreuzer und den Freimaurerbund. Wobei Letzterer laut Eigendefinition kein Geheimbund ist. Der Illuminaten-Orden wurde 1776 von Adam Weishaupt gegründet. Seine Mitglieder setzten sich ausschließlich aus ehemaligen Freimaurern zusammen. Auch die Bilderberger sind kein Geheimbund, sondern ein jährliches Treffen von Personen aus Wirtschaft, Politik und Medien. Geheimbünde in Europa: Templer und Freimaurer Die Templer, ursprünglich ein Kreuzritterorden, fanden 1413 in Frankreich durch König Philipp „den Schönen“ ein brutales Ende. Von ihrer Lehre weiß man wenig, es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen. Vermutungen ergingen sich in Vorstellungen wie „sie bespuckten das Kreuz“, „trieben perverse Sexspiele und frönten Alkoholorgien“. Die Idee dieses geistlichen Ritterordens scheiterte am Misstrauen von weltlichen und kirchlichen Machthabern. Manche Freimaurerforscher wollen im Bund der Freimaurer einen Nachfolger des Templerordens sehen. Es gibt jedoch keine wissenschaftliche Meinung dazu, nicht einmal die Freimaurer selbst können sich auf ihren Ursprung einigen. Die meisten nehmen an, sie kämen aus den „Bauhütten des Mittelalters“. Vielen gelten die Freimaurer als Geheimbund, dem man von Zeit zu Zeit allerlei Ungeheuerlichkeiten vorwirft: Sie seien „Weltverschwörer“ oder „Erzfeinde des kirchlichen Glaubens“. Geheimbünde in Afrika: Angefeindet von Muslimen Im Unterschied zu den westlichen finden die zahlreichen Geheimbünde in Afrika selten mediale Beachtung, da sie kaum bekannt sind. Erwin Ebermann vom Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien befasst sich seit Langem mit diesem Thema. Er erklärt, dass in den meisten afrikanischen Kulturen Geheimbünde vorkommen. Da über sie nichts niedergeschrieben ist, lässt sich ihr Alter kaum abschätzen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Erziehung zur Bewahrung von Kultur und traditionellen Werten sowie deren Schutz. Diese Bünde haben sich der Geheimhaltung verschrieben, da sie auch Überlebensstrategien im Krisenfall diskutieren. Mitglieder solcher Geheimbünde werden bei Androhung schwerer Strafen angehalten, keinesfalls Informationen nach außen dringen zu lassen. Sie sehen sich in islamisch regierten Ländern oder Ländern mit muslimischer Mehrheit von offiziellen Stellen und Mitmenschen mit Heidentum, schwarzer Magie und Hexerei assoziiert und werden häufig bekämpft. Mitglieder solcher Geheimbünde sehen kein Problem darin, als Muslim Mitglied eines Geheimbunds zu sein.

TEXT: DIETER HÖNIG

„Afrikanische Geheimbünde dienen als Instrumente zur sozialen Einigung“ ERWIN EBERMANN, UNIVERSITÄT WIEN

Die Geheimbünde der Bambara-Kultur in Mali Die Bambara sind das zahlenmäßig größte Volk Malis, ihre Sprache ist die wichtigste im westlichen Afrika. Ebermann hat bei seinen Forschungen unter den Bambara der Region Beledougou fünf Geheimbünde ausgemacht. Beim Eintritt in einen dieser Geheimbünde verpflichten sich die ausschließlich männlichen Mitglieder, alle Vorgänge innerhalb des Bundes geheim zu halten. Die Treffen finden in nur den Geheimbündlern vorbehaltenen Wäldchen statt, die außerhalb der Geheimbundtreffen niemand, nicht einmal die Mitglieder eines Bundes betreten darf. Alle fünf Bünde haben einen eigenen Fetisch in Form einer Maske. Sie verkörpert in ihren Vorstellungen die magische Kraft ihres Bundes. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Fetisch“ mit dem Begriff „Symbol“ bei westlichen Geheimbünden wie den Freimaurern vergleichbar. Vom Wissen der Vorfahren lernen und es anwenden In den ersten Geheimbund, Ntomo, treten männliche Kinder mit etwa sechs bis sieben Jahren ein. Danach steigen sie in den „Mere“ auf und landen mit der Geschlechtsreife im „Komo“. Man erlernt darin Achtung vor Autoritäten und Werten sowie praktisches Wissen, etwa über die Wirkung von Pflanzen sowie magische Kenntnisse. Die Wissensvermittlung erfolgt laut Ebermann meist durch ‚learning by doing‘. Zu den Lernzielen gehört auch die Vorsicht im Umgang mit Fremden. Dies ist der Geschichte Malis geschuldet: Über ein Jahrtausend lang war Mali das Zentrum großer, international angesehener Reiche, etwa des Königreichs von Mali zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert. Damals herschte in einer Region von rund zwei Millionen Quadratkilometern Reisesicherheit. Damit war es vorbei, als die Ordnung ab dem 18. Jahrhundert zusehends zerfiel. Reisen konnte richtig gefährlich sein – und Reisende auch. Daher erzieht man die Kinder im Ntomo dazu, Fremden gegenüber stets wachsam zu sein. Am Ende der mehrtägigen Ntomo-­ Initiation steht ein großes Festessen, zu dem man auch einen unbekannten alten Mann aus einem fernen Dorf einlädt. Dieser plaudert mit den Jungen, die sich von der Anerkennung durch den Alten geschmeichelt fühlen. Passen sie jedoch nicht auf, streut er ihnen „Gift“ ins Essen, das zu tagelang anhaltenden Bauchschmerzen führt. Bei den Treffen der Geheimbünde sollen die Burschen auch lernen, Wissen aus Andeutungen zu gewinnen. Dies trägt zur Stärkung ihrer Überlebensfähigkeit bei. So wandert das Oberhaupt eines Geheimbundes während der mehrtägigen Geheimbundtreffen mit den Jungen umher und erklärt ­ihnen dabei die Natur. Unterwegs erwähnt er wie nebenbei, dass eine bestimmte Pflanze

einen Saft enthalte, der bei großer Hitze sehr wohltuend wirke, sobald man sie zerkaut. Zwei Tage später lässt er ohne Vorankündigung ein langes Bett aus Kohlenglut aufschütten. Dann eröffnet er den jungen Burschen, dass nun eine Herausforderung auf sie wartet: Sie müssten sich darauf vorbereiten, bloßfüßig über diese Kohlenglut zu laufen. Wer sich von den Jungen an die Bemerkung über die Pflanze mit dem wohltuenden Saft erinnert, sucht danach, zerkaut sie und reibt sich mit dem Saft die Fußsohlen ein. Er schützt sie für etwa eine Minute vor den glühenden Kohlen. Wer die Bemerkung vergessen hat, lernt durch verbrannte Fußsohlen. Der wichtigste Geheimbund bei den Bambara der Region Beledougou ist der schon erwähnte Komo. In diesem Geheimbund bleibt ein Mann sein ganzes Leben lang. Dabei durchläuft er insgesamt sechs verschiedene Initiationsstufen. Sie dienen dazu, ihn darauf vorzubereiten, zunehmend mehr Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Der Wissentransfer verläuft selektiv und meist in Einzelgesprächen zwischen einem erfahrenen und einem jüngeren Mann. Dabei hat der Jüngere zu Beginn zunächst dem Älteren Respekt zu erweisen. Dann erst erfährt er mehr über das Wissen seines „Meisters“. Die Zeremonie der Respekterweisung hat einen praktischen Grund. Damit sollen rebellische Jugendliche von der Wissensvermittlung möglichst ausgeschlossen werden. Der Komo wacht über die Einhaltung der traditionellen Normen, teilweise auch mit schwarzer Magie. Schutz vor schwarzer Magie und der Bund der Weisen Die wesentliche Aufgabe des Geheimbundes Nama ist der Schutz vor schwarzer Magie. Wenn etwa die Kindersterblichkeit in einer Gruppe stark ansteigt, suchen die Mitglieder des Geheimbundes nach Ursachen., etwa, ob das Unglück durch schwarze Magie hervorgerufen wird. Dabei ziehen der Anführer des Nama-Bundes und Angehörige in einer Trance durch den Ort, um Spuren, Personen und Objekte zu finden, die mit dem Unglück in Zusammenhang stehen. Besonders oft werden allein lebende, alte Frauen verdächtigt, am Kindersterben schuld zu sein. Als elitärer „Bund der Weisheit und der Weisen“ gilt der Kore. Er versucht, Konflikte durch nichtaggressive Ansätze zu lösen, eine Mischung aus Sicherheitsrat und Institut für Friedensforschung. Laut Erwin Ebermann erfüllen afrikanische Geheimbünde eine Funktion als soziales Einigungsinstrument und führen so weit über die Magie hinaus. Sie sind in doppelter Weise gefährdet: Einerseits durch Aufwertung der Wissenschaften, aber mehr noch durch ihr schlechtes Image bei monotheistischen Religionen und bei modernen Gesellschaften.

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Verschwörung der Verlierer Wenn im Sport verloren wird, sind schnell Verschwörungstheorien bei der Hand alentinstag 2004. In einem Hotel in Rimini öffnet der Portier mit Mühe die Tür zum Zimmer eines prominenten Gasts. Drinnen liegt Marco Pantani. Tot. Der italienische Radrennstar, Volksheld und bislang Letzte, der in einem Jahr (1998) beide große Rundfahrten, den Giro d’Italia und die Tour de France gewonnen hat, ist, wie Publizisten genüsslich festhalten werden, vermutlich als Junkie gestorben. Der ­Gerichtsmediziner stellt eine Überdosis Kokain fest. Tod eines Rennradfahrers: Hatte die Mafia die Hand im Spiel? Der Tod des 34-jährigen Kletterspezialisten war das Ende eines langen Abstiegs. Begonnen hatte er an jenem 5. Juni 1999, da Pantani, das Gesamtklassement anführend, wegen eines erhöhten Hämatokritwerts vom Giro ausgeschlossen wurde. Von diesem Schlag erholte er, der seine Unschuld hartnäckig beteuerte, sich nie mehr. Er feierte noch vereinzelte Erfolge, wurde jedoch erneut des Dopings überführt und versank im Sumpf von Kokainsucht und Depressionen. Pantanis Familie und Fans wollen freilich nicht glauben, dass diese Tragödie ohne fremdes Zutun passiert ist. Sie behaupteten, sowohl beim Giro-Ausschluss wie auch bei Pantanis Ableben habe die Mafia ihre Hand im Spiel gehabt. Während Letzteres wohl Legende sein dürfte, hat die These einer Mafiaintrige bei Pantanis erzwungenem Exit vom Giro etwas für sich. So urteilt jedenfalls der deutsche Sportjournalist Frieder Pfeiffer in seinem Buch „Ronaldo stirbt“ (Delius Klasing, 2018). Hatte jemand Ronaldo bei der Fußball-WM in Paris vergiftet? In seinem Buch führt Pfeiffer zahlreiche Verschwörungstheorien um sportliche Großereignisse an und bewertet ihre Stichhaltigkeit. Der „Phantom Punch“ von Muhammad Ali gegen Sonny Liston wird hier ebenso analysiert wie die kontaminierte Zahnpasta des deutschen Leichtathleten Dieter Baumann, ein Stromausfall bei der Super Bowl 2013 oder die vorübergehende „Ruhigstellung“ des Basketball-Stars ­Michael Jordan wegen seiner Spielsucht. Der Buchtitel bezieht sich auf einen Vorfall vor dem Finale der Fußball-WM 1998 zwischen Frankreich und Brasilien in Paris: Wenige Stunden vor dem Anpfiff kollabierte der brasilianische Stürmer Ronaldo mit Krämpfen und Schaum vor dem Mund in seinem Hotelzimmer. Nach einer ergebnislosen Untersuchung in einem Krankenhaus lief er schließlich doch auf, spielte jedoch weit unter seiner Normalform. Frankreich wurde Weltmeister. Auf Schiebungsgerüchte und Spekulationen um Ronaldo, die von vertuschtem Doping bis zu einem schmutzigen Deal zwischen dem Fußball-Weltverband FIFA und brasilianischen Funktionären reichten, gibt Pfeiffer nicht viel.

TEXT: BRUNO JASCHKE

Sportereignisse als Medienspektakel sind Verschwörungstheorien besonders zuträglich“ MINAS ­D IMITRIOU, UNIVERSITÄT SALZBURG

Auch der Sportwissenschaftler Minas Dimitriou, Fachkoordinator des Studienzweigs Sport-Management-Medien an der Universität Salzburg, sagt: „Gut, Ronaldo war schwach. Aber was war mit den anderen Brasilianern?“ Deutsche Mythen, Pervitin und Lattenpendler Fußballweltmeisterschaften bieten Gelegenheit für Spekulationen um Fehlpfiffe von Schiedsrichtern, unerklärliche Formschwankungen bei Spielern und eigentümliche Resultate. Mancher Verdacht ist mittlerweile Fakt. So war der Titel für Italien bei der Heim-WM 1934 ein Werk von ­Benito Mussolini. „Es gibt historische Belege, dass Mussolini mehrere Schiedsrichter bestochen hat“, sagt Dimitriou. Auch ein Mythos der Bundesrepublik wackelt: der Gewinn der Fußball-WM 1954 in der Schweiz. In der Halbzeit des Finales gegen Ungarn erhielten die deutschen Spieler Spritzen. Das ist unbestritten. Ebenso, dass mehrere von ihnen ein paar Monate danach an Gelbsucht erkrankten. Dies wurde mit schlechten hygienischen Bedingungen erklärt. Aber was war in den Spritzen? Die deutschen Spieler sprachen von Vitamin C. Ungarns Stürmerstar Ferenc Puskas hingegen äußerte einen Doping-Verdacht. Wissenschaftler der Humboldt-Universität in Berlin kamen 2013 zum Schluss, das möglicherweise Pervitin gespritzt wurde. Mit dem Aufputschmittel kämpften deutsche Soldaten im „Blitzkrieg“ gegen Frankreich. Zwölf Jahre später fühlte sich die deutsche Mannschaft im WM-Finale von 1966 durch das fragwürdige „Wembley-Tor“, als der Engländer Geoff Hurst die Latte des deutschen Tores innen traf, um den Titel betrogen. Aus südamerikanischer Sicht ist indes das Viertelfinale fragwürdig: Der britische Referee Jim Finney leitete die Partie Uruguay gegen Deutschland, während der Deutsche Rudolf Kreitlein England gegen Argentinien pfiff. In beiden Fällen beeinflussten fragwürdige Ausschlüsse die Partien, bei denen jeweils das südamerikanische Team den Kürzeren zog. Ein Fußball-WM-Titel als Absprache zweier Diktatoren Die umstrittenste Fußball-WM fand 1978 in Argentinien statt. Das Regime unter Diktator Jorge Rafael Videla wollte vor den Augen der Welt ein Fest inszenieren, während unweit der Stadien zigtausende Oppositionelle und Kritiker gefoltert und ermordet wurden. Für den WM-Titel benötigten die bis dahin enttäuschenden Argentinier im Halbfinale einen Sieg mit vier Toren Differenz gegen die Überraschungsmannschaft Peru. Die Argentinier gewannen 6:0. Zu den Merkwürdigkeiten ihres Kantersiegs gehörten eine gewisse Heimtendenz des französischen Schiedsrichters Robert Wurtz und ein Gegner, der in eine eigen-

tümliche Lethargie verfallen zu sein schien. Argentinien kam ins Finale und sicherte sich mit einem 3:1 gegen die Niederlande den WM-Titel. Über die Jahre hin haben sich Gerüchte, hinter dem Halbfinalergebnis stecke eine Absprache zwischen Videla und ­Perus Diktator Francisco Morales Bermúdez, verdichtet. Es soll dabei um 35 Millionen Tonnen Getreide und einen 50-Millionen-DollarKredit an Peru gegangen sein. 2018 erklärte der peruanische Spieler Jose Velazquez, sechs Spieler seiner Mannschaft seien gekauft gewesen. Sein Mitspieler Germán Leguia bestätigte im Gegensatz zu den meisten anderen Akteuren diese Aussage. Beide erinnern sich auch an einen ungewöhnlichen Besuch knapp vor dem Spiel. Da sei Videla in Begleitung des damaligen US-Außenministers Henry Kissinger in der Kabine vorstellig geworden, um die guten Beziehungen zwischen Argentinien und Peru in Erinnerung zu rufen. Der WM-Triumph des argentinischen Fußballteams war auch ein Triumph der Diktatur, die das Land noch weitere drei Jahre terrorisieren konnte. Ein Phantom Punch, wieder die Mafia und die Verlierer Die Inszenierung von Sportereignissen als große Medienspektakel sei Verschwörungstheorien besonders zuträglich, sagt Minas Dimitriou: „Sie heben das Ganze auf eine Metaebene. Dabei geht es darum, eine Erzählung, ein Narrativ zu schaffen.“ Ein Metier, in der diese Kunst seit jeher geübt wird, ist das Boxen. Seine größten Mythen ranken sich um die Kämpfe zwischen Muhammad Ali und Sonny Liston: Der „Tänzer“ gegen den „Gorilla“, wie Liston mit kaum verhohlenem Rassismus genannt wurde. Den ersten Kampf hatte Ali noch unter seinem bürgerlichen Namen Cassius Clay wegen einer angeblichen Schulterverletzung Listons gewonnen. Im Retourkampf schickte er Liston nach 105 Sekunden auf die Bretter. Ob er ihn überhaupt getroffen hat, wird nie geklärt werden. In der Sporthistorie ist der mysteriöse Niederschlag als „Phantom Punch“ verzeichnet. Gerüchte, Liston habe simuliert, um Schulden bei der Mafia zu begleichen, sind nie verstummt. „Es waren hier hohe Wetteinsätze im Spiel“, erklärt Dimitriou, „Menschen, die viel Geld bei einer Wette verloren haben, neigen dazu, Verschwörungstheorien zu verbreiten. Ein anderes Motiv ist, eine schwache Leistung des ,eigenen‘ Teams zu relativieren.“ Verschwörungstheorien im Sport kommen fast ausschließlich aus dem Lager, das verloren hat. „Im Sport übersteigt die Zahl der Verlierer die der Gewinner um ein Vielfaches. Ein Ende der Verschwörungstheorie im Sport ist also nicht abzusehen“, schließt Frieder Pfeiffer sein Buch.

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Verschwörungstheorien: Das Glossar JOCHEN STADLER

Verschwörungstheorien  Sie mischen Fakten mit erfundenen Thesen und bedienen stereotype Feindbilder. Getrieben von manischem Misstrauen unterstellen sie ethnischen Gruppen, Geheimdiensten, Außerirdischen und Reptilienmenschen üble Machenschaften, während sich die Verleumder in der Opferrolle suhlen. Die wichtigsten sind: 9/11  Der US-Geheimdienst CIA habe das World Trade Center in New York in die Luft gesprengt, die Flugzeuge wären Ablenkungsmanöver und die Attentäter lebten noch. Bevölkerungsaustausch  Rechtsextreme glauben an einen verborgenen Plan, die derzeitige Bevölkerung Europas gegen Einwanderer aus dem Osten und Süden auszutauschen. Bielefeld  Sei keine Stadt, sondern eine von Außerirdischen, der CIA, dem israelischen Geheimdienst Mossad oder Ordensrittern inszenierte Kulisse, von wo man nach Atlantis kommt und wo John F. Kennedy, Elvis Presley und Kurt Cobain gefangen gehalten werden. Bill Gates  Sei der Teufel, denn die Summe der Computer(ASCII)-Codes der Buchstaben seines Namens ist 666, die biblische Zahl des Antichristen. Dolchstoßlegende  Die deutsch-österreichische Niederlage im Ersten Weltkrieg sei durch oppositionelle Zivilisten im Hinterland verursacht worden. Dollar  Beweise eine globale Verschwörung des Illuminatenordens oder der Freimaurer, weil in seine zahlreichen grafischen Bestandteile Hinweise auf diese Geheimbünde hineininterpretiert werden können. Elvis Presley  Er habe seinen Tod vorgetäuscht, weil er Ruhe von den Fans haben wollte, oder er wäre von Außerirdischen entführt worden. Wenn er tatsächlich tot ist, müsse man die Schuld beim FBI suchen. Hexen  Stünden laut mittelalterlichen und neuzeitlichen Theologen mit dem Teufel im Bunde, um Naturkatastrophen und Seuchen über brave Christen zu bringen. HI-Virus  Stamme einerseits aus USLabors, um Homosexuelle, Afroamerikaner und die Bevölkerung der Dritten Welt zu dezimieren, löse andererseits gar kein Aids aus – die Krankheit sei entweder Unterernährung oder Medikamenten geschuldet. Holocaustleugnung  Den auf Ausrottung zielenden Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden habe es nie gegeben. John F. Kennedy  Er weile wie Elvis noch unter den Lebenden, seine Ermordung sei ein Fake. Oder der CIA oder Regierungsmitglieder haben ihn erschießen lassen. Jörg Haider  Der Politiker, der schwer alkoholisiert mit überhöhter Geschwindigkeit durch Nacht und Nebel rasend

mit dem Auto von der Straße abkam und starb, soll vom Mossad, dem CIA oder sonstwem ermordet worden sein. Klimaleugnung  Die potenziell fatale globale Erwärmung sei ungefährlich, nicht von Menschen gemacht oder frei erfunden von Wissenschafter, die nach Forschungsgeldern gieren. Lady Di  Ihr tödlicher Autounfall sei ein Attentat des britischen Geheimdienstes MI6 im Auftrag ihrer Majestät gewesen, um eine außereheliche Schwangerschaft zu vertuschen. Marilyn Monroe  Ja, auch sie sei von einem US-Geheimdienst gemeuchelt worden, weil sie eine Affäre mit John F. Kennedy hatte. Men in Black  Geheime US-Regierungsmitarbeiter im schwarzen Outfit sorgen dafür, dass es nach mysteriösen Sichtungen keine Zeugenaussagen gibt. Mittelalter  Seine Geschichte sei über weite Strecken schlichtweg erfunden. Mondlandung  Sie sei 1969 von der US-Raumfahrtsbehörde in einem Filmstudio inszeniert worden, weil es in Wirklichkeit kein Amerikaner geschafft hätte, auf dem Mond zu landen. Davon würde etwa zeugen, dass das „Star spangled banner“ im Wind flatterte, den es dort nicht gibt. In Wirklichkeit schwang sie vom Einsetzen in den Ständer nach. Paul McCartney  Sei tot und von einem Doppelgänger ersetzt. Pearl Harbor  US-Regierung und Militärs hätten von dem japanischen Luftangriff auf den Hawaii-Hafen gewusst, ihre Soldaten aber nicht gewarnt, um der Öffentlichkeit einen spektakulären Grund für den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zu bieten. Philadelphia-Experiment  Die USMilitärs hätten es damit geschafft, ein Kriegsschiff an einem Ort verschwinden und anderswo wieder auftauchen zu lassen. Pizzagate  Die Präsidentschaftskandidatin 2016, Hillary Clinton, sei in einen Kinderpornoring in einer Pizzaria in Washington verwickelt. Reptiloide  Menschenähnliche, aber intelligente Wesen, die von Kriechtieren oder Außerirdischen abstammen, hätten die Erdbevölkerung unterwandert. Weltjudentum  Ein fiktives jüdisches Kollektiv, das oft an der Ostküste der USA lokalisiert wird, würde insgeheim die Weltherrschaft innehaben. Wolfgang Amadeus Mozart  Sei von einem Freimaurer-Kollegen ermordet worden, weil er in der „Zauberflöte“ zu viel über den Geheimbund verriet. Zuganschläge in Madrid  Aus angeblich wahltaktischen Gründen wurden die verheerenden Zuganschläge der Al-Qaida am 11. März 2004 von der damaligen konservativen Regierung der baskischen Untergrundorganisation ETA zugerechnet.

:   F R E I H A N D B I B L I OT H E K BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA VON EMILY WALTON

Gründe, ­weshalb ­viele Verschwörungstheorien psycho­logisch gesehen so gut funktionieren

Verschwörungstheorien als Füllmasse für ein Sinndefizit in einer entzauberten Welt

Verschwörungstheoretiker sind alle verrückt? Mitnichten: Sie sind unter uns – und nicht mehr oder weniger verrückt als wir selbst. Zu diesem Schluss kommt der Psychologe und Wissenschaftsautor Rob Brotherton. In seinem Werk geht er der langen Geschichte und den Folgen von Verschwörungstheorien nach. Er erklärt, welche Mechanismen in unserem Gehirn dafür sorgen, dass wir an etwas glauben, und beschreibt anschaulich, weshalb viele Verschwörungstheorien psychologisch gesehen so gut funktionieren, obwohl sie unlogisch, unbewiesen oder unbeweisbar sind.

Der Amerikanist Michael Butter macht verständlich, wie Verschwörungstheorien funktionieren. Für ihn erfüllen sie in einer entzauberten Welt eine Funktion als Füllmasse für ein Sinndefizit. Butter begibt sich auf die Spur historischer Komplotte, ist aber nahe am aktuellen politischen Geschehen in Deutschland und Europa. Er untersucht auch, wie Populismus in der Politik und Verschwörungstheorien am Stammtisch und im Internet zusammenspielen. Dabei sucht er Antworten auf eine oft gestellte Frage: Was lässt sich eigentlich gegen Verschwörungstheorien unternehmen?

Rob Brotherton Suspicious  Minds: Why we believe conspiracy theories, 304 S., Bloomsbury

Michael Butter, Nichts ist wie es scheint, 271 S., Edition Suhrkamp

Was wäre, wenn die ­Kennedy-Morde fehlgeschlagen wären?

Ein neuer Blick auf den Brand des Berliner Reichtags am Beginn der Nazi-Ära

Eine knapp gewonnene Wahl; ein Attentat, das um Haaresbreite misslingt; eine Bombe, die den Präsidenten erwischt statt verfehlt – und die Geschichte nimmt einen anderen Lauf. Der erfahrene Polit-Kommentator Jeff Greenfield lässt seine Gedanken bei drei „Was wäre, wenn …?“-Überlegungen spielen, die das Leben bzw. die politische Karriere von John F. Kennedy, Robert F. Kennedy, Gerald Ford, Jimmy Carter und Ronald Reagan grundlegend verändert hätten. Ein interessantes Gedankenexperiment, für das man kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein muss.

Die Nationalsozialisten hatten bei der Wahl Sitze im Parlament verloren, Adolf Hitler war erst vier Wochen Reichskanzler einer instabilen Koalition, als der Berliner Reichstag brannte. Hitlers Regierung gab den Kommunisten die Schuld, hebelte die Verfassung aus und ließ 5.000 Menschen auf einen Schlag verhaften. Um die Hintergründe des Reichstagsbrandes, der den Beginn des „Dritten Reichs“ markiert, ranken sich seit Jahrzehnten kontroversielle Theorien. Autor Hett bedient sich neuer Quellen für seinen frischen Blick auf dieses wichtige historische Ereignis.

Jeff Greenfield, Then Everything Changed: Stunning Alternate Histories of American Politics, 448 S., Putnam

Benjamin Carter Hett, Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens, 640 S., Rowohlt


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Befehlsempfänger vor Gericht Christian Rabl erforschte, wie Verbrecher aus dem KZ Mauthausen juristisch verfolgt wurden  is 1945 starben etwa 90.000 der 200.000 Häftlinge im Konzentrationslager Mauthausen und seinen über vierzig Außenlagern, dem sogenannten „Mauthausen-Komplex“. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges begann die gerichtliche Verfolgung der Täter. Christian Rabl, wissenschaftlicher Leiter des Zeithistorischen Zentrums Melk, arbeitete in seinem Buch „Mauthausen vor Gericht“ alle bekannten Fälle erstmals auf. Herr Rabl, am Beginn Ihres Buchs werfen Sie die Frage auf, ab welcher Zahl verurteilter NS-Täter wir von einer erfolgreichen gerichtlichen Verfolgung der Nazi-Verbrechen sprechen können. Christian Rabl: Im Mauthausen-Komplex waren zwischen August 1938 und Mai 1945 ungefähr 12.000 bis 15.000 SS-Angehörige stationiert. Es gab eine starke Fluktuation. Alle diese Männer sind potenzielle Täter. Um den Verbrechenskomplex juristisch vollständig zu ahnden, müsste man alle vor Gericht zu stellen. Das ist rein organisatorisch völlig unmöglich. Die Frage, ob die juristische Ahndung „erfolgreich“ ist, kann man so nicht stellen. Es ist wichtiger, innerhalb der Systeme zur Verbrechensaufklärung in verschiedenen Ländern Schwachstellen zu finden, um für künftige Verfahren zu lernen. Länderübergreifend wurden neunzig Prozent der Mauthausen-Prozesse bis 1948 geführt. Rabl: In den „Täterländern“ Deutschland und Österreich wurden die meisten Fälle von den alliierten Besatzungsmächten vor Gericht gebracht. Diese Prozesse galten in der Bevölkerung als „Siegerjustiz“. Es gab kein Verständnis dafür, dass sogenannte „kleine Befehlsempfänger“ vor Gericht kamen und teilweise zum Tod verurteilt wurden. Die Alliierten, besonders die USA, waren bald bereit, Zugeständnisse zu machen – insbesondere, weil sie Deutschland als Bündnispartner im aufkeimenden Kalten Krieg brauchten. Wie war die Situation in Polen? Rabl: Die polnische Justiz tat sich schwer, Beweise für Verbrechen zu finden, die ja in Österreich begangen wurden. Polen hatte auch ein personelles Problem: Wegen der Ermordung seiner intellektuellen Führungsschicht durch das NS-Regime fehlte es an juristischem Personal, um die Verfahren durchzuführen. Es gab zudem kaum Augenzeugen, da sehr viele ermordet wurden. Die Überlebenden waren schwer greifbar und befanden sich irgendwo in Mitteleuropa. Polnische Gerichte fällten so Urteilssprüche, die sich meist auf die allgemeine Mitgliedschaft in der SS beschränkten. Diese war nachweisbar und strafbar, dasselbe galt für die Tätigkeit im KZ. Man konnte den Tätern aber in vielen Fällen keine individuellen Straftaten oder Morde nachweisen, weshalb die Strafen sehr niedrig ausfielen.

TEXT: TOBIAS SCHMITZBERGER

„Die wenigen Täter, die von den Volksgerichten zu hohen Strafen verurteilt wurden, kamen bis Ende der 1950er Jahre frei“ CHRISTIAN RABL, ZEITHISTORISCHES ZENTRUM MELK

Bei den alliierten Prozessen war das anders. Von den 506 verurteilten Personen aus dem Mauthausen-Komplex wurden 305 bei den „Dachauer Prozessen“ der USA verurteilt und 86 hingerichtet. Rabl: Die Amerikaner fühlten sich wohl für Mauthausen verantwortlich, weil sie das Lager befreit hatten. Der größte Teil der Mauthausen-Täter war in amerikanischem Gewahrsam. Die Amerikaner verfolgten die Idee, die verschiedenen KZ-Standorte juristisch zu ahnden und wollten mit „ReEducation“ eine Demokratiebildung in der deutschen und österreichischen Bevölkerung erreichen. Warum lösten die NS-Verbrecher-Prozesse in Deutschland so ablehnende Reaktionen aus? Rabl: Ein Grund ist, dass in den vorangegangenen Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen einige hochrangige Entscheidungsträger mit glimpflichen Strafen davonkamen. Deshalb fehlte das Verständnis, wenn KZ-Täter härter bestraft wurden. Übersehen wurde, dass die vermeintlichen „Befehlsempfänger“ in den Dachauer Prozessen massive Gewalttaten verübt hatten. Oft waren diese weit über Befehle hinausgegangen. Das wurde ausgeblendet, besonders von den Angehörigen. Ganze Ortschaften meldeten sich mit Unterschriftsaktionen zugunsten von SS-Tätern vor Gericht. Hinzu kamen massive Kampagnen, etwa von der evangelischen und katholischen Kirche. Die Kirchen setzten sich für SS-Täter ein? Rabl: Hier gab es zwei Ebenen. Die obere Ebene bildeten die Bischöfe, die sich teils direkt an den amerikanischen Senat wendeten und die Prozesse geißelten. Sie kritisierten die Verfahrensführung, besonders die langen Haftzeiten und die Todesstrafe. Zusätzlich finanzierten sie Anwälte für inhaftierte NS-Täter. Die untere Ebene betraf die Pfarrer, Dekane und Pastoren in den Dörfern. Sie setzten sich für einzelne Verurteilte ein und schrieben Eingaben an die Gerichte. Vereinzelt argumentierten sie, ein Täter sei unschuldig, weil er einst ein braver Ministrant gewesen war. Was taten die Angehörigen der Täter? Rabl: Auch sie reichten in großem Stil Begnadigungsgesuche bei den Dachauer Prozessen ein. Das ist ein Indiz dafür, wie stark die verurteilten SS-Angehörigen und Zivilisten von ihrem privaten Umfeld unterstützt wurden. Es bedurfte keiner Reintegration, weil diese Männer nie desintegriert waren. Sie schreiben vom Fall des SSMannes Kurt Gagstädter … Rabl: Kurt Gagstädter war 1941/42 SSRapportführer im Lager Gusen und mit hoher Wahrscheinlichkeit in die „Totbadaktionen“ involviert. Kranke und ­schwache Häftlinge wurden mit eiskaltem Wasser

abgeduscht, sodass sie sofort an Kreislaufzusammenbrüchen oder später an Lungenentzündungen starben. Gagstädter wurde nach Kriegsende von zwei ehemaligen Häftlingen wiedererkannt und von den sowjetischen Besatzern vor Gericht gestellt. Laut seiner eigenen, unveröffentlichten Autobiografie wurde er zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1957 kehrte er mit einem der Kriegsgefangenen-Heimkehrertransporte nach Österreich zurück. Die lokale Presse berichtete spaltenlang über die Rückkehr des „verlorenen Sohnes“, ohne seine Tätigkeit im KZ mit einem Wort zu erwähnen. Wurden die Mauthausen-Täter als Opfer gesehen? Rabl: Die Täter sahen sich als Opfer oder inszenierten sich so. In der Nachkriegszeit gab es nur Einzelfälle, die in den Medien stärker thematisiert wurden. Dabei ging es meist um brutale Täter, die als „Bestien“ bezeichnet wurden. Dadurch bot man den Österreichern und Deutschen die Möglichkeit, sich von ihnen zu distanzieren. Auf der einen Seite gab es in der öffentlichen Wahrnehmung die wenigen „Bestien“, auf der anderen die „kleinen Befehlsempfänger“. In Österreich wurden nach 1945 nur 44 Mauthausen-Täter abgeurteilt. 42 Urteile sprachen die „Volksgerichte“ aus, die bis 1955 für die Ahndung von NS-Verbrechen zuständig waren. Die wenigen Täter, die von den Volksgerichten zu hohen Strafen verurteilt wurden, kamen bis Ende der 1950erJahre frei. Acht wurden von zwei Bundespräsidenten begnadigt. Dass die USA die Mauthausen-Prozesse im deutschen Dachau und nicht auf österreichischem Boden durchführten, trug zusätzlich dazu bei, die österreichische Verantwortung für den Verbrechensort Mauthausen wegzuschieben. Übrig blieb, dass die Deutschen für die Verbrechen „dort“ verantwortlich seien, obwohl sehr viele Österreicher beteiligt waren. Das fügte sich gut in die Nachkriegserzählung von Österreich als „erstem Opfer des Nationalsozialismus“ ein.

Spekulationen um das KZ Gusen „Diese Geschichte muss neu geschrieben werden“, sagt der Grazer Historiker Stefan Karner. In der ZDF-Doku „Die geheimste Unterwelt der SS“ spricht er über das oberösterreichische Konzentrationslager Gusen. Es gäbe neue Indizien. So ist von Hinweisen für ein „unterirdisches KZ“ die Rede. Diese und andere Thesen wurden von Experten stark kritisiert, etwa von Barbara Glück, der Leiterin der Gedenkstätte Mauthausen. Glück und Karner wollen sich zum Thema aktuell nicht äußern: Man befände sich „gemeinsam mit allen mit diesem Themenkomplex befassten Stellen in einem konstruktiven Klärungsprozess.“

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Z U G U TE R L E T Z T  :   H EU R E K A 5/19   FALTER 46/19  23

: WETTBEWERB

„ M E I N E FO RS C H U N G I N E I N E M B I L D “ U N D „ FO RS C H U N G V E RST E H E N “

ERICH KLEIN

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Propaganda

Denise Seitner, Gregor Mendel Institut, ÖAW, Vienna BioCenter

Svetlana Kim, Institute of Slavic Languages

Christina Riedler, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft

Michael Prokosch, Institut für Geschichte

INNOVATION IM LÄNDLICHEN RAUM Was es gibt

Lebensqualität und Rückzugsraum für Kreativität

Austausch auf Messen und Konferenzen

Hohe Loyalität der Belegschaft und dadurch interne Expertise

Was es braucht

Überregionale Wissensnetzwerke

Entgegenkommen von Politik und Bildungseinrichtungen

Niederlassungen in Städten

Positionierung als attraktiver Arbeitgeber

Förderungen, günstigere Grundstücke und geringere Löhne

Innovative Unternehmen Kleine und mittlere Unternehmen

im ländlichen Raum Großunternehmen

Start-ups

Zweigstellen mit eigener Entwicklungsabteilung

Hidden Champions

Vor Ort, weil man in der Heimatregion arbeiten möchte, sich bei der Gründung wenig Gedanken zum Standort macht, oder weil Büroflächen günstig sind

Großunternehmen gehen in eine ländliche Region, weil Grundstücke günstiger und Löhne geringer sind oder es interessante Bildungseinrichtungen in der Region gibt

Vor langer Zeit gegründet und oft Marktführer, eine Verlagerung kommt nicht in Frage, da man sich vor Ort eine große Kompetenz aufgebaut hat und die Belegschaft sehr loyal ist

© Jakob Eder 2019

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Jakob Eder, Institut für Geografie und Regionalforschung

Magdalena Siegel, Department of Applied Psychology: Work, Education and Economy

Wettbewerb der Universität Wien

Martina Schmidl, Department of Near Eastern Studies

Forschung veranschaulichen – mit diesem Ziel schrieb die Universität Wien heuer gleich zwei Wettbewerbe für (Nachwuchs-)Wissenschafter und Wissenschafterinnen aus: den Fotowettbewerb „Meine Forschung in einem Bild“ und einen neuen Infografik-Wettbewerb „Forschung verstehen.“ Die Gewinner wurden am 27. Juni im Rahmen der Veranstaltung Arts & Science bekannt gegeben. Hier werden ihre prämierten Arbeiten zur Wissenschaftkommunikation präsentiert.

:   I M P R E SS U M Herausgeber: Armin Thurnher; Medieninhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Martina Paul; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.

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Im Jahre 9. n. Chr. erlitten römische Legionen unter ­Publius Varus im Teutoburger Wald eine vernichtende Niederlage gegen das germanische Heer unter dem Cheruskerfürsten Arminius. Im Stück von Heinrich von Kleist „Die Hermannsschlacht“, einem Partisanenstück mit eindeutiger politischer Botschaft im Kampf gegen Napoleon, das in der Folge deutsch-patriotisch verstanden und von den Nationalsozialisten unzählige Male auf die Bühne gebracht wurde, finden sich zahlreiche Versatzstücke moderner Propaganda. Arminius/Hermann greift zu List und Verrat und schreckt auch vor Grausamkeiten nicht zurück. So lässt er das Gerücht verbreiten, die Germanin Hally sei von einem Römer vergewaltigt worden. Ob der Schändung wird sie von ihrem Vater Theuthold ermordet. Ein Stück aus dem Geist des bürgerlichen Trauerspieles wäre an dieser Stelle zu Ende – allein Kleist entfacht hier ein Spiel der wildesten Raserei. Hermann lässt den Leichnam des Mädchens in Stücke teilen und an die fünfzehn Stämme der Germanen verteilen, um die Gier nach Rache zu schüren. Was wie eine blasphemische Parodie auf die Stämme Israels klingt, führt den Schlachtruf „Freiheit“ auf geifernden Lippen. Denn: Der Zweck heiligt die Mittel. Man mag bei all dem gleichermaßen an „Ehrenmorde“ wie die Me-too-Debatte denken, an „Antanzen“, Fake News und „alternative Fakten“ – an das ganze Repertoire heutiger populistischer Politik. Martin Kusej, Direktor des Wiener Burgtheaters, der das Stück gerade inszeniert, bezeichnete Hermann nicht zufällig als „Urvater aller Populisten seit zweitausend Jahren“ und „totales Arschloch“ mit Wiedererkennungswert. Die Aktualität des Stückes verwundert nicht, hat doch Kleist die kulturellen Bestände Europas bis in letzte Untiefen ausgelotet und dafür entsprechend surreale Bilder der Gewalt gefunden. Allerdings sprach der Dichter, dem keine zeitgenössische Raserei fremd schien, noch „klassisch“. So klingt auch eine der schillerndsten Szenen: Der im Wald verirrte Varus trifft auf eine Alraune und stellt die drei Fragen: Woher komme ich? Wo bin ich? Wohin gehe ich? Die Antwort ist ein dreifaches „Nichts!“ Der Römer befinde sich „zwei Schritt vom Grab, hart zwischen Nichts und Nichts!“ Allerdings, fügt die Alraune schnippisch hinzu, was am Ende bleibt: „Gehab dich wohl!“


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