HEUREKA 1/21

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HEUREKA #12021 Demenz

tri˜ vor allem Frauen

FOTO/DOKUMENTATION: JULIA ROTTER

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2794/2021

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Ein globales Phänomen Demenzerkrankungen betre˜en mittlerweile rund fünfzig Millionen Menschen weltweit Seite 12

Zwei Drittel aller Demenzkranken in Österreich sind Frauen Macht die Pflege von Dementen dement? Seite 14

Ein Dorf zum Vergessen „De Hogeweyk“ ist ein besonderes Dorf in den Niederlanden: nur für demente Menschen Seite 18


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IN TRO D U K TIO N   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:  E D I TO R I A L

Land der Söhne Ein neues Gesetz für die Wissenschaft  Seite 7 Die studienrechtlichen Neuerungen der UniversitätsGesetzes-Novelle im Überblick

Österreichs neue Forschungspolitik   Seite 8

Kopf im Bild  Seite 4

FOTOS: KARIN WASNER, JULIA ROTTER

Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Expertin in Sachen Corona-­ Virus, ist Wissenschafteri des Jahres

Die Bundesregierung schaff mit der FTI-Strategie 2030 eine neue strategische Grundlage für die Forschungspolitik

Macht Dementenpflege dement?  Seite 14

Gutes Leben trotz Demenz  Seite 16

Biologische und soziokulturelle Gründe, warum Frauen häufige an Demenz erkranken

Die Psychologin Stefanie Auer und der Neurologe Atbin Djamshidian-Tehrani im Interview

Glossar und Bücher zum Thema  Seite 20 Literatur und Erklärungen zur Demenz

Globalphänomen  Seite 12 Demenz betrifft mittlerweile rund fünfzig Millionen Menschen weltweit

Resilient wie Rosa  Seite 22

Wie Rosa Luxemburg die Schwierigkeiten ihres Lebens meisterte

Das Demenzdorf  Seite 18 „De Hogeweyk“ ist ein besonderes Dorf: Hier leben nur demente Menschen

Der Skandal an den Demenzerkrankungen in Österreich ist, dass sie hauptsächlich jene treffen, die ihr Leben der Pflege anderer Menschen widmen, also vor allem die Frauen. Im Land der Berge und der Söhne, die irgendwann wohl auch einmal eine Mutter gekannt haben, erleiden zwei Drittel aller Demenz­erkrankungen Frauen. Da fühlt man sich als Sohn einigermaßen sicher, wenn, dann erwischt es wahrscheinlich die Schwester. Frauen verdienen in Österreich nicht nur bei gleicher Leistung weniger als Männer, sie sind überdurchschnittlich von Armut und Altersarmut betroffen, sie erledigen Aufgaben, zu denen sich kaum ein Mann herablässt, sie sind in Führungspositionen, sei es in Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik noch immer deutlich unterrepräsentiert. – Ich frage mich, wie ein Staat, der fünfzig Prozent der Bevölkerung so behandelt, auf die Idee kommen kann, er sei eine Kulturnation. Es sei denn, er versteht unter Kultur, was die Wissenschaft als Bakterienkultur beschreibt. Mich wundert, warum sich die Hälfte der Bevölkerung lebenslange Zurücksetzung gefallen lässt, um am Schluss auch noch die eigene Persönlichkeit zu verlieren. Aber wie soll ich das auch verstehen – ich bin ein Mann.

:  G A ST KO M M E N TA R

UG-Novelle: Nicht den selben Fehler machen wie Deutschland

FOTO: B MAIR

CLAUDIA THEUNE

Am 1. Dezember letzten Jahres wurde die Novelle zum Universitätsgesetz zur Begutachtung veröffen licht. Rund 600 Stellungnahmen zeigen deutlich, dass die an den österreichischen Universitäten Forschenden, Lehrenden und Studierenden bzw. die für den Universitätsbetrieb Verantwortlichen sich sehr intensiv mit der Novelle auseinandergesetzt haben. Aufgrund ihrer Expertise haben sie begründete Kritikpunkte formuliert und Änderungsvorschläge gemacht. Als Antwort wurden in einer Aussendung des Bundesministeriums vom 16. Februar 2021 einige Eckpunkte formuliert. Die überarbeitete Novelle verabschiedete der Nationalrat mit Mehrheit am 24. März. Positiv sei angemerkt, dass ­geschlechtsspezifi che Grundsätze beachtet werden; dass im Bereich der guten wissenschaftlichen ­Praxis wichtige Maßstäbe gesetzt ­werden,

die das Plagiieren und Ghostwriting stärker als bisher sanktionieren; und vor allem, dass die zunächst geplante Einflu snahme der Politik auf die Universitäten zurückgenommen wurde, die die Selbstverwaltung und Autonomie der Hochschulen deutlich geschwächt hätte. Dies betrifft die Richtlinienkompetenz des Rektorats und die Befugnisse des Senates. Scharf zu kritisieren ist aber weiterhin die Neufassung des §109 (Dauer der Arbeitsverhältnisse). Es sei erklärend angemerkt, dass ein Großteil der Forschung an den Uni-

Claudia Theune ist Professorin für Historische Archäologie an der Universität Wien

versitäten über vier- bis sechsjährige Projekte läuft, die von nationalen oder internationalen Fonds fina ziert werden, und in denen der wissenschaftliche Nachwuchs in der Regel durch befristete Verträge beschäftigt ist. Die Änderung sieht vor, dass Wissenschafterinnen und Wissenschafter höchstens acht Jahre in befristeten Projekten an den Universitäten beschäftigt werden können, berechnet auf die Lebensarbeitszeit. Das Gesetz geht völlig an der ­Realität der Forschung vorbei: eine exzellente österreichische Forschung, die wesentlich von Wissenschaft rinnen und Wissenschaftern in Projekten getragen wird, die zwischen vier und sechs Jahren laufen. Einoder Zweijahresverträge, wie vom Ministerium in der genannten Aussendung suggeriert, gibt es kaum. Mit der geplanten Regelung wird dem Nachwuchs verwehrt, in mehreren solcher Projekten zu forschen;

es wird zudem verwehrt, selbst Forschungsprojekte zu beantragen, wenn die Aussicht besteht die Achtjahresfrist an den Universitäten zu überschreiten. Der Nachwuchs wird praktisch gezwungen, ins Ausland zu abzuwandern, ein gewaltiger Verlust für Österreich. In Deutschland wurde 2005 eine ähnliche Befristung, wie sie nun in Österreich vorgesehen ist, eingeführt. Man erkannte aber schnell die negativen Auswirkungen auf die Forschung im eigenen Land und korrigierte das Gesetz 2007. Drittmittelfinanzierte oder sachlich ­befristete Projekte werden auf die Dauer der Arbeitsverhältnisse nicht angerechnet. Österreich hätte nicht den gleichen Fehler machen brauchen, sondern klug und aufbauen auf der aus der Praxis kommenden Expertise, hochkarätige Forschungen in befristeten Projekten fördern und nicht unterbinden sollen.


4  FALTER 13/21   H EUR EKA  1/21  :  P ERSÖNLIC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

Viren verstehen Seit Beginn der Pandemie zählt Elisabeth Puchhammer-Stöckl zu Österreichs Experten in Sachen Corona-Virus. Der Klub der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen hat sie für ihr Bemühen, der Bevölkerung wissenschaftliche Zusammenhänge verständlich zu machen sowie über den Forschungsstand und wesentliche Aspekte der Pandemiebekämpfung zu informieren, zur Wissenschafterin des Jahres gewählt. Die Leiterin des Zentrums für Virologie der MedUni Wien forscht vor allem im Bereich der klinischen und translationalen Virologie. „Mir ist es besonders wichtig zu verstehen, wie Viren mit dem Menschen und dem menschlichen Immunsystem interagieren. Und wie das nicht nur im Labor, sondern auch direkt im Körper der Patienten funktioniert“, sagt sie. Dieses Verständnis sei die Grundlage dafür, mit Virusinfektionen besser umgehen zu können, eine rasche Diagnose zu erstellen, die Schwere von Infektionen voraussagen zu können und um Medikamente gegen Virusinfektionen entwickeln zu können.

TEXT: USCHI SORZ FOTO: KARIN WASNER

:  J U N G FO RS C H E R I N N E N   USCHI SORZ

Alexandra Gülich, 31, MedUni Wien Am Institut für Infektiologie, Pathophysiologie und Immunologie erforscht die PhDStudentin die Funktion von Genen und deren Wirkmechanismen im Immunsystem. „Infektions- oder Autoimmunkrankheiten können jeden treffen, entsprechend groß ist der Bedarf an einem besseren Verständnis des Immunsystems.“ Es ist imstande, im Körper Erreger abzuwehren. „Unsere Gene sorgen dafür, dass der entzündliche Prozess der Abwehr schnell, effe tiv und spezifi ch erfolgt und wieder abklingt.“ Die Organe des Immunsystems, also Lymphknoten, Thymus und Milz, sind weniger bekannt als zum Beispiel Herz oder Leber. „Darum ist Wissenschafts ermittlung so wichtig.“ Im Zentrum ihrer Arbeit steht ein Gen, das bisher unbekannte Funktio­nen ausübt und es T-Zellen ermöglicht, Viren und Tumorzellen zu bekämpfen.

Sandra Müller, 30, Uni Wien und TU Wien Sie befasst sich mit der Grenze dessen, was Mathematik beweisen kann. Was meinen wir mit „unendlich groß“? Wie viele Unendlichkeiten gibt es und wie sehen sie aus? Solche Fragen bilden die Grundpfeiler der Mengenlehre. Vor allem die mysteriöse Verbindung zwischen großen Kardinalzahlen und Determiniertheitsaxiomen fasziniert Müller. „Große Kardinalzahlen sind Axiome, welche die Existenz unvorstellbar großer Zahlen erfordern. Determiniertheitsaxiome dagegen beeinflu sen relativ kleine Objekte in der Hierarchie der Unendlichkeiten.“ Sie besagen, dass in unendlich langen Spielen immer einer der Spieler eine Gewinnstrategie besitzt. „Dass solche einfachen Aussagen weder bewiesen noch widerlegt werden können, hat mich zuerst irritiert und dann umso mehr gereizt, hier mehr herauszufinden “

Anna Maria Wernbacher, 31, Uni Wien Das Forschungsprojekt der Chemikerin beschäftigt sich mit organischen Leuchtdio­den (OLED), wie sie in Smartphone-Displays verwendet werden. Sie leuchten, weil lichtemittierende Verbindungen elektrisch angeregt werden. „Ein Problem ist, wie gut die elektrische Energie in Licht umgewandelt werden kann“, sagt die Grazerin, die sich schon als Schülerin für Naturwissenschaften begeisterte. Als Postdoc am Institut für Theoretische Chemie arbeitet sie daran, die Mechanismen, die zur Lichtemission führen, besser zu verstehen. Dazu modelliert sie eine neue Klasse lichtemittierender Moleküle. „Das heißt, ich berechne deren Eigenschaften mit quantenchemischen Methoden.“ Sie möchte klären, „welche Prozesse zur Lichtemission führen können und wie man diese durch gezielte Modifikationen der Moleküle beeinflu sen kann“.

FOTOS: STEFANIE FREYNSCHLAG, PRIVAT

Diese Jungforscherinnen können sich über ein „Women in Science“-Stipendium freuen. L’Oréal vergibt es jährlich mit der österreichischen UNESCO -Kommission und der ÖAW


KO M M E N TA R E   :   H EU R EKA  1/21   FALTER 13/21  5

EMILY WALTON

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Postauftrag

Vergessen vergessen

Medienzyklen

Fernweh ist ein Gefühl, das in diesen Tagen wohl viele plagt. In Brüssel dürfte das Fernweh besonders weit verbreitet sein – schließlich liegen Traumdestinationen wie die Metropolen Paris, London oder Amsterdam mit dem Zug nur zwei, drei Stunden Fahrt entfernt. Auch ist die Meeresküste im eigenen Land nah, freilich scheint sie in dieser Zeit der Pandemie, in der man nur hinausgehen sollte, um das Notwendigste zu erledigen, meilenweit entfernt. Ruhig wird es dieser Tage in den Orten am Meer wie etwa Ostende zugehen. Für gewöhnlich zieht es die Menschen aus Brüssel schon mit den ersten Sonnenstrahlen an die Küste und nach Ostende, um einen Tag mit Kriek, Kirschbier, und Moules Frites, Muscheln mit Pommes frites, zu genießen. Das alles ist jedoch gegenwärtig nur den Ortsansässigen vorbehalten, von denen in Ostende zehn Prozent über achtzig Jahre alt sind. Deshalb verwundert es nicht, dass gerade von hier aus ein bemerkenswertes belgisches Projekt seinen Ausgang genommen hat: In ­Ostende erprobt die belgische Post, Briefträger und Brieftr gerinnen auch in der Sozial­arbeit einzusetzen. Diese sollen nicht mehr nur Postkarten, Rechnungen und Werbung austragen, sondern bei älteren Adressaten einen Stopp einlegen: Schauen, ob alles in Ordnung ist; fragen, wie es ihnen gehe, ob sie etwas benötigen – Ansprache also, wofür in der „echten“ Sozialarbeit oft die Zeit und der Stadt das Budget fehlt. Wie oft gehen die Senioren und Seniorinnen aus? Kommen Verwandte, Freunde oder Freundinnen zu Besuch? Gibt es Kontaktpersonen, die regelmäßig anrufen? Auch im Notfall? Eine Putzfrau? Eine Pflegeri ? Solches sollten die Postboten abfragen und ihre Eindrücke notieren, ob Wohnungen und Personen gepflegt wirken und sie den Eindruck vermitteln, allein zurecht zu kommen. Auf Basis dieser Informationen konnte die Stadt dann (besser) entscheiden, wie rasch Unterstützung geschickt werden soll. Doch in Zeiten von Covid-19 muss Abstand gewahrt werden und müssen Besuche ausfallen. Trotzdem hat das Pilotprojekt mittlerweile Schule gemacht: Rund vierzig Kommunen nutzen das Angebot „BClose“. Für so manchen Senior, manche Seniorin scheint sich das Rad der Zeit ein wenig zurückzudrehen in einen Alltag, als der tägliche Plausch mit dem Brieftr ger noch der Normalfall war.

Wenn die Nacht der Demenz sich über Geist und Gemüt von Menschen senkt, beginnt der vorletzte Akt einer Tragödie, deren unausbleiblicher Höhepunkt (wie auch jedes anderen Lebens) der Tod ist. Das Publikum der ersten Reihe dieses morbiden Schauspiels sind meistens die nächsten Angehörigen, die den taumelnden Akteuren zusehen müssen, ob sie wollen oder nicht. Es ist ein Stück, in das alle Beteiligten hineingezwungen werden, auf der Bühne oder im Zuschauerraum, dem Parkett oder den Rängen. Dabei beginnt es mit harmlosen Vorzeichen, kleinen Vergesslichkeiten, die mit der Zeit notorisch werden: „Ich merk’ mir halt keine Namen!“ – „Hab’ ich heute schon meine Medikamente genommen, oder nicht?“ – „Ich sag’s dir, mein Kurzzeitgedächtnis ist schön langsam hinüber!“ Einige Akte und viele Szenen danach helfen keine komödiantischen Witzeleien mehr über das Wesen der Tragödie hinweg. Indes kann fernab der Demenzproblematik die Aussicht auf Vergessen und Vergessenwerden auch ein Trost sein, meistens für starke und gefestigte Menschen. „Ich werde ja schon gefragt, was auf meinem Grabstein stehen soll. Die Antwort ist: ‚Vergesst mich.’ Ich erhebe keinen Anspruch, die Leute auch noch nach dem Tod zu belästigen.“ Also sprach Hugo Portisch, Österreichs

:  B R I E F AU S B RÜ SS E L

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

:  F R E I B R I E F

Ausnahmejournalist, im Jahr 2017 anlässlich seines 90. Geburtstags. Mittlerweile ist er 94 Jahre alt und sieht das heute gewiss nicht viel anders. Ein wahrhaft Großer, der sich immer als normaler Journalist empfunden hat und kein barockes Aufheben von seiner Person machte. Für einen so einfachen Wunsch braucht man keine wissenschaftl chen Theorien als Grundlage, dennoch wäre da das intellektuelle „Plädoyer für das Vergessen“, das der Philosoph Rudolf Burger 2001 gehalten hat: Er richtete es gegen die Auswüchse einer seiner Meinung nach fehlgelaufenen Erinnerungskultur an die NS-Zeit, die in betuliche Pietätlosigkeit abgeglitten sei – mit fatalen Folgen: „Die Hyperkritik geht über in Hypokrisie, und von da ist es nicht mehr weit bis zum Schuldstolz und zur Lust am Tabubruch.“ Doch sollten sowohl schwelende Wunden als auch offene Rechnungen nicht zu voreilig geschlossen werden. Denn wie immer wir zum Vergessen stehen, als Krankheitssymptom oder als bewusste Willensübung, so erkannte schon der liberale Politiker und erste deutsche Bundespräsident ab 1949, Theodor Heuss: „Vergessen ist Gefahr und Gnade zugleich.“ – Spricht doch letztlich für Gedächtnisübungen – sicherheitshalber.

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

:  F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

Wissenschaft braucht die Medien. Denn es ist zwecklos, die Welt zu erforschen, ohne die Menschen über die Ergebnisse dieser Forschung zu informieren. Umgekehrt ist die Beziehung komplizierter: Wissenschaft liefert auch Nachrichten, aber nicht immer gerade solche, die für eine Berichterstattung interessant erscheinen. Medien wollen Themen mit Neuigkeitswert. Die Aufmerksamkeit folgt dabei oft konkreten Zyklen. Zuerst wird ein Thema plötzlich „heiß“. In der Folge ist es überall; auf allen Radio- und TV-Sendern, in allen Zeitungen, im Internet. Diese Phase endet irgendwann, selbst wenn es über das Thema noch zu berichten gäbe. Die mediale Aufmerksamkeit schwindet, spätestens dann, wenn ein neues „heißes“ Ding auftaucht Nur ein außerordentliches Phänomen wie eine Pandemie kann diesen Zyklus aushebeln. Dann entstehen neue Probleme: ­Alles, was nicht Teil des aktuellen Themas ist, hat wenige Chancen, die mediale Aufmerksamkeit zu erlangen. Forschungsergebnisse, die nichts mit Virologie oder Epidemiologie zu tun haben, tauchen momentan eher selten in den Nachrichten auf. Das ist schlecht, denn Krisen halten sich nicht an die Zyklen der Massenmedien. Der Klimawandel zum Beispiel macht gerade keine Pause. Er wartet nicht, bis wir das mit der Pandemie gelöst haben. Die Klimakrise wird schlimmer, in der Berichterstattung wurde dies aber zu einem Randthema. Das gilt ebenso für andere, durchaus sehr relevante Forschungsergebnisse, auch für die „irrelevanten“: Nicht alles, was die Wissenschaft herausfindet, hat direkten Einflu s auf unser Alltagsleben. Aber auch oder vielleicht gerade diese Themen wären berichtenswert. Es ist kein Wunder, dass das Ansehen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit sinkt und sich Verschwörungstheorien immer weiter ausbreiten. Wenn Forscherinnen und Forscher in den Medien nur dann prominent zu Wort kommen, wenn sie sich zu globalen Krisen äußern müssen, erzeugt das ein völlig verzerrtes Bild der Wissenschaft. Vielleicht wäre es daher nicht schlecht, wenn sie in Zukunft vermehrt nach Wegen sucht, um direkt mit den Menschen zu kommunizieren. Wissenschaft ist zu wichtig, um sie den Zyklen der medialen Aufmerksamkeit zu überlassen. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6  FALTER 13/21   H EUR EKA  1/21  :  NAC H R I C H TE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

:  B I O LO G I E

Würze hängt vom Kontostand ab Gewürzgebrauch ist unabhängig von Hitze oder Kultur SABINE EDITH BRAUN

Von A wie Amchoor bis V wie Vetiver: 33.730 Rezepte aus 70 Küchen mit 93 Gewürzen analysierte eine australische Studie. Wobei: Was gilt als Gewürz? „Wir verstehen darunter eine Zutat, die einem Gericht in relativ geringen Mengen zugesetzt wird, hauptsächlich wegen Geschmack, Farbe oder Geruch, und nicht wegen Volumen-, Ernährungs- oder pharmazeutischer Wirkungen“, erklären die Autoren um Lindell Bromham. Untersucht wurde, ob geografi che Würzmuster mit der Entwicklung der Küche als Reaktion auf Risiken lebensmittelbedingter Infektionen übereinstimmen, ob also in Ländern, in denen Essen schneller verdirbt, mehr und schärfer gewürzt wird, wobei es sich meist um heiße Länder handelt. Es stellte sich heraus, dass der Gewürzgebrauch ebenso wenig durch Hitze erklärt werden kann wie durch eine Vielfalt an Kulturen, Pflanzen und natürlich vorkommenden Gewürzen in einer Region. Zwar korrelieren Gewürzverwendung und Durchschnitts­temperatur, allerdings als indirektes Ergebnis eng verwandter Kulturen, die eben ähnliche Temperaturen und Würzmuster aufweisen. Werden die Gewürze wegen ihrer mikrobiellen Fähigkeit verwendet? Weil auch Gesundheitsergebnisse global korrelieren, wurden Variable wie die Zahl der Verkehrstoten und das Bruttoinlandsprodukt eingerechnet. Ergebnis: Der Gebrauch von Gewürzen und das Infektionsrisiko hängen von Variablen wie Armut und schlechten Gesundheitsergebnissen ab – ohne direkten Zusammenhang mit Infektionsrisiko oder antimikrobiellen Wirkstoffen

:  B OTA N I K

:  M AT H E M AT I K

Warum es für Blattzellen richtig war, im Lauf der Kreidezeit zu schrumpfen

Geometrie durch Algebra verstehen

Kleiner Blattzellen können das für Pflanzen lebenswichtige CO2 besser aufnehmen als größere Exemplare

Anton Mellit sucht neue Verbindungen zwischen diesen Bereichen

JOCHEN STADLER

USCHI SORZ

In der Kreidezeit wurden Pflanzenzellen miniaturisiert, berichten Wiener Botaniker. Damals war die CO2Konzentration in der Luft sehr niedrig, Pflanzen taten sich schwer, genügend davon aufzunehmen. Sie brauchen CO2, um es durch Photosynthese zu Zuckerstoffen (Kohlenhydrate) zu verwerten und dadurch zu wachsen. Diese Miniaturisierung machte es ihnen möglich, CO2 schneller aufzunehmen und weiterzuleiten, schreiben die Forscher im Fachjournal Proceedings B der britischen Royal Society. Ein Team um Guillaume ThérouxRancourt vom Institut für Botanik der Universität für Bodenkultur Wien inspizierte die Blätter von 86 Gefäßpflanzen. Die Forscher haben sie dem Grünzeug in Gewächshäusern, botanischen Gärten, auf Feldern und in der Natur abgezupft. Sie haben gemessen und mit Computermodellen errechnet, unter welchen Bedingungen

CO2 am raschesten transportiert wird:

Am besten funktioniert es mit vielen kleinen Zellen, erklären die Botaniker. Diese haben nämlich viel mehr Oberfläche als wenige große Zellen. An den Zelloberfl chen wird CO2 schneller weiterbefördert als durch

­ uillaume G Théroux-­ Rancourt, BOKU Wien das Zellinnere und somit wird der Transport effekti er. Die Zellen konnten aber nur schrumpfen, indem sie den Erbguttext strafften, also quasi in ihrer Bauanleitungsbibliothek ausmisteten. Eine riesige, überfüllte Bibliothek als Erbgut hätte dies unmöglich gemacht.

:  Ö KO LO G I E

Zum Weinen: Auch trockene Böden emittieren klimaschädliches Lachgas Lachgas wirkt um dreihundert Mal stärker als Kohlendioxid in der ­ tmosphäre. Der Klimawandel wird es künftig vermehrt entstehen lassen A JOCHEN STADLER

Bisher glaubte man, dass das Lachgas N2O vor allem bei Feuchtigkeit entsteht und in die Atmosphäre gelangt, wo es dreihundert Mal stärker wirkt als CO2. Bei Trockenheit hätte vor allem für Pflanzen wichtiges Nitrat entstehen sollen. Tiroler Forscher mussten jedoch mitansehen, dass auch trockene Böden viel Lachgas produzieren. Das sollte in Klimamodellen einberechnet werden, fordern sie im Fachmagazin Science Advances. Eliza Harris und Michael Bahn vom Institut für Ökologie der Universität Innsbruck haben mit Kollegen und Kolleginnen auf der Kaserstattalm im Stubaital Bodenblöcke aus der Wiese ausgestochen und sie den klimatischen Bedingungen ausgesetzt, die dort in Zukunft herrschen werden: Extreme Trockenheit mit anschließender Nässe. „Entgegen unseren Erwartungen hat auch in sehr trockenen Böden der Abbau von Nitrat zu Lachgas und molekularem

Stickstoff durch spezielle Mikroorganismen dominiert“, so die Forschenden. Laut Lehrmeinung sollte es umgekehrt sein: Bei Trockenheit sollte vorwiegend Nitrat entstehen, das die Pflanzen in energiereiche Eiweißstoffe umwandeln, und nicht Nitrat zum

Eliza Harris, Universität Innsbruck klimaschädlichen Lachgas abgebaut werden. Dafür sind wohl Mikroorganismen mit wenig erforschten Stoff echselwegen, nämlich den sogenannten Chemo- und Codenitrifikationswegen, verantwortlich. Am stärksten waren die Emissionen bei der Wiederbefeuchtung nach extremer Trockenheit.

Der „Heureka!“-Moment ist Anton Mellit nicht unbekannt. Er kann sich einstellen, wenn er lange über ein mathematisches Problem nachgedacht hat. „Hat man endlich den richtigen Blickwinkel gefunden, kann das, was zuvor kompliziert aussah,

Anton Mellit, Universität Wien

plötzlich sehr einfach sein“, sagt der 39-jährige Ukrainer. „Oder wenn man zwei völlig unabhängige Themen auf unerwartete Weise in Beziehung setzt.“ Genau das macht Mellit im Zuge seines Projekts, für das er gerade einen hoch dotierten Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten hat. „Ich arbeite daran, Geometrie durch Algebra zu verstehen.“ Mellit ist nach Stationen wie dem Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn und dem IST Austria in Klosterneuburg Assistenzprofessor an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Als Beispiel für seinen Ansatz greift er die mathematische Untersuchung von Knoten heraus. „Hier berechne ich Zahlen, die mit Knoten verbunden sind, und verblüffe derweise stimmen sie mit Zahlen von etwas anderem überein“, erklärt er. „Man kann Listen solcher Knotenzahlen erstellen und sie mit der Liste von jemandem vergleichen, der dieselben Zahlen etwa aus der Zählung der Seiten eines komplizierten mehrdimensionalen Körpers erhalten hat.“ Dann beginne die Detektivarbeit – von „der Vermutung über viele Problemlösungsschritte bis zu einer Theorie, die das Phänomen erklären kann“. Dies sei Grundlagenforschung, aber „manchmal dringen gute Theorien in das reale Leben oder in andere Wissenschaften ein“. Etwa in die Biologie, wo sich die Knotentheorie um das Verständnis der Faltung von Proteinen drehe. Durch das Zusammenführen algebraischer und geometrischer Methoden möchte Mellit offene Probleme in der Mathematik adressieren. „Da wir in unserem Fach kein Labor brauchen, kann ich mit der Förderung meine Forschungsgruppe ausbauen“, freut sich der Mathematiker.

FOTOS: MYRIAM VAN NESTE, PRIVAT, FRANZ HOLZKNECHT, IST, EVA MARIA STRIEDER

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  1/21   FALTER 13/21  7

:  U N I V E RS I TÄT S G E S E T Z

Studienrechtliche Neuerungen der UG-Novelle Ein Überblick von B wie Beurlaubung bis S wie Sicherstellung guter wissenschaftlicher Praxis LISA KRAMMER

Das im Jahr 2002 in Kraft getretene Universitätsgesetz ist ein Bundesgesetz für alle öffentlichen österreichischen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Das Universitätsgesetz (UG) sowie das Hochschulgesetz (HG) aus dem Jahr 2005 werden gerade novelliert, um gemäß den Worten des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung „das Studium lebensnah und leistungsbezogen weiterzuentwickeln“. Im Dezember 2020 wurde der Gesetzesentwurf öffentlich vorgelegt. Im Zuge des Begutachtungsverfahrens erreichten das Parlament bis zum 15. Jänner 2021 annähernd 600 Stellungnahmen. Unterschiedliche Institutsgruppen, Studienrichtungsvertretungen, die Österreichische Hochschüler*innenschaft sowie Universitätsangehörige und Studierende sahen zunächst in der geplanten Gesetzesnovelle einen Angriff auf die Autonomie der Universitäten und eine damit einhergehende Entdemokratisierung, die Verschärfung sozialer

Ungleichheit und eine Reduzierung der Mitbestimmungsrechte aller Universitätsangehörigen. Nach entsprechender Überarbeitung des Gesetzesentwurfes passierte dieser Anfang März den Wissenschaft ausschuss des Nationalrats. Die geplante UG-Novelle soll im Herbst 2021 in Kraft treten, ihre studienrechtlichen Belange erlangen ein Jahr später ihre Wirksamkeit.

• Eine Herabsetzung von drei auf zwei Prüfungstermine pro Semester wurde verworfen, es bleibt weiterhin bei drei Prüfungsterminen.

Studienrechtliche Neuerungen In diesem Kurzüberblick werden die wichtigsten studienrechtlichen Neuerungen zusammengefasst.

• Adaptionen hinsichtlich der Beurlaubungen wurden revidiert: Universitäten und Pädagogische Hochschulen können weiterhin eigene Beurlaubungsgründe bestimmen. Beurlaubungsgründe wie beispielsweise Präsenzdienst, Schwangerschaft oder Betreuungspflichten werden um einen weiteren, neuen Grund, die „vorübergehende Beeinträchtigung“, ergänzt.

• Die Mindeststudienleistung umfasst statt der ursprünglich vorgesehenen 24 nun 16 ECTS-Punkte. Diese müssen von Studierenden, die ab dem Studienjahr 2022/23 ein neues Studium beginnen, innerhalb der ersten vier Semester absolviert werden. Wer diese Mindestleistung nicht erreicht, wird für das jeweilige Studium an der Universität bzw. an einer Pädagogischen Hochschule für zwei Jahre gesperrt.

• Die Einhaltung bzw. Sicherstellung guter wissenschaftlicher Praxis und akademischer Integrität wird als leitender Grundsatz für alle Hochschulsektoren (auch für Fachhochschulen und Privatuniversitäten verpflic tend) vereinbart. Die geplante „Verjährung“ eines Plagiats nach dreißig Jahren ab dem Zeitpunkt der Verleihung des akademischen Grades wird abgeschafft. Das Plagiieren und das

damit einhergehende unberechtigte Führen eines Titels kann die Aberkennung des akademischen Grades und eine Geldstrafe bis zu 15.000 Euro zur Folge haben. Ebenfalls verschärft werden die Strafb stimmungen für sowohl bezahltes als auch unentgeltliches Ghostwriting: Neben einer Geldstrafe drohen bei einer gewerbsmäßigen, wiederholten Begehung Freiheitsstrafen von bis zu vier Wochen. • Hinsichtlich der Berücksichtigung des Geschlechts in akademischen Titeln und Verleihungsurkunden soll bei der Eintragung des verliehenen Grades in öffentlichen Urkunden nun ein geschlechtsspezifi cher Zusatz („a“ für Mag.a, „in“ für Dr.in bzw. „x“ für Dr.x) geführt werden können. Im Zuge der Novelle wird schließlich auch die Donau-Universität Krems (für Weiterbildung) als bislang letzte öffentliche Universität in das Universitätsgesetz integriert.

:  S P I T Z E N FO RS C H U N G

:  K U N STG E S C H I C H T E

Gesicherte Zukunft für ein Institut mit internationalem Ruf

„Verschimpfungsallianzen“ heimischer Kulturjournalistik gegen die Avantgarde

Es darf weiter geforscht werden: Das IST Austria hat sein Fortbestehen ­finanziell auch für nach 2026 abgesichert.

Die avantgardistische Kunst verebbte in Österreich ab den 1920er Jahren. Eine Studie sucht nach den Gründen dafür

MONA SAIDI

SOPHIE HANAK

Der langfristige Ausbau seiner Spitzenforschung ist für das Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) durch eine Vereinbarung mit dem Bund und dem Land Niederösterreich gesichert: Am 1. März 2021 wurde von allen Beteiligten das

Thomas A. Henzinger, IST Austria entsprechende „Memorandum of Understanding“ unterzeichnet. Es legt den Grundstein für weitere Finanzierungsvereinbarungen mit dem Land Niederösterreich und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, die noch dieses Jahr beschlossen werden sollen. Derzeit ist die Finanzierung des

Instituts mit 500 Millionen Euro, die vom Land Niederösterreich investiert werden, bis 2026 fixiert. Bis dahin soll das Institut auf neunzig Forschungsgruppen anwachsen, bis zum Jahr 2036 auf hundertfünfzig. Das IST Austria ist ein multidisziplinäres Forschungsinstitut mit Promotionsrecht, das Spitzenforschung in den Bereichen Physik, Mathematik, Informatik und Biowissenschaften betreibt. Gegründet im Jahr 2006 vom Land Niederösterreich und der Bundesregierung, wurde sein Campus 2009 in Klosterneuburg eröffnet Mit acht grundlegenden Leitprinzipien werden Kernziele wie die Förderung der Wissensvermittlung sowie die Ausbildung von Spitzenforschern und -forscherinnen angestrebt. Allem voran steht die Grundlagenforschung auf Weltklasse-Niveau im Zentrum. Das Institut hat sich mittlerweile einen dementsprechenden interna­ tionalen Ruf erarbeitet.

Nach dem Ersten Weltkrieg stand in Wien die Avantgarde in der Kunst in voller Blüte. Anfang der 1920er Jahre wurde es jedoch still um diese künstlerische Bewegung, viele ihrer Protagonisten und Protagonistinnen emigrierten. Doch wie kam es dazu?

­ aximilian M ­Kaiser, ­Österreichische Akademie der Wissenschaften Maximilian Kaiser, Kunsthistoriker an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hat in einer neuen Studie untersucht, wie weit die Kunstkritiker der damaligen deutschösterreichischen Presse daran beteiligt waren. „Zuerst musste ich relevante Zeitungsartikel finden und habe in den Archiven und Tiefenspeichern der

Wiener Bibliotheken alle Mikrofilm durchforscht. „Es war eine Sisyphusarbeit, doch letztendlich fand ich 300 passende Artikel aus den Jahren 1918 bis 1926“, erzählt Kaiser. „Die Studie bezieht sich auf Künstlervereine wie die Wiener Secession, den Hagenbund, den Kinetismus und andere Künstlergruppen.“ Ziel der Studie war die Erstellung eines Diskursnetzwerkes. Eine Vorkämpferin für die Secession war etwa die Journalistin Berta Zuckerkandl, die für die Wiener Allgemeine Zeitung und das Neue Wiener Journal schrieb. Kaiser zeigt in seiner Studie, dass der nach 1924 spürbar stärker werdende Widerstand gegen die Kunst der Avantgarde sich nicht nur in den Rezensionen niederschlug, sondern auch dazu führte, dass eine Mehrheit der Kritikerschaft „Verschimpfungsallianzen“ bildete, wie es Zuckerkandl formulierte. Die damaligen Vorurteile haben sich in Österreich lange gehalten.


8  FALTER 13/21   H EUR EKA  1/21  :  NAC H R I C H TE N

:  B I L D U N G S P O L I T I K

Kein Sommer wie damals Ende Februar wurden Pläne für das Sommersemester 2021 präsentiert. Neben Prüfungen erwarten die Studierenden auch regelmäßige Corona-Tests WERNER STURMBERGER

„Wir befürchten, eine ganze Kohorte an jungen Menschen, die nicht ins Studium hineinfinden und frustriert sind, zu verlieren“, warnte Sabine Seidler, Vorsitzende der Universitätenkonferenz im Herbst des Vorjahres. Erstsemestrige hatten bislang kaum Gelegenheit, an der Universität anzukommen, einige kennen sie als physischen Ort nur vom Inskribieren. Doch auch ältere Semester leiden unter der Situation: Laut einer Onlineumfrage des Peter-Hayek-Instituts im ­Februar dieses Jahres erlebt eine Mehrheit der Befragten den virtuellen universitären Alltag trotz Verbesserungen des Lehrangebots als belastend. Linderung verspricht der Fahrplan für das Sommersemester. Covid-19Tests sollen die Möglichkeit für mehr Präsenz schaffen, damit die Hochschulen in eingeschränktem Maß wieder als physische und soziale Orte erlebbar werden. Wie beim Friseur soll nur hineindürfen, wer einen negativen Test vorweisen kann. Entwicklung und Umsetzung von Teststrategien obliegen dabei den Hochschulen. Eine Million Euro hat das Ministerium dafür vorgesehen. – Ein Betrag, den Uniko-Präsidentin ­Seidler Anfang Februar als „einen Tropfen auf dem heißen Stein“ beschrieb. Zwar fehlt im Moment noch die rechtliche Basis für solche Zutrittstests,

sie wird aber – rück­wirkend – mit der geplanten UG-Novelle geschaffen werden. Der Startschuss für Präsenzveranstaltungen soll in der zweiten Aprilwoche fallen. Bis dahin muss die Novelle den Nationalrat passiert haben. Ob die Pläne des Ministeriums umgesetzt werden können, hängt aber letztlich von der Entwicklung des Infektionsgeschehens ab. Es ist also eine Öffnung mit Fragezeichen und unter Vorbehalt. Die Öffnung der Universitäten hängt vom Infektionsgeschehen ab Eine rasche Rückkehr zum Status quo ante – dauerhafte Präsenzlehre für alle Studierenden und Massenvorlesungen – wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Für den Lehr- und Prüfungsbetrieb in diesem Sommersemester heißt das: Alles, was online machbar ist, soll virtuell stattfinden. Die eigenen vier Wände sollen nur bei „… Lehrveranstaltungen und Prüfungen, die nach fachlichen oder didaktischen Gesichtspunkten in Präsenz abgehalten werden sollten“, verlassen werden, so der Leitfaden des Ministeriums. Darunter können Laborübungen oder auch künstlerische Seminare fallen, für die die Präsenz von Lehrenden und Studierenden notwendig ist, eventuell auch Blocklehrveranstaltungen. Studierende am Beginn und am Ende ihres Studiums sollen ­dabei

bevorzugt behandelt werden: etwa in der Studieneingangs- und Orientierungsphase, aber auch bei Kursen und Seminaren für die Erstellung von Abschlussarbeiten. Mehr Augenmerk auf und Hilfe bei psychischen Belastungen Da Distance-Learning weiterhin an der Tagesordnung steht, ruft das Ministerium Fachhochschulen und Universitäten dazu auf, Prüfungen nicht auf unbestimmte Zeit zu verschieben sowie unverhältnismäßig umfangreiche Hausarbeiten und zu hohen Zeitdruck bei digitalen Prüfungen zu vermeiden. Abhilfe bei psychischen Belastungen verspricht man sich auch vom Ausbau der psychologischen Studierendenberatung. Fünfzehn zusätzliche Stellen sollen dafür sorgen, den im Vorjahr um ein Viertel gestiegenen Bedarf an Beratungen zu bewältigen. Eine generelle Verbesserung der Lernsituation erhofft man sich auch durch das Öffnen von Bibliotheken, Lesesälen und Lernzonen sowie von ungenutzten Hörsälen. Seit Ende Februar können etwa an der Universität Wien Lernzonen, Lesesäle und Computerräume nach vorheriger Anmeldung in begrenztem Ausmaß genutzt werden. Covid-19-Testungen werden zwar empfohlen, aber nicht vorgeschrieben, da dafür noch die rechtliche Handhabe

fehlt. Für das Lehrpersonal und die Studierenden in den Labors besteht ein Testangebot auf freiwilliger Basis. Im Laufe des Semesters sollen die Tests ausgeweitet werden. An eine Rückkehr zum Normalbetrieb ist aber auch für Rektor Heinz Engl von der Universität Wien nicht zu denken: „Ich glaube nicht, dass wir im Sommersemester im Audimax Lehrveranstaltungen halten können. Aber wir hoffen auf Seminare, kleinere Workshops und Interna wie Sitzungen von Berufungskommissionen.“ Nicht nur in Wien rechnet man mit einem virtuellen Sommersemester: „Die TU Graz hält für das Sommersemester 2021, der anhaltenden Pandemie geschuldet, an einem weitgehend digitalen Semester fest“, sagt Rektor Harald Kainz. Der für Studierenden und Lehrenden fordernden Situation begegne man mit technischen und pädagogischen Verbesserungen der Onlinelehre, die sehr gut angenommen werde. Die Sehnsucht nach einem Sommersemester wie damals dürfte trotzdem groß sein. Aber die Pandemie werde das Lernen an den Hochschulen verändern, meint Kainz: „Was uns bleiben wird, sind digitale Kompetenzen, die durch die Kombination von virtueller Lehre und analogen Formaten neue Dimension der Lehre ermöglichen.“

: FO RS C H U N G S FÖ R D E RU N G

Österreichische Forschungspolitik in Zeiten der Pand Die Bundesregierung schafft mit der Strategie für Forschung, Technologie und Innovation (FTI) 2030 eine neue Grundlage für die Forschungspolitik DIETER HÖNIG

Seit über einem Jahr hält die Covid-19Pandemie die Welt in Atem – mit gravierenden Folgen. „Wir erleben die einschneidendste Zäsur seit 1945. Das betrifft auch den Bereich Forschung und Entwicklung“, erklärt Ludovit Garzik, Geschäftsführer des Rats für Forschung und Technologieentwicklung. „Zwar hat die Pandemie einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, welch zentrale Bedeutung der Wissenschaft und der Forschung zukommt. Gleichzeitig aber haben Firmen infolge des ökonomischen Einbruchs begonnen, ihre F&E-Ausgaben zu senken. Zudem macht die als Folge sozialer und wirtschaftlicher Hilfsprogramme hohe Staatsverschuldung auf längere

Zeit hinaus Sparpakete notwendig, sodass auch die staatlichen F&EBudgets stark eingeschränkt werden könnten“, befürchtet Garzik. „Sollte

Ludovit ­Garzik, Rat für Forschung und Technologieentwicklung dies eintreten, drohen schwerwiegende Auswirkungen auf die Forschung selbst, aber auch auf Wirtschaft und Gesellschaft. Die Folgen wären ein eingeschränktes Wachstumspotenzial

sowie wesentlich geringere Problemlösungskapazitäten, vor allem beim Klimawandel, einer im Vergleich zur Corona-Krise noch komplexeren und fundamentaleren Herausforderung.“ Angesichts dieser Situation sei es umso positiver, dass die Bundesregierung jüngst mit der Verabschiedung ihrer FTI-Strategie 2030 eine neue strategische Grundlage für die Forschungspolitik geschaffen hat. Die darin festgelegten strategischen Zielsetzungen, die nachhaltiges Wachstum und verstärkte Resilienz des gesamten Wirtschaft systems sichern sollen, definie en gleichzeitig die drei Handlungsfelder: a) zur internationalen Spitze aufschließen und

den FTI-Standort Österreich stärken, b) auf Exzellenz fokussieren, c) auf Wissen, Talente und Fertigkeiten setzen. Der ebenfalls beschlossene FTIPakt bringe auch mehr Planungssicherheit vorerst für die Jahre 2021 bis 2023. Der Rat für Forschung und Technologieentwicklung defin ert sechs Arbeitsschwerpunkte, welche die wesentlichsten Herausforderungen für das österreichische FTI-System adressieren: Bildung: Welches Bildungssystem wird benötigt, um die Gesellschaft mit dem in Zukunft erforderlichen Wissen und den nötigen Skills und Kompetenzen auszustatten?


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  1/21   FALTER 13/21  9

:  W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN

FOTO: DERKNOPFDRUECKER.COM

Roberts ­Musils ­Texte ­jenseits des ­Mannes ohne Eigenschaften

Was bleiben wird, sind digitale Kompetenzen durch die Kombination von virtueller Lehre und analogen Formaten.

emie

Grundlagenforschung, Wettbewerbsfähigkeit: Wie können Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft optimiert und damit Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum innovativer Unternehmen gesteigert werden? Missionsorientierung von FTI: Wie können FTI-Aktivitäten mehr als bisher zur Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen, insbesondere des Klimawandels, genutzt werden?

Technologiesouveränität: Wie lässt sich sicherstellen, dass Österreich und die EU die für ihre wirtschaftl che Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftliche Wohlfahrt zentralen Technologien selbst entwickeln können? Internationalisierung: Wie kann die Internationalisierung Österreichs im Bereich F&E ausgebaut werden? „Mit der Beantwortung all dieser Fragen unterstützen wir die Umsetzung der FTI-Strategie 2030 der Bundesregierung mit dem Ziel der kontinuierlichen Verbesserung des Forschungsstandorts Österreich“, untermauert Ludovit Garzik das Vorhaben.

FOTO: KURTPINTER.COM

Hochschulen der Zukunft: Wie lässt sich das innovative Potenzial der Hochschulen steigern, und welche Rolle muss die Digitalisierung dabei spielen?

Adolf Hitlers größtes Vorbild war sein Vater Alois

Robert Musil schrieb zwischen 1890 und 1935 für Wiener, Prager und diverse deutsche Zeitschriften an die zweihundertfünfzig Theaterkritiken, Buchbesprechungen, Artikel und Essays. Neben der Arbeit am „Mann ohne Eigenschafte “ werden „unselbständige Publikationen“ ab den 1920er Jahren seltener. Die Aufsätze zu Pazifismus, Filmästhetik, zu Denkmälern oder zur Psychologie des Schreibens haben nichts von ihrem analytischen Glanz verloren. Meisterwerke wie der Essay „Kunst und Moral des Crawlens“ sollten ohnedies alljährlich wiedergelesen werden.

Wie konnte ein Kind aus den entlegensten Winkeln des Landes und ohne wirkliche Schulbildung, eigentlich ein Versager und Autodidakt, zum Diktator werden? 31 wiederentdeckte Briefe des k.k. Zollbeamten Alois Hitler waren der Anstoß für den Wirtschafts- und Sozial­historiker, einen Blick auf Kindheit und Aufwachsen des künftigen Massenmörders, der seinen Vater bis zum Exzess nachahmte, zu werfen. In Oberösterreich wurde Hitler zum Nationalisten und Antisemiten; und Linz ließ den monströsen Provinzkünstler bis zu seinem Ende nicht los.

Robert Musil, In Zeitungen und Zeitschriften III. Verlag Jung und Jung, 2021, 630 S.

Roman Sandgruber, Hitlers Vater: Wie der Sohn zum Diktator wurde, Molden Verlag, 2021, 304 S.

„Ich geh’ in kein Spital mehr. Jetzt will ich, dass du dich um mich kümmerst!“

Spannende Reisen zu den Vorfahren am Balkan

Daten und Fakten zu Thomas Bernhard, der seinem Halbbruder Peter Fabjan auftrug: „Ich geh’ in kein Spital mehr. Jetzt will ich, dass du dich um mich kümmerst!“ Dessen „Rapport“ dröselt die komplizierten Familienverhältnisse samt Vorfahren auf, Kindheitserinnerungen stehen neben Tipps vor einer London-Reise (einen Anzug kaufen, die zerbombten Stadtviertel aufsuchen), wie es zum Erwerb von Bernhards Liegenschaften kam („Denk- und Schreibkerker“), viel Namedropping, schließlich der „Lebensmensch“ Hedwig Stavianicek und die Krankengeschichte des Autors.

Die Urgroßmutter wanderte aus dem Königreich Jugoslawien ins Königreich Bulgarien aus, deren Tochter aus der Volksrepublik Jugoslawien in die Volksrepublik Bulgarien, die Mutter emigrierte nach Neuseeland, die Autorin verschlägt es nach Schottland und begibt sich nach „Die letzte Grenze“ abermals auf Spurensuche auf den Balkan: in den vergessenen Winkel Südosteuropas zwischen Nordmazedonien, Albanien und Griechenland, wo sich zwei höchst magische Orte befinden, der Ohrid- und der Prespasee, die beiden ältesten Seen Europas. Viel Mythos, viel Reportage!

Peter Fabjan, Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard, Suhrkamp Verlag, 2021, 200 S.

Kapka Kassabova, Am See – Reise zu meinen Vorfahren, Zsolnay Verlag, 2021, 416 S.


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T I T E LT H E M A DEMENZ – ES TRIFFT VOR ALLEM FRAUEN Seiten 10 bis 22 Diese Ausgabe wurde von der Fotografin Julia Rotter bebildert, die in München und Wien lebt und arbeitet. Sie dokumentierte die fortschreitende Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter über drei Jahre lang. Anfangs betreute sie die Kranke selbst, später half eine professionelle Pflegerin. In diesem Heft abgebildet sind hand­geschriebene Notizen der Mutter, die Kommunikation zwischen ihr und der Pflegerin sowie Fotos aus vergangenen Tagen, die ihrer Mutter beim Erinnern helfen sollten. Rosemarie Rotter starb im Oktober 2020 in einem Pflegeheim. www.juliarotter.de

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

50.000.000 Menschen weltweit sind von Demenz betroffen. In der Pandemie leiden je nach Wohnort 20 bis 40 % von ihnen an Einsamkeit. Bei 24 % aller Covid-assoziierten Todesfällen lag eine komorbide neurologische Erkrankung oder Demenz vor.

2/3

der Demenzkranken sind Frauen. Besonders gefährdet sind jene mit wenigen fruchtbaren Jahren: Wer mit 16 (oder später) die erste Periode bekommt, hat ein um 23 % höheres Risiko, an Demenz zu erkranken; wer vor 47 (oder früher) in die Menopause kommt, ein um 20 % höheres Risiko als der Durchschnitt.

336 Seiten

140.000 Menschen in Österreich leiden an Demenz, das entspricht etwa der Einwohnerzahl der Wiener Bezirke Hietzing und Brigittenau oder der Gesamtzahl aller 50-Jährigen in Österreich.

45.321.893 $ spielte der Film „Still Alice“ (2015, UK) weltweit ein: 41,6 Millionen an den Kinokassen, 3,7 Millionen als Video. Julianne Moore (Oscar für beste Hauptdarstellerin) spielt eine Linguistin, die mit 50 an Alzheimer erkrankt. Die Romanvorlage der Neurowissenschafteri Lisa Genova erschien 2007.

Seiten stark ist „Small World“ (1997), der erste Teil von Martin Suters „neurologischer Trilogie“. Den an Demenz leidenden Konrad, 60, plagen Erinnerungen. Er besucht den reichen Kindheitsfreund Thomas. Dessen Mutter will verhindern, dass die Vergangenheit ans Licht kommt.

80 %

der Demenzkranken in Österreich werden zu Hause versorgt, meist von Frauen. Laut Pfl getelefon des Sozialministeriums bestand bei 2.276 privaten Pfl gepersonen in 2.219 Fällen ein Verwandtschaftsverhältnis zu den Gepfl gten. Von 1.782 weiblichen Pfl genden waren 807 Töchter, 301 Ehefrauen, 165 Mütter, 117 Schwiegertöchter und 96 Lebensgefährtinnen.

1906

75 Millionen

wurde Alzheimer zuerst beschrieben. Acht typische Symptome, von „Störungen der Sprache“ bis „schwankende Gefühlslage“, sind definie t. Bei Früherkennung lässt sich in 50 % der Fälle der Ausbruch um bis zu 1,5 Jahren hinauszögern. „Zehn Grundregeln für das Zusammenleben“ mit Demenzkranken empfiehlt ein harmakonzern.

Demenzkranke wird es weltweit im Jahr 2030 geben, im Jahr 2050 schon 132 Millionen, schätzt die WHO. Für 2030 bedeutet das einen weltweiten Mehrbedarf von 40 Millionen Jobs im Gesundheits- und Sozialbereich und weitere 18 Millionen im Niedriglohnbereich.


FOTO/DOKUMENTATION: JULIA ROTTER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  11

Meine Mutter und ich. Ein Urlaub in Saint Tropez, 1987. Alzheimer ist wie das Nichts aus „Die unendliche Geschichte“. Es löscht alles. Auch uns.


12  FALTER 13/21   H EUR EKA 1/21  :   T I T ELT H E M A

Ein globales Phänomen Demenz betrifft mittlerweile rund fünfzig Millionen Menschen weltweit lle drei Sekunden wird bei weltweit einem Menschen Demenz diagnostiziert. Insgesamt zählt man derzeit rund fünfzig Millionen Betroffene (das entspricht der Bevölkerungszahl Spaniens) und verleiht dem Thema globale Priorität im Gesundheitsbereich. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) formulierte in ihrem 2017 veröffentlichten „Globalen Aktionsplan für Demenz“ sieben Hauptziele, darunter die Steigerung des öffentlichen Bewusstseins für die Krankheit, eine gezielte Risikoreduktion und die Verbesserung von Diagnose, Behandlung und Pflege Leicht zu erreichen sind diese Ziele nicht: Bei einer Befragung von 70.000 Menschen in 155 Ländern im Zuge des WeltAlzheimer-Reports 2019 waren zwei Drittel der Befragten überzeugt, Demenz gehöre zum normalen Alterungsprozess, sei aber keine Krankheit. Ein Viertel glaubte nicht, man könne sein Demenzrisiko reduzieren, und 35 Prozent der Pflegenden hatten die Demenzdiagnose eines Familienmitglieds vor mindestens einer Person geheim gehalten. Nationale Demenzpläne zur Verbesserung der Situation Eine laute Stimme im Kampf um bessere Bedingungen für Betroffene und Pflegende ist Alzheimer’s Disease ­International (ADI),

TEXT & GRAFIK: SANDRA TIETSCHER

„In der Pandemie zeigen sich Verschlechterungen aufgrund sozialer Isolation“ PAOLA BARBARINO, CEO ALZHEIMER’S DISEASE INTERNATIONAL

Wer ist betroffen?

150 Mio. prognostiziert

6-8% aller über 60-Jährigen

Indonesien China Mexiko Kanada Südkorea Österreich Schweiz Südafrika

würden ihre eigene Demenz verstecken (> 60 % in Russland und Polen)

1.1 % des globalen Bruttosozialprodukts

Länder mit niedrigem/mittleren Einkommen

2030

2040

2050

Quellen: WHO, Alzheimer’s Disease International

Medizinische Kosten 19 %

Soziale Dienste 40 %

41 %

Informelle Pflege

Was sind die globalen Ziele der WHO?

50 Mio.

Länder mit hohem Einkommen 2020

glaubt, dass man Demenz nicht vorbeugen kann

> 1 Billion € pro Jahr

100 Mio.

Todesrate in der Pandemie bei Demenzkranken erhöht Die Auswirkungen der Pandemie auf ­Demenzerkrankte sind besonders groß, vor allem wegen der Assoziation beider Krankheiten mit einem erhöhten Alter. Dies spiegelt sich in den Sterberaten vieler Länder: In Italien machen Demenzerkrankte zwanzig Prozent aller mit ­Covid-19 Verstorbenen aus, in Großbritannien sind es 26 Prozent und in Australien sogar 45 Prozent. Barbarino weist auf weitere Probleme hin: „Wir sind sehr besorgt über neueste Daten, die eine Unterbrechung der Diagnosestellungen und kognitive Verschlechterungen aufgrund sozialer Isolation zeigen. Weltweit stehen soziale Dienste vor der Herausforderung, ihre Unterstützung virtuell zu liefern.“ Außer dem Fokus auf die Pandemiereaktion arbeitet ADI derzeit bereits an den nächsten globalen Alzheimer-Reporten zu den Themen Diagnose (Report 2021) und Unterstützung nach der Diagnose (Report 2022).

glauben, Demenz sei ein normaler Teil des Alterns

Was kostet es?

Im Jahr 2025...

Prognose:

Ermutigend sei auch, dass mit China, der Dominikanischen Republik, Deutschland und Island sogar während der Covid19-Pandemie einige Länder ihre Demenzpläne umsetzen konnten.

Wie steht die Weltbevölkerung dazu?

2/3 1/4 1/5

2015 50 Mio. Menschen weltweit 2050

der internationale Verband aller nationaler Alzheimer- und Demenzvereinigungen. ADI gibt den jährlichen Welt-AlzheimerReport heraus und arbeitet gemeinsam mit Regierungen an der Entwicklung nationaler Demenzpläne. Diese Pläne können je nach Land sehr unterschiedlich aussehen, haben aber das gemeinsame Ziel, die Lebensqualität von Betroffenen, Angehörigen und Pflegenden systematisch zu verbessern. Dazu sind in den Plänen Strategien beschrieben, um den Diagnoseprozess zu verbessern, oder es wird festgelegt, welche Dienste für Betroffene zugänglich sein sollten. „Es gibt eine Reihe von VorzeigeLändern, vor allem solche, die bereits einen zweiten, dritten oder sogar vierten nationalen Demenzplan entwickelt haben und dabei aus vergangenen Fehlern, aber auch voneinander gelernt haben, dazu gehören etwa Südkorea und England“, sagt Paola Barbarino, Leiterin von ADI. Gerade einkommensschwache Regionen, für die ein starker Anstieg an Demenzerkrankungen für die nächsten Jahre prognostiziert wird (siehe Infografik), haben häufig noch gar keine Pläne. „Im Moment gibt es 35 nationale Pläne, weit von dem WHO-definierten Ziel von 146 (für das Jahr 2025) entfernt. Aber wir erwarten mit Hoffnun den Start des ersten afrikanischen Subsahara-Plans in ­diesem Jahr“, so Barbarino.

...erhalten 50 % der Demenz-Erkrankten eine Diagnose ...haben 75 % aller Länder nationale Demenzpläne ...haben 100 % aller Länder funktionierende Öffentlichkeitskampagnen zum Thema Demenz

FOTO: PRIVAT

A


FOTOS UND DOKUMENTATION: JULIA ROTTER, MARION FISCHER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  13

Wir schreiben Nachrichten, die Pflegerin und ich. Halten uns auf dem Laufenden, an guten wie an schlechten Tagen.


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Macht die Pflege von Dementen dement? Biologische und soziokulturelle Gründe, warum mehr Frauen als Männer an Demenz erkranken m Jahr 2050 werden in Österreich um die 250.000 Menschen an Demenz leiden. Derzeit sind es laut Sozialministerium zwischen 115.000 und 130.000, von denen bis zu achtzig Prozent von Alzheimer betroffen sind. Fünfzehn bis zwanzig Prozent leiden an vaskulärer Demenz, beim Anteil der Lewy-Body-Demenz divergieren die Schätzungen zwischen sieben und zwanzig Prozent. Andere Formen kognitiver Beeinträchtigungen machen insgesamt weniger als zehn Prozent aus; häufig sind es Mischformen. Werden Frauen häufiger dement, weil sie älter werden? Von der Lewy-Body-Demenz abgesehen, die Männer etwas häufiger zu treffen scheint, leiden mehr Frauen als Männer an demenziellen Erkrankungen. Bei Alzheimer ist die Diskrepanz besonders krass: Zwei Drittel der Kranken sind weiblich. Während in der Altersgruppe der 65- bis 79-Jährigen noch eine relativ ausgeglichene Häufigkeit zwischen den Geschlechtern herrscht, verschieben sich in der Gruppe der 85- bis 89-Jährigen die Relationen deutlich zu Ungunsten der Frauen: 8,8 Prozent Männer, aber 14,2 Prozent Frauen sind betroffen. Die Rate der Neuerkrankungen pro Jahr ist bei Frauen mit 4,15 Prozent fast doppelt so hoch wie bei Männern (2,42 Prozent). Diese Zahlen, dem heute noch immer als maßgeblich erachteten „Österreichischen Demenzbericht 2014“ entnommen, legen einen engen Zusammenhang zwischen Alter und Demenz nahe. Da Frauen älter werden als Männer, trifft sie auch die Demenz stärker, so die verführerisch einfache Schlussfolgerung. Unbestritten gilt das Alter als größter Risikofaktor für Demenz, seine Gewichtung wird auf siebzig Prozent eingeschätzt. Dennoch gibt es Fachleute, die es nicht als naturgegebenes Schicksal hinnehmen wollen, dass Frauen demenzgefährdeter sind als Männer. So eindeutig seien die Antworten der Wissenschaft dazu nicht, gibt Stefanie Auer, Leiterin des Zentrums für Demenzstudien an der Donau-Universität Krems, zu bedenken: „Einige Untersuchungen in Europa haben eine höhere Prävalenz für Frauen aufgezeigt, doch eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse über 22 Studien, die weltweit durchgeführt wurden, wies keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen aus. Eines der größten Probleme scheint zu sein, dass viele vor allem ältere Studien Geschlechtsunterschiede gar nicht betrachten. Wir können nicht Medizin für alle machen, wir müssen geschlechtsspezifi che Bedingungen anschauen.“ Auer fordert, die Perspektiven, aus denen eine mögliche Demenzprädisposition von Frauen abgeleitet werden kann, zu erweitern. Dafür sei es notwendig, zwischen „Sex“ und „Gender“, das heißt zwischen biologischen und soziokulturellen Voraussetzungen zu differenzieren – einerseits also die körperliche Verfassung der Frauen

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Wir können nicht Medizin für alle machen, wir müssen geschlechtsspezifische Bedingungen anschauen.“ STEFANIE AUER, DONAU-UNIVERSITÄT KREMS

Gerald Gatterer, Psychologe, Wiener Neudorf

Andreas Winkler, Klinik Pirawarth

insbesondere vor, während und nach der Menopause genau zu beobachten, andererseits aber auch anerzogene Nachteile wie Bildungsferne, Bewegungsarmut und einseitige Belastungen in Rechnung zu ziehen. Auch Andreas Winkler, Facharzt für Neurologie, Geriatrie und ärztlicher Direktor der Klinik Pirawarth, legt auf die Unterscheidung zwischen natürlichen und sozialisierten Ursachen Wert. Als biologische Risikofaktoren nennt er genetische Dispositionen durch das Allel Apolipoprotein E4, die sich möglicherweise ebenso wie auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bluthochdruck, erhöhte Blutfette, Diabetes) bei Frauen ungünstiger auswirken als bei Männern, sowie eine Unterversorgung des Gehirns mit Östrogenen: „Es ist seit Langem bekannt, dass Östrogene einen protektiven Effekt auf das Gehirn ausüben und neuronale Stoff echseländerungen möglicherweise nach dem Wegfall der Schutzfunktion nach der Menopause das Auft eten einer Alzheimerschen Erkrankung begünstigen.“ Allerdings schränkt er ein: „Das Zusammenspiel zwischen Hormonen und Nervenzellen in unterschiedlichen Gehirnregionen wird bis heute nur schlecht verstanden. Jedenfalls gibt es keine klaren Daten, die darauf hinweisen, dass eine Hormonersatztherapie als therapeutischer Ansatz Eingang in die Behandlungsrichtlinie gefunden hätte.“ Zu wenig Hilfe für demenzkranke Personen in Heimen Eine systemische Gefahrenquelle lauert in den Pflegeheimen, die aus demografi chen Gründen mehrheitlich von Frauen bewohnt werden: Laut einer von der Donau-Universität Krems gemeinsam mit der Prager KarlsUniversität 2018 durchgeführten epidemiologischen Untersuchung herrschen in österreichischen Heimen massive Diskrepanzen zwischen den in den Krankenakten dokumentierten Demenzzahlen und den Ergebnissen der Untersuchungen, die das Studienteam durchgeführt hatten: Während die Akten nur bei knapp 59 Prozent eine Demenzbetroffenheit auswiesen, ermittelten die Forschenden eine Rate von 85 Prozent. „Diese Diskrepanzen sind alarmierend, weil das bedeutet, dass Personen nicht die medizinische Versorgung bekommen, die sie benötigen, etwa ein Antidementivum“, warnt Auer. „Dafür sind nicht die Pfleg kräfte verantwortlich zu machen, die Politik hat verabsäumt, Strukturen zu schaffen in die Pflicht zu rufen.“ Inwieweit psychische Faktoren zur Bildung oder Beschleunigung einer Demenz beitragen, ist nur rudimentär erforscht. „Als ursächliche psychische Faktoren sind nur Depression und mangelnde Aktivität in allen Bereichen gesichert. Es werden auch persönlichkeitsspezifi che Ursachen diskutiert wie etwa hohe Leistungsorientiertheit mit geringem Erfolg, diese Ergebnisse sind

jedoch nur retrospektiv und nicht gesichert“, erklärt der Psychologe und Psychotherapeut Gerald Gatterer. Ob Verdrängung im Sinne eines „gnädigen Vergessens“ eine Demenz fördert, „entzieht sich“, so Auer, „der Forschung sehr vehement“. Bei den soziokulturellen Risikofaktoren spielen Rollenbilder, die Frauen Aufgaben aufbü den und Möglichkeiten verwehren, eine entscheidende Rolle. „Wir alle wissen, dass auch heute noch die soziale Rolle der Frau in der Gesellschaft keineswegs als zufriedenstellend betrachtet werden kann; möglicherweise sind Nachteile in der Biografie mit Einbußen im Bereich der kognitiven Reserve verknüpft , sagt Andreas Winkler. In den heutigen Demenzstatistiken spiegelt sich ein soziales Gefüge, das Frauen, in Europa stärker als in den USA, beim Zugang zu Bildung benachteiligt hat. Bildung ist von besonderer Bedeutung, da geistige Stimulation und lebenslanges Lernen als wichtige Abwehr von Demenz gelten. „Ein aktuelles Modell der kognitiven Reserve geht davon aus, dass Menschen während ihres Lebens ihre geistige Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit über die Lebensspanne hinweg aufbauen, um gleichsam wieder den Muskel trainieren können“, erklärt Winkler. „Wesentliche Einflu sfaktoren, um hier eine starke und belastungsfähige kognitive Reserve zu entwickeln, sind das soziale Umfeld, die schulische Ausbildung, kognitive Aktivität, das Erlernen von Sprachen und ein hohes Ausmaß an sozialer Interaktion.“ Stefanie Auer, unter deren Leitung eine österreichische Demenz-Präventionsstudie an der Donau-Universität Krems geplant ist, hält es für gut möglich, dass (lebens)langes Lernen schwerwiegende Symptome kompensieren kann. Frauen erledigen meist die Pflegearbeit – zu ihrem Nachteil Während sich die Bildungschancen im Westen angeglichen haben, sind an einem anderen neuralgischen Punkt alte Rollenmuster noch immer in Kraft: Frauen tragen beruflich wie auch familiär mit überwältigender Mehrheit die Last der Pfleg arbeit – sehr zu ihrem Nachteil, wie Auer darlegt: „Es gibt zahlreiche gute Studien, die zeigen, dass die Betreuung und Pflege wesentlich zu einem Risiko, selbst an Demenz zu erkranken, beiträgt. Die Belastungen in Zusammenhang mit der Pflege sind enorm, und es wird nicht mit Angeboten zur Entlastung entsprechend gegengesteuert.“ Hier brauche es viel mehr Forschung, aber auch einen Bewusstseinswandel seitens der Frauen selbst, die sich vom trügerischen Ideal der „Pflege bis zur Selbstaufgabe“ lösen müssten. „Frauen haben diesen selbstzerstörerischen Impetus ,Ich muss die Mutter oder die Schwiegermutter pflegen! und ignorieren, wann sie selbst nicht mehr können. Wir als Gesellschaft müssen lernen, sie solidarisch zu unterstützen!“

FOTOS: PRIVAT, KLINIK PIRAWARTH

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FOTO UND DOKUMENTATION: JULIA ROTTER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  15

Du warst viel länger krank, als ich es gewusst habe. Hätte ich deine Kalendereinträge gelesen, wäre mir vielleicht klar geworden, dass wir uns nicht streiten, weil du so verrückt bist, sondern weil du krank bist.


16  FALTER 13/21   H EUR EKA 1/21  :   T I T ELT H E M A

Ein gutes Leben trotz Demenz Die Psychologin Stefanie Auer und der Neurologe Atbin Djamshidian-Tehrani im Interview ie Psychologin Stefanie Auer ist stellvertretende Dekanin der Fakultät für Gesundheit und Medizin der Donau-Universität Krems und leitet den transdisziplinären Studiengang „Demenzstudien“.

TEXT: AUTOR AUTOR

Frau Auer, arbeiten die Studierenden während des Studiums auch mit Kranken? Stefanie Auer: Viele der Studierenden haben langjährige Erfahrungen mit Menschen mit Demenz. Leider verfügen wir derzeit noch nicht über eine praktische Lehrumgebung, das wäre natürlich optimal. Seit Jahren plädiere ich schon für die Errichtung von Lehrpflegeheimen Welche Erkenntnisse über Demenzforschung vermitteln Sie Ihren Studierenden? Auer: Die Forschungstätigkeit hat international an Fahrt aufgenommen. Leider besteht eine riesige Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis. Wesentliche Erkenntnisse erreichen die Praxis nicht oder mit großer Verzögerung, zum Leid der Betroffene und deren Angehörigen. Also ist einer unserer zentralen Punkte, Studierenden den Wissenszugang zu eröffnen. Ein wichtiges Element ist die diffe enzierte Betrachtungsweise des Krankheitsbildes Demenz, einer Erkrankung, die sich über viele Jahre hinweg entwickelt. Die Bedürfnisse einer betroffenen Person am Anfang der Erkrankung sind grundlegend verschiedenen von jenen am Ende der Erkrankung. Am Anfang beschäftigt sich eine betroffene Person damit, ob das Vergessen, das sie bemerkt, noch normal ist, oder ob man bereits einen Spezialisten aufsuchen sollte. Dadurch können sich Depressionen als Reaktion entwickeln. Dann erfolgt die Diagnose, deren Verarbeitung genauso kompliziert ist wie bei einer Krebsdiagnose. Am Ende der Erkrankung kommen ganz andere Bedürfnisse ins Spiel. Auch die begleitenden Angehörigen sind ein wichtiger Teil, auch deren Bedürfnisse verändern sich in den verschiedenen Phasen der Erkrankung. All dies ist Inhalt des Diskurses mit unseren Studierenden. Sie lernen, ihr Expertenwissen aus der Praxis mithilfe der Evidenz aus der internationalen Literatur zur reflektie en und gelangen so zu einer diffe enzierteren Betrachtungsweise. In Österreich brauchen wir dringend Forschungsumgebungen. Die Absolventen und Absolventinnen gehen zurück in ihre Arbeitsfelder im Krankenhaus, im Pflegeheim, in der Schule oder in therapeutischen Einrichtungen, bereiten dort diese Forschungsumgebungen vor und verbreiten das Verständnis für die Notwendigkeit von wissenschaftlichen Studien. Welche Diagnose- und Behandlungsformen gibt es derzeit? Auer: Das Wissen über die biologischen Grundlagen der Erkrankung und über bessere Diagnoseerstellung hat zugenommen. Leider hinkt die Praxis der Theorie noch

Lebenslanges Lernen kann sich sehr positiv auf unsere Gehirngesundheit auswirken STEFANIE AUER, DONAU-UNIVERSITÄT KREMS

weit hinterher: So bekommen in Österreich und weltweit nur wenige Personen mit Demenz eine medizinische Diagnose, etwa zwanzig bis dreißig Prozent. Begründet wird dies mit einer fehlenden medizinischen Therapie – eine nihilistische Sichtweise: Wozu eine medizinische Diagnose, wenn es keine Heilung gibt. Aber es gibt sehr viele nicht-pharmakologische Therapieformen, die ein gutes Leben trotz Demenz ermöglichen. Wie sieht es mit der Prävention aus? Wirkt Weiterbildung wirklich präventiv? Auer: Wir kennen heute Risikofaktoren, die behandelbar sind. ­Demenzprävention ist auch Risikoreduktion über die Optimierung des Lebensstils. Bisher sind sieben potenziell behandelbare Risikofaktoren beschrieben: Kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht; psychosoziale Risikofaktoren wie Depression; Risikofaktoren in Zusammenhang mit dem Lebensstil, also wenig körperliche Bewegung, geistige Inaktivität und Rauchen. Diese Risikofaktoren sind gemäß den Studien für ungefähr die Hälfte aller weltweiten Fälle von Alzheimer verantwortlich. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich lebenslanges Lernen sehr positiv auf unsere Gehirngesundheit auswirken kann. Gibt es aktuell Forschungsprojekte in den Bereichen Therapie und Prävention? Auer: Wir starten gerade ein Forschungsprojekt, bei dem wir ein Studienprotokoll ähnlich der großen „Finnish Geriatric Intervention Study“ von 2015 entwickeln. Bis jetzt ist die sogenannte „Finger“-Studie die erste positive Studie zu Bewegung, Ernährung, geistige Stimulation und Kontrolle der medizinischen Parameter wie Bluthochdruck, Diabetes, oder Depressionen. Die meisten anderen ähnlichen Studien konnten die Ergebnisse der Finger-Studie jedoch nicht replizieren. Einigkeit besteht darüber, dass die Methoden- und Präventionsstrategien an verschiedene kulturelle Settings angepasst werden müssen.

Der Neurologe Atbin Djamshidian-Tehrani leitet die Gedächtnisambulanz an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck.

Atbin DjamshidianTehrani, MedUni Innsbruck

Herr Djamshidian-Tehrani, wie viele Patienten betreuen Sie? Atbin Djamshidian-Tehrani: Etwa 600, rund dreißig Prozent weniger als vor Beginn der Corona-Pandemie. Sechzig bis siebzig Prozent haben eine Alzheimerdemenz. Viele kommen in der Sorge, an Demenz erkrankt zu sein, ein Teil hat bereits ein ,mildes kognitives Defizit‘, also eine Vorstufe erreicht. Fünfzehn bis zwanzig Prozent leiden an vaskulärer Demenz, bedingt durch Mikrodurchblutungsstörungen im Gehirn, etwa durch Bluthochdruck und Diabetes.

Was hat sich in den letzten zwanzig Jahren in der Inzidenz von Demenzfällen verschoben? Djamshidian-Tehrani: Absolut gesehen steigt die Anzahl der Patienten und Patientinnen mit Demenz, was aber auch am Älterwerden der Menschen insgesamt liegt. Neuerkrankungen bei Achtzigjährigen wurden in den letzten zwanzig Jahren sogar weniger. Heute gibt es mehr Achtzigjährige, die geistig fitter sind als vor zwanzig Jahren. Wie erstellen Sie die Diagnose? Djamshidian-Tehrani: Zuerst machen wir eine genaue Anamnese hinsichtlich der Symptomatik und untersuchen organisch und neurologisch. Wir untersuchen Laborparameter und machen kognitive Tests, fragen aber auch nach Risikofaktoren wie einer auffälligen Familiengeschichte, nach riskanten Sportarten, nach der regelmäßigen Medikamenteneinnahme. Schmerztabletten, Schlafmittel und manche Antidepressiva können temporäre Gedächtnisstörungen hervorrufen. Wenn klinisch ein Demenzverdacht auftritt, schauen wir uns die Strukturen und Aktivität des Gehirns mittels Magnetresonanz und PositionenEmissions-Tomografie- ntersuchung an. Manchmal machen wir auch eine Lumbalpunktion. Das Wichtigste ist zunächst, Patienten und Angehörige genau aufzuklären, denn ein großes Problem bei Alzheimer ist auch die mangelnde Einsicht der Patienten. Da geht es auch um eine Veränderung des Lebensstils. Wenn erst eine ,milde kognitive Störung‘ vorliegt, kann man das zu vierzig Prozent positiv beeinflu sen. An Medikamenten geben wir Acetylcholinesterasehemmer mit dem Ziel, den Verlauf der Erkrankung zu verlangsamen. Unter Umständen ist eine Therapie zur Verbesserung des Schlafes oder der Stimmung notwendig. Von großer Bedeutung ist die körperliche und soziale Versorgung der Betroffenen daher führen wir auf Wunsch auch Sozialberatungen für Betroffene durch. Wir bieten auch kognitives Training an, sofern es sinnvoll ist. Gibt es auch so etwas wie eine normale Altersvergesslichkeit? Djamshidian-Tehrani: Natürlich, aber die bedarf keiner Therapie. Haben sich in den letzten Jahren die Therapieformen verbessert? Djamshidian-Tehrani: Es gibt neue Ansätze bei Frühformen von Alzheimer, die das Ausbreiten von toxischen Eiweißen verhindern sollen. Da gibt es vielversprechende Studien und ein Medikament namens Aducanumab, das knapp vor der Zulassung steht. Ziel ist eine Verzögerung der Symptomatik über das derzeitige Zeitlevel hinaus, das wäre schon ein großer Erfolg. Aber es wird viel geforscht und es wird sich in den nächsten Jahren einiges tun in Richtung Antikörper-Therapeutika, da bin ich sicher.

FOTOS: MIRJAM REITHER, MARTIN VANDORY

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FOTO UND DOKUMENTATION: JULIA ROTTER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  17

Fotowand in der Wohnung meiner Mutter. Manchmal erinnert sie sich an mich. Manchmal erinnert sie sich an meinen Vater. Auch wenn sie meint, es wäre unser Vater. Nie erinnert sie sich an sich selbst. „Wer ist diese Frau?“, fragt sie dann. „Sie ist sehr schön.“


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Ein Dorf zum Vergessen E

in- und zweistöckige Häuschen mit Klinkerfassade reihen sich aneinander, bilden Höfe und Durchgänge. Es gibt einen Park mit einem Weiher, ein Café, ein Restaurant, einen Supermarkt, einen Friseursalon und ein Theater. Was auf den ersten Blick wie ein modernes Dorf in den Niederlanden wirkt, unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Es hat lediglich einen einzigen, zentralen Ein- und Ausgang, durch den man die abgeschlossene Anlage betreten oder verlassen kann. Verlaufen kann sich in diesem Dorf niemand „De Hogeweyk“ im niederländischen Weesp, etwa zwanzig Kilometer von Amsterdam entfernt, ist ein sogenanntes „Demenzdorf “. Ganz bewusst wurde die 2008 eröffnete Anlage als Wohnviertel entworfen, in dem sich die Bewohner frei bewegen können. Verirren kann man sich nicht: Alle Wege führen früher oder später zum Ausgangspunkt zurück. In den verklinkerten Reihenhäusern leben in 23 Wohneinheiten jeweils sechs bis acht Menschen zusammen, pro Gruppe helfen ein bis zwei fixe Bezugspersonen bei der Bewältigung des Alltags. Jede und jeder lebt in einem eigenen Zimmer, die Küche und das offene Wohnzimmer sind Gemeinschaftsbe eiche. Die einzelnen Wohneinheiten sind zu Themenbereichen eingerichtet, die unterschiedlichen Lebensstilen entsprechen. Ob „städtisch“, „häuslich“, „handwerklich“, „gehoben“, „kulturell“, „christlich“ oder „indisch“, die Ausrichtung nach den sieben Lebensstilen soll dazu beitragen, sich heimisch zu fühlen. Teresa Millner-Kurzbauer, die bei der Volkshilfe Österreich das Projekt „Demenzhilfe Österreich“ und den Fachbereich Pfl ge und Betreuung leitet, hat die Anlage besichtigt: „Das Areal ist hell und offen und wirkt sehr groß, die Atmosphäre war angenehm“, erzählt sie. „Ich hatte den Eindruck, dass sich die Menschen dort wohlfühlen, sie sind unterwegs, treffen einander, gehen einkaufen.“ Der Dorf-Supermarkt ist auf seine Kundschaft eingestellt: Wer nicht bezahlen kann, wird trotzdem bedient, denn abgerechnet wird intern. Sind Pflegeeinrichtungen wie „De Hogeweyk“ ein gutes Konzept? Die Bewohnerschaft von „De Hogeweyk“ befindet sich generell in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit. So kann es bei jedem von ihnen jederzeit zu Ausfällen kommen und zum Beispiel plötzlich nicht mehr wissen, wo sie sich befinden. „Da war es einfach großartig zu sehen, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner frei bewegen können“, sagt Millner-Kurzbauer. Nur etwa die Hälfte der 15.000 Quadratmeter umfassenden Anlage ist bebaut, der Rest besteht aus Freiflächen. „Einzig der zentrale Zugang zum Areal ist versperrt. Das fällt aber eigentlich überhaupt nicht auf.“

TEXT: CLAUDIA STIEGLECKER

„Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden von Frauen betreut“ PETER DAL-BIANCO, ÖSTERREICHISCHE ALZHEIMERGESELLSCHAFT

Raphael ­Schönborn, Verein PROMENZ

Teresa Millner­ Kurzbauer, Volkshilfe Österreich

In „De Hogeweyk“ kümmern sich rund 240 Angestellte und mehr als 180 Ehrenamtliche um das Wohl der Bewohner. Außerdem finden im Dorf immer wieder Veranstaltungen wie etwa Theateraufführungen statt, die auch von auswärtigen Personen besucht werden. „Als wir vor Ort waren, hat am Abend eine Band gespielt und die Menschen kamen zusammen“, so MillnerKurzbauer. „Ich halte Pfleg einrichtungen wie ‚De Hogeweyk‘ für ein gutes Konzept.“ Ein Konzept, das inzwischen auch außerhalb der Niederlande Nachahmer gefunden hat. In Deutschland, Dänemark, Frankreich und Italien sind Einrichtungen mit eigens geschaffenen Lebensräumen für Menschen mit Demenz entstanden. Ein Konzept, das für Österreich undenkbar sei, wie Raphael Schönborn, Geschäft führer des Vereins PROMENZ, betont: „Die Österreichische Demenzstrategie, die 2015 entwickelt wurde, hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, Selbstbestimmung und gesellschaft iche Teilhabe der Betroff nen zu gewährleisten. Ganz im Gegensatz zum Konzept der Demenzdörfer, das die Menschen von der Gesellschaft absondert.“ PROMENZ ist eine Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Vergesslichkeit – der Begriff „Demenz“, der wörtlich übersetzt „ohne Geist“ bedeutet, wird bewusst nicht verwendet. „Betroffen defini ren sich eher und besser über den Ausdruck ‚Vergesslichkeit‘, die Bezeichnung ‚Demenz‘ wird stigmatisierend erlebt“, sagt Schönborn, der sich intensiv mit der Krankheit aus der Innenperspektive auseinandergesetzt hat. So hat er etwa im Rahmen einer Studie zahlreiche Interviews mit Betroffenen zur subjektiven Demenzwahrnehmung und -bewältigung geführt. „Die Menschen sind sich ihrer Orientierungsprobleme, ihrer Vergesslichkeit oder ihrer langsameren Deutungsfähigkeit natürlich bewusst. Sie wollen aber nicht darauf reduziert werden, sondern weiter teilhaben und ernst genommen werden. Gegen ihre Defizite können sie nichts tun, daher wünschen sie sich eine Konzentration auf das, was möglich ist.“ Obwohl Aktionen und Entscheidungen von Demenzbetroffenen manchmal nicht rational zu sein scheinen, macht eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Person diese oft verständlich, meint Schönborn: „Dann versteht man auch das Bedürfnis, dem die Handlung gefolgt ist.“ Betroffene seien zur Selbsthilfe fähig, sagt Raphael Schönborn, brauchen dabei aber Hilfe und Unterstützung. „Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, dass diese Personen nicht verlorengehen, sondern inkludiert leben und teilhaben können.“ Orte wie „De Hogeweyk“ stehen für ihn im Widerspruch zu diesem Inklusionsgedanken: „Die Menschen werden getäuscht. Hier wird eine Scheinwelt geschaffen, auf die sich das ganze Dasein reduziert.“

Achtzig Prozent bleiben in Österreich in ihrer gewohnten Umgebung Ein Großteil der Betroffenen möchte selbstbestimmt zu Hause leben, bestätigt auch Teresa Millner-Kurzbauer. Tatsächlich werden achtzig Prozent der Pflegeb dürftige in Österreich in ihrer gewohnten Umgebung betreut: „Die erste Person, die dabei die Pflege übernimmt, bleibt normalerweise bis zum Schluss.“ Meistens ist das die Frau oder der Partner des Menschen mit Demenz. „Was hier geleistet wird, kann man gar nicht genug wertschätzen“, betont Millner-Kurzbauer. „Zwei Drittel der Pflegeb dürftige werden von Frauen betreut, ein Drittel von Männern“, konkretisiert der Neurologe und Psychiater Peter Dal-Bianco, Präsident der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft. Häufig sei es die Partnerin, die Tochter oder die Enkelin, die pflegt: „Die Begriffe ‚Menschlichkeit‘ und ‚Betreuung‘ werden in unserer Kultur immer noch mit Frauen verknüpft, von der Kinder- bis zur Altenbetreuung.“ Besonders fordernd wird die Pflege dann, wenn zum kognitiven Verfall Verhaltensveränderungen hinzukommen. Unvorhersehbares oder gar aggressives Verhalten und das Gefühl, eine „fremde Person“ im Haus zu haben, kosten Kraft und ziehen oftmals Überforderung nach sich. „Der Weg ins Heim führt in den meisten Fällen über Verhaltensstörungen“, konstatiert Dal-Bianco. Dort übernehmen Ärzte und Pfleg kräfte die Betreuung, die an den jeweiligen Zustand der Patientin oder des Patienten angepasst ist. „Ein Pflegeheim ist das letzte Angebot, das es gibt“, so Millner-Kurzbauer, „obwohl das österreichische auf diesem Gebiet durchaus gut ist“. Oft gebe es in den Einrichtungen aber nur eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten – nicht vergleichbar mit dem Raum, den „De Hogeweyk“ bieten kann: „Trotz aller ethischen Bedenken zeigt das Konzept in meinen Augen eine gute Alternative.“ Aus Sicht von Raphael Schönborn gibt es keine Argumente, die für Pfleg einrichtungen nach dem niederländischen Vorbild sprechen: „Es besteht die Gefahr, dass hier Strukturen geschaffen werden, die durch Absonderung Menschen stigmatisieren und diskriminieren.“ Er wünscht sich hingegen eine Stärkung der ­Position von unterstützenden und begleitenden Selbsthilfeorganisationen. Auch Peter Dal-Bianco hält prinzipiell die Trennung der Demenzbetroffenen von der Gesellschaft für bedenklich: „Dadurch fallen viele Aspekte des Lebens einfach weg.“ Allerdings müsse eine Wohnform nicht notwendigerweise zum gesellschaftlichen Ausschluss führen: „Die nötige Grundhaltung ist entscheidend. Demenzbetroff ne brauchen Wertschätzung, wir sollten nicht über sie sprechen, sondern mit ihnen.“

FOTOS: PRIVAT, PROMENZ/DRAGAN DOK, VOLKSHILFE/THOMAS BLAZINA

„De Hogeweyk“ ist ein besonderes Dorf in den Niederlanden: Hier wohnen nur demente Menschen


FOTO UND DOKUMENTATION: JULIA ROTTER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  19

Notiz aus ihrer Wohnung. Ich frage mich, ob sie es geahnt hat oder ob die Krankheit schneller war als ihr Bewusstsein.


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:  VO N A B I S Z

:  F R E I H A N D B I B L I OT H E K

Demenz: Das Glossar

BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA VON EMILY WALTON

JOCHEN STADLER

Aktivität  Körperliche, geistige und soziale Aktivitäten senken das Risiko für kognitiven Abbau durch Demenz-Erkrankungen. Alzheimer, Alois  Deutscher Psychiater, der 1906 bei einer Fachtagung zum ersten Mal das Krankheitsbild der später nach ihm benannten neurodegenerativen Gehirnerkrankung vorstellte. Alzheimer-Krankheit  Mit 60 bis 70 Prozent der Fälle ist Morbus Alzheimer die häufi ste Form der Demenz und in Österreich die dritthäufig te Todesursache. Beta-Amyloid  Eiweißstoff, der sich im Gehirn von Alzheimer-Kranken außerhalb der Zellen in schädlichen Plaques ansammelt. Betreuung  Die meisten Menschen mit Demenzerkrankung werden zu Hause betreut, nur 15 Prozent in Heimen. Creutzfeldt-Jakob-Krankheit  Seltene,  tödliche Gehirnerkrankung, bei der sich veränderte Eiweißstoff (Prionen) im Gehirn vermehren und das Gewebe schwammartig auflö en. Demenz  Chronisch fortschreitende Erkrankung, bei der die „Verstandeskraft schwindet. Demenzrisiko  Nimmt mit dem Alter exponentiell zu. Ab dem 60. Lebensjahr ist rund ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen von den 80-Jährigen schon ein Viertel. Diagnose  Bei nur 20 bis 30 Prozent der Betroffenen wird die Krankheit medizinisch diagnostiziert. Bei den anderen bleiben die Demenz-Erkrankungen unerkannt. Diagnosegespräch  Die wichtigste Methode, zwischen Demenz-Erkrankungen und anderen medizinischen Problemen zu unterscheiden, sind lange Gespräche mit den Betroffenen und Angehörigen sowie neuropsychiologische Tests. Erblichkeit  Etwa fünf Prozent aller Demenz-Erkrankungen sind auf Erbfaktoren zurückzuführen. Frauen  sind deutlich häufige von  Demenz betroffe als Männer. In Österreich sind zwei Drittel der Erkrankten  weiblich. Frühes Eingreifen  Umso eher man eine Demenz-Erkrankung erkennt und behandelt, umso besser kann man ihr Fortschreiten mit medikamentösen und anderen Interventionen einbremsen. Heilung  Ist bei Demenz-Erkrankungen nicht möglich. Hippocampus  Eine Gehirnregion, die für die Übertragung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurz- ins Langzeitgedächtnis und räumliches Merken verantwortlich ist. Bei Demenz als erste betroffen Lebenserwartung  Eine hohe Lebenserwartung ist der wohl größte Risikofaktor für Demenz. Demenzerkrankungen wiederum reduzieren die Lebenserwartung.

Mini-Mental-Status-Test  Diagnose­-Instrument für Demenz, bei dem ­die Patienten bzw. Patientinnen mit einfachen Fragen, etwa nach Datum und Uhrzeit, und Aufgaben wie Nachsprechen und Befolgung von Anweisungen konfrontiert werden. Danach werden ihre kognitiven Funktionen bewertet. Liegt ihre Gedächtnisleistung stark unter dem Durchschnitt, besteht Demenz-Verdacht. Misserfolge  An Medikamenten gegen die Alzheimer-Krankheit haben sich schon viele Forschende und Firmen versucht, darunter Roche, Eli ­Lilly, Astra  Zeneca, Johnson & Johnson, Merck & Co und Pfize , die schon Rückschläge verdauen mussten oder ganz aufgaben. Über hundert klinische Studien erbrachten bisher keine wirksame Therapie. Neuronale Ceroid-Lipofuszinose   Wird auch als Kinder-Alzheimer-Krankheit bezeichnet. Ist eine erbliche Stoffwechselerkrankung, bei der gesunde Nervenzellen durch Abfallstoff des Zellstoffwechsels getötet werden. Tritt meist im Alter von ein bis acht Jahren auf. Pick-Krankheit  Demenz-Form, bei der Stirn- und Schläfenlappen des Gehirns zerstört werden. Persönlichkeit und Verhalten ändern sich frappant. Risikofaktoren  Neben fortschreitendem Alter und dem Erbgut ist das Geschlecht ein persönlich nicht modifizie barer Risikofaktor: Frauen sind stärker betroffe als Männer. Das liegt nicht nur daran, dass sie im Schnitt älter werden, auch Depressionen, Diabetes, Schwerhörigkeit, Übergewicht, Bluthochdruck und Schlafstörungen erhöhen das Erkrankungsrisiko. Symptome  Symptome einer DemenzErkrankung sind Gedächtnisverlust, Unbeweglichkeit, ein langsamer, breitbeiniger Gang sowie Verhaltensstörungen wie Apathie oder Launenhaftigkeit Tau  Eiweißstoff, der sich in Gehirnzellen von Alzheimer-Kranken ansammelt. Therapie  Muss sich bei Demenz darauf beschränken, die Symptome zu bekämpfen und den Verlauf zu verzögern. Ursache  Was eine Demenz auslöst, ist unbekannt. Sicher ist aber, dass im Gehirn der Betroffenen typische neuropathologische Veränderungen stattfinden Es kommt zum Beispiel bei der Alzheimer-Krankheit zu abnormen Ablagerungen der Eiweißstoff Beta-Amyloid und Tau. Vorsorge  Ein gesunder Lebensstil mit ausgewogener Ernährung, geistiger Betätigung, ausreichend sozialen Kontakten und regelmäßiger Bewegung ist nicht nur allgemein für die Gesundheit förderlich, sondern drückt auch das Demenz-Risiko. Zukunft  Während es heutzutage in Österreich 130.000 Demenz-Erkrankte gibt, werden es laut Schätzungen im Jahr 2050 260.000 sein.

Länger leben, besser schlafen, Demenz vorbeugen – wie Frauen gesund bleiben

Die Prävention von Alzheimer als gesellschaftliche Aufgabe

Depressionen, Migräne, Schlaganfälle und auch Demenz: Frauen sind davon stärker betroffe als Männer, doch wurde bislang wenig über das weibliche Gehirn geforscht. Neurowissenschafteri und Ärztin Lisa Mosconi beleuchtet in ihrem Buch die Unterschiede zwischen dem weiblichen und männlichen Hirnstoffwechsel, räumt dabei mit überholten Theorien auf und zeigt, wie Frauen durch Ernährung, Schlaf und gezielte Stressreduktion den Erkrankungen des Gehirns vorbeugen können. Eine besondere Rolle räumt sie dabei den Hormonen ein.

Die Anthropologin ­Margaret Lock liefert eine historische Betrachtung der AlzheimerKrankheit und tiefgehende Interviews mit Forschenden und Medizinern. Ein besonderer Fokus liegt auf der Früherkennung. Hier spielen biologische Veränderungen in gesunden Menschen eine tragende Rolle,  noch bevor erste Symptome auft eten. Doch mit der Bestimmung von Biomarkern allein stößt man an Grenzen, mahnt die Autorin. Die Prävention von Alzheimer müsste umfassender sein: Forschung, Staat und Wirtschaft sollten effizient zusammenarbeiten.

Das weibliche Gehirn. Länger leben, besser schlafen, Demenz vorbeugen … Von Lisa ­Mosconi. Rowohlt Verlag, 432 S.

The Alzheimer Conundrum: Entanglements of Dementia and Aging. Von Margaret Lock. Princeton Univ. Press, 328 S.

Wie lange hast du noch? Ein neuer Ansatz zur Bewertung der Lebensdauer

Die AlzheimerEpidemie, ihre Opfer und die Folgen

Das Alter sagt nur bedingt etwas über die künftig Lebenserwartung eines Individuums aus. Die Wissenschafte Warren Sanderson und Sergei Scherbov suchen daher nach neuen Wegen: Statt darauf zu achten, wie lange eine Person bereits gelebt hat, sollte vielmehr die individuelle Lebenserwartung eines Einzelnen bzw. einer bestimmten Gruppe herangezogen werden. Zwei Menschen im selben Alter werden aufgrund der Lebensgewohnheiten, Vorerkrankungen bzw. Erkrankungen in der Familie unterschiedliche Lebenserwartungen haben.

Lange Zeit wurde die Alzheimer-Krankheit von der Gesellschaft nicht ernst genommen, nun steht die Bekämpfung dieser Erkrankung im Fokus: Etwa die Hälft aller über 85-Jährigen sind davon betroffen allein in den USA sterben jährlich 100.000 Menschen an dieser Erkrankung. Angehörige stehen vor enormen Herausforderungen. Autor David Schenk liefert mit seinem Buch ein literarisches Porträt der AlzheimerErkrankung, in dem er wichtige Erkenntnisse aus der Neurobiologie, der Psychologie wie auch der Kunstgeschichte gekonnt zusammenwebt.

A New Vision of Population Aging. Von Warren C. Sanderson und Sergei Scherbov. Harvard University Press, 272 S.

The Forgetting: Alzheimer’s, Portrait of an Epidemic. Von David Shenk. Anchor, 304 S.


FOTO UND DOKUMENTATION: JULIA ROTTER

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Ostfriedhof München. Ich verabschiede mich schon seit drei Jahren von dir. Jeden Tag etwas mehr. Hier ist unser letzter Abschied. Ich hoffe, du hast eine gute Reise.


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Resilient wie Rosa W

ie geht es den Einzelnen im Lockdown, wie bewältigen sie die Krise? Ist ergänzend zum doppelten BabyelefantenAbstand eine Elefantenhaut nötig? Eine, die sensitiv weich und gleichzeitig widerständig ist, die einen kritische Situationen und Lagen aushalten lässt, ohne zugrunde zu gehen – ja, mit der man sogar wachsen kann. Diese Widerstandskraft wird Resilienz genannt. Sie zu praktizieren lässt sich auch von Personen lernen, die darin vorbildlich waren. Wie etwa Rosa Luxemburg. Rosa Luxemburg (1871–1919) wird von den einen vorrangig als politische Person wahrgenommen, von anderen als sensible Briefeschreiberin und romantische Naturliebhaberin. Selbst wenn es gegensätzlich erscheinen mag, für sie selbst bildete dies keinen Widerspruch. Der Philosoph Volker Caysa sieht sie als Lebenskünstlerin: „Immer sorgt sie sich darum, ihr Leben nicht nur politisch nützlich, sondern es auch ästhetisch zu gestalten. Immer geht es ihr um ein bejahenswertes, politisch sinnvolles und sinnlich-schönes Leben.“ Durch Flucht zum Universitätsstudium Dabei war ihr Leben keineswegs einfach. Sehr erfolgreich in schulischer wie wissenschaftlicher Ausbildung sowie als Journalistin, Politikerin und Dozentin an der Parteihochschule der Sozialdemokraten war sie in allen anderen Bereichen mit massiven Schwierigkeiten konfrontiert. So wollte oder konnte ihr Studienkollege, politischer Mitstreiter und Lebensgefährte Leo Jogiches mit ihrem Kinderwunsch nicht adäquat umgehen. Nach der Trennung bedrohte er sie massiv, sogar mit geladenem Revolver. In ihrem politischen Leben gab es von Beginn an Bedrohungen und Gefährdungen, auch polizeiliche Verfolgung. Als 17-jährige Maturantin musste sie im Dezember 1888, in einem Strohkarren versteckt, aus ihrer Heimat Polen über die Grenze ins Ausland fliehen. Sie machte aus der Flucht eine Zukunftsperspekti e, also aus der Not eine Tugend und verhielt sich resilient: Ihr Zufl chtsort wurde Zürich, an deren Hochschule seit 1867 als damals einzige in ganz Europa Frauen ein Universitätsstudium erlaubt war. Nach erfolgreich abgeschlossenem Studium der Staatswissenschaften ging Luxemburg 1898 nach Deutschland, um sich in der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung zu engagieren. Nach freundlicher Aufnahme in die Sozial­demokratische Partei und großen politischen und journalistischen Erfolgen wurde sie aus politischen Gründen mehrfach inhaftiert und, wieder aus dem Gefängnis heraus in Freiheit, von rechtsradikalen Kreisen mit Mordaufrufen bedroht. Sie war gezwungen, laufend ihren Wohnort zu wechseln. Wie hat sie diese Herausforderungen bewältigt? Was half ihr, die Anfeindungen und Probleme geistig-mental und seelisch

TEXT: MARGARETE MAURER

„Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein“ ROSA LUXEMBURG

Margarete Maurer

Wiener Rosa-­ LuxemburgInstitut: http://frauen.at Margarete Maurer: https://philosophische-praxis. jimdofree.com https://sites. google.com/view/ naechte-derphilosophinnen/ nächte-derphilosophinnen/ audiovisuell

zu überleben – bis zu ihrer dann doch erfolgten Ermordung im Jänner 1919? Rosa Luxemburg las sehr viel und schrieb zahlreiche Briefe an ihr wichtige Menschen. In besonders kritischen Lebenslagen holte sie aus ihrem Gedächtnis eine Art „innerer Bilder“ hervor, insbesondere aus Begegnungen mit der Natur. So schrieb sie zum Beispiel mitten im Ersten Weltkrieg aus dem Gefängnis heraus, nachdem sie nicht wie geplant zum Urlaub in die Schweiz reisen konnte, am 8. März 1917 an den von ihr sehr verehrten und geliebten Arzt Hans Diefenbach über den Genfer See: „Wissen Sie noch, welche Überraschung man erlebt, wenn man nach der öden Strecke Bern–Lausanne und nach einem furchtbar langen Tunnel plötzlich über der großen blauen Tafel des Sees schwebt? Jedes Mal flattert mir das Herz auf wie ein Falter. Und dann die herrliche Strecke von Lausanne nach Clarens, mit den winzigen Statiönchen alle 20 Minuten, tief unten am Wasser ein Häuflein kleiner Häuser um ein weißes Kirchlein gruppiert. ... Und der blaue Wasserspiegel ändert immerzu seine Fläche zum Bahngeleise, bald steht er aufwärts schräg, bald abfallend, und darauf kriechen unten wie ins Wasser gefallene Maikäfer die kleinen Dampfer, eine lange Schleppe weißen Schaums nach sich ziehend. Und das jenseitige Ufer – die weiße schroffe Bergwand unten meist in blauem Dunst verhüllt, so dass nur die oberen Schneepartien so unwirklich im Himmel schweben. … Wie Balsam gießt sich dort die Luft und Ruhe und Heiterkeit jedesmal in meine Seele.“ Volker Caysa analysiert dies so: „Das Existenzial der Heiterkeit ist für Rosa Luxemburg Bedingung der Möglichkeit, um mit den existenziellen Sorgen fertig zu werden, um sich zu beruhigen, um die Angst vor den Bedrohungen des Lebens bewältigen zu können, um handeln zu können in einer lebensbedrohlichen Situation, um von der Lähmung zum Handeln übergehen zu können. Es hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun, sondern mit Souveränität gegenüber dem Schicksal [...]. Gerade durch gelassene Heiterkeit liefert sie sich nicht dem Schicksal aus, sondern versucht es in den Griff zu bekommen … mit Ruhe, Überblick, Geduld und Entschiedenheit im rechten Augenblick.“ Wie kommt ein Mensch durch, wenn die Welt zusammenbricht? Was, wenn diese Strategie nicht zum Erfolg führt? Wie meisterte Rosa Luxemburg Phasen der Depression, zum Beispiel, als die Sozialdemokraten im Deutschen Reichstag 2014 den Kriegskrediten zustimmten? Sie hatte vehement gegen diese Genehmigung gekämpft, um dadurch den Krieg zu verhindern. In dieser aus ihrer Sicht verzweiflungsvollen Weltlage mussten ihre Freunde, Freundinnen, Mitstreiter und Mitstreiterinnen sie sogar von Selbstmordgedanken abhalten. Letztlich jedoch half ihr ihre eigene

resiliente Lebensphilosophie. Das belegt ein zentrales Zitat aus einem Brief an ihre Mitarbeiterin Mathilde Wurm vom 28. Dezember 1916: „Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja, heiter trotz alledem und alledem, denn das Heulen ist Geschäft der Schwäche. Mensch sein heißt, sein ganzes Leben ,auf des Schicksals große Waage’ freudig hinwerfen, wenn’s sein muß, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke freuen ... Die Welt ist so schön bei allem Graus.“ So heroisch, dass wir freudig „unser Leben dem Schicksal hinwerfen“, sind wir heute wahrscheinlich nicht mehr, aber die Akzeptanz dessen, was ist, stellt in Sachen Resilienz einen wichtigen Faktor dar. „Heulen“, weniger abwertend als „Weinen“ aufgefasst, bewerten wir heute eher als Stärke, wenn es zum Durchleben der Lage und dann zum Handeln führt. Das wienerische „granteln“ würde zu Luxemburgs Verdikt allerdings passen. Was können wir aus der Lebenspraxis Luxemburgs entnehmen, wenn wir Krisenzeiten durchstehen wollen? Sie habe keine „Rezepte“, meinte Luxemburg, aber Anregungen gibt sie allemal. Besinnung auf sich selbst und, bezogen auf die Rahmenbedingungen, auf die „Welt“, ist gefordert: Worum geht es mir eigentlich? Welche Beziehungen stärken mich? Wer braucht meine Hilfe? Woran habe ich mich früher erfreut und lässt sich dies reaktivieren? Wie kann ich meine Rahmenbedingungen so beeinflu sen, dass auch nach der Krise Lebenssinn realisiert wird und Freude möglich ist wie auch ein neuerlicher Aufbruch gegen erschwerende Umstände? Rosa Luxemburg war eine leidenschaftliche, immer ganz der Sache hingegebene Politikerin, Rednerin, Journalistin, Briefeschreiberin und Wissenschafterin. Sie zeichnete recht gut und malte Landschaft bilder, die vielfach unbekannt geblieben sind. Sie war, lässt sich sagen, eine große Liebende: der Natur, der Welt, der Menschen. Aus der modernen Hirnforschung wissen wir: Denken funktioniert ohne Emotion nicht, ich persönlich sage: Leidenschaft. Was heute als „Präsenz“ bezeichnet wird und zu Resilienz gehört, hat Rosa Luxemburg gelebt. Sie nahm kritische Phasen und Herausforderungen an, benannte sie und begegnete ihnen mit Kreativität auf allen Ebenen. Können wir Vergleichbares in uns entwickeln? Charlotte Beradt (Hg.): Rosa Luxemburg im Gefängnis. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915–1918, S. Fischer Verlag Volker Caysa: Rosa Luxemburg, die ­Philosophin. Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 13, Leipzig, 2017 Ernst Piper: Rosa Luxemburg. Ein Leben, Blessing Verlag, 2018. Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Band 5, Berlin 1984, zitiert nach Caysa 2017, a.a.O., und Piper 2018, a.a.O.

FOTOS: ROSA LUXEMBURG PORTRÄTAUSSCHNITT/ABDRUCKGENEHMIGUNG DIETZ VERLAG 2018, ROMAN HEINZINGER

Was wir in Krisenzeiten aus dem Leben von Rosa Luxemburg lernen können


Z U G U TE R L E T Z T   :   H EU R E KA  1/21   FALTER 13/21  23

:  G E D I C H T

ERICH KLEIN

B E VÖ L K E RU N G S AU STAU S C H

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Brauer. Beuys Stephan Eibel wurde 1953 in Eisenerz in der Steiermark geboren und lebt seit 1979 als freier Schrift teller in Wien. Bisher erschienen: Sofort verhaften (Roman, 2008), Licht aus! (Lyrik, 2012), unter einem himmel (2016), breaking poems (2018).

bevölkerungsaustausch die deutschen ziehen nach südafrika die südafrikaner in den iran die iraner nach jamaika die jamaikaner nach italien die italiener nach australien die australier nach ägypten

die ägypter nach grönland die grönländer nach südkorea die südkoreaner nach mexiko die mexikaner in die türkei die türken in den abgrund und wohin ziehen viele österreicher? in die vergangenheit

AUS: STEPHAN EIBEL: DECKE WEG. GEDICHTE. LIMBUS 2021, 96 S.

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT) :  B I G P I C T U R E AU S B U DA P E ST

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HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit dem

Kunst (woraus sie entsteht und wohin sie sich bewegt) ist nicht einfach. Auch ein Urteil darüber nicht. Der kürzlich verstorbene Wiener Maler Arik Brauer und der deutsche Künstler Joseph Beuys, er wäre heuer hundert Jahre alt geworden, trafen vermutlich aufeinander, doch abgesehen davon, dass ihnen fast zur selben Zeit eine Professur an den Wiener Kunsthochschulen angeboten wurde, Beuys 1979 an der Angewandten, die er nicht annahm, Brauer einige Jahre später an der Akademie, was wie späte Wiedergutmachung wirkt, verband sie wenig. Ganz im Gegenteil. Beide begannen nach dem Zweiten Weltkrieg als Künstler. Beuys studierte Monumentalplastik, propagierte danach einen „erweiterten Kunstbegriff “, lehrte in Düsseldorf und erreichte in den 1970er Jahren seinen Zenit: Kunst als Brand „Made in Germany“. Arik Brauer studierte an der Akademie in Wien, begab sich danach auf Wanderjahre, wurde mit seinen Liedern eine Art AustroPopper und mit seiner Malerei den Phantastischen Realisten zugeordnet und leitete eine Meisterklasse in Wien. Der eine hielt von den Werken des anderen wohl kaum etwas. Gemeinsam war ihnen das Engagement in Sachen Umweltschutz: Beuys ließ anlässlich der Ausstellung documenta 7 7.000 Eichen in Kassel pflanzen, Brauer beteiligte sich mit seinem Freund Friedensreich Hundertwasser an der Rettung der Hainburger Au. Politik war beiden ein Aktionsfeld, mehr oder weniger spektakuläre Gesten ersetzten die Analyse. So diskutierte Beuys in seinen Lehrveranstaltungen das damalige Tabuthema der Wiedervereinigung Deutschlands, bangte um den deutschen Wald und starb vor dem Fall der Berliner Mauer. Arik Brauer gerierte sich nicht gerade als Freund der Palästinenser, er nannte sie „Araber“, und bezeichnete das Denkmal von Rachel Whiteread für die Holocaustopfer am Wiener Judenplatz als ein „Denkmal für den Erfinder der Betonmischmaschine“. Am Ende bleibt ein weiterer Unterschied: Josef Beuys verschwieg sein frühes Nazitum und erfand den Mythos seiner Rettung bei einem Flugzeugabsturz durch Fett und Filz und Krimtataren. Brauer vergaß seine Verfolgung durch Nazis und Österreicher nicht, relativierte sie aber auf eigentümliche Weise: Wäre er nicht Jude gewesen, hätte auch er ein Nazi werden können. Dafür dankte ihm das offizielle Österreich selbstgefällig. Anlass, um über diesen Satz und sich selbst nachzudenken, sah es keinen.


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