HEUREKA 2/20

Page 1

HEUREKA #22020 Endstation Steppe? Wetterextreme verändern Österreich

FOTO: KARIN WASNER

Österreichische Post AG, WZ 02Z033405 W, Falter Zeitschriften GesmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Dürre trotz Starkregens Österreichs Wetterlage wird zum Doppel aus mehr Starkregenperioden und mehr Hitze Seite 12

Viel zu trocken für Wein? Der Klimawandel stellt den Weinbau in Österreich vor enorme Herausforderungen Seite 16

Russlands Steppe verdorrt Dem fruchtbarsten Gebiet Russlands drohen Verwüstung und Brandkatastrophen Seite 18


GUT FÜR DICH UND MICH Wi e Bi o d i versi t ät u nsere Ges undheit förder t u nd wel che p osi ti ven Folgen s ie für uns ere Umwel t hat . 112 Seiten, €16,90

fal tersho p. at | 0 1/5 3 6 60 -9 2 8 | In Ihrer B uchhand lu ng

GESU NDE VIEL FA LT


IN TRO D U K TIO N  :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:   E D I TO R I A L

Stadtzukunft Der grüne Sommerofen Wien heizt noch bis 2050  Seite 8

Wien gilt als grünste Stadt der Welt. Trotzdem bringt sie mit ihrer Hitze im Sommer Menschen, Tiere und Pflanzen um

Kopf im Bild  Seite 4 Stefan Dullinger vom Department für Botanik und Biodi­versitätsforschung der Universität Wien

Massiver Regenguss und trotzdem Dürre  Seite 12

Österreichs Wetterlage wird zum Doppelspiel aus mehr Starkregenperioden und mehr Hitze

Viel zu trocken für Wein?  Seite 16

Leben auf trockenem Boden  Seite 14 Bodenmikroorganismen überstehen Durststrecken, doch ihre Artenvielfalt ist bedroht

:   FÖ R D E RG E L D E R F Ü R W I SS E N S C H A F T L E R I N N E N

Der Klimawandel stellt den Weinbau in Österreich vor enorme Herausforderungen

Glossar und Bücher zum Thema  Seite 20 FOTOS: KARIN WASNER

Weitere Informationen zum Thema Versteppung

Mehr Wasser für den Neusiedler See  Seite 8 Maßnahmen, die gegen die Austrockung des Neusiedler Sees unternommen werden

Fische und Bäume stehen unter Druck  Seite 22 Folgen des Klimawandels für unsere Gewässer und Wälder

Was ist eine Stadt? Verdiente ­Architekten und Stadtplaner haben darauf eine schöne Antwort. Leider kümmert sich der Klimawandel nicht darum. Ihm ist Schönheit egal, er funktioniert einfach Wettergeschehen um und macht aus einer schönen Stadt eine ­Agglomeration, die zu bestimmten Zeiten kaum mehr bewohnbar ist. Noch scheinen unsere Architekten und Stadtplaner dem traditionellen Motto des heimischen Fußballs zu folgen: In Schönheit sterben. Die nächste Generation aber, wenn sie denn diesem Motto nicht folgen will, wird unter einer Stadt etwas ganz anderes verstehen müssen.

Die russische Steppe verdorrt  Seite 18 Dem fruchtbarsten Gebiet Russlands drohen Verwüstung und Brandkatastrophen

Der Edith-Saurer-Fonds fördert hervorragende Forschungsprojekte promovierter WissenschafterInnen, die sich in ihren Arbeiten Fragen sozialer Ungleichheit in einem breiten Zusammenhang unter den Aspekten von Geschlecht, Klasse und Kultur widmen. Besondere Berücksichtigung finden dabei jene Arbeiten, die Europa von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert behandeln und komparative, transnationale Ansätze verfolgen. Details zu den Förderkriterien: www.edithsaurerfonds.at/home Eine Bewerbung ist vom 1. Juli bis zum 30. September 2020 möglich.

:   G A ST KO M M E N TA R

Was eine Stadt im Klimawandel leisten muss

FOTO: FOTO WILKE

THOMAS KNOLL

Große Teile der europäischen Bevölkerung leben in Städten, deren Klima sich durch höhere Temperaturen, geringere Durchschnittsniederschläge und häufigere Starkregenereignisse verändert. Diese Klimaveränderung verschärft besonders die bereits vorhandenen sozialen Gegensätze in den Städten. Reiche Bevölkerungsgruppen können sich selbst in viel heißeren Ländern behaglich einrichten – mit Klimaanlage und bewässerten Gärten lebt es sich überall gut. In dichten und ärmeren Wohnquartieren hat die Erhöhung der Temperaturen deutlich drastischere Folgen, die in kleinen Wohnungen schlechter ausgeglichen werden können. Abgesehen von ökologischen Nachteilen erhöhen Klimaanlagen die Betriebskosten. Ärmere Menschen, darunter besonders Kinder, haben weniger Wahlmöglich-

keiten zur Gestaltung ihrer Freizeit und sind gezwungen, ihre Ferien zu Hause zu verbringen. Die Klimaveränderung ist also zu allererst eine soziale Herausforderung. Sie verschärft die Aufgabe der Stadtplanung, gerade in dichten Stadtquartieren die Grünraumqualität deutlich zu erhöhen und für Grünraumgerechtigkeit zu sorgen. Grünräume können als natürliche Klimaanlage Abkühlung in der Stadt bewirken. Darum geht es um die Erhaltung von möglichst vielen

Thomas Knoll, Landschaftsplaner, www. knollconsult.at

Großgrünräumen und Parks, ihre günstige Verteilung über die Stadt und ein Netz von Freiräumen, die sie untereinander verbindet, um ihre positiven Effekte nahe zum jeweiligen Wohnort zu bringen. Beim Wohnbau gilt es, die Begrünung aller Oberflächen wie Dächer, Fassaden und Freiräume zu nutzen, um Abkühlung auch für die Wohnungen zu erzielen. Eine geschickte Anordnung der Grundrisse (Querlüftung) in begrünte Innenhöfe und Atrien bewirkt Abkühlung direkt in den Wohnungen. Sie wird durch die Verdunstungskälte der Pflanzen und ihrer Beschattungseffekte erzielt. Verdunstung ist jedoch nur möglich, wenn gerade im Sommer eine gute Wasserversorgung gesichert ist. Dies ermöglicht das Schwammstadtprinzip: Möglichst viel Wasser auch bei Starkregen im

Boden der Stadt zu halten, um als Grundlage für die Verdunstungskälte im Sommer zur Verfügung zu stehen. Durch solche Planungsprinzipien werden die beiden Hauptfragen der Klimaveränderung nachhaltig beantwortet. Zu Klima und Wasser kommen Ernährung und Biodiversität als Funktionen der zukünftigen Stadt hinzu. Auch Erholung soll möglichst nahe am Wohnort möglich sein. Mit dem Umweltverbund entstehen Synergien zwischen dem nicht motorisierten Verkehr und dem Freiraumnetz in Form von Rad- und Fußwegen als Alleen und lineare Grünräume. Eine klimagerechte Stadt ist eine sozial gerechte Stadt und achtet besonders auf jene Menschen, die nicht so viel Spielraum haben, um auf die Folgen der Klimaveränderung selbst zu reagieren.


4 FALTER28/20  H EUR EKA  2/20  :   P ERSÖNLIC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

WILDNIS Die Berge empfinde er in unserer industrialisierten und rationalisierten Kulturlandschaft als Reste von Wildnis, sagt Stefan Dullinger vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien. Sie sind auch seine Forschungsumgebung: Der Ökologe untersucht die Auswirkungen des Klimawandels auf Gebirgspflanzen. Dafür hat er einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten. „Die Erderwärmung könnte die kältegeprägten Ökosysteme oberhalb der Waldgrenze besonders hart treffen. Der ERC-Grant ist eine Chance herauszufinden, wie groß dieses Risiko tatsächlich ist.“ Noch sei unklar, ob die Hochlagen im Klimawandel für die dort lebenden Pflanzen eine Sackgasse sind, oder ob ihnen deren mikroklimatische Vielfalt Ausweichmöglichkeiten bietet. „Angesichts der globalen Biodiversitätskrise würde ich gerne zum Bewusstsein für die Verletzlichkeit dieser Ökosysteme und ihrer Arten sowie zu mehr Wissen darüber beitragen.“

TEXT: USCHI SORZ FOTO: KARIN WASNER

:   J U N G FO RS C H E R I N N E N   USCHI SORZ

Mit dem DOC-Programm fördert die Österreichische Akademie der Wissenschaften hochqualifizierte Doktorandinnen und Doktoranden aus allen Gebieten der Forschung Krista Gert, 28 Für ihre Doktorarbeit beschäftigt sich die Amerikanerin am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien mit der Befruchtung. „Obwohl man diesen ­Vorgang für bekannt hält, verstehen wir immer noch nicht, wie er auf molekularer Ebene funktioniert“, sagt sie. „Bis heute ist unklar, wie Eizelle und Spermium verschmelzen und was dann genau zwischen ihnen passiert.“ Als Modellorganismus nimmt die Forscherin Fische unter die Lupe und arbeitet an einem Molekül namens Bouncer auf der Oberfläche von deren Eizelle. „Insbesondere versuche ich herauszufinden, ob es eine Blockade bildet, die eine Befruchtung durch Spermien einer fremden Fischart verhindert.“ Sie hoffe, dass ihre Erkenntnisse künftig zur Fortpflanzungsbiologie beitragen und damit auch vom Aussterben bedrohten Arten helfen könne.

Korbinian Grünwald, 34 Der gebürtige Bayer beschäftigt sich mit der Wirtschaftsund Sozialgeschichte des Spätmittelalters und der ­Frühen Neuzeit. „Dabei überschreitet mein wissenschaftlicher Fokus gezielt Epochengrenzen und ist auf Interdisziplinarität ausgelegt“, sagt er. In den letzten Jahren liegt sein Augenmerk außerdem auf der Erstellung und Auswertung von Datenbanken. Grünwalds Doktoratsprojekt an der Universität Wien kreist um die Strategien der Wiener Bevölkerung zu Ausbau und Festigung ihrer Stellung im sozialen Gefüge der Stadt um die Mitte des 15. Jahrhunderts. „Das war eine Zeit eskalierender Habsburger Erbfolgekonflikte mit darauffolgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen.“ Als Grundlage zieht er die Informationen aus städtischen und klösterlichen Grundbüchern sowie erzählende und urkundliche Quellen heran.

FOTOS: PRIVAT

Michael Feichtinger, 29 Arzt wollte er keinesfalls werden, aber physiologische Prozesse haben ihn interessiert. Darum studierte der Oberösterreicher Biologie und machte den Master in Molekularbiologie. Jetzt ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Max Perutz Laboratories der Universität Wien. Ungeordnete Proteine haben ihn früh fasziniert. „Sie sind konzeptuell und experimentell schwer fassbar.“ Für seine Dissertation arbeitet er nun an der Beschreibung von geordneten Strukturen in ­diesen ungeordneten Proteinen. Zu ihrer Charakterisierung nutzt er die Kernspinresonanzspektroskopie. „Sie sind maßgeblich bei vielen Krankheiten, ich konzentriere mich vor allem auf ein Protein, das bei Krebserkrankungen eine zentrale Rolle spielt.“ Parallel ergründet er im Philosophie-Masterstudium die Mechanismen der Wissensproduktion.


KO M M E N TA R E  :   H EU R E KA 2/20   FALTER 28/20  5

EMILY WALTON

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Grüne Stadt

Verdeppung?

Wissen schafft

Zunehmende Trockenheit in Europa wäre aus Brüsseler Sicht gar nicht die schlechteste aller Veränderungen, schließlich gehört der Regen hier so zum Alltag wie der Geruch von Waffeln und Frittenfett. Doch tatsächlich eignet sich Brüssel als anschauliches Beispiel für einen Aspekt, der mit dem Klimawandel, steigender Trockenheit und drohender Versteppung in weiten Teilen Mittel- und Südeuropas zusammenhängt. Wie wichtig es nämlich ist, das Grün zu erhalten und die fortschreitende Bodenversiegelung zu stoppen. In Brüssel lässt sich das recht einfach und recht unwissenschaftlich nachempfinden. Schauplatz eins: Das EuropaViertel, zu großen Teilen eine recht unansehnliche Betonwüste. Im Sommer, wenn es heiß wird, ist es zwischen den Botschaften, Kommissions- und Parlamentsgebäuden ziemlich unerträglich, wenn man nicht gerade auf halbem Weg zwischen Kommission und Parlament im Parc Leopold im Schatten eines Baumes sitzt. Schauplatz zwei: Irgendwo im grünen Gürtel rund um Brüssel. Was im (europäischen) Herzen der Stadt unmöglich scheint, ist am Ende der Buslinien, die im Eurokraten- oder im Touristenviertel losfahren und sich durch das Grau in die Außenbezirke schlängeln, Realität: Wälder über Wälder, Wander- und Spazierwege, die einen die Hitze der Stadt rasch vergessen lassen. Die Wälder und Wege zeigen das „wahre“ Brüssel, denn so ist der Großteil der Stadt: grün. Wer es nicht glaubt, möge sich auf Satellitenbildern überzeugen oder noch besser auf der Promenade Verte. Der „grüne Spaziergang“ ist ein gut sechzig Kilometer langer Rundweg um die Stadt, der durch einige der vielen Brüsseler Parks und Wälder führt. Er ist, dem Namen entsprechend, tatsächlich ziemlich grün (ja, ich bin die ganze Länge gegangen; nein, nicht in einem Stück). Und ziemlich schön und in ein paar klitzekleinen Teilstücken auch ziemlich belgisch: Etwa dort, wo der sonst wirklich wunderschöne Spazierweg dann ausgerechnet an der Rückseite eines IKEA-Standortes verläuft. Wüsste man es nicht besser, könnte man wirklich fast glauben, der Streckenverlauf sei absichtlich am Hinterausgang und Müll­lager vorbei gewählt – quasi als Warnung, was passiert, wenn grün zu grau wird.

Dehydration ist eine schlimme Sache und vor allem für alte Menschen eine Gefahr. Sagt man doch von ihnen, dass sie austrocknen, weil sie zu wenig trinken, also buchstäblich versteppen. Bei anderen Menschen dagegen liegt der Verdacht der Verdeppung näher. Jesusmarxundmaria, schon wieder so eine morbide Philippika vom alten Kulturpessimisten, höre ich meine speziellen Fans in ihren Kammern jammern. Aber nicht doch! Ich bin, im Gegenteil, wirklich hoffnungsfroh für die Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft. Kommende Kollegen dieser Disziplinen werden sich allein bei der Betrachtung des Frühsommers 2020 in Wien schieflachen. Worüber? Nun, wer da nicht aller die Abenteuer seiner jüngsten Vergangenheit vergessen hat und seinen braven Laptop verleugnet, ehe der Ausschuss dreimal kräht, umrahmt von allgemeiner Amnesie sonstiger, regierender Personen mit und ohne Mundschutz! Oder jene organisierten Favoritner Passantengruppen in vizebürgermeisterlicher Gesellschaft, die sich plötzlich vor Erdogans Wölfen von jenen Bullen beschützen lassen wollen, die sie noch wenige Tage zuvor lauthals zur Hölle wünschten. Liebe Chronisten jederlei Geschlechts: Schnell aufschreiben, damit dieser politische Zwergengarten nicht in Vergessenheit gerät!

:  B R I E F AU S B RÜ SS E L

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

: FREIBRIEF

Längerfristig auswirken werden sich wohl die Denkmalsturz- und Umbenennungsgelüste. Sie haben neben mancher Bezirksprominenz auch beamtete akademische Fachkräfte gepackt. Freilich sehe selbst ich ein, dass es einiger Korrekturen im Stadtbild bedarf und plädiere in der Leopoldstadt für die „Große Ohrengasse“ samt Kurz-Parkzone. Die böse „Kärntner- (voll fascho!) Straße“ muss natürlich auch weg. Gemeinsam mit der befriedeten Rotenturmstraße könnte man sie zum „Hebein-Figl-Boulevard“ aufwerten samt einem Denkmal der Unbekannten Sperrstunde in der seitwärts abgehenden Annagasse. Vielleicht fallen uns ja auch noch Sackgassen oder Einbahnstraßen ein, die sich trefflich nach ­Heroinen und Heroen der jüngeren Zeitgeschichte benamsen lassen; selbst für den einen oder anderen Trampelpfad ließen sich sicher personenbezogene Bezeichnungen finden. In den ausgelagerten Couloirs des Rathauses rauchen wahrscheinlich schon die kreativen Köpfe. Viel dabei trinken, weil … eh schon wissen! Nur eine lasst bitte in Ruhe: die Haidingergasse auf der Landstraße! Fiele sie weg, würde nichts mehr an einen der bedeutendsten Geologen des 19. Jahrhunderts erinnern und eine haidingerfreie Zone entstehen, an der nicht einmal dem provinziellsten Bildungsfunktionär gelegen sein kann.

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

:   F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

„Wenn Virologen alle paar Tage ihre Meinung ändern, müssen wir in der Politik dagegenhalten.“ Das hat Armin Laschet gesagt, der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Er offenbart damit ein grundlegendes Missverständnis der Wissenschaft, das er mit vielen Menschen teilt. Wissenschaft hat kein Problem damit, ihre Meinung zu ändern. Ganz im Gegenteil! Nur weil sie dazu in der Lage ist, kann sie leisten, was sie zu leisten imstande ist. In der Politik gilt es als positiv und besonders „standhaft“, wenn man an einer einmal getroffenen Aussage festhält. Wer seine Meinung ändert, gilt als wankelmütig und schwach. Wissenschaft funktioniert so nicht. Sie ist der Versuch, durch Beobachtung und Experiment ein immer besseres Verständnis der Welt zu erlangen. „Wissenschaft ist immer nur der aktuelle Stand des Irrtums“, wie es der deutsche Arzt Eckart von Hirschhausen ausgedrückt hat. Die aktuelle Forschung zum SARS-CoV-2-Virus ist von besonderer Dringlichkeit und steht daher massiv im Blickfeld von Öffentlichkeit und Politik. Jeden Tag gibt es neue Erkenntnisse. Was aber auch heißt: Jeden Tag weiß man mehr als am Tag zuvor. Würden die Virologen also nicht „alle paar Tage ihre Meinung ändern“, hieße das, man hat nichts Neues entdeckt. Oder, dass man die neuen Erkenntnisse ignoriert. Ersteres ist unwahrscheinlich, Letzteres unwissenschaftlich. Politik muss keine Wissenschaft betreiben. Aber sie sollte wissen, was die Wissenschaft herausgefunden hat, wenn sie informierte Entscheidungen treffen will. Was auch bedeutet wissen zu müssen, wie Wissenschaft zu ihren Erkenntnissen kommt. Natürlich wäre es einfacher für uns alle, wenn Forscherinnen und Forscher unumstößliche Wahrheiten verkünden, die nicht mehr hinterfragt werden müssen. Tatsächlich lernen wir jeden Tag dazu und müssen unsere Sicht der Dinge an das neue Wissen anpassen. Wer an Dogmen interessiert ist, die sich über Jahrhunderte hinweg nicht ändern, muss in die Kirche gehen. Die Wissenschaft hat nur den aktuellsten Stand des Irrtums zu bieten. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6 FALTER  28/20  H EUR EKA  2/20  :  NAC H R I C HTE N

:   B I OW I SS E N S C H A F T E N

:   M AT H E M AT I K

Die lange Geschichte vom höheren Leben in den Alpen

Ins Körperinnere schauen

Schon vor dreitausend Jahren wurden Almen in den Alpen mit Vieh bewirtschaftet

Peter Elbau möchte verborgene Strukturen sichtbar machen

JOCHEN STADLER

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

: MEDIZIN

Harmlos oder doch nicht: Muttermale Künstliche Intelligenz liefert ­sicherere Diagnose bei Hautkrebs DIETER HÖNIG

Wir Österreicher sind Vorsorgemuffel, speziell, was unsere Haut angeht. Nicht einmal jeder Zweite war beim jährlich empfohlenen Hautcheck. Vor allem bei schwarzem Hautkrebs, dem Melanom, kann die Früherkennung lebenswichtig sein. Sie ist seit Kurzem dank eines Bodyscansystems noch verlässlicher: Das innovative Diagnosegerät lässt in Sekundenschnelle auch kleinste Veränderungen auf der Haut sichtbar werden. „Speziell bei Personen mit vielen sogenannten Muttermalen ist das mit freiem Auge und dem herkömmlichen Handdermatoskop nicht wirklich verlässlich möglich“, sagt der Vorarlberger Hautarzt Gerald Rehor über die Vorteile des neuen Systems. Einen bedeutenden Patientenvorteil sieht der Dermatologe, der den neuen Ganzkörperscanner bereits in seiner Kassenpraxis in Liechtenstein einsetzt, auch in der präzisen und somit verlässlichen Verlaufskontrolle: „Der Dermoscan X2 zeigt automatisch

Gerald Rehor, Dermatologe an, ob und wo seit der letzten Untersuchung Muttermale hinzugekommen sind und ob sie sich verändert haben.“ Dabei vergleicht das Gerät die klinischen Aufnahmen der letzten Untersuchung mit den aktuellen Bildern. „Das kann Patienten so manche, letztlich unnötige Entfernung von Hautgewebe ersparen.“

USCHI SORZ

Tief am Grund von Bergseen liegen Hinweise auf eine frühe Almnutzung in Österreich. Salzburger Forscher untersuchten jahrtausendealtes Pflanzenerbgut in Sedimentbohrkernen aus Alpenseen. Damit konnten sie die Anfänge der Almwirtschaft rekonstruieren. Sie fanden heraus, dass in der Umgebung des Krummschnabelsees auf knapp 2.000 Metern Seehöhe beim Radstätter Tauernpass schon in der Bronzezeit Weidewirtschaft betrieben wurde. Im Rahmen eines Projekts norwegischer Forscher um Inger Greve Alsos und Scarlett Zetter vom Arctic University Museum of Norway gewann ein Team um Andreas Tribsch vom Fachbereich Biowissenschaften der Universität Salzburg Bohrkerne aus den Böden von österreichischen Alpenseen, darunter besagter Krummschnabelsee. Die Forscher entnahmen Sedimentproben und sequenzierten darin enthaltenes

Erbgut (Sediment-DNA). „Es stammt von Pflanzen, die einst rund um den See wuchsen“, sagt Tribsch. Beim Krummschnabelsee könne man aus Vegetationsänderungen die menschlichen Aktivitäten rundherum rekonstruieren: In 3.500 bis 3.000 Jahre

Andreas Tribsch, Universität Salzburg alten Schichten kommen, verglichen mit älteren Schichten, viele für beweidete Almen charakteristische Pflanzen wie der Weiße Germer vor. „Die Giftpflanze ist ein sehr typisches Weideunkraut in den Alpen“, erklärt Tribsch. „Dass er in dieser Epoche massiv auftaucht, ist ein Hinweis auf bronzezeitliche Weidennutzung.“

:   N AC H H A LT I G K E I T S FO RS C H U N G

Wer weiß über die Fakten zum Klimawandel eigentlich wirklich Bescheid? Mangelndes Wissen und Selbstüberschätzung: Eine Studie untersuchte das Wissen der Menschen in Österreich über den Klimawandel MARTINA NOTHNAGEL

CO2 ist schädlicher für das Klima

als dieselbe Menge Methan. Richtig oder falsch? Eine Studie des Instituts für Systemwissenschaften, Innovations- und Nachhaltigkeitsforschung der Universität Graz hat im Rahmen einer Onlinebefragung

Thomas ­ rudermann, B Universität Graz untersucht, was Menschen in Österreich über den Klimawandel wissen und wie überzeugt sie von ihrem (vermeintlichen) Wissen sind. Das Ergebnis: Mangelhaftes Wissen und beträchtliche Selbstüberschätzung. „Es ging nicht darum, reines Faktenwissen abzutesten, sondern um die Kalibrierung des Wissens, also

die Einschätzung darüber, was man weiß und was nicht, zu untersuchen“, erklärt Thomas Brudermann. Er hat die Studie gemeinsam mit Annina Thaller durchgeführt. 499 Männer und Frauen aus Österreich im Alter zwischen 18 und 72 Jahren mit unterschiedlichem Bildungshintergrund haben teilgenommen. Sie sollten zehn Fragen zum Klimawandel mit „wahr“ oder „falsch“ beantworten. Gleichzeitig wurden die Befragten um eine Einschätzung gebeten, wie sicher sie sich ihrer Antworten sind. Das Fazit der Studienautoren: Vermehrte und gezielte Bildungsarbeit ist erforderlich. (Methan ist übrigens klimaschädlicher als CO2). „Rundum in der Welt müssen Maßnahmen gegen den Klimawandel getroffen werden“, sagt Brudermann: „Um diese Maßnahmen mitzutragen, brauchen Wählerinnen und Wähler einen guten Wissensstand.“

Alle zwei Jahre verleiht die Eurasian Association on Inverse Problems (EAIP) den Young Scientist Award für herausragende Forschung auf dem Teilgebiet der Mathematik, das die Vereinigung im Namen trägt: inverse Probleme. Sie sind besonders knifflig.

Peter Elbau, Universität Wien Man löst sie nicht, indem man, ausgehend von einer Ursache, die Wirkung berechnet, sondern umgekehrt: Es geht um Fragestellungen, bei denen man aus einer beobachteten oder erwünschten Wirkung Rückschlüsse auf die Ursache ableiten will. Bei der Computertomografie etwa besteht das inverse Problem darin, wie man aus Röntgenaufnahmen aus mehreren verschiedenen Richtungen ein dreidimensionales Bild des Körperinneren erzeugen kann. Elbau ist Senior Postdoc am Institut für Mathematik der Universität Wien. In seinem Projekt „Quantitative Coupled Physics Imaging“, das im interdisziplinären Spezialforschungsbereich „Tomografie auf allen Skalen“ des FWF angesiedelt ist, sucht er nach neuen mathematischen Konzepten für die dreidimensionale Bilddarstellung. Diese dringt heute in immer feinere, zuvor schwer zugängliche Bereiche vor. Interessant ist für Peter Elbau die fotoakustische Tomografie, welche die Vorteile von Ultraschallund optischer Tomografie zu vereinen versucht. „Hier betrachtet man nicht das vom Körper zurückkommende Licht, sondern die lokal unterschiedliche Erwärmung des Gewebes durch Infrarotstrahlung.“ Blut etwa werde stärker erhitzt als Fett; das Temperaturungleichgewicht äußere sich in Druckwellen. Aus dem resultierenden Ultraschallbild gelte es dann, die physikalischen Parameter zu rekonstruieren. Bevor er sich der Mathematik zuwandte, hat Elbau Physik studiert. „Ich mochte die grundlegenden Prinzipien, die Ordnung in das Chaos komplexer Zusammenhänge bringen.“ Bald sei er jedoch bei den „faszinierenden mathematischen Problemen hängen geblieben, die sich aus der Physik ergeben“.

FOTOS: ROLAND KORNER / CLOSE UP AG, STREIT, 2020/THOMAS BRUDERMANN, WWW.NEUMAYR.CC, PRIVAT

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  2/20   FALTER 28/20  7

:  P SYC H O LO G I E U N D PÄ DAG O G I K

Lernen im Lockdown: Lehrende und Lernende Erste Ergebnisse der Studie „Lernen unter COVID-19-Bedingungen“ über die Situation von Lehrenden, Schülern und Studierenden WERNER STURMBERGER

FOTOS: KHAMKHOR /PIXABAY, DETAILSINN FOTOWERKSTATT, FOTO KÜCHER

Mitte März wurde der Schulunterricht auf Homelearning umgestellt, zeitgleich wurden auch die Universitäten geschlossen. Damit hat sich der Alltag von Lehrenden und Lernenden in Österreich grundlegend ­verändert. Wie genau hat sich das Forschungsteam der Fakultät für Psychologie der Universität Wien unter der Leitung von Barbara Schober, Christiane Spiel und Marko Lüftenegger angesehen. Mittlerweile liegen die Ergebnisse der Befragung der Lehrenden vor: Generell berichtet eine deutliche Mehrheit der Befragten davon, dass das Unterrichten von Zuhause gut funktioniert habe. Die Lehrenden gaben an, die eigenen digitalen Kompetenzen ebenso gesteigert zu haben wie die der Schüler. Diese hätten zudem Fortschritte beim selbstständigen und selbstorganisierten Lernen gemacht. Gleichzeitig habe sich auch die Zusammenarbeit mit den Eltern verbessert. Als problematisch beschreiben die Lehrenden dagegen die Möglichkeit,

70.000 Schüler machten mit Homelearning schlechte Erfahrungen bereits lernschwache Schüler bzw. solche mit schlechter technischer Ausstattung ausreichend zu unterstützen. Das Homelearning würde Probleme bereits benachteiligter Schüler vergrößern. Bei ihnen wie auch bei Studierenden konnte das Forschungsteam

bereits eine zweite Befragungsrunde auswerten: Das zentrale Ergebnis bei den Schülern und Schülerinnen ist eine Verbesserung der Situation: Die Aufgaben für die Schule gelingen im Vergleich zum Beginn des Homelearnings eher besser. Gleichzeitig hat sich das generelle Wohlbefinden tendenziell verbessert. Basierend auf Hochrechnungen der Stichprobe geht das Forschungsteam allerdings auch davon aus, dass sich bei rund 70.000 Schülerinnen und Schülern die Situation verschlechtert hat. Gründe dafür sind Probleme bei der Bewältigung der Aufgaben im Homelearning, Schwierigkeiten bei der Lernorganisation und geringe Unterstützung zu Hause. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen gibt an, die Schule zu vermissen, und hier vor allem den persönlichen Kontakt. Nicht vermisst werden das frühe Aufstehen, der aufkommende Stress und die Langeweile im Unterricht, wenn, anders als beim Homelearning, nicht im eigenen Tempo gelernt werden kann.

Anders als bei den Schülerinnen und Schülern deuten die Ergebnisse bei den Studierenden daraufhin, dass sich bei etwas mehr als einem Drittel der Studierenden das Wohlbefinden und die soziale Eingebundenheit in der Zeit des Homelearnings verschlechtert haben. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Lernerfolgen: Mehr als ein Drittel der Befragten gibt an, dass ihnen Aufgaben nun schlechter gelängen. Ein Fünftel der Studierenden berichtet dagegen von mehreren und 44 Prozent von unveränderten Lernerfolgen. Auch bei den Studierenden ist der enge Zusammenhang von psychologischen Grundbedürfnissen und persönlichem Wohlergehen deutlich: Studierende, die Lernerfolge erleben und autonom lernen, also selbst Schwerpunkte im Lernen setzen und Aufgaben nach eigenen Vorstellungen bearbeiten sowie soziale Eingebundenheit erfahren, sind auch für die aktuelle Ausnahmesituation gut gerüstet. LERNENCOVID19.UNIVIE.AC.AT

:   WA SS E R BAU

:   B I O M EC H AT RO N I K

Warum sicher wiederaufbauen, wenn man dieselben Fehler erneut machen kann?

Die Nase des Sandfisches ist Vorbild für ein neues, besonders feines Filtersystem

Das Motto vieler heimischer Häuselbauer scheint zu sein, nach einem Wildwasserschaden auf keinen Fall klüger werden zu wollen

Das Tier, das trotz seines Namens eine Echse ist, lebt in Wüstengebieten unter dem Sand – und weiß, wie man ihn aus der Nase bekommt

JOCHEN STADLER

CLAUDIA STIEGLECKER

Nach einem Schaden durch Wildbäche stellen die meisten Österreicher ihre Eigenheime ohne bessere Schutzmaßnahmen wieder her, berichten Experten vom Institut für Alpine Naturgefahren der BOKU Wien. Es mangelt aber nicht nur am Willen

Sven Fuchs, BOKU Wien der Betroffenen, sondern auch an Förderungen für schützende und vorsorgende Baumaßnahmen. Die Forscher um Sven Fuchs und Maria Papathoma-Köhle untersuchten bei zehn Wildbachereignissen, welche Schäden an rund fünfhundert Gebäuden angerichtet und wie danach die Häuser saniert wurden. „Dabei

gab es nicht nur Zerstörung durch das Wasser, sondern auch durch mitgeschwemmtes Gestein, Erdreich und Holzstämme“, erklärt Fuchs. Dies geschah zum Beispiel in den Jahren 2005 und 2015 in Ischgl, See und Kappl im Paznauntal sowie 2013 in Kössen im Tiroler Unterland. „Nach dem Motto ,Nach dem Unglück ist vor dem Unglück‘ hätte man nach so einem Ereignis eigentlich die Möglichkeit, sein Gebäude für die Zukunft besser zu schützen.“ Man könnte erhöht bauen, Fenster und Türen mit abnehmbaren Balken schützen, an der Gefahrenseite auf Öffnungen verzichten und die Mauern verstärken. „Obwohl das bei einem durchschnittlichen Einfamilienhaus nur rund fünf Prozent Preissteigerung bedeuten würde, passiert das nur bei einem von hundert Häusern.“ Eine Förderung ähnlich wie bei Energieeffizienzmaßnahmen würde die Situation verbessern, meint er.

98 Prozent seiner Zeit verbringt der Sandfisch, eine etwa zwanzig Zentimeter lange Echse, eingegraben im Wüstensand. Dass er dabei beim Atmen nicht an Sandkörnern erstickt, verdankt er dem außergewöhnlichen Filtersystem in seiner Nasenhöhle:

Anna Stadler, Universität Linz „Die Form des Nasengangs macht die Abscheidung von eingeatmeten Partikeln möglich“, sagt Anna Stadler vom Institut für Medizin und Biomechatronik der Linzer Johannes Kepler Universität. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Michael Krieger vom Institut für Strömungslehre und Wärmeübertragung hat sie die Atmung

des Tieres untersucht. „Zu Beginn hat der Nasengang einen runden Querschnitt, mündet dann aber in eine Art Kammer mit einer avocadoähnlichen Form“, erklärt Stadler. Anhand von Strömungsanalysen konnten die Forschenden zeigen, dass der größere Querschnitt der Kammer zu einem Druck- und Geschwindigkeitsabfall der Atemluft führt, wodurch sich eingeatmete Partikel im Nasenschleim absetzen. „Um den gefilterten Sand wieder loszuwerden, bläst ihn der Sandfisch ruckartig aus.“ Stadler und Krieger haben eine „Vorrichtung zum Filtern von Partikeln“ nach dem Vorbild der Echsennase entwickelt und zum Patent angemeldet. Mit dem System könnten sogar Kleinstpartikel von fünf Mikrometern Durchmesser ohne Membrane und wartungsarm gefiltert werden. „Anwendungsfelder sind Medizin, Wohnraumbelüftung, Automobil­ industrie oder Industrieanlagen.“


8 FALTER  28/20  H EUR EKA  2/20  :  NAC H R I C HTE N

:   Z E I TG E S C H I C H T E

Der grüne Sommerofen Wien heizt noch bis 2050 Wien gilt als grünste Stadt der Welt. Trotzdem bringt sie mit ihrer Hitze im Sommer Menschen, Tiere und Pflanzen um HANNAH JUTZ

Die Hitze im Sommer lässt eine Großstadt noch heißer werden. ­Versiegelte Oberflächen im urbanen Gebiet speichern Wärme und führen zu extrem hohen Temperaturen, während es im begrünten Umland einige Grade kühler ist. Der Begriff „Urban Heat Islands“ (UHI) beschreibt diesen Temperaturunterschied zwischen Stadt und Land. Die Hitze ist nicht nur unangenehm, sie kann besonders für alte und vorerkrankte Menschen, aber auch Kinder oder Menschen, die im Freien arbeiten, gefährlich werden.

Zuvela-Aloise, Leiterin der Fachabteilung Stadtmodellierung bei der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik ZAMG. „Südlichere Städte werden größere Probleme mit der Hitze haben. Aber auch die Temperaturen in

Wien wird so heiß wie Skopje heute werden Auf der ganzen Welt zieht es immer mehr Menschen in Städte. Im Jahr 2050 sollen fast zwei Drittel der Weltbevölkerung in Metropolen leben. Gleichzeitig sorgt das Voranschreiten des Klimawandels dafür, dass hohe Temperaturen und Hitzewellen deutlich häufiger vorkommen als zuvor. Laut einer Studie vom Crowther Lab, das an der ETH Zürich nach Lösungen für den Klimawandel sucht, wird Wiens Klima in dreißig Jahren dem der nordmazedonischen Stadt Skopje gleichen. In den wärmsten Monaten soll die maximale Temperatur um fast acht Grad Celsius ansteigen. „Das ist aber nur das Maximum, durchschnittlich wird es eher um ein Grad Celsius wärmer“, erklärt Maja

Österreichs Städten werden langsam so hoch, dass es für die Menschen unangenehm wird.“ Bei Hitze fühlen wir uns unwohl, schlafen schlecht, sind weniger produktiv, aggressiver und anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine höhere Sterblichkeit ist die Folge. Mit den Menschen leiden auch Tiere und Pflanzen. „Das ist leider nicht so gut untersucht, aber natürlich führt Hitze bei Tieren zu Stress und lässt den Boden austrocknen“, sagt Zuvela-­ Aloise. „Manche Pflanzen wachsen unter diesen Bedingungen aber auch besser.“ Durch vermehrte Bewässerung und Kühlung von Häusern oder Straßen steigt der Energie- und Wasserbedarf, was bei längeren Hitze- und Trockenheitsperioden problematisch werden

Maja ZuvelaAloise, Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik

könnte. „Gebäude haben einen großen Einfluss auf das Klima. Richtige Isolierung und geeignetes Material, aber auch Dach- und Fassadenbegrünung werden in der Baubranche immer wichtiger.“

Jürgen Preiss, MA 22 Grüne, blaue und graue Maßnahmen gegen die Hitze Maßnahmen zur Hitzeanpassung können grundsätzlich in drei Kategorien unterteilt werden. Die Erhöhung des Grünanteils in Straßen- und Freiräumen sowie die Begrünung von Gebäuden gehören zu den grünen Maßnahmen. Blaue Maßnahmen erhöhen den Wasseranteil in der Stadt durch Bewässerung, Regenwassermanagement oder Bereitstellen von Trinkwasser. Die Beschaffenheit von Oberflächen, Beschattung oder bauliche Beeinflussung von Windverhältnissen fallen unter die grauen Maßnahmen. Seit fünf Jahren gibt es in Wien den UHI-Strategieplan, der 37 solcher Maßnahmen beinhaltet. „Davor hat man Bäume vordergründig aus gestalterischen Gründen und zur

Aufwertung der Lebensqualität gepflanzt“, erzählt Jürgen Preiss, der bei der Umweltschutzabteilung Wien (MA 22) für nachhaltige Stadtentwicklung verantwortlich ist. „Welche Maßnahme sinnvoll ist, hängt vom Kosten-Nutzen-Verhältnis und von Faktoren wie der sozialen Funktion oder dem Einfluss auf die Biodiversität ab.“ Er betont, wie wichtig es ist, dass auf verschiedenen Ebenen etwas getan wird: „Die Stadt und alle Bezirke setzen Maßnahmen zur Klimawandelanpassung. Was fehlt, sind gesetzliche Vorgaben und die Einbindung von Privatpersonen.“ Eine breite Kommunikation und der Austausch zwischen den Ebenen könne helfen: „Es braucht Leuchttürme, also Vorbilder, wie etwa Gemeinschaftsgärten.“ „Es gibt positive Entwicklungen“, bestätigt Zuvela-Aloise. „Städte sind weniger durch Verkehr belastet, der Energieverbrauch wird effizienter.“ Gleichzeitig unterstreicht sie die Dringlichkeit, etwas zu tun: „Bäume brauchen Dekaden, bis sie wirksam sind. Wir müssen jetzt anfangen und nicht nur kompensieren, sondern auch Klimaschutz betreiben.“ Jürgen Preiss zeigt sich zuversichtlich: „2050 werden die Freiräume in den Städten autofreier und die Fassaden und Dächer grüner sein. Vom Flugzeug aus wird man Stadtteile wie Aspern Seestadt gar nicht so leicht erkennen können.“

:   WA SS E R BAU

Zunehmende Hitzeperioden könnten den See bald austrocknen lassen. Maßnahmen dagegen werden geprüft INTERVIEW: BARBARA FREITAG

Christian Sailer, Leiter des Hauptreferats Wasserwirtschaft bei der burgenländischen Landesregierung, ist verantwortlich für ein Projekt zur Rettung des Neusiedler Sees. Herr Sailer, worum geht es? Christian Sailer: Um den Naturraum Seewinkel-Neusiedler See samt Einserkanal, Grabensystem, Salzlacken sowie Grundwasser – und das grenzüberschreitend. Vor gut hundert Jahren wurden bei Hochwasserschutzmaßnahmen sumpfige Böden für die Landwirtschaft trockengelegt. Österreich und Ungarn sollen nun Überlegungen zur gemeinsamen Gewässerbewirtschaftung anstellen.

Derzeit geht es ja eher nicht um Hochwasserschutz … Sailer: Den Seewinkel durchzieht ein Grabensystem zur Entwässerung und als Schutz vor Überflutungen. Die Gräben entwässern den Niederschlag in Richtung Einserkanal, greifen aber auch in den Wasserhaushalt des Seewinkels ein. Derzeit haben wir einen so niedrigen Wasserstand im See, dass seit 2015 keine Entlastung über die Wehranlage im Einserkanal erfolgt ist. Künftig muss man das Wasser durch technische Maßnahmen länger im Seewinkel halten. Der fehlende Niederschlag ist durch eine Wasserzugabe im Naturraum Seewinkel–Neusiedler See auszugleichen.

Das war bereits vor einigen Jahren ein Thema … Sailer: Nach dem extrem trockenen Sommer 2003 sollte dem See Wasser

Christian Sailer, Amt der burgenländischen Landesregierung aus der Rabnitz und dem Grundwasserbegleitstrom der Donau zugeführt werden. Aus verschiedenen Gründen ist es unterblieben, die Lage hat sich dann auch entspannt. Heute bietet

sich eine weitere Möglichkeit, die gerade im Rahmen der österreichischungarischen Gewässerkommission geprüft wird. Wir wollen den See als Landschaftselement und Lebensraum erhalten. Dazu werden wir Maßnahmen aus limnologischer, biologischer und ökologischer Sicht genau prüfen. Kann es dabei zu einer Salzauswaschung im See kommen? Sailer: Diese Kritik wäre berechtigt, wenn man den See immer konstant auf einen Hochstand bringen würde und dann bei Regen die Entlastungsanlage im Einserkanal öffnen müsste. Das würde das System nachhaltig schädigen. Natürlich müssen die Wasserqualitäten auf ihre Verträglichkeit hin untersucht werden. Der See besteht hauptsächlich aus Niederschlag und dem Wasser der Wulka. Sie bringt rund einen Kubikmeter pro Sekunde, das sind jährlich etwa dreißig Millionen Kubikmeter Wasser. Der See hat

FOTOS: FOTO TSCHANK EISENSTADT, PRIVAT

Mehr Wasser für den Neusiedler See


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  2/20   FALTER 28/20  9

:  W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN

FOTO: RICHARD SCHMÖGNER

„Robinson Crusoe“ erlebt als Sechsjähriger die Pest in London

Die grüne Fassade eines Gebäudes der MA 48 am Gürtel. Man sieht, es geht, allerdings nimmt sich der Rest von Wien noch kein Beispiel

bei mittlerem Wasserstand etwa 300 Millionen Kubikmeter. Es soll überprüft werden, ob eine Einleitung von einem Kubikmeter pro Sekunde auch von der anderen Seite her möglich wäre. Das höbe den Wasserstand im See um zehn Zentimeter. Dazu muss der hohe energetische Aufwand im Verhältnis zur Nachhaltigkeit geprüft werden. Die BOKU hat 2005 Klima­ szenarien erstellt, nach denen der See weitgehend austrocknen würde, wenn extreme Trockenjahre vier- bis fünfmal hintereinander auftreten. Wie sieht das Projekt technisch aus? Sailer: Über kurze Bereiche müsste Wasser in Rohrleitungssystemen mittels Pumpen gehoben werden, um im freien Gefälle verteilt werden zu können. Es gäbe eine Wasserführung in offenen Gräben und die Einleitung in Pufferbecken für die Bewässerung sowie eine Weiterleitung in den See. Man müsste festlegen, wo es zur Ver-

sickerung ins Grundwasser kommen soll. Eine direkte Einleitung von Wasser in die Salzlacken ist nicht vorgesehen. Hier soll der Grundwasserstand durch Versickerung auf ein höheres Niveau gehoben werden. Dadurch soll die Landschaft nicht verschandelt werden, daher gäbe es kleine Interventionen wie etwa kleine Wehranlagen. Wie sieht der Zeithorizont aus? Sailer: Ich gehe von mindestens fünf Jahren aus, bis der erste Tropfen Wasser in den Seewinkel und den See fließen kann. Je eher, desto besser. Die Jahresmitteltemperatur des Sees hat sich um etwa 1,9 Grad Celsius erhöht. Bei sehr geringem Wasserstand kommt es vor allem in heißen Sommern zum stärkeren Ansteigen der Wassertemperatur mit Folgen für den Sauerstoffgehalt. Das könnte sich negativ auf das Ökosystem auswirken. Ich bin aber optimistisch, dass unsere Maßnahmen all das verbessern können.

Welches Gedicht Karl Kraus für das beste hielt, wird in diesem Buch verraten

Der Autor Daniel Defoe (1660– 1731) erzählt semifiktional die Große Pest in London, die er als Kleinkind selbst erlebt hatte. Am Anfang des dokumentarischen „Abenteuers“ stehen Gerüchte und erste Todeszahlen. Scharlatane sprechen von der Strafe Gottes, Warnungen werden in den Wind geschlagen, „Schwelgereien“ verboten; der Bruder des Erzählers wie auch der König fliehen aus der Stadt. Ein „rauhes“ Gedicht steht am Ende: „Ein furchtbar Pestjahr hat’s in London Anno fünfundsechzig gegeben; Verschlang’s doch hunderttausend Seelen, Ich aber, ich blieb am Leben.“

Nach tausend Seiten Kontextualisierung von Leben und Werk des „Widersprechers“ ist klar: Karl Kraus und kein Ende. Der Weg vom ostböhmischen, nach Wien übersiedelten Kaufmannssohn mit Apanage, der die „Fackel“ gründet, Fehden mit Kollegen, dem eigenen Judentum, mit Presse und Ungeist der Zeit ausficht, steuert auf „etwas weltliterarisch Einzigartiges“ zu: „Die letzten Tage der Menschheit“. Die Dollfuß-Apologie des konservativen Spötters „ohne Disposition zum Faschismus“, der rechtzeitig vor dem „Anschluss“ starb, bereitet jedoch Kopfzerbrechen.

Daniel Defoe, Die Pest in London, Verlag Jung und Jung, Salzburg 2020, 400 S.

Jens Malte Fischer, Karl Kraus. Der Widersprecher, Zsolnay Verlag, Wien 2020, 1104 S.

Erinnerungen eines bedeutenden kakanischen Theatermanns

Grimmiger Humor angesichts der Lagerhaft in Konzentrationslagern

Ernst Lothar, Autor und Theatermann, erinnert sich: Kindheit in Brünn, ein erster Romanversuch neben dem Jusstudium. Mit Sigmund Freud diskutiert er den Untergang Kakaniens, mit Kanzler Ignaz Seipel die Freiheit der Kunst. Die Nazis der Josefstadt werfen ihren Regisseur hinaus, der über die Schweiz nach Amerika flieht, wo er „Justice for Austria!“ propagiert. „Ami go home!“ lautet die Begrüßung des zurückgekehrten Besatzungsoffiziers, der Karajan entnazifiziert. Viel Patriotismus: „Fliehen ist etwas Beschämendes, und wer einigen Stolz hat, spürt das.“

Der bald nach Kriegsende verfasste und jetzt in der Reihe „Mauthausen-Erinnerungen“ veröffentlichte Bericht des polnischen Elektromechanikers Stanisław Grzesiuk hebt lakonisch an: „Vom 4. April 1940 bis zum Tag der Befreiung durch die amerikanische Armee am 5. Mai 1945 saß ich in den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Gusen.“ Überwältigend die Detailgenauigkeit und der grimmige Humor dieses umfassenden Rückblicks auf eine Welt aus Gewalt, Mord und Sadismus, die der Erzähler zufällig überlebt hat. Eine Pflichtlektüre!

Ernst Lothar, Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen, Zsolnay Verlag, Wien 2020, 384 S.

Stanislaw Grzesiuk, Fünf ­Jahre KZ, (Übers. Antje Ritter-­Miller), New Academic Press, Wien 2020, 480 S.


10 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

T I T E LT H E M A E N D S TAT I O N STEPPE? Seiten 10 bis 22 Die Fotos in dieser Ausgabe stammen von der Fotografin Karin Wasner. Mit ihrer Kamera hat sie sich auf die Reise gemacht und in Österreich Plätze entdeckt, die an Steppenlandschaften erinnern oder auch Steppe sind. Wie die unaufgeregte, oft eintönige Landschaftsform Steppe sind diese Bilder, anders als Fotos, die man sonst von Landschaften sieht, ohne Dramatik. Sie sind grafisch und ruhig wie die Steppe, aber nicht öde oder trostlos.

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

53

Millimeter pro Stunde Regen: Der Juni 2019 war einer der drei niederschlagsärmsten der Messgeschichte. Die Regenmenge bedeutet ein Minus von 58 Prozent im Vergleich zum klimatologischen Flächenmittel der Jahre 1961 bis 1990.

13 Hektar Boden oder zwanzig Fußballfelder wurden in Österreich 2019 täglich verbaut, das ist ein Plus von 24 Prozent im Vergleich zu 2018. Durch die Bodenversiegelung gehen CO2- und Wasserspeicher verloren, Schäden durch Wetterextreme verstärken sich. Bis 2030 hat die Regierung ein tägliches Verbauungsziel von 2,5 Hektar ausgerufen.

20% zu wenig Niederschlag maß man österreichweit in den ersten fünfeinhalb Monaten 2020, im Süden und Osten Österreichs waren es sogar vierzig bis siebzig Prozent zu wenig.

285 km2 Fläche hat der Neusiedler See, nach dem Balaton der zweitgrößte Steppensee Europas. Seine maximale Tiefe beträgt 1,8 Meter, die mittlere Tiefe einen Meter. Gespeist wird er zu 87 Prozent durch Niederschlag, 13 Prozent kommen von kleinen Wasserläufen. In den Jahren 1865 bis 1871 war er infolge einer längeren Dürreperiode zur Gänze ausgetrocknet.

90.000 km2 Gewässeroberfläche sind weltweit in den letzten dreißig Jahren verschwunden. Das setzt CO2 frei: 0,2 Gigatonnen, also 200.000.000 Tonnen CO2 emittieren trockene Gewässer weltweit jährlich. Zum Vergleich die von Menschen erzeugte Menge aus fossilen Brennstoffen: neun Gigatonnen.

300

176

Waldbrände gab es laut der Waldbranddatenbank Österreich in den ersten fünf Monaten 2020. Der April ist mit 112 Waldbränden einer der intensivsten der letzten 25 Jahre. In den Sommermonaten ist Blitzschlag in mehr als vierzig Prozent der Fälle der Auslöser.

6,2% geringer als 2019 wird die Getreideernte in Österreich 2020 ausfallen. Gründe dafür: Flächenreduktion und Dürre. Die regionalen Unterschiede sind hoch, nämlich von minus 18,7 Prozent im Burgenland bis zu plus 8,5 Prozent in Oberösterreich gegenüber dem langjährigen Mittel.

historische Chroniken lassen auf eine „Megadürre“ in Mitteleuropa im Jahr 1540 schließen: Die Sommertemperaturen lagen über jenen der Jahre 1966 bis 2015 und mit zwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit auch über dem „Hitzesommer“ 2003. Paradox: Das Jahr 1540 fällt in die „Kleine Eiszeit“ vom frühen 15. bis Mitte des 19. Jahrhunderts.


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  11


12 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

Dürre trotz jeder Menge Regen Österreichs Wetterlage wird zum Doppelspiel aus mehr Starkregenperioden und mehr Hitze rnten verdorren, Obstbäume blühen wegen langer Trockenheit, als ob es das letzte Mal wäre, die Waldbrandgefahr steigt. Die jährlichen Niederschlagskurven der vergangenen Jahrzehnte bis heute zeigen jedoch keinen Rückgang der Feuchtigkeit. Die durch den Klimawandel erwärmte Luft kann mehr Wasser speichern, daher nimmt die Feuchtigkeit über das Jahr zusammengerechnet womöglich sogar zu. Seit rund fünfzehn Jahren gibt es immer öfter wochen- bis monatelang andauernde Phasen, in denen es extrem trocken, heiß und sonnig ist, kaum Wolken am Himmel sind und beinahe alles Wasser aus dem Boden verdunstet, berichtet Michael Hofstätter von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Wien. Darauf folgen schier endlos erscheinende Schlechtwetterzeiten. „Ungewöhnlich ist, dass diese Phasen so lange anhalten“, sagt Hofstätter. Wechselhaftes Wetter wie in den 1980er und 1990er Jahren, als Tage mit Schnürlregen und Sonnenschein abwechselten, gibt es in Österreich eigentlich nicht mehr. Neu: Lange andauernde Hitzeoder Niederschlagsperioden Auch mit dem Durchzug der Tiefdruckgebiete vom Atlantik her auf dem klassischen Westwindband durch Mitteleuropa scheint es vorbei zu sein. Dieses Wettergeschehen verschiebt sich von unseren Breiten hin zu den Polen, in unserem Fall zum Nordpol. „Vielleicht liegt Österreich bald südlich davon“, meint Georg Pistotnik, Forscher am ZAMG: „Dann kommt es öfter zu Hochdrucklagen mit mediterranen Hitzewellen, was wir in den vergangenen Sommern immer wieder erlebt haben.“ Andererseits würden dann auch vermehrt Tiefdruckgebiete, die sich von diesem Westwindband abschnüren, lange liegen bleiben und damit das Starkniederschlagsrisiko erhöhen. Tiefdruckgebiete und Staueffekte an den Gebirgen führen zu großflächigen Starkniederschlägen und kleinräumigen Schauern wie typischen Sommergewittern. Die großflächigen Niederschläge haben Experten der ZAMG anhand von Beobachtungsdaten zwischen 1961 und heute analysiert: „Das auffälligstes Signal ist in diesem Zeitraum die Abnahme der Häufigkeit von schwachen oder moderaten Tagesniederschlägen und die Zunahme von starken bis extremen Niederschlägen bei annähernd gleichbleibenden Jahressummen“, berichten sie. Das Wasser kommt also nicht regelmäßig in verträglichen Mengen, die für die Natur und Landwirtschaft nützlich sind, sondern seltener, aber dafür massiv vom Himmel. Grazer Forschende haben festgestellt, dass die steigende Oberflächentemperatur des Mittelmeeres vor allem im Südosten Österreichs vermehrt starke Niederschläge bringen kann. Sogenannte Fünf-b(Vb)-Zyklone, die unter anderem die großen Donauhochwasser 2002 und 2013 mitverursacht

JOCHEN STADLER

„Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Temperatur­ erhöhung durch die globale Erwärmung und der stärkeren Intensität der Niederschläge bei uns“ MICHAEL HOFSTÄTTER, ZENTRALANSTALT FÜR METEOROLOGIE UND GEODYNAMIK

Douglas Maraun, Universität Graz

haben, ziehen manchmal viel Feuchtigkeit aus dem Mittelmeerraum über Oberitalien in den Alpenraum, was zu intensivem Niederschlag führt. Mehr Feuchtigkeit in wärmerer Luft führt zu Starkniederschlägen Ein Team um Douglas Maraun vom „Wegener Center für Klima und Globalen Wandel“ der Universität Graz hat mit Modellsimulationen berechnet, dass Vb-Wetterlagen nicht häufiger werden, aber um bis zu fünfzig Prozent mehr Starkregen bringen, weil die Verdunstung über dem Mittelmeer durch die Temperaturerhöhung stark zunimmt. „Es wird mehr Feuchte entlang der Sturmzugbahnen transportiert, weshalb die Intensität eines Extremniederschlags stark ansteigt“, erklärt Maraun. Kleinräumige, durch Konvektion, also vertikale Luftbewegungen hervorgerufene Niederschläge wie Sommergewitter werden durch den Klimawandel vielleicht etwas seltener, sicher aber heftiger, erklären die Forscher. Ein Ergebnis der globalen Erwärmung also. Durch die höhere Temperatur steigt der Sättigungsdampfdruck, das heißt, die Luft kann mehr Wasserdampf aufnehmen, laut Maraun „ungefähr sieben Prozent für jedes Grad Erwärmung“. Wenn dieses Wasser in einem Schauer ausfällt, nimmt dessen Intensität für jedes durch den Klimawandel dazukommendes Grad Celsius um dieselbe Zahl an Prozenten zu. Und noch etwas: „Wenn die Feuchte beim Aufsteigen kondensiert, wird Verdunstungswärme freigesetzt. Diese zusätzliche Energie treibt die Aufwinde mit an, sodass noch mehr Feuchtigkeit, wenn vorhanden, hereinkommen und mit der Wolke hochtransportiert werden kann“, erklärt Maraun. Dieser Effekt verdoppelt den Anstieg der Schauerintensität, das heißt, pro Grad Erwärmung werden Regenschauer um vierzehn Prozent heftiger. Dies konnte Maraun mit Kollegen anhand von Berechnungen zu Unwettern in Österreich belegen: Im Jahr 2009 gab es die Wetterlage eines „abgeschnittenen Höhentiefs“, das massive Niederschläge brachte, die in vielen Regionen zu Hochwasser führten und allein in der Oststeiermark 3.000 Hangrutsche auslöste. „Wir haben dieses Wetterereignis simuliert und angeschaut: Was wäre ohne Klimawandel bei einer um ein Grad niedrigeren Temperatur geschehen?“ Das Ergebnis: Die Niederschläge wären genau um jene vierzehn Prozent schwächer gewesen. Demnach ist der direkte Zusammenhang der Temperaturerhöhung durch die globale Erwärmung und der stärkeren Intensität der Niederschläge belegt. „Wenn wir in die Zukunft sehen und davon ausgehen, dass wir vielleicht bei drei Grad Erwärmung landen, sofern wir keinen wirklich ambitionierten Klimaschutz machen, dann werden wir mit mehr als vierzig Prozent heftigeren Niederschläge leben

müssen“, sagt Maraun. Dies gelte nicht für durchschnittliche Regenfälle, aber sehr wohl für Extremereignisse. Es gibt zusätzliche Faktoren, die das Extremniederschlagsrisiko erhöhen. Ist die Bodenfeuchte durch eine längere Schlechtwetterphase hoch, steigt die Neigung zur Bildung von Schauern und Gewittern, erklärt ZAMGForscher Pistotnik. Sie „recyceln“ quasi die Feuchtigkeit aus dem Boden. Dadurch können sich feuchte wie trockene Wetterphasen selbst verstärken und verlängern, zumindest bis eine „aktive“ Wetterlage von außen dieses Muster nachhaltig bricht. Ob die Hagel- und Sturmgefahr in Gewittern zusätzlich steigt, ist unklar. Durch die Erwärmung nimmt die Stärke der Höhenwinde tendenziell ab, was solche Phänomene abschwächen könnte. Anderen Berechnungen zufolge könnte das Risiko für Hagel und Sturm tendenziell zunehmen, wenn auch weniger stark als das Starkregenrisiko. Wie intensive Landwirtschaft mehr Wasser in die Luft bringt Zu beobachten ist also, dass sich die Großwetterlagen infolge des Klimawandels ändern und die Unwettergefahr steigt. Wolken bringen nicht mit der früher bekannten Regelmäßigkeit in gemäßigter Intensität Regen auf die Wiesen, Fluren und Felder, sondern seltener und abrupt. Der flache Osten ist stärker von Veränderungen betroffen als der gebirgige Westen, weil er weiter weg vom immer noch wetterbestimmenden Atlantik liegt und durch die Wetterscheide der Alpen von ihm getrennt ist, meint Michael Hofstätter von der ZAMG. Zusätzlich haben sich die Menschen für Extremereignisse sehr verwundbar gemacht: „Große, zusammengelegte Ackerflächen, das Auflassen von Windschutzgürteln und die fehlende Struktur in der Landschaft sowie die Bodenversiegelung sind Gründe, warum wir die Starkniederschläge doppelt spüren.“ Bei den kleinräumigen Niederschlägen sei es schwierig, die Veränderungen über Österreich genau zu messen. Großflächige Niederschläge und damit ihre Veränderung kann man mit dem Wetterstationsnetz gut erfassen. Für kleinere Ereignisse könne dieses nie dicht genug sein, meint der Klimaexperte Hofstätter: „Ein Niederschlagskübel hat eine Fläche von knapp einem A4Zettel, in Österreich gibt es etwa dreihundert davon. Das heißt, insgesamt decken sie kaum mehr als die Fläche eines kleineren Wohnzimmers ab.“ Es gibt zwar in Österreich zusätzliche Wetterradarstationen, die Wolken quasi scannen und die Reflektionen der Tröpfchen messen. Doch in der Berg- und Tallandschaft der Alpenrepublik erfährt auch diese Methode Einschränkungen. „Kombiniert man die Radar- und Auffangstationsdaten mit guten statistischen Methoden, kann man eine klare Vorstellung vom Ausmaß konvektiver Starkniederschläge bekommen“, so Michael Hofstätter.

FOTOS: ZAMG/LUSSER, HEIKE MARIE KRAUSE

E


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  13


14 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

Leben auf trockenem Boden Bodenmikroorganismen überstehen auch Durststrecken, doch ihre Artenvielfalt ist bedroht n der Wüste knirscht jeder Schritt. Das Geräusch habe sie noch immer in den Ohren, wenn sie an ihren Forschungsaufenthalt dort denke, erzählt Dagmar Wöbken von der Universität Wien. „Man hört förmlich, dass die oberste Schicht aus Krusten besteht.“ In dieser untersucht das Team der Mikrobiologin in der Wüste Negev Bakterien, die das Leben im Boden instandhalten, indem sie unter anderem Stickstoff und Kohlenstoff aus der Atmosphäre in ihm binden. „Sie sorgen außerdem dafür, dass der Sand nicht einfach weggeweht wird“, erklärt Wöbken. „Es verhindert Erosionen.“ Das Spezialgebiet der Assistenzprofessorin am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft sind Funktion und Physiologie von Bodenmikroorganismen. „Der Boden ist unsere Überlebensgrundlage. Mikroorganismen spielen darin die entscheidende Rolle.“ Damit sind Kleinstlebewesen wie Archaeen, Bakterien oder Pilze gemeint, deren Aktivität lebenswichtige Umwandlungs- und Abbauprozesse in der Natur steuert und so zur Stabilität von Ökosystemen beiträgt. Tatsächlich sind ihre Überlebensstrategien verblüffend. Die Strategien der winzig kleinen Lebewesen Sogar unter günstigen klimatischen Bedingungen müssen die Winzlinge enorm widerstandsfähig sein. Hunger, aber auch Durst sind sie gewöhnt. Bei Trockenheit fehlt ihnen nicht nur Wasser für wichtige Prozesse in ihrem Zellstoffwechsel; zur Aufnahme von Nährstoffen benötigen sie auch einen Wasserfilm um ihre Zellen. Die unregelmäßigen Niederschläge verlangen den unsichtbaren Bodenbewohnern eine weitere Fähigkeit ab: Sie dürfen bei plötzlichem Regen nicht platzen. Gegen diesen sogenannten osmotischen Stress wappnen sie sich durch kleine organische Moleküle, die sie in Dürrezeiten entweder aufnehmen oder selbst herstellen können. Werden sie irgendwann nass, geben sie diese einfach wieder ab. Die Durststrecke selbst überdauern sie durch vorübergehendes Herunterfahren ihrer Stoffwechselaktivität. „Normalerweise sind nur etwa dreißig Prozent der Mikroorganismen in Böden aktiv, der Rest befindet sich im Ruhezustand“, erklärt Wöbken. So erhalten sie als „mikrobielle Samenbank“ – ähnlich wie Pflanzen mit ihren Samen – den Fortbestand ihrer Artenvielfalt. Seit 2015 untersucht Wöbken in einem vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Projekt das breite Repertoire, über das Mikroorganismen für dieses Überdauern verfügen. Einige setzen auf Sporenbildung. „Andere Mikroorganismen häufen stattdessen Zucker, Ionen und Enzyme in der Zelle an, die Proteine und DNA schützend umhüllen, wenn Wasser verdampft.“ Fällt nach einer Dürrephase wieder Regen, werden nicht alle gleichzeitig wieder aktiv,

TEXT: USCHI SORZ

„Wir brauchen diese große Diversität an Mikroorganismen in den Böden, damit die natürlichen Stoffkreisläufe, von denen wir alle abhängen, stabil ablaufen können“ DAGMAR WÖBKEN, UNIVERSITÄT WIEN

sondern verschiedene Gruppen reaktivieren sich in einer bestimmten Abfolge, abhängig von ihrer jeweiligen Strategie. Am schnellsten sind jene, die sich die zellulären „Proteinfabriken“, die Ribosomen, während der Trockenzeit erhalten konnten. Andere müssen erst wieder Ribosomen aufbauen, weil sie diese zuvor sozusagen als Notration verspeist haben. „Man beobachtet hier ganz spezielle Muster“, berichtet Wöbken. An Acidobakterien, einer der weltweit häufigsten Gruppen von Bodenbakterien, erforscht ihre Arbeitsgruppe außerdem, wie Bodenmikroorganismen Energie aus der Oxidation von atmosphärischem, molekularem Wasserstoff gewinnen. „Wir haben herausgefunden, dass sie das bei Kohlenstoffmangel tun können, um auf diese Weise Hungerphasen zu überstehen.“ Auch habe sich gezeigt, dass sie extrem flexibel in Bezug auf Sauerstoffbedingungen sind. „Aufgrund bestimmter Enzyme kommen sie auch mit ganz geringen Mengen aus.“ Acidobakterien gibt es zwar in Österreich, doch auch von so fremden mikrobiellen ­Gemeinschaften wie jenen in der Wüste Negev können wir viel lernen. „Diese erstaunliche Fähigkeit, Trockenphasen zu überleben, ist für unsere Böden ebenfalls wichtig. Daher ist es besonders interessant, sich Mikroorganismen anzuschauen, die darauf trainiert sind, mit extrem langen Dürrezeiten fertigzuwerden.“ Im Labor wird auch der Wüstenboden grün In der Klimakammer ihres Labors kann Wöbkens Arbeitsgruppe zum Beispiel beobachten, wie die trockenen, braunen Bodenkrusten aus dem Negev „zum Leben erwachen“, sobald man sie mit künstlichem Regen begießt. „Das erkennt man sogar mit bloßem Auge, wenn die darin lebenden Cyanobakterien die Krusten grün färben.“ Dies sind die eingangs erwähnten Mikroorganismen, die unter anderem den Boden in der Wüste zusammenhalten. China setzt sie gegen Sandverwehungen ein. Das Grün zeigt, dass sie Fotosynthese betreiben können. Um Details über die maßgeblichen mikrobiellen Stoffwechselvorgänge herauszufinden, entschlüsselten die Wiener Forscher die Erbsubstanz, also das gesamte Genom von etwa hundert in den Krusten enthaltenen Arten und studierten die Prozesse, die bei der „Begrünung“ und anschließenden Austrocknung stattfinden. Um zusätzlich zu untersuchen, wann und wie viele dieser Zellen reaktiviert werden, wenden sie nun ein weiteres Analyseverfahren an, die sogenannte hochauflösende Sekundärionen-Massenspektrometrie. „Diese kultivierungsunabhängigen Methoden sind unentbehrlich, denn bis jetzt lässt sich nur ein kleiner Prozentsatz der Bodenmikroorganismen im Labor züchten“, erklärt Wöbken. „Zum Glück ist das aber bei einigen Acidobakterien gelungen.“ Das

habe den entscheidenden Vorteil, dass ihre Forschungsgruppe die theoretischen Vorhersagen aus der Genomsequenzierung auch noch praktisch testen könne. Gerade sind Wöbken und ihr Team dabei, ihre Erkenntnisse zu Peer-Reviews bei Fachzeitschriften einzureichen. „Das kritische Gegenchecken durch Kollegen und darauffolgende Anpassungen und Ergänzungen sind das Um und Auf in der Wissenschaft.“ Bis sie validiert sei, brauche Grundlagenforschung einen langen Atem. Doch solches Basiswissen sei eminent wichtig. „Wir wissen immer noch verhältnismäßig wenig darüber, wie diese große Diversität an Bodenmikroorganismen mit Trockenheit zurechtkommt.“ Genügt es, wenn die Stärksten überleben? Was abzusehen ist: „Durch den Klimawandel verlängerte Trockenphasen werden die mikrobiellen Gemeinschaften im Boden verändern.“ Arten, die besser damit fertigwerden, werden andere verdrängen. Und diese Verschiebungen in der Zusammensetzung können Auswirkungen auf die ­Prozesse haben, die von Bodenmikroorganismen angetrieben werden. Das kann zum Beispiel beeinflussen, ob dann mehr Kohlenstoff im Boden verbleiben wird, oder ob die Bodenmikroorganismen mehr Kohlenstoff in die Atmosphäre abgeben werden.“ Essenziell für einen kontinuierlichen Kohlen- und Stickstoffkreislauf sei in ­jedem Fall, dass die Funktionen der verschiedenen Kleinstlebewesen einander ­ergänzen und dass sie optimal zusammenspielen. „Böden sind die diversesten Systeme auf der Erde. Diese Vielfalt ist unabdingbar, um all die Prozesse, von denen der Mensch so stark abhängig ist, stabil ablaufen zu lassen.“ Übermäßiger Einsatz von Stickstoffdünger in der Landwirtschaft etwa ­gefährde sie. „Darüber hinaus beeinflussen Monokulturen die Artenvielfalt, da Pflanzen und Mikroorganismen in Gemeinschaft leben.“ Nicht zuletzt können die mikrobiellen Gemeinschaften auch auf veränderte Wurzelausscheidungen reagieren, wenn sich ­klimawandelbedingt die Art der Bepflanzung ändert. Warum aber nicht einfach die effizientesten und anpassungsfähigsten Mikro­ organismen gezielt in Böden einsetzen und selbst für die richtige Mischung sorgen? Dagmar Wöbken lacht. „Das ist ganz schön schwierig.“ Natürlich gebe es immer wieder derartige Bemühungen, etwa um Pflanzen ertragreicher zu machen, aber die bereits etablierten Bodenbewohner ließen sich nicht so leicht vertreiben. „In der Natur herrscht zwischen den Winzlingen ein ständiger Durchsetzungskampf, den natürlich die stärksten gewinnen. Das müssen nicht notwendigerweise diejenigen sein, die der Mensch zu irgendwelchen Zwecken von außen einbringt.“

FOTO: ÖAW/DANIEL HINTERRAMSKOGLER

I


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  15


16 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

Viel zu trocken für Wein? Der Klimawandel stellt den Weinbau in Österreich vor enorme Herausforderungen in Winzer nimmt Klima und Witterung anders wahr als ein Normalsterblicher. Franz Seidl, Weinbauer in Unterretzbach mit dreißigjähriger Berufspraxis, bezeichnet sich nicht als Klimaexperte, doch räumt er ein, an Parametern wie der Vegetation Veränderungen rascher und deutlicher zu sehen. „Ein Mensch, der seine Werkstatt nicht unter freiem Himmel hat, mag das Gefühl haben, es regne schon wieder, während dasselbe Ereignis für einen Winzer oder Forstwirt aufgrund der geringen Menge und hohen Verdunstung nicht der Rede wert ist.“ Seidl macht die Klimaentwicklung Sorgen – und zwar so sehr, dass er sich als Testimonial für das Klimavolksbegehren zur Verfügung gestellt hat. Sein Beruf, sagt er, ist wesentlich schwieriger geworden. „Man muss viel kurzfristiger und schneller auf die klimatischen Herausforderungen wie Hagel reagieren, aber auch präventiv Gefahren bedenken und etwa einen Vorrat an Strohballen für den Fall von Spätfrost anlegen. Wir haben nun Arbeit, die es so vor dreißig Jahren nicht gegeben hat, wie das Instandhalten von Bewässerungssystemen. Außerdem ist Weiterbildung nötig, um die geänderte Flora und Fauna im Ökosystem Weingarten zu verstehen und adäquat handeln zu können.“ Beginnt die Weinlese bald einmal im Juli? Viele Experten teilen Seidls Sorge um die Zukunft des Weinbaus. Einige relativieren sie. „Klimawandel bedeutet ein ganzes Bündel an Änderungen unserer Rahmenbedingungen“, erklärt Astrid Forneck, Professorin für Wein- und Obstbau an der BOKU Wien. „Einige Folgen sind positiv, manche eher nachteilig.“ Als positiv verbucht sie: „Steigende Temperaturen bedeuten für eine Cool-Climate-Region wie Österreich höhere Mostgewichte im Mittel, späte Sorten schaffen es verlässlicher zur Vollreife.“ Andererseits räumt sie ein, dass Weine wie „säurebetonte, pfeffrige Veltliner, knackige Rieslinge und samtige ­Blaufränkische“ schwieriger zu erhalten und vinifizieren sein werden: „Traditionelle Sorten wandern eventuell in kühlere Rieden ab. Die Weingärten müssen ihr Bewirtschaftungsmanagement umstellen, etwa Maßnahmen zur Beschattung einziehen.“ Andreas Wickhoff, Weingutleiter der Langenloiser Winzerei Bründlmayer, ist überzeugt, dass die Produzenten, zumindest sein eigener Betrieb, die Lektionen des Klimawandels gelernt haben: „Nehmen wir das Jahr 2003, in der jüngeren Vergangenheit das erste wirklich sehr heiße Jahr. 2018 war mit 12,1 Grad Celsius Tagesmittelwert im Vergleich zu den 10,7 Grad von 2003 noch wärmer. Wenn man sich die Qualität unserer Weine von 2018 ansieht, kann man davon ausgehen, dass wir in diesen fünfzehn Jahren schon vieles dazugelernt haben, was das Bodenmanagement, die Laubarbeit und den Lesezeitpunkt in heißen J­ahren betrifft.“

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Wir haben nun Arbeit, die es so vor dreißig Jahren nicht gegeben hat, wie das Instandhalten von Bewässerungs­s ystemen“ FRANZ SEIDL, WINZER IM WEINVIERTEL

Astrid Forneck, Universität für Bodenkultur Wien

Steigende Temperaturen beschleunigen die Reife. So findet die Lese, mit der traditionell im Oktober begonnen wurde, nun schon im September oder wie 2018 gar im August statt. „Jedes Grad Celsius mehr übersetzt sich in eine Woche früherer Reife“, rechnet Wickhoff vor. „Bei 3,5 Grad Celsius mehr hätten wir eine Lese im Juli.“ Werden Weine geschmackloser und monotoner? Die Verkürzung der Reifezeit beeinträchtigt die Weinqualität. „Die immer früher einsetzende Ernte bei verkürzter Vegetationsdauer macht die Weine – je nach Sorte, ­besonders aber Weißweine –eindimensionaler und säureärmer. Säuren spielen im Aromaprofil eine wichtige Rolle, daher ändern sich auch die Aromen“, sagt Winzer Seidl. „Zusätzlich leidet auch die Lagerfähigkeit. ­Belässt man Trauben hingegen für eine längere Vegetationszeit am Stock und erntet bei ­Vollreife, erzielt man oft unharmonische Alkoholbomben. Besser ist die ­Situation bei Rotwein, dessen Fülle und Dichte zunehmen können, oft aber leiden Frucht und Saftigkeit.“ „Je heißer es wird, desto einfacher gestrickt und monotoner ist der Wein“, pflichtet Wickhoff bei. „Weintrauben brauchen ausreichend Wärme, aber auch genug Frische, damit der Wein nicht langweilig wird.“ Maßnahmen zum Schutz der Trauben vor zu hohen Temperaturen sind mühsam. „Teilweise muss nachts geerntet und gekühlt gelagert werden, mit entsprechend höheren technischen Anforderungen in Presshaus und Keller“, sagt die Weinexpertin Astrid Forneck. Geht die Erderwärmung in ihrem gegenwärtigen Tempo weiter, sind systemische Änderungen beim Weinbau notwendig. Forneck zählt auf: „Ausweichen in die Höhe, in Randlagen und in kühlere Lagen sowie die Änderung der Ausrichtung der Rebzeilen etwa von Südwest nach Nordost, Beschattung und die Änderung der Weinaufziehsysteme. Essenziell ist die gezielte Bewässerung. Hierfür werden bezahlbare, nachhaltige und effiziente Wassernutzungssysteme notwendig sein.“ Sind Weine aus Tirol und Kärnten die Zukunft? Da es keine Krise gibt, die nicht auch Gewinner hervorbringt, kommen in Österreich neue Weinbaugebiete auf: „Tirol und Kärnten beginnen durchwegs anregende Weine zu kredenzen“, konzediert der Langenloiser Winzer Wickhoff. Der Weinviertler Seidl stellt infrage, ob das ökologisch sinnvoll sei. „Es bleibt wohl ein Nullsummenspiel. Wenn in Tirol auf 1.000 Metern Weinbau betrieben wird, verliert man ganz allgemein Produkte der Natur oder Lebensräume.“ In Europa werden südlichen Regionen schwierige Zeiten vorausgesagt, insbesondere, laut Wickhoff, solchen, „die keinen Einfluss des Meeres genießen oder von kühlen

Bergwinden gemäßigt werden. Vermutlich ­ erden in Teilen des Mittelmeerraumes w ganze Landschaften verkarsten oder versteppen.“ Aus solchen Regionen wird sich die Produktion nach Norden verlagern. „Rebflächen gibt es bereits in den Niederlanden, Cornwall und Schweden, allerdings mit nicht unerheblichen Problemen wie Pilzbefall“, erklärt die Forscherin Forneck. Dem südlichen Teil Großbritanniens mit Cornwall, Sussex und Somerset bescheinigt auch Wickhoff eine Zukunft als Weingegend, außerdem deutschen Gebieten an Saale-Unstrut, Ahr oder dem Mittelrhein. Um heimische Rebsorten muss man sich allein der Temperaturen wegen noch keine Sorgen machen. „Alle Rebsorten, die wir jetzt anbauen, können auch in fünfzehn Jahren kultiviert werden“, versichert Forneck. „Das Geschmacksprofil der Trauben und damit auch der Weine kann sich allerdings ändern. Wir wissen, dass viele Aromakomponenten sowohl von Temperatur als auch Stressfaktoren wie Trockenheit oder ­Sonnenbrand abhängig sind. Das heißt, die Sorten produzieren andere Weintypen. Andere oder adaptierte Rebsorten, etwa später reifende, könnten dann Lesegut für die derzeit präferierten Weintypen zuliefern.“ Es sei jedoch „aus heutiger Sicht schwierig, allein durch anbautechnische Maßnahmen die bestehenden Sorten langfristig am selben Standort zu halten“. Weinbau kann künftig extrem teuer werden Der Klimawandel zeigt sich in steigenden Temperaturen und extremen Wetterphänomenen. Intensive Regenfälle machen, wie Wickhoff berichtet, einen Erosionsschutz unabdingbar. Hagel ist zu einer aggressiven Bedrohung der Weinkulturen geworden. Extremwetter ist, so Astrid Forneck, die kostspieligste Gefahr für die Reben, weil ihre Abwehr die aufwendigsten Maßnahmen erfordert. „Winzer schützen sie mit Hagelnetzen, Hagelfliegern, Begrünungssystemen, Drainage- und Bewässerungsanlagen sowie technischem Frostschutz etc. Das sind massive Investitionen bei bleibend hohem Risiko. Versicherungen können helfen, das Betriebsrisiko zu mindern.“ Ist daraus der Schluss zu ziehen, dass den Beruf des Winzers künftig nur mehr wohlhabende Menschen ausüben können? „Eine bittere Frage“, sagt die BOKU-Professorin. „Dass bei einem Handwerksbetrieb gute Arbeit, gutes Material und gutes Service ihren Preis haben, ist selbstverständlich und unwidersprochen. Dasselbe sollte für die Leistungen im Weinbau gelten, und das gilt nicht nur für die Qualität in der Flasche, sondern auch, was die Produzenten für das Ökosystem und die Landschaft tun.“ Franz Seidl drückt es so aus: „Es geht nicht nur um uns Winzer, es geht darum, dass diese Erde als fruchtbarer Garten erhalten bleibt.“

FOTOS: VOICES OF CLIMATE CHANGE, FOTOGRAFIEHOCH2/BOKU

E


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  17


18 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

Die russische Steppe verdorrt Dem fruchtbarsten Gebiet Russlands drohen Verwüstung und Brandkatastrophen ie Eurasische Steppe erstreckt sich 7.000 Kilometer weit über Teile Osteuropas und Zentralasiens bis in den Osten Chinas. In der Russischen Föderation zieht sie sich über die Osteuropäische Tiefebene bis nach Sibirien und wird in Typen aufgeteilt, die parallel zueinander verlaufen: Die Waldsteppe im nördlichen Übergang zur Taiga, die Langgras-, Mischgrasund Kurzgrassteppe in der Mitte und die Wüstensteppe im Süden. Die russische Steppe ist heute vor allem von landwirtschaftlicher Bedeutung. Auf den Steppen der Osteuropäischen Tiefebene, die nur rund sechs Prozent der Gesamtfläche der Russischen Föderation ausmachen, werden knapp vierzig Prozent des landwirtschaftlichen Ertrags eingebracht. In der Steppenzone gibt es besondere Bodentypen wie den Tschernosem, die Schwarzerde, einer der fruchtbarsten Böden der Erde. Er findet sich auch in den Steppen Ungarns und Rumäniens, im Weinviertel und im nördlichen Burgenland. Doch die intensive landwirtschaftliche Nutzung verursacht Degradationsprozesse im Boden. „Dadurch gehen eine oder mehrere biologische und ökonomische Funktionen des Bodens teilweise oder völlig verloren“, erklärt Sabine Kraushaar vom Institut für Geografie und Regionalforschung der Universität Wien. Die russische Steppe wird allmählich zur Wüste Degradation ist oft auf Erosion oder auf chemische Prozesse zurückzuführen. „Von chemischer Degradation spricht man, wenn die Nährstoffe im Boden verloren gegangen sind, etwa durch Ausspülung oder Versalzung“, erklärt Kraushaar. Erosion hingegen ­bedeutet den Verlust des für Menschen landwirtschaftlich nutzbaren Bodens durch Ausspülung oder Ausblasung. Derartige Prozesse nehmen in Steppengebieten besonders verheerende Ausmaße an: „Wenn Boden in ariden und semiariden Gebieten degradiert, wird vormals fruchtbares Land nicht nur unfruchtbar, häufig kann sich auch keine geschlossene Vegetations­decke mehr bilden. Dies verstärkt die Boden­degradation weiter, was auch den Grundwasserspiegel absenken kann und das Land sozusagen verwüstet.“ Die Wüstenbildung, Desertifikation genannt, hat katastrophale Auswirkungen: Neben Wasserknappheit und erschwerter Nahrungsmittelproduktion führt sie auch zu einer Reihe gesundheitlicher Probleme bei Menschen. Sandstürme und Luftverschmutzung können Atemwegserkrankungen und Augenentzündungen auslösen. Laut einer Schätzung des russischen Forschers German Kust aus dem Jahr 2013 sind über sieben Prozent des Staatsgebiets der Russischen Föderation von Desertifikationsprozessen betroffen. Die von German Kust, Olga Andrejewa und Dmitri ­Dobrynin ­erstmals im Jahr 2011 kartografierte

TEXT: SOPHIE JAEGER

Allein zwischen 14. April und 13. Mai 2020 wurden in der russischen Steppe große Brandherde in den Oblasten Nowosibirsk, Krasnojarsk und Sabaikalsk gesichtet

Anton Beneslawski, Greenpeace International

Sabine Kraushaar, Universität Wien

Desertifikationszone Russlands zieht sich – ähnlich dem Steppengürtel – von der Grenze zur ­Ukraine im Süden der Föderation entlang der Grenze zu Kasachstan bis nach ­Sibirien. Der südliche Teil der Föderation, insbesondere das Gebiet zwischen dem Asowschem und dem Kaspischem Meer ist besonders betroffen. In diesem Gebiet, das im Westen an die Ukraine und im Osten an Kasachstan grenzt, befinden sich die Oblaste Rostow, Wolgograd und Astrachan sowie die Republik Kalmückien. Kalmückien liegt an der nordwestlichen Küste des Kaspischen Meeres und wird oft als „erste Wüste Europas“ bezeichnet. In dreiundzwanzig weiteren Föderationssubjekten tritt Desertifikation zumindest partiell auf und betrifft insgesamt ein Gebiet von über hundert Millionen Hektar in der Russischen Föderation. Menschliche Eingriffe führen zur Verwüstung Desertifikationsprozesse gefährden die Lebensmittelsicherheit massiv und können weite Landstriche unbewohnbar machen. Das Problem wurde bereits zu Sowjetzeiten aufgegriffen. In den 1980er Jahren widmeten sich die Rostower Filmstudios in mehreren kritischen Dokumentarfilmen den fatalen Folgen der Bodendegradation. Der russische Journalist Anatoli Iwasch­ tschenko, Autor dieses Filmzyklus, würde nach heutigen Maßstäben wohl als Umweltaktivist bezeichnet werden. Wehmütig und anklagend beschreibt er, wie Menschen erst in den Kosmos fliegen mussten, um zu erkennen, welchen Schaden sie der Erde zufügen. Die bildgewaltige Dokumentation mit dem Titel „Eiserne Setzlinge“ (1987) fokussiert auf den Einsatz schwerer Maschinen und den Anbau von Monokulturen als Gründe für die zunehmende ­Degradation des Bodens und die Desertifikation der russischen Steppe. Auf die Frage, was Desertifikationsprozesse beeinflusst, erklärt Sabine Kraushaar von der Universität Wien, dass sich Verwüstung selten auf einzelne Gründe zurückführen lässt. „Global betrachtet zeigt sich, dass der Klimawandel größere Gebiete aridisieren lässt, wodurch die Desertifikation schnell voranschreitet.“ Die Desertifikation kann durch das Wirken von Menschen regional auf sehr unterschiedliche Weise begünstigt werden. Beispielsweise wird der Boden in der Oblast Rostow dank seiner Fruchtbarkeit seit Jahrhunderten gepflügt. Dies zerstört seine Struktur und er kann Wasser weniger gut aufnehmen, weshalb es oberflächlich ­abläuft und den Boden erodiert. Darüber hinaus wurde in dem Gebiet massiv Braun- und Schwarzkohle gefördert. Neben der Bodenkontamination führte dies auch zu einem Absinken des Grundwasserspiegels, was wiederum die Erosion begünstigte. In anderen Gebieten der Russischen Föderation wie zum Beispiel in der bereits ­erwähnten

Republik Kalmückien, lässt sich die Desertifikation vor allem auf eine Überweidung der Steppe und fehlerhafte Bewässerungssysteme zurückführen. Auf diese Weise verkamen bis in die 1990er Jahre dreizehn Prozent des Gesamtgebiets der Republik Kalmückien zu Wüsten. Zur Verwüstung kommen nun gewaltige Brände hinzu In den letzten Jahren tritt eine Gefahr für die russische Steppe immer häufiger und massiver auf: Feuer. Brände gefährden besonders die Steppengebiete in Sibirien, die im Übergang zum borealen Nadelwald liegen wie zum Beispiel in der Teilrepublik Chakassien. Anton Beneslawski, Waldbrandexperte bei Greenpeace International, erklärt, warum Steppenbrände, die meist auf Menschen zurückgeführt werden können, so gefährlich sind: „Das Gras in der Steppe und in bereits degradierten Waldgebieten dient als Zunder für die Brände in der Taiga. Grasland entflammt leicht und vor allem schnell und gefährdet so den intakten Wald in seiner Umgebung.“ Vor wenigen Jahren noch wären Brände vom Regen gelöscht worden. Doch nun bleiben die Regenfälle immer häufiger aus. Verbunden mit den steigenden Temperaturen in Zusammenhang mit dem Klimawandel führt das heute dazu, dass große Teile des sibirischen Waldes bereits im Frühjahr in Flammen stehen. So zeigt das NASA Satellitenüberwachungssystem für die Zeit zwischen 14. April und 13. Mai 2020 große Brandherde in den Oblasten Nowosibirsk, Krasnojarsk und Sabaikalsk. All diese Gebiete sind in ihren südlichen Ausläufern auch von der Desertifikation betroffen. Die Maßnahmen gegen Desertifikationsprozesse gestalten sich in der Russischen Föderation wie auch andernorts als schwierig. Offizielle Dokumente der Föderation erwähnen Desertifikation erstmals 1995, als die massive Verschlechterung der Lebensbedingungen in Kalmückien die Behörden dieser Republik in Zugzwang brachte. In Zusammenarbeit mit dem UN-Umweltprogramm wurde ein Nationaler Aktionsplan für Kalmückien entworfen, der Gegenmaßnahmen beschreibt. So wurde beispielsweise begonnen, im Nationalpark Tschornyje Semli („schwarze Ländereien“), einem Naturschutzgebiet an der kalmückischen Grenze zu Astrakhan, Steppenvegetation künstlich anzubauen, um den Boden zu festigen und die fortschreitende Versandung des Gebiets zu stoppen. Darüber hinaus ist die Weidewirtschaft auf dem gesamten, über tausend Quadratkilometer großen Gebiet verboten. Es fehlt jedoch ein umfassender Plan zur Bekämpfung der Desertifikation, der die zahlreichen regionalen Unterschiede auf dem gewaltigen Territorium der Russischen Föderation miteinbezieht. Daher sind weite Teile der russischen Steppe weiterhin der Verwüstung ausgesetzt.

FOTOS: ALEXANDER EMELYANOV, STEPHAN SCHULZ

D


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  19


20 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

:  VO N A B I S Z

Endstation Steppe: Das Glossar JOCHEN STADLER

Aprilwetter  Im vergangenen Jahrhundert wurden die stündlich zwischen Regen und Sonnenschein wechselnden Bedingungen im Frühjahr so geschimpft. Der April zeichnete sich heuer durch anhaltendes Schönwetter aus. Bewässerung  Versorgung von Nutzpflanzen und Ziergewächsen mit Wasser, um ihr Wachstum zu fördern oder überhaupt erst möglich zu machen. Bewölkung  Gebilde aus kondensiertem Wasser in der Erdatmosphäre. Bodenversiegelung  Schaffung künstlicher Wüsten aus Beton, Teer und Ziegelstein durch die Menschen. Borkenkäfer  Führen synchronisierte Massenangriffe auf von Trockenheit vorgeschädigte Bäume durch. Dürre  Langfristiger Mangel an Wasser und Niederschlag in einem Gebiet. Wird durch den Klimawandel in Österreich häufiger. Extremniederschläge  Werden wie Dürren in Mitteleuropa heftiger. Flachwurzler  Bäume wie Fichten, Hainbuchen und Weiden, deren Wurzeln sich in den oberen Bodenschichten ausbreiten, haben kaum Zugang zu tiefer liegenden Wasservorräten. Gießen  Bewässerung im Kleinformat wie etwa bei Balkon-Blumenkästen und Gartenbeeten. Gewitter  Werden in Mitteleuropa durch den Klimawandel immer heftiger und bringen mit steigender Temperatur stärkere Niederschläge. Grundwasser  Im Boden gespeicherte Nässe. Ist in Österreich die mit Abstand wichtigste Ressource für Trinkwasser. Hydrologische Dürre  Entsteht, wenn die Wasserstände in Seen und Flüssen weit unter den Normalwert fallen oder sie gar austrocknen wie der Neusiedler See von 1865 bis 1871. Klima  Das durchschnittliche Wetter in einem bestimmten Areal. Klimawandel  Vom menschlichen Treibhausgasausstoß angetriebene Temperaturerhöhung der Erdatmosphäre, die unter anderem die Großwetterlagen auf der ganzen Welt zunehmend verändert. Kulturland  Von Menschen durch Besiedelung oder Anbau geprägte und gegenüber dem natürlichen Zustand massiv veränderte Landschaft. Landwirtschaftliche Dürre  Durch Wassermangel in Wurzelhöhe der Nutzpflanzen sinkt der Ertrag, oder die Ernte fällt sogar aus. Luftfeuchtigkeit  Anteil des Wasserdampfes am Gasgemisch der Luft. Wird meist als relative Luftfeuchtigkeit angegeben, als Prozentanteil davon, wie viel von der möglichen Höchstmenge sich darin befindet. Meteorologische Dürre  Entsteht, wenn in einer Klimaregion über längere Zeit weniger Niederschlag als gewöhnlich fällt.

Niederschlag  Wasser, das samt möglicher Verunreinigungen in flüssiger oder fester Form auf die Erde fällt. Niederschlagsmessstation  Im Prinzip ein Kübel, der einen Meter über dem Erdboden aufgehängt ist und den Niederschlag auffängt, dessen Menge anschließend meist durch Gewichtsmessung bestimmt wird. Nutzpflanzen  Dienen den Menschen als Nahrungs-, Genuss- und Heilmittel sowie als Viehfutter und brauchen eine gewisse Menge Niederschlag oder Bewässerung zum Wachsen. Schönwetter  Anhaltender Sonnenschein bei hohen Temperaturen. Erfreut die Psyche des Menschen. Anhaltendes Schönwetter belastet jedoch die Körper von Menschen und Tieren sowie die Pflanzenwelt massiv und treibt den Landwirten den Angstschweiß auf die Stirn, weil sie dann fürchten müssen, dass ihre Wiesen und Felder verdorren. Starkregen  Mehr als zehn Liter Niederschlag pro Quadratmeter pro Minute. Steppe  Recht öde Landschaft, wo keine Bäume, aber Kräuter und Gräser stehen. Meist ist es dort im Winter kalt und im Sommer trocken. Trockenheit  Fehlen von Flüssigkeit und Feuchtigkeit. Kennzeichnet knarzende Kugellager und Wüsten. Trockentoleranz  Die Fähigkeit mancher Pflanzen und Feldfrüchte durch Evolution, klassische Züchtung oder Gentechnik längere Trockenphasen zu überstehen. Überschwemmungen  Ein Beispiel, dass zu viel des Guten so gut nicht ist. Vegetation  Pflanzenbewuchs in einem Gebiet. Verdunstung  Übergang vom flüssigen in den gasförmigen Zustand. Passiert nur dann, wenn die Gasphase über einer Flüssigkeit noch aufnahmefähig ist. Versalzung  Überhöhte Anreicherung von wasser­löslichen Salzen im Boden. Geschieht, wenn die Wasserbilanz negativ ist, also die Verdunstung größer ist als die Niederschlagsmengen. Versteppung  Die Entstehung einer Steppe in einstigen Wald- oder Buschgebieten, etwa durch Abholzung, den Klimawandel oder durch das Absinken des Grundwasser-Spiegels. Waldbrandgefahr  Wird durch vom Klimawandel verursachte Trockenheit und Dürre größer. Wetter  Der kurzfristige Zustand der nahen Erdatmosphäre, wie er vom Beobachtungsort an der Erdoberfläche wahrgenommen werden kann. Wetterradar  Geräte, die den Himmel nach Wassertröpfchen abscannen. Wüste  Gegend ohne oder mit nur weniger Vegetation, weil es sehr kalt oder trocken ist. Entsteht aber auch, wenn die Pflanzendecke bis auf das Grundsediment und Grundgestein abgeweidet wurde.

:   F R E I H A N D B I B L I OT H E K BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA VON EMILY WALTON

Wassertechnik der letzten 2.500 Jahre und ihre Zukunft

Wo Hoteliers Delfine in der Wüste schwimmen lassen

Die Be-, Ent- und Versorgung von und mit Wasser ist für die meisten von uns so unkompliziert, dass wir uns wenige Gedanken über die Techniken und Netzwerke dahinter machen. Der Autor David Sedlak legt in seinem Buch dar, vor welchen Herausforderungen die Wassersysteme stehen und wie sich unser Verhältnis zum Wasser ändern muss, um diese zu lösen. Um das zu verstehen, gibt er einen Überblick über die Wassertechnik und deren Entwicklung in den vergangenen 2.500 Jahren von den Aquädukten der Römer bis zu den unterirdischen Leitungen der Neuzeit.

Frisch ist selbst bei frisch aus der Leitung geflossenem Wasser relativ, denn auch dieses Wasser ist vier Milliarden Jahre alt und könnte daher, theoretisch, auch schon einem Tyrannosaurus Rex als Erfrischung gedient haben. Mit Gedanken wie diesen nimmt Charles Fishman die Leser mit auf eine Entdeckungsreise, die von einer HightechWasserfabrik über eine Reisfarm im Outback Australiens über Las Vegas, wo Hoteliers Delfine in der Wüste schwimmen lassen, bis zu den Wassern auf den Monden Jupiters reicht, und dabei unsere komplexe Beziehung zum Wasser untersucht.

David Sedlak, Water 4.0: The Past, Present and Future of the World‘s Most Vital Resource, Yale University Press, 332 S.

Charles Fishman, The Big Thirst, Simon & Schuster, 402 S.

Wie wir heutzutage mit der lebenswichtigen Ressource Wasser umgehen

Wie hydrologische Einflüsse Großstädte bedrohen können

Der jüngeren Geschichte von Menschen und Wasser widmet sich Brian Fagan, vormals Professor für Anthropologie an der University of California: Von den Anfängen der Zivilisation zeichnet er fünf Jahrtausende nach. Wie wir heutzutage mit der lebenswichtigen Ressource umgehen, hat, so der Autor, Wurzeln in der weit zurückliegenden Vergangenheit. Er beschreibt auch, wie jede menschliche Kultur vom Wasser geprägt wurde – von den frühen Jägern und Sammlern über die Römer und Griechen, deren Aquädukte teils heute noch genutzt werden, bis zu den heutigen Gesellschaften.

An Paris, Berlin, Lagos, Mumbai, Los Angeles und London zeigt Matthew ­Gandy die kulturelle Bedeutung von Wasser für Infrastruktur und Urbanität. Dabei geht es um die Kanalisation der französischen Hauptstadt im 19. Jahrhundert und die Rekonstruktion des unterirdischen Paris, oder den Versuch, Berlin zu Zeiten der Weimarer Republik wieder mit der Natur zu vereinen, indem der Zugang zum Schwimmen im See gesichert wurde. Ein Gedankenspiel widmet sich einem fiktionalen London, um zu untersuchen, wie hydrologische Einflüsse Großstädte bedrohen können.

Brian Fagan, Elixir: A ­History of Water and Humankind, Bloomsbury Publishing, 384 S.

Matthew Gandy, The Fabric of Space: Water, Modernity, and the Urban Imagination, MIT Press, 362 S.


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  21


22 FALTER  28/20  H EUR EKA 2/20 :  T I T ELT H E M A

:   H Y D RO B I O LO G I E

Wir graben den Fischen das Wasser ab Man soll keine Meeresfische mehr essen, um ihren Bestand zu schonen. Aber auch für Bachforellen, Huchen und Äschen sieht es düster aus SOPHIE HANAK

In Österreich wird durch Dürreperioden verursachtes Niedrigwasser immer früher im Jahr beobachtet. Um kritische Gewässerabschnitte rechtzeitig zu erkennen, wurde in Niederösterreich ein Alarmsystem aufgebaut. „Wenn sich eine Hitzewelle ankündigt, messen wir alle fünfzehn bis dreißig Minuten den aktuellen Wasserstand und die Wassertemperatur. Kommt es an einer der Messstellen zu einer für Fische gefährliche Überschreitung des Grenzwerts, geht eine Warnmeldung an die Bezirkshauptmannschaften, den Niederösterreichischen Landesfischereiverband und die vor Ort tätigen Fischereiaufseher“, sagt Landesfischermeister Karl Gravogl. In der Vergangenheit konnten solche Szenarien meist durch eine freiwillige Erhöhung der Abgabe der Restwassermenge von Wasserkraftanlagen in das betroffene Fließgewässer entschärft werden. An vielen Flüssen wie der Schwechat im Helenental, die im Sommer sehr wenig Wasser führen, bestehen keine Wasserkraftanlagen. „Dort hoffen wir, dass die Fische

tiefere Kolke, das sind wassergefüllte Vertiefungen im Flussbett, finden, wo sie sich erholen können.“ Als letzte Maßnahme vor einem drohenden Fischsterben können Notabfischungen veranlasst werden, die jedoch sehr belastend für die Fische sind.

Florian Borgwardt, BOKU Wien Forellenartige Fische sind besonders gefährdet Auch in Oberösterreich wird vermehrt Trockenheit beobachtet. „Leider kommen wir mit Trockenheit und Temperaturanstieg in den Gewässern nun jeden Sommer in Berührung, vor allem die letzten beiden Sommer waren problematisch. Gewässer wie Krems oder Pesenbach fallen abschnittsweise

trocken“, sagt Klaus Berg vom Oberösterreichischen Landesfischereiverband. In solchen Situationen sind besonders die forellenartigen Fische wie Forellen, Äschen oder Saiblinge gefährdet. Sie haben einen höheren Sauerstoffbedarf als karpfenartigen Fische. Der Lebensraum dieser kälteliebenden Fischarten wird sich langfristig verringern. „Die Trockenheit führt zum Verlust von aquatischem Lebensraum, die Sauerstoffverfügbarkeit ist geringer, auch wird der Ausbruch von Fischkrankheiten wie der Proliferativen Nierenkrankheit begünstigt“, erklärt Klaus Berg. „In den Uferbereichen wird meist zu stark gerodet, und fehlendes Ufergehölz lässt die Wassertemperatur steigen. Durch eine Erhöhung der Beschattung könnte die Wassertemperatur um bis zu zwei Grad Celsius reduziert werden. Auch die Wiederanbindung kühlerer Zuflüsse an die Hauptgewässer ist eine wirksame Möglichkeit.“ Dieser Meinung ist auch Florian Borgwardt vom Institut für Hydro-

biologie und Gewässermanagement der BOKU Wien. „Wichtig sind Retentionsflächen im Umland der Gewässer wie etwa Feuchtwiesen oder Auwälder. Sie halten Wasser zurück, damit die Landschaft es allmählich wie ein Schwamm aufnehmen kann. Das hilft im Hochwasserfall, aber auch um Dürren entgegenzuwirken. Viele solcher Flächen sind heutzutage drainiert und trockengelegt, um sie etwa landwirtschaftlich nutzen zu können.“ Je homogener und begradigter ein Fluss ist, desto kleiner und schlechter eignet er sich als Lebensraum für Fische. Eine zusätzliche Belastung wie Erwärmung oder deutlich weniger Abfluss kann den Fischbestand zusätzlich negativ beeinflussen. „Ein großes Problem ist, dass die hydrologischen Vorhersagen hinsichtlich der Wassermengen in den Gewässern mit großen Unsicherheiten daherkommen und die Modelle nicht eindeutig sind“, erklärt Borgwardt. „Persönlich bin ich der Meinung, dass das Thema derzeit unterschätzt wird.

:   Ö KO SYST E M DY N A M I K

Baumsterben im Fichtenwald Der Borkenkäfer bereitet der heimischen Forstwirtschaft Sorgen. Sie werden in nächster Zeit noch größer werden

Ich würde nicht von einem Waldsterben sprechen“, erklärt Rupert Seidl, Leiter des Departments für Ökosystemdynamik und Waldmanagement an der TU München. „Der Wald als Ökosystem verschwindet nicht. Tatsächlich nehmen die Waldflächen in Österreich sogar leicht zu. Was wir im Moment aber sehen ist ein massives Baumsterben.“ Der Forstwissenschaftler und sein Team konnten zeigen, dass sich die von Baummortalität betroffenen Flächen in Mitteleuropa in den letzten dreißig Jahren verdoppelt haben. Diese Entwicklung hat jedoch andere Ursachen als das „Waldsterben“ der 1980er Jahre und ist eng mit den steigenden Temperaturen und der Erderhitzung verknüpft. Aus Fichtenmonokulturen wird dank der Borkenkäfer Schadholz Die momentan große Menge an Schadholz ist auf eine Verkettung unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen. Die heimische Forstwirtschaft ist zu großen Teilen eine Fichtenwirtschaft,

die die Hälfte der Ertragswaldflächen ausmacht. Viele Fichtenwälder erreichen gerade ein kritisches Alter: „Je größer Bäume werden, desto schwerer fällt es ihnen, Wasser aus den Wurzeln bis in die Krone zu transportieren. Mit der Größe werden sie auch anfälliger für Wind und Schädlinge“, sagt Seidl. Da Fichten jedoch nur flache Wurzeln

Rupert Seidl, TU München ausbilden, leiden sie bei Starkwindereignissen besonders. Sommerlichen Dürren, von denen das Waldviertel in den letzten Jahren stark betroffen war, schwächen die Abwehrmechanismen der Bäume zusätzlich. Dies liefert sie dem Borkenkäfer aus. Der „Buchdrucker“, ein Fichtenborkenkäfer, benötigt wegen seiner Größe ältere und hohe

Bäume, um sich einnisten zu können. In vielen Fichtenmonokulturen findet er eine ideale Bestandsstruktur und in den dicht stehenden und von Dürre geschwächten Bäumen beste Verbreitungsbedingungen vor. Das führt zu einer großen Menge an Schadholz. Von der Monokultur zum vielfältigen Mischwald Zumindest beim Borkenkäferbefall ist mittelfristig Besserung zu erwarten: „Der Buchdrucker kommt in Wellen. Erfahrungsgemäß ebben diese ab, wenn mit der Population des Käfers auch die seiner Fressfeinde anwächst. Gleichzeitig nimmt die Nahrungskonkurrenz unter den Käfern zu“, erklärt Seidl. Langfristig zwingt jedoch der Klimawandel die Forstwirte zum Handeln: „Aktuell sehen wir, was ein Temperaturanstieg von rund einem Grad Celsius bewirken kann. Wenn es so weitergeht, werden wir am Ende des Jahrhunderts eher bei zusätzlichen drei bis vier Grad landen.“ In den Tief- und Mittellagen werden es

Fichten jedoch künftig schwer haben. „Natürlich gibt es Eichen oder Douglasien, die mit sommerlichen Dürreperioden besser zurechtkommen. Es wäre aber falsch, erneut auf Monokulturen zu setzen. Wenn man eine neue Baumart einführt, werden auch die Schädlinge nachfolgen.“ Mischwälder hingegen reagieren auf Schädlinge, aber auch auf Klimaextreme robuster. Es geht dabei nicht nur um einen Mix aus unterschiedlichen Arten, auch eine strukturelle Vielfalt durch unterschiedlich alte Bäume wirkt sich positiv aus. Die Forstwirtschaft stehe vor großen Herausforderungen, meint Rupert Seidl: „Forstwirtschaft hat ja immer zwei Seiten. Einerseits arbeitet man mit dem Wald, den Generationen vor uns gepflanzt haben und versucht, das Beste für die heutige Gesellschaft herauszuholen. Gleichzeitig muss man aber auch immer den Wald für die nächsten Generationen schaffen, der den erwarteten Umweltveränderungen standhält. In Zeiten eines rapiden globalen Wandels keine leichte Aufgabe.“

FOTOS: WWW.PLETTERBAUER.NET,ANDREAS HEDDERGOTT

WERNER STURMBERGER


Z U G U TE R L E T Z T   :   H EU R E KA  2/20   FALTER 28/20  23

: GEDICHT

H A N S J Ö RG Z AU N E R , 9 9 . 1 4 4 G E D I C H T N A S E N LÖ C H E R S C H I E SS E N AU F M I C H …

Hansjörg Zauner (1959–2017), Schriftsteller und bildender Künstler, widmete sich der experimentellen Dichtung und Prosa. Zuletzt erschienen im Ritter Verlag: „die tafel schreibt“ (2012), „Sie ist im Lieblingssong mit Skistöcken als Lächeln hängen geblieben“ (2013) und der Band „99.144 gedichtnasenlöcher schießen auf mich bis alles passt“ (2016), aus dem der hier abgedruckte Text stammt. In seinen letzten zehn Lebensjahren ist er der Künstlerin Judith Zillich Modell gesessen; hier eines der Bilder. Mehr unter http:// members.chello.at/judith.zillich/works.html und bei Ausstellungen der Künstlerin in der Künstlerhaus-­Factory in Wien im Rahmen von „Kubus“ und im Egon ­Schiele Art Center in Český Krumlov.

ERICH KLEIN

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Licht & Mord

(…) beiß von deiner hand ab sie wird sicher trüffellanzen balancierfilterpoltern schneckenelefant im seiltanzenden koalakrokodil schmust süchtig beduselt aus tauchhüttendurchstecher laben rinnende sterne stelzenzeltpirouetten kreuzrumpelworträtsel zungensäureteer kräuselt feinste nuckelscherzidee

NUR PRIMZAHLEN HABEN ALLERBESTEN SEX MIT LIVEKAMERAS KREUZWORTSTRECKENGRENZEN PFLÜCKEN PRALINENWERKE HERAUSZEN HÄNGT SATTE WÄSCHE DRINNEN IM RUDEL GEBÄLK BEMALT FALTUNG SONNE GEKNARRT VOM SCHEINWERFERAAL

oleanderblüten aus zement holzt schaukelndes echowirbelsprühlaben deichsel turbo im zupfenden hufrodierflügel hüften loderschußschwalben im drechselzupfecho nuscheln schräge endloslangwickelschmusekleckser straßenbahnschienen mit augenschlürf­ brauen hoppelgletschern lässig hin

(…)

AUS: HANSJÖRG ZAUNER: 99.144 GEDICHTNASENLÖCHER SCHIESSEN AUF MICH BIS ALLES PASST (2016)

:  B I G P I C T U R E   JUDITH ZILLICH, „CIF UND UHU-STIC“, ÖL AUF LEINWAND, 100 X 100 CM, 2012, MODELL: HANSJÖRG ZAUNER

:   I M P R E SS U M Herausgeber: Armin Thurnher; Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Redaktion: Christian Zillner, Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Martina Paul; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.

HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

Letzte Worte haben vom Ende her Bedeutung. Danach kommt nichts mehr. Soweit bekannt, folgte, abgesehen von der Gründung einer Religion, auf Jesu Christi „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ keine Antwort. Sokrates galt als Verführer der athenischen Jugend und verabschiedete sich von der Welt laut Platon rätselhaft: „O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig.“ Niemand würde Ärzten neudeutsch die „Wertschätzung“ versagen, aber einen Hahn opfern? Die Welt dreht sich mit Galileos „Sie bewegt sich doch“ weiter und begnügt sich mit Mythen wie dem Wort des dreiundachtzigjährigen Goethe: „Mehr Licht!“ War nicht ohnehin Aufgabe der Literatur, wenn sie denn eine hat, vorletzte Worte, also einen möglichst langen Weg bis zum Ende zu finden? Am Ende seines mühsamen Ganges durch die „Göttliche Komödie“ beginnt Dante beim Anblick eines Lichtpunktes zu stammeln. Es handelt sich um jene Art von Regression, wie sie in Faust II explizit gemacht wird: „Das Unbeschreibliche, / Hier ist’s getan; Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“ Realistischere Geister unter den Autoren, von Daniel Defoe bis Peter Handke, verwiesen im Wissen um die Begrenztheit ihrer sprachlichen Mittel darauf, sie würden bei anderer Gelegenheit noch Genaueres mitteilen … Diese drei Punkte mit Verweis aufs Offene setzt auch Georg Büchner ans Ende seiner Erzählung „Lenz“, um einen modernen Seelenzustand zu artikulieren: „So lebte er hin …“ Da die Frauen der Literatur bis ins 20. Jahrhundert meist ohne eigene Stimme vorkommen, gilt: Die Heldin wird im letzten Akt geopfert. Madame Bovary und Anna Karenina enden tragisch. Zu den Gründen für Effi Briests Siechtum zum Tode hat ihr Autor Theodor Fontane selbstkritisch gemeint, dies sei ein „zu weites Feld“. Der lakonische Exitus des Großmeisters endlos hinausgezogener Theaterschlüsse, Anton Tschechow: „Ich sterbe!“ Anders als Dante, der vor übergroßer Helligkeit verstummte, verschlug es den Autoren des 20. Jahrhunderts ob der Gräuel der Welt die Rede. Allein der letzte Satz von Franz Kafkas 1914/15 entstandenem Roman „Der Proceß“ vermochte noch eine Art metaphysischer Gültigkeit zu evozieren: „Wie ein Hund! sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Das Ende von Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“: „Es war Mord.“


I N S I D E F R I D AYS F O R F U T U R E Benedikt Narodoslawsky

Insiderinfos zur p olitischen D ynamik der Bewe gung und der Klimakat as trophe im A llgemeinen. Inklusive prak tischer Tipps. 240 Seiten, â‚Ź 24,90

falt ershop .at | 01/536 60-928 | In Ihrer B uchhand lung

KLIMA AKTIV RETTEN


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.