HEUREKA 2/09

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2–09

Das Wissenschaftsmagazin im

Beilage zu Falter Nr. 26/09 Erscheinungsort: Wien. P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien; lfde. Nummer 2204/2009

Cover: Corbis

Mathematik

Womit zu rechnen ist


Die Jugend für Forschung begeistern Die Initiative generation innovation bietet vom Kindergarten bis zum Schulabschluss attraktive Angebote im Bereich Naturwissenschaft und Technik, um junge Menschen für Forschung, technologische Entwicklung und Innovation zu begeistern und dabei ihre verborgenen Fähigkeiten zu entdecken. Das Infrastrukturministerium organisiert und finanziert diese neue Programmlinie. Ministerin Doris Bures, die diese Initiative heuer ins Leben gerufen hat, erklärt, warum: „Die wichtigste Ressource unseres Landes ist das Wissen seiner Menschen. Die Kinder und Jugendlichen von heute sind unser Potenzial für die Zukunft.“

Praktikaplätze in den Sommermonaten

Praktikumsplätze in Forschungsinstitutionen und Unternehmen werden vom BMVIT mit € 1000,– gefördert, um es SchülerInnen ab dem 16. Lebensjahr zu ermöglichen, berufliche Erfahrungen zu sammeln und in die faszinierende Welt der Forschung einzutauchen. SchülerInnen erhalten davon € 700,– Bewerbungsmöglichkeit noch bis Mitte August 2009!

Mentoring ab Herbst 2009

ExpertInnen aus Technik und Naturwissenschaften begleiten junge Frauen zwischen 16 und 19 Jahren im Schuljahr 2009/10 und unterstützen sie beim Entscheidungsprozess der Berufs- und Studienwahl. Anmeldung für interessierte SchülerInnen und weitere ForscherInnen ab sofort!

Weitere generation innovation Regionen ab Herbst 2009

Regionale Bildungseinrichtungen schaffen gemeinsam mit Forschungsinstitutionen und Unternehmen innovative naturwissenschaftlich-technische Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche in ganz Österreich. Bewerbung öffnet im Herbst 2009.

Alle Anmeldungen und aktuelle Infos gibt es auf der Webseite www.generationinnovation.at – und der generation innovation Newsletter informiert laufend über aktuelle Projekte! generation innovation ist eine Initiative des

und des

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19.06.2009 13:35:22 Uhr


EDITORIAL

Valdis Krebs, orgnet.com

Liebe Leserin, lieber Leser!

Von wegen kontaktscheu: Der ungarische Mathematiker Paul Erdös (1913–1996) reiste in seiner illustren Laufbahn jahrzehntelang beständig umher und schuf sich ein globales Netzwerk mit einem fixen Kern und vielen Ausläufern, das von der Grafik dargestellt wird. Erdös veröffentlichte rekordverdächtige 1500 Artikel mit insgesamt 507 Co-Autoren. Diese erhalten die Erdös-Zahl 1. Wer wiederum mit einem seiner Co-Autoren publiziert hat, die Erdös-Zahl 2 usw. Spaß verstehen sie also auch noch, die Mathematiker.

INHALT

Seit 18 Monaten ist ein Mathematiker mein Büronachbar hier an der Uni. Seit 18 Monaten grüßen wir uns am Gang mit Kopfnicken, gesprochen haben wir noch kein Wort miteinander. Am Nachmittag spielt er 20 Minuten Gitarre, wohl zur Entspannung – und gar nicht schlecht. Lug ich in sein Büro, sitzt er häufiger schreibend am Tisch als tippend vor dem Computer. Hat er Besuch, malt er mit seinen Kollegen die Tafel voll. So sind sie, die Mathematiker: scheue, ver­ schlossene, aber musikalisch begabte Nerds, die in einer unzugänglichen Welt voller Zahlen und Formeln leben. Genug der Klischees. Nicht nur heureka!-Re­ dakteure brauchen ein realistischeres und somit auch besseres Bild der Mathematik(er). Damit Kinder und Jugendliche nicht glauben, das sei nichts für sie, damit sie mehr Spaß bei und weniger Angst vor der Sache haben (S. 16–17). Damit Mathematikerinnen nicht mehr geringer geschätzt werden als ihre männlichen Kollegen (S. 13–15). Und damit die Herren und Frauen Banker ab sofort genauer hinhören und nicht wieder mathematische Modelle mit der Realität verwechseln (S. 4–6). Dann lässt sich die nächste Finanzkrise vielleicht vermeiden. Ich werde mei­ nen Büronachbar jetzt gleich einmal auf einen Kaffee einladen. Oliver Hochadel

Du Sautoy

Mathematikum Gießen/ Rolf K. Wegst

Corn

EPA/Sebastiao Moreira

Das Blog zum Heft: www.heurekablog.at

Falsche Formel 4

Stille Sieger 10

Volles Vertrauen 13

Gute Geschichten 18

Der Crash war zu erwarten –

Österreichs Mathematiker sind

Mädchen und Frauen können

Marcus du Sautoy weiß, wie

die Börsianer verwechselten

näher an der Weltspitze als ihre

­genauso gut Mathematik.

man Mathematik vermittelt. Der

Modelle mit der Realität.

Landsleute aus anderen Fächern.

Im Weg stehen aber Vorurteile.

Dawkins-Nachfolger im Interview.

Verrechnet 7 Fehler mit Folgen | Verliebt 8 Fünf Forscher über ihr Verhältnis zur Mathematik | Vereinzelt 15 Johanna Michor über Mathematikerinnen | Verpönt 16 Wie man Schüler für Mathe interessiert | VerheiSSungsvoll 20 Der Boom der Bioinformatik Versiert 22 Denktechniker Christian Hesse im Porträt Impressum: Beilage zu Falter Nr. 26/09; Herausgeber: Falter Verlagsgesellschaft mbH., Medien­inhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T.: 01/536 60-0, F.: 01/536 60-912, E.: heureka@falter.at, DVR-Nr.: 0476986; Redaktion: Birgit Dalheimer, Klaus Taschwer, Oliver Hochadel; Satz, Layout, Grafik: Andreas Wenk; Druck: Berger, Horn Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten.

heureka! erscheint mit ­Unterstützung des Bundesministeriums ­für Wissenschaft und Forschung

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Wer soll das bezahlen?

Da staunt der Börsianer – einen Crash sah die Formel nicht vor!

„Die faulen Kredite der gegenwärtigen Krise sind wie der Schwarze Peter, der herumgereicht wird“ Ökonom Simon Gächter, University of Nottingham

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heureka 2/2009 | Mathematik

Vollkommene Formalisierung Als Hal Bregg nach einem zehnjährigen Weltraumflug wieder auf der Erde landet, kehrt er als Fremder auf seinen Heimatplaneten zurück. In der Zwischenzeit sind 123 Erdenjahre vergangen, die Gesellschaft hat sich radikal gewandelt. Aggressionen und Ver­ brechen gibt es nicht mehr, das Zusammenleben ist nach wissenschaftlichen Kriterien optimiert, sämtliche Forschungsdisziplinen haben ein un­ glaubliches Abstraktionsniveau erreicht – selbst die Psychologen und Sozialwissenschaftler sind verkappte Mathematiker. Welche Fachzeitschrift Bregg auch aufschlägt: überall Formeln, nichts als Formeln. Wirft man einen Blick auf die Arbeiten je­ ner Forscher, die in den letzten Jahren mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausge­ zeichnet wurden, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir uns, was die Mathema­ tisierung der Ökonomie betrifft, bereits mitten in jener Fiktion befinden, die Stanislaw Lem 1961 in seinem Roman „Transfer“ entworfen hat. Zumin­

dest für uns Laien sind die nobilitierten Arbeiten bisweilen nicht von theoretischer Physik zu unter­ scheiden. Dabei hat die Mathematik in den Lehrplänen der beiden Fächer eine höchst unterschiedliche Bedeutung. Physikstudenten müssen in der Regel durch einen umfangreichen Mathematik-Filter, ehe sie in den zweiten Studienabschnitt eintreten. Wirtschaftsstudenten indes kommen im Lauf ih­ res Studiums nur selten mit Integralen, Matrizen und exotischen Operatoren in Kontakt – es sei denn, sie setzen freiwillig theoretische Schwer­ punkte. Unfähige Ökonomie Das hat nach Ansicht des fran­

zösischen Ökonomen Jean-Philippe Bouchaud weitreichende Folgen: „Im Vergleich zur Physik ist der quantitative Erfolg der Ökonomie enttäu­ schend“, schrieb der studierte Physiker Anfang des Jahres in Nature (Bd. 455, S. 1181), „Rake­ ten fliegen zum Mond, wir gewinnen Energie aus Atomen. Und was ist die größte Errungen-

EPA/Sebastiao Moreira, Univ. of Nottingham, Ecole Polytechnique Paris

Die unsachgemäße Anwendung mathematischer Modelle war eine der Ursachen für die aktuelle Finanzkrise. Der Rat von Fachleuten an die Banker: Zu Risiken und Nebenwirkungen von Formeln befragen Sie in Zukunft bitte Ihren Mathematiker.  Robert Czepel


schaft der Ökonomie? Wohl nur ihre Unfähig­ keit, ­K risen vorherzusagen – inklusive der globa­ len Kreditkrise.“ Der wahre Kern dieser etwas überspitzten Polemik besteht Bouchaud zufolge in einer kul­ turellen Differenz zwischen zwei akademischen Welten. In den Naturwissenschaften begreife man Modelle als Werkzeuge mit Ablaufdatum, weil sie jederzeit verworfen werden können. Die Ökonomen hingegen würden oft die Annahmen ihrer Modelle mit der Realität verwechseln, mehr noch: Sie würden es nicht nur unterlassen, ihre Dogmen zu widerlegen, sondern sie regelrecht vergöttern. Beispiele gefällig? Die Effizienz der Märk­ te, der Homo oeconomicus oder Adam Smith’ unsichtbare Hand – all das sind Konzepte, die streng genommen längst falsifiziert wurden und dennoch munter weiterexistieren. „Ich habe mehrfach erlebt, dass Artikel in Fachzeitschriften abgelehnt wurden, weil sie diesen Dogmen wider­ sprochen haben“, so Bouchaud im Gespräch mit heureka!. „Ein Kollege hat einmal zu mir gesagt: ‚Es ist besser, mit der unplausiblen, aber gutent­ wickelten Theorie perfekt rationaler Agenten zu arbeiten, als die unendlich vielen Möglichkeiten der Irrationalität modellieren zu wollen.‘“ Vergebliche Warnungen Paul Embrechts, Wirt­ schaftsmathematiker an der ETH Zürich, stimmt Bouchauds Diagnose zu. „Die Mathematik sollte dazu benützt werden, die Grenzen der quantita­

tiven Beschreibung zu finden. Ich sage meinen Studenten immer: Sie bekommen einen Rucksack voller wichtiger Methoden, aber sie sollten auch lernen, dass da draußen viele Aspekte des Lebens nicht rein mathematisch zu modellieren sind. Das ist fast wie in ‚Hamlet‘, wo gesagt wird: ‚Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.‘“ Hamlets erkenntnistheoretische Zurückhal­ tung wäre wohl auch einigen Finanzexperten gut zu Gesicht gestanden. Etwa bei den sogenannten „Collaterized Debt Obligations“, kurz CDOs, die in der Finanzkrise eine Schlüsselrolle gespielt ha­ ben. Das Risiko dieser Portfolios aus festverzins­ lichen Wertpapieren wurde von Ratingagenturen bewertet. Wie es sich für die Branche gehört, mit Formeln, die Exaktheit und wissenschaftliche Stringenz signalisieren sollten. Tatsache war aber: Die Voraussetzungen für den Einsatz dieser Modelle waren nicht gegeben bzw. Risiken wurden systematisch unterbewertet (etwa mithilfe der bei Banken beliebten GaußCopula; siehe unten). „Dort sind gewisse Preise entstanden, wo ei­ nige Ökonomen gesagt haben: ,Aber diese Prei­ se können nicht stimmen!‘“, so Embrechts. Und weiter: „Man wollte diesen Zahlen durch For­ meln Glaubwürdigkeit verleihen. Die Mathema­ tik wurde missbraucht.“ Das grundsätzliche Problem war nicht erst seit dem Jahr 2007 bekannt, als mit der USImmobilienkrise die Dinge ihren unheilvollen

„Im Vergleich zur Physik ist der ­quantitative Erfolg der Ökonomie ­enttäuschend“ Ökonophysiker Jean-Philippe Bouchaud, École Polytechnique Paris

Die verhängnisvolle Formel des Doktor Li Jede Krise hat ihre Formel Im Oktober 1987

spielte das sogenannte ­Black-Scholes-Modell zur Bewertung von Finanzoptionen eine maßgebliche Rolle bei jenem ökonomischen Hangrutsch, den man heute als „Schwar­ zen Montag“ bezeichnet. Das Modell trifft ­einige idealisierte Annahmen, etwa dass Aktienkurse normalverteilt sind – was nichts anderes bedeutet, als dass ex­treme Ereignisse auszuschließen sind. Diese Annahme erwies sich als falsch. Dennoch rechneten unzählige Anleger weiterhin mit Varianten des in dieser Phase inadäquaten Modells – und manövrierten die Kurse in den Abgrund. Die Diagnose von Paul Embrechts, ETH Zürich: „Die zu starke Konzentration auf normalverteil­ te Modelle ist gefährlich. Das weiß man schon seit den 1950er-Jahren, und es gab

in der Theorie auch Entwicklungen, die das berücksichtigt haben. Nur: In der Praxis hat man sie nicht befolgt.“ In der aktuellen Finanzkrise spielte eine Funktion des aus China stammenden und lange in Nordamerika tätigen Mathemati­ kers David X. Li eine ähnliche Rolle. Die von ihm im März 2000 im nicht allzu an­ gesehenen Journal of Fixed Income (Bd. 9, Nr. 4) formulierte Gauß-Copula (Formel siehe unten) dient dazu, Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Ereignissen zu berechnen und damit Investmentrisiken abzuschätzen. Das war bis dahin ein müh­ sames und unsicheres Geschäft, doch Lis Formel bot eine simple Maßzahl, die das Problem zu lösen schien. Viele erlagen der Magie der bündigen Quantifizierung und wiegten sich in Sicherheit.

Besonders der Handel mit Versicherungen gegen Kreditausfälle profitierte von dem neuen Werkzeug, dessen Volumen in weite­ rer Folge ins Unermessliche stieg. Lis Kor­ relationen wurden in dieser Zeit behandelt, als seien sie unveränderliche Größen. Was sich im Jahr 2007 als folgenschwerer Feh­ ler erwies: Als die Immobilienpreise fielen, konnten viele Hausbesitzer ihre Kredite nicht mehr bedienen. Die Korrelationen schnellten daraufhin nach oben, lösten eine Kettenreaktion aus – der Rest ist bekannt. Bereits im Jahr 2005 konstatierte Li im Wall Street Journal: „Es gibt nur wenige Leu­ te, die den Kern meines Modells verstanden haben.“ Mittlerweile hat Li die Wall Street verlassen. Er ist nach China zurückgekehrt und nunmehr für die International Capital Corporation tätig. R.C.

heureka 2/2009 | Mathematik

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Mathematik als Bremsklotz „Wir haben schon vor

„Die Mathematik sollte dazu benützt werden, die Grenzen der quantitativen Beschreibung zu finden“ Wirtschaftsmathematiker Paul Embrechts, ETH Zürich

Finanzkrisen hat es immer ­gegeben, selbst im 17. Jahrhundert sind Spekulationsblasen geplatzt

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heureka 2/2009 | Mathematik

vielen Jahren gewarnt“, sagt Embrechts. Mit einer mathematisch wasserdichten Risikobewertung wären wohl die Gewinne etwas geringer ausge­ fallen. „Aber die Leute haben gesagt: Wer soll das bezahlen? Nicht für die Forschung, aber für die Mehrkosten, die dadurch entstehen. Leider wird ein Mathematiker oder ein Aktuar in Zeiten wachsender Märkte immer als Bremsklotz gese­ hen.“ „Stimmt“, sagt Bouchaud, „wenn die Party läuft, möchte jeder fröhlich sein und trinken.“ Bouchaud, der sich selbst als „Ökonophysiker“ bezeichnet, empfiehlt seinen Branchenkollegen, sich nicht zu sehr von mathematischer Schönheit oder der Einfachheit von Gleichungen leiten zu lassen. Hintergrund dieser Empfehlung ist die Tatsache, dass viele Modelle zwar bei günstiger Großwetterlage ein brauchbares Werkzeug für die Voraussage von Aktienkursen oder die Bewertung von Risiken abgeben. Unter Extrembedingungen – krachenden Börsen und schlingernden Volks­ wirtschaften – sind sie allerdings nicht mehr an­ wendbar. Heilung sei in zweifacher Hinsicht möglich, meint Bouchaud. Theoretisch durch Orientie­ rung an der Theorie komplexer Systeme, die ähnlich „kritische“ Ereignisse in physikalischen Systemen beschreibt. Beispiele dafür sind, wie er kürzlich im Magazin Physics World (April 2009) ausführte, die Ausbreitung von Rissen in einem Festkörper oder turbulente Strömungen einer Flüssigkeit.

Ökonomie im Labor Auch in praktischer Hinsicht

sei die Gesundung der Ökonomie möglich und notwendig – nämlich durch empirische Arbeit im Labor. Letztere betreibt Simon Gächter seit einigen Jahren mit großem Erfolg. Der an der University of Nottingham forschende Österrei­ cher untersucht in seiner Arbeit die Annahmen der Spieltheorie – mit zum Teil überraschenden Ergebnissen: Letztes Jahr bestätigte er die bereits bekannte Einsicht, dass Sanktionen gegenüber antisozialem Verhalten zwar eine Voraussetzung für das Entstehen von Kooperation sind. Dieses Prinzip gilt aber offenbar nicht für alle Gesell­ schaften, denn die Wirksamkeit von Sanktionen hängt stark vom kulturellen Kontext ab: In öko­ nomischen Spielen mit westeuropäischen Proban­ den förderten Strafen gegenüber Schmarotzern den Gemeinschaftssinn, bei russischen oder ara­

bischen Testpersonen ging der Schuss hingegen nach hinten los. Hier wurden jene Teilnehmer bestraft, die Egoisten eigeninitiativ zur Räson bringen wollten (vgl. Science, Bd. 319, S. 1362). Dieser Befund deckt sich auch mit Umfrageergeb­ nissen, erklärt Gächter: „In Dänemark sagen 60 Prozent: Man kann Fremden vertrauen. In Brasi­ lien oder Russland sagt das niemand.“ Ein Drittel aller Menschen verhielt sich den Versuchen zufol­ ge richtig egoistisch, erzählt Gächter, aber das sei früher wohl nicht anders gewesen. Wiederholte Geschichte Auch Finanzkrisen habe es immer gegeben, selbst im 17. Jahrhundert seien Spekulationsblasen geplatzt. „Wir haben solche Blasenbildungen auch im Labor mit Studenten erzeugt. Zunächst setzen Leute auf steigende Prei­ se, wenn der Preis über dem Realwert liegt, be­ kommt irgendjemand kalte Füße, und es kommt es zu ­einer Kettenreaktion.“ Wo liegt eigentlich der Unterschied zu Pyramidenspielen? „Blasen sind Pyramidenspiele“, sagt Gächter, „die faulen Kredite der gegenwärtigen Krise sind wie der Schwarze Peter, der herumgereicht wird.“ Es gibt auch jüngere historische Beispiele. Am Schwarzen Montag im Oktober 1987 fiel der Dow Jones innerhalb eines Tages um 22 Pro­ zent, weil sämtliche Anleger ein in Krisenzeiten unpassendes Bewertungsmodell für PortfolioVersicherungsprodukte verwendeten. Dieses hat­ te einen automatischen Hebel eingebaut, der bei größeren Verlusten die Verkaufsoption aktivierte. Dadurch entstand ein Problem mit der Liquidi­ tät. „Sie wollten alle schnell zur Tür raus – aber die Tür war zu klein“, sagt Paul Embrechts, „die Geschichte wiederholt sich.“ Ausbalancierte Regelungen Mittlerweile beträgt das Handelsvolumen mit sogenannten Derivaten – also Produkten, deren Preis vom Preis anderer Produkte abhängt oder davon abgeleitet wird – mehr als das Achtfache des weltweiten BIPs. Angesichts dieses gigantischen Volumens rufen Fachleute nach strengeren Regeln für das Finanz­ wesen. Dass sie kommen müssen, ist allgemeiner Konsens. Wie weit die Restriktionen gehen sollen, ist indes noch offen. Auch hier liefert Lems Roman „Transfer“ einen interessanten Hinweis – von dem man nicht so genau weiß, ob er eine Utopie oder doch eine Dystopie darstellt. Die Gesellschaft, in die Hal Bregg nach seinem Weltraumflug zu­ rückkehrte, war zwar von sozialen Spannungen befreit, der Preis dafür war aber beträchtlich: Mit der Aggression war auch jede zwischenmenschli­ che Initiative, war das Leistungsdenken, ja sogar die Neugierde verschwunden. „Diese Aufgabe ist ein Drahtseilakt“, sagt Gächter. „Man möchte In­ novationen nicht durch Überregulierung abwür­ gen. Oder sollen wir jetzt nur mehr Sparbücher haben und keine Aktien mehr? Das will ja auch niemand.“ 3

ETH Zürich, ESA

Lauf nahmen. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz warnte etwa bereits Anfang der 1990er-Jahre, dass es eine viel zu große Distanz zwischen In­ vestoren und möglichen Risikoquellen gebe. Soll heißen: Auch wenn beispielsweise verbriefte Pro­ dukte mit dem mittlerweile berühmten Triple-A bewertet worden sind, war für Investoren schon lange nicht mehr transparent, wie diese Note überhaupt zustande kam.


Tippfehler und Kommarutscher

Einheiten (Inch, Fuß und Pfund), das an­ dere hingegen metrische (Meter und Kilo­ gramm) verwendet. Fataler Formatfehler Schon nach 40 Sekun­

Wenn sich Statistiker und Techniker verrechnen oder Informatiker falsch programmieren, stürzen Raumsonden ab, werden Staaten für bankrott erklärt – und neue Kontinente entdeckt.  Mark Hammer Österreichs Beinahe-Bankrott Im April dieses Jahres orakelte Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, Österreich würde – so wie Island und Irland – ein Staatsbankrott dro­ hen. Das Engagement heimischer Banken in Osteuropa berge ein sehr hohes Risiko. Die­ ses wird unter anderem vom Internationalen Währungsfond (IWF) geschätzt. Nach dem Erscheinen eines IWF-Berichts im selben Monat stiegen Risikoaufschläge für öster­ reichische Staatsanleihen, und Ausfallsversi­ cherungen für diese wurden teurer. Das Ri­ siko wurde jedoch vom IWF aufgrund von Tippfehlern und Doppelzählungen über­ schätzt. Konkret ging es um das Verhält­ nis zwischen Auslandsschulden und Wäh­ rungsreserven osteuropäischer Staaten. Für Tschechien etwa musste diese Zahl von 236 Prozent auf 89 Prozent korrigiert werden. Spinat macht stark Lange hieß es, Kinder

sollen Spinat essen, weil er viel Eisen ent­ hält; mehr als ein Drittel der Blätter – 35 auf

100 Milligramm – seien wertvolles Eisen. Dieses Verhältnis errechnete der Schweizer Physiologe Gustav von Bunge Ende des 19. Jahrhunderts. Er hat dieses jedoch für Spi­ natpulver berechnet. Das wurde übersehen, als der Wert später in Ernährungstabellen übernommen wurde. Da Spinat zu 90 Pro­ zent aus Wasser besteht, ist der Eisengehalt im frischen Spinat nur circa ein Zehntel. Wenn Popeye das gewusst hätte ... Absturz programmiert Denver im US-Bun­

desstaat Colorado und Pasadena in Kalifor­ nien sind 1324 Kilometer voneinander ent­ fernt. Oder 820 Meilen. In beiden Städten sitzen Teams, die für die Nasa das Naviga­ tionssystem für den Mars Climate Orbiter geplant hatten. Am 23. September 1999 verschwand dieser wie geplant hinter dem Mars. 20 Minuten später hätte die Sonde wieder auftauchen sollen, es blieb jedoch still. Grund für den Verlust war eine zu ge­ ringe Flughöhe: Ein Team hatte englische

den endete der Flug der ersten Ariane 5 der europäischen Weltraumagentur am 4. Juni 1996 samt Satelliten an Bord in einem Feu­ erball. Die Flugsteuerung der Rakete konn­ te eine sogenannte Gleitkommazahl (zum Beispiel: drei mal zehn hoch drei) mit 64 Stellen nicht in eine sogenannte Ganzzahl (Beispiel: 3000) mit 16 Stellen umrechnen. Durch den Fehler glaubte sich die Rakete am falschen Kurs, und ihre Düsen schlu­ gen bis zum Anschlag aus. So wurde die Konstruktion zu stark belastet und Ariane 5 entging dem Absturz, indem der Selbst­ zerstörungsmechanismus sie sprengte.

Verhört und verbaut Cambridge 1951: Fran­ cis Crick und James Watson wissen, dass sie die Röntgenkristallografie brauchen, wenn sie die Struktur der DNA finden wollen. James Watson fährt nach London zu einem Vortrag von Rosalind Franklin, deren röntgenkristallografische DNAAufnahmen schärfer als alle früheren sind. Dabei kommt es zu einem Missverständnis. Franklin spricht von 40 Anteilen an Was­ serteilchen zwischen den Molekülketten, Watson versteht aber vier. Davon ausgehend baut Crick ein extrem „enges“ Modell des DNA-Stranges. Als sie Franklin das Modell präsentieren, fragt sie verwundert, wo denn all die Wasserteile Platz haben sollen. Das Ganze wird peinlich, Institutschef W.L. Bragg verbietet Watson und Crick, weiter an der Struktur der DNA zu forschen. Erst als Bragg glaubt, dass sein alter Konkurrent, der US-Chemiker Linus Pauling, vor einem Durchbruch in dieser Frage steht, erlaubt er Watson und Crick weiterzumachen. Sie erkennen ihren Fehler und entdecken bald die Doppelhelix der DNA. Geschrumpfte Erde Christopher Kolumbus

4. Juni 1996 – die Ariane 5 Trägerrakete zerstört sich selbst. Ursache war letztlich ein Programmierfehler in der Darstellung von Zahlen

gilt als wagemutiger Entdecker. Dass er aber überhaupt glaubte, Indien leicht mit dem Schiff erreichen zu können, dürfte das Resultat eines Rechenfehlers sein. Damals schätzte man den Umfang der Erde auf nur circa 30.000 statt der realen 40.000 Kilome­ ter – Letzteres hatte bereits der griechische Mathematiker Eratosthenes vor mehr als 2200 Jahren recht genau bestimmt. Wieso die Renaissance hinter den Kenntnisstand der Antike zurückgefallen war, ist umstrit­ ten. Die Ignoranz zeigte sich aber von ihrer positiven Seite und führte zur Entdeckung Amerikas. 3

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Primzahlen zum Frühstück Man kann mit ihr rechnen, spielen, Codes knacken, modellieren und beweisen. Und sich in sie ­verlieben. Fünf Forscher über ihre Beziehung zur Mathematik.  Aufgezeichnet von Mark Hammer

„Die Mathematik und ich schlossen 1998 in der ­Promotionskanzlei der Uni Wien den Bund fürs Leben“ Ulrich Berger, Spieltheoretiker

„Wenn ich aus einer großen Datenmenge neue Erkenntnisse heraushole, kann ich meine detektivische Ader ausleben” Ulrike Kleb, technische Mathematikerin

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heureka 2/2009 | Mathematik

Rätsel lösen Mit elf Jahren war ich zum ers­ ten Mal verliebt, und das gleich doppelt. Die eine Liebe hieß Helga, die andere Ma­ thematik. Das mit Helga wurde nichts, aber die Mathematik begleitet mich bis heute. Ich weiß noch, wie es mich faszinierte, dass man mit Mathe nicht nur rechnen konnte, sondern auch Beweise führen. Es gibt un­ endlich viele Primzahlen, und daran muss man nicht glauben, man kann es in zwei Zeilen beweisen. Als ich in der fünften Klasse zwei Wo­ chen ins Krankenhaus musste, nahm ich das Mathe-Lehrbuch mit und vergnügte mich mit dem Stoff des nächsten Schul­ jahres. Nach der Matura wurde es ernst. Die Mathematik fragte: „Willst du mich studieren?“, und ich sagte freudig „Ja!“. Die Mathematik und ich hat­ ten auch schwierige Zeiten. Immer wieder liebäugelte ich mit ihrer Schwester, der Physik. Sie gab mir dafür zu verstehen, dass sie auch andere Liebhaber hätte, die jünger wären und alles dreimal so schnell verstünden. Aber wir haben uns verziehen und 1998 in der Promotionskanzlei der Uni Wien den Bund fürs Leben geschlossen. Eifersüchtig war die Mathematik später nie mehr, wie die folgende Geschichte zeigt. Es gibt ein altes mathematisches Rätsel. Sie haben eine Balkenwaage und neun Kugeln, von denen eine ein klein wenig schwerer ist als die anderen. Wie oft müssen Sie wiegen, um die schwerere Kugel zu finden? Eines Abends in einer Bar fiel mir eine junge Dame auf, die ein paar Gäste mit dieser Frage ordentlich ins Grübeln brachte. Sie bemerkte mein mitleidiges Lächeln und nickte mir herausfordernd zu: „Na, wissen Sie’s vielleicht?“ Sechs Jahre später haben wir geheiratet.

Strukturen suchen Ich bin keine begnade­ te Kopfrechnerin, meine Stärke sind eher Überschlagsrechnungen und Abschätzen. Meine Mutter behauptet, dass ich schon als Kleinkind auf den ersten Blick sagen konn­ te, wie viele Kühe auf einer Weide stehen. Das hilft mir heute bei meiner Arbeit, um schnell einen Überblick zu gewinnen, wie man ein Problem mit mathematisch-statis­ tischen Methoden lösen kann. In der Schule war ich in Mathematik immer Klassenbeste. So glaubte ich, dass mir das Mathematikstudium leichtfallen würde. Nur hat Schulmathematik wenig mit dem zu tun, was man an der Uni hört, nämlich viele Formeln und wenig Zahlen. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass man im ersten Studienabschnitt praktisch nichts rechnet. Man merkt aber bald, dass da System und Logik dahinterstecken. Ge­ gen Ende des Studiums konzentrierte ich mich auf Statistik und hatte somit wieder mehr mit Zahlen und Daten zu tun. Als Kind wollte ich Detektivin oder Kriminalpolizistin werden. Diese detek­ tivische Ader in mir kann ich ausleben, wenn ich aus einer großen Datenmenge neue Erkenntnisse herauszuholen versuche. Wir bemühen uns, mithilfe mathematischstatistischer Modelle Strukturen in Daten zu finden: zum Beispiel um zu zeigen, wie sich die Qualitätseigenschaften von Papier bestimmen und verbessern lassen, wie man die Produktion von Eiern oder das Bauauf­ tragsvolumen in der Steiermark prognosti­ ziert oder welche Faktoren die Fruchtbar­ keit von Schweinen beeinflussen.

Ulrich Berger (38) ist Spieltheo­ retiker und a.o. Professor für Volkswirtschaft an der WU Wien. Er betreibt den Blog „Kritisch gedacht“.

Ulrike Kleb (41) ist technische Mathematikerin und arbeitet am Institut für Angewandte Statistik und Systemanalyse bei Joanneum Research in Graz.


„Was Mathematiker Mathematik nennen, macht man nach wie vor hauptsächlich mit Bleistift und Papier”

Privat (5), Wikimedia (3)

Stefan Thurner, Komplexitätsforscher Komplexität modellieren Ich habe zur Mathe­ matik ein ambivalentes Verhältnis. Ein­er­­ seits ist sie ein unendlich hohes Gebirge, das man nicht bezwingen kann und vor dem ich größten Respekt habe. Auf der anderen Seite nutzen wir Mathematik täglich und sehen sie als unspektakuläres Werkzeug, etwa so, wie ein Mechaniker einen Schrau­ benzieher sieht. Wir verwenden Computer als Rechner. Was Mathematiker Mathematik nennen, macht man nach wie vor hauptsächlich mit Bleistift und Papier. Wir arbeiten an einer Theorie komplexer Systeme – vom Finanz­ markt bis zu Genmodellen. Dafür kommen wir meist mit den ersten drei Semestern Mathematik aus. Bei Mathematikern geht es dann erst los. Für den Laien machen wir wahrscheinlich unverständliche Mathema­ tik. Ein Mathematiker würde aber sagen, dass wir bloß etwas ausrechnen. Wir wol­ len eine Zahl als Ergebnis. Mathematikern geht es meist nicht ums Rechnen, sie wollen zeigen, dass es eine Lösung zu einem Prob­ lem gibt, egal wie die im Detail aussieht. Es geht um mathematische Sätze und Beweise. Mathematik ist daher viel allgemeiner, ab­ gehobener und götterhafter. Zahlen merke ich mir schwer, und ich bin schlecht im Kopfrechnen. In der Schule hatte ich nie Probleme mit Ma­ thematik. Ich habe begonnen, Mathematik zu studieren, dann aber zugunsten der Physik abge­ brochen. Ich wollte Quantenfeldtheo­rie lernen und habe nicht gesehen, welche Ma­ thematik ich dazu brauche. Später merkt man, was einem alles fehlt. Man lernt stän­ dig nach. Mathematik ist oft ein Flaschen­ hals, und man steht an. Entweder weil man Mathematik zu wenig beherrscht oder weil sie selbst noch nicht weit genug ist, wenn man für eine neue Wissenschaft eine neue Mathematik braucht.

Stefan Thurner (40) ist theoretischer Physiker und Finanzökonom. Er leitet die Complex Systems Research Group (COSY) an der Medizinischen Universität Wien.

Mit der Sprache spielen Mein Weg zur Ma­ thematik war kein direkter. Als ich in der Schule war, habe ich mich mehr für Phi­ losophie, Politik und Literatur interessiert. Ich habe dann angefangen, Volkswirtschaft zu studieren, weil ich mir davon versprach, die Welt besser verstehen zu können. An der Uni Wien wird Volkswirtschaft in einer sehr formalen Form gelehrt. Da ich an mei­ ner Schule wenig Mathematik hatte, musste ich mir sehr viele Dinge selbst erarbeiten. Die Mathematik auf gesellschaftliche Fragestellungen anzuwenden ist kritisch zu diskutieren. Man steckt sehr viel an Methoden hinein, aber was man am Ende herausbekommt, ist mitunter sehr wenig an Aussage – oder zu abstrakt, um von di­

„Die Mathematik auf gesellschaftliche Fragestellungen anzuwenden ist kritisch zu diskutieren” Cristina Pawlowitsch, Spieltheoretikerin rekter, praktischer Relevanz zu sein. Man bekommt immer nur Aussagen der Art „Wenn [diese und jene Bedingungen erfüllt sind], dann“. Aber ob dieses Wenn erfüllt ist, liegt außerhalb der mathematischen Analyse. Um das mathematische Argument interpretieren zu können, braucht man em­ pirische Forschung. In meiner eigenen Forschung wechselte ich von mathematischen Modellen in der Ökonomie zu mathematischen Modellen in der Kommunikation und Sprachevolu­ tion. Methodisch sind diese beiden Gebiete eng verwandt. Es geht darum, dezentrale Interaktion von individuellen Entschei­ dungsträgern zu modellieren und zu ana­ lysieren, was dabei auf einer sozialen Ebene herauskommt. In der Ökonomie und Bio­ logie haben sich diese sogenannten spiel­ theoretischen Methoden schon relativ lan­ ge etabliert. In der Sprachevolution ist das noch recht neu. Das ist großartig für junge Wissenschaftler, weil hier noch einiges zu entdecken ist.

Cristina Pawlowitsch (34) ist ­derzeit Research Scientist am Program for Evolutionary Dynamics an der Harvard University.

„Mathematik ist die Kunst, aus einfachen Zusammenhängen weitreichende Konse­quenzen herzuleiten” Vincent Rijmen, Kryptograf Codes konstruieren Rechnen verhält sich zu Mathematik meiner Meinung nach ungefähr so wie Wurstsemmeln zur österreichischen Küche. Das Addieren und Multiplizieren von Zahlen ist nicht das Ansprechende. Für mich ist Mathematik vielmehr die Kunst, aus einfachen Zusammenhängen und Re­ geln weitreichende Konsequenzen und un­ erwartete Ergebnisse herzuleiten. Mein Forschungstag beginnt seit ein paar Wochen bereits am Frühstückstisch. Dann verifiziert meine siebenjährige Toch­ ter gemeinsam mit mir experimentell den Fundamentalsatz der Arithmetik, nämlich dass sich jede natürliche Zahl als Produkt von endlich vielen Primzahlen darstellen lässt. Bei der Arbeit werde ich mit praktischen Fragestellun­ gen konfrontiert, zum Beispiel ob man den amerikanischen Standard für digitale Signaturen brechen kann. Dabei versu­ che ich herauszufinden, welches mathema­ tische Gebiet Lösungen dafür bereitstellt. Ebenso oft jedoch bin ich als Kryptograf mit der Suche nach Problemen beschäftigt, für die keine einfache Lösung existiert, um daraus sichere Codes zu konstruieren. Natürlich ist der Einsatz von Computern unerlässlich, aber die Lösung mit Papier und Bleistift ist meistens um vieles elegan­ ter und befriedigender. Der Unterschied ist vergleichbar damit, ob man einen Berg zu Fuß oder mit dem Helikopter bezwingt. Die immer leistungsfähigeren Com­ puter führen dazu, dass viele Menschen, jedenfalls ich selber, fauler werden und immer seltener mit dem Kopf rechnen. Die Mathematik wird solche Entwicklungen überdauern, als Ausdruck von menschli­ cher Vorstellungskraft und Kreativität.

Vincent Rijmen (38), g­ ebürtiger Belgier, ist Vorstand der Arbeits­gruppe für Kryptografie am ­Institut für angewandte Informa­tionsverarbeitung und Kommunikation an der TU Graz.

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Die heimlichen Spitzenreiter Österreichs Mathematiker sind im Disziplinenvergleich näher dran an der Weltspitze als ihre Landsleute aus anderen Fächern. Wie kam es dazu? Und worin liegen ihre Stärken?  Klaus Taschwer

gut abschneidet, ist es immer sehr verfüh­ rerisch, solchen Ranglisten zuzustimmen“, sagt der Mathematiker Walter Schacher­ mayer. Er stehe solchen Rankings prinzi­ piell skeptisch gegenüber. Sein Fachkollege Josef Teichmann sieht die Sache ähnlich und meint, dass die Ergebnisse mit Vorsicht zu genießen seien. Woran zweifeln die beiden Topmathe­ matiker? Es sind Ranglisten, die der Wis­ senschaftsfonds FWF im Jahr 2007 erstellt hat und deren Ergebnis auf den ersten Blick überrascht. Anhand der Anzahl der Publi­ kationen und der Zitationen wurde quer durch 30 natur-, sozial- und wirtschaftswis­ senschaftliche sowie medizinische Fachbe­ reiche untersucht, wie weit die Disziplinen in Österreich von der absoluten Weltspitze entfernt sind. Damit ein Vergleich mit den

USA oder anderen großen Nationen fair ausfällt, wurde dieser Wert in Relation zur Einwohnerzahl bzw. zum Bruttoinlands­ produkt gestellt. Bei der FWF-Analyse auf Basis der um­ fangreichsten Publikations- und Zitations­ datenbank Web of Science zeigte sich, dass von allen 30 untersuchten Fachgebieten die österreichische Mathematik für den Zeit­ raum 1997 bis 2006 am besten dasteht: In keinem anderen wissenschaftlichen Bereich ist, nimmt man die Veröffentlichungen und Zitierungen der heimischen Mathematiker dieser zehn Jahre, der Abstand zu den fünf Topnationen kleiner. Die Physik oder die Molekularbiologie sind – als Gesamtfächer betrachtet – weiter weg von der Spitze. Große Geschichte „In der Mathematik in

Österreich gibt es einige international sehr

Angewandte Exzellenz Mitten im Leben „Nichts ist praktischer als

eine gute Theorie.“ Wenn es um die ver­ meintliche Anwendungsferne der Mathe­ matik geht, dann zitiert Wolfgang Scha­ chermayer am liebsten den großen Physiker Ludwig Boltzmann. Mit seinen eigenen Arbeiten, aber auch mit seiner Karriere ist Schachermayer selbst ein gutes Beispiel da­ für, wie praktisch Mathematik sein kann: Nach seiner Habilitation arbeitete er zwei Jahre lang als Versicherungsmathematiker bei der Generali. Und als Finanzmathe­ matiker an der Uni Wien beschäftigt er sich mit hochaktuellen Themen – wie dem Risksharing im Bankenbereich. Die Finanzmathematik ist eines der praxisnahen Aushängeschilder des Fachs in Österreich. Daneben gibt es auch noch

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zahlreiche andere Zentren, die ganz ohne aufgesetzte Strategie gewachsen sind und von denen im Folgenden nur einige wenige beispielhaft erwähnt werden können. Eines davon ist an der Universität Linz angesie­ delt, wo der gebürtige Innsbrucker Bru­ no Buchberger an den Schnittstellen von Mathematik und Informatik forscht und lehrt. Buchberger hat Mitte der 1960er-Jah­ re in seiner Dissertation die sogenannten Gröbnerbasen erfunden, benannt nach seinem Lehrer Wolfgang Gröbner. Mittler­ weile wurden diese etwa tausendmal in der industriellen Praxis angewandt, zum Bei­ spiel für präzise Erdölbohrungen im Meer. In den 1980er-Jahren gründete er den Softwarepark Hagenberg, in dem seither

in mehreren Instituten, Kompetenzzentren und Firmen versucht wird, die Forschung im Bereich Softwarealgorithmen direkt für die Wirtschaft umsetzbar zu machen. Einer von Buchbergers Schülern an der Universi­ tät Linz war der Informatiker Thomas Hen­ zinger, mittlerweile der erste Präsident des IST Austria in Maria Gugging. Blick in den Körper Keine Berührungsängste

mit der Wirtschaft hat auch Heinz Engl, der­ zeit Vizerektor an der Universität Wien. Der Mathematiker leitet zudem das von Bruno Buchberger in Linz mit aufgebaute Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM) der Öster­ reichischen Akademie der Wissenschaften. Namensgeber Johann Radon (1887–1956), einer der großen Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte mit sei­ nen Radon-Transformationen die Grundla­ ge für die Computertomografie geschaffen –

Corn, Buchberger

Mathematische Zweifel „Wenn man selbst


„Was wir brauchen, ist ein stimulierendes Umfeld sowie Zeit und Muße zum Nachdenken” Walter Schachermayer, Mathematiker

sichtbare Zentren, zum Beispiel für partiel­ le Differenzialgleichungen oder Kombina­ torik“, konzediert der Finanzmathematiker Josef Teichmann, der 2006 den STARTPreis des FWF gewann. Dass die Finanz­ mathematik selbst dazugezählt werden kann, lässt sich auch daran ermessen, dass der 36-Jährige gerade einen Ruf an die re­ nommierte ETH Zürich erhalten hat, wo er seit 1. Juni Professor ist. Sein Kollege Walter Schachermayer, der kürzlich von der TU Wien an die Uni Wien wechselte, meint, „dass sich die Mathematik in den letzten 20, 25 Jahren in Österreich gut entwickelt hat“. Noch viel besser sei es allerdings vor rund 80 Jahren gewesen, als Wien als eines der Topzentren weltweit ge­ golten habe – „mit einem Dutzend Genies, darunter auch einige herausragende Frauen wie Olga Taussky und Olga Hahn“.

ein Paradebeispiel für die Anwendbarkeit der Mathematik. Am RICAM wird derzeit unter ande­ rem versucht, mittels Computersimulati­ onen biologische Vorgänge zu verstehen, die wiederum medizinisch von Nutzen sein könnten. Heinz Engl erhielt als erster Österreicher den Pioneer Prize des Interna­ tional Council for Industrial and Applied Mathematics (ICIAM), die höchste Aus­ zeichnung auf dem Gebiet der Angewand­ ten Mathematik. Zudem hat Engl noch ein Kompetenzzentrum für Industriemathe­ matik gegründet, in dem unter anderem die ideale Stahlgießform berechnet wird. Internationale Ausstrahlung In Wien for­

schen insgesamt mehr als 350 Mathemati­ ker an Universitäten und außeruniversitä­ ren Einrichtungen. Neben der Finanz- und Industriemathematik hat sich rund um Karl Sigmund ein international renom­

Mathematiker, Informatiker, Softwareparkgründer: Bruno Buchberger

miertes Zentrum für Spieltheorie herausge­ bildet, das sich mit Fragen der Kooperation zwischen Individuen befasst. Zu Sigmunds Schülern gehört etwa Martin Nowak, der

Einige von ihnen, wie Hans Hahn, ­Philipp Furtwängler oder Kurt Gödel, sind in der interessierten Öffentlichkeit auch heute noch bekannt. Zieht man die Disziplinen­ grenzen nicht so scharf, dann kann man auch noch die sehr mathematisch orientier­ ten Physiker von Ludwig Boltzmann bis zu den beiden Nobelpreisträgern Erwin Schrö­ dinger und Wolfgang Pauli dazurechnen. „Damit war aber 1938 abrupt Schluss“, sagt Schachermayer, „und danach gab es einige eher dürre Jahrzehnte.“ Zeit, Muße, Umfeld Dass die Mathematik in Österreich früher als andere Fächer den internationalen Anschluss wieder geschafft hat, liegt für Teichmann einerseits daran, dass es mit Edmund Hlawka und Leopold Schmetterer gleich nach 1945 zwei schu­ lenbildende junge Mathematiker gegeben hat. Andererseits spielte auch eine Rolle, dass Mathematiker bis heute keine teuren

Vor 80 Jahren galt Wien als eines der Topzentren der Mathematik weltweit Labor­ausstattungen und Maschinen benö­ tigen, für die es nach 1945 kein Geld gab. „Was wir brauchen, ist ein stimulierendes Umfeld sowie Zeit und Muße zum Nach­ denken“, ergänzt Walter Schachermayer. „Bei uns kommt es sehr auf die Leistung 8 einzelner Personen an.“

nach Oxford und Princeton jetzt an der Harvard University arbeitet. Eine von Sig­ munds letzten Arbeiten hatte die Bestra­ fung von Trittbrettfahrern in der Gesell­ schaft zum Thema, eine höchst praktische Frage. In welcher Form bestraft man jene Menschen, die schwarzfahren oder sich Kaffee vom Gemeinschaftsdepot im Büro nehmen, ohne in die dafür vorgesehene Kasse zu zahlen? Ebenfalls an der Universität Wien forscht und lehrt Herwig Hauser, der in seinem Spezialfach Algebraische Geometrie als einer der wichtigsten Vertreter weltweit gilt. Sein Thema sind sogenannte Singula­ ritäten, Spitzen von räumlichen Objekten, wie sie zum Beispiel bei Eisstanitzeln, Zit­ ronen oder einem Zirkuszelt auftreten. Für Hauser bedeutet Mathematik denken und Lösungen finden, ohne dabei eine prakti­ sche Anwendung finden zu müssen. Peter Illetschko

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Aber auch die wollen finanziert werden. Und da zeigt sich für die Mathematik (ge­ meinsam mit der Informatik) eine weitere erstaunliche Entwicklung: Holten sich die beiden eng verwandten Fächer Anfang der 1980er-Jahre nicht einmal zwei Prozent der vom FWF vergebenen Projektsummen, so sind es im Moment mehr als elf Prozent, die von Mathematikern und Informatikern eingeworben werden. Noch um einiges höher ist der Anteil der Mathematiker beim Wittgenstein-Preis, der wichtigsten österreichischen Auszeichnung für Topforscher: Den erhielten neben Wal­ ter Schachermayer (1998) nämlich noch Georg Gottlob (ebenfalls 1998, heute an der Universität Oxford), Peter Markowich (2000, heute Universität Cambridge und Uni Wien) sowie Christian Krattentha­ ler (2007, Uni Wien) – macht vier von 22 Preisträgern seit 1996, nach Adam Riese satte 18,18 Prozent. Gut berufen Dass die Mathematik in Ös­

terreich so gut dasteht, verdankt sie nicht zuletzt auch einer weitsichtigen Berufungs­ politik. An der Universität Wien ist dafür seit vielen Jahren Harald Rindler, Dekan der Mathematischen Fakultät, mitverant­ wortlich. Einer der jüngsten Scoops: Der lange in den USA lehrende und forschende Mathematiker Ludmil Katzarkov wurde Anfang 2007 nach Wien geholt. Ein Jahr später gewann er einen der angesehenen und rund eine Million Euro schweren ERC Advanced Grants, mit denen die EU grund­ lagenorientierte Pionierforschung fördert.

Zwar wurden in den vergangenen Jahren immer wieder hervorragende Mathema­ tiker und Informatiker aus Österreich an weltweit führende Universitäten im Aus­ land „wegberufen“ – wie eben Gottlob,

Der Anteil der Mathematiker beim Wittgenstein-Preis, der wichtigsten Auszeichnung für Forscher, beträgt stolze 18 Prozent Markowich, der Biomathematiker Martin Nowak (heute Harvard) oder zuletzt Josef Teichmann. Doch die Bilanz der Ab- und Zugänge ist unterm Strich durchaus nicht negativ – und könnte sich in den nächsten Jahren wohl noch weiter verbessern. Eine wichtige Rolle könnte dabei das Anfang Juni offiziell eröffnete IST Austria in Maria Gugging bei Klosterneuburg spie­ len, dessen erster Direktor der Informatiker Thomas Henzinger ist. Der gebürtige Ober­ österreicher studierte beim Mathematiker und Informatiker Bruno Buchberger an der Universität Linz, ehe ihn seine weitere Karriere an die Universitäten Stanford und Berkeley und an die ETH Lausanne führte. Internationale Zentren Dass das IST dank Henzinger ein neuer Schwerpunkt in In­ formatik bzw. angewandter Mathematik werden könnte, darauf deuten die ersten Berufungen hin: Eine der ersten Professu­

ren ging an den Mathematiker und Infor­ matiker Herbert Edelsbrunner, der ab Mitte August seine Tätigkeit am IST aufnehmen wird. Zurzeit lehrt und forscht der gebürti­ ge Grazer noch an der angesehenen Duke University in den USA, wo er sich unter ­a nderem mit Struktur-Bioinformatik be­ fasst. Eine andere IST-Professur ging an den renommierten britischen Evolutionsbiolo­ gen und Populationsgenetiker Nick Barton, der intensiv mit Kollegen aus der Bioinfor­ matik und -mathematik zusammenarbei­ tet. Barton hält Wien in dem Bereich auch dank Gruppen um Karl Sigmund und Peter Schuster für eines der „vier oder fünf füh­ renden Zentren weltweit“ (vgl. S. 20–21), was für ihn auch ein Grund war, nach Nie­ derösterreich zu übersiedeln. Ein anderes, bereits seit 1993 beste­ hendes internationales Zentrum eher für ­m athematische Physik ist das ErwinSchrödinger-Institut (ESI) in Wien, das einen wichtigen Beitrag zur erstaunlichen Publikationsbilanz der Mathematik in Ös­ terreich leistet. Bislang wurde das vom Wis­ senschaftsministerium unterstützte Institut von weit mehr als 4000 Forschern aus aller Welt besucht. Mathematiker und Physiker am ESI waren bislang an insgesamt 2150 (Vor-)Publikationen beteiligt. Schöne Aussichten Um die Zukunft der

Mathematik in Österreich muss man sich – trotz stagnierender Budgets – jedenfalls keine Sorgen machen. Dazu tragen auch eigene Schwerpunktprogramme wie die Initiative „Mathematik und ...“ des Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds bei. Die so finanzierten Forschungsprojekte und Stiftungsprofessuren sollen die Wechselwir­ kung der Mathematik mit anderen Berei­ chen wie der Physik, der Biologie und den Wirtschaftswissenschaften stimulieren. Auch an Studenten herrscht kein Man­ gel, und die Qualität der Ausbildung in den Schulen sei auch besser als ihr Ruf, sagt Walter Schachermayer. „Für die Absolven­ ten eines Mathematikstudiums herrschen jedenfalls auch außerhalb der Universitäten blendende Jobchancen, vor allem im Fi­ nanzbereich.“ Im Moment sei zwar auch dieser Ar­ beitsmarkt ein wenig in der Krise, dennoch seien diese Leute nach wie vor sehr gesucht, so der Finanzmathematiker. „Und für die Zukunft bin ich überhaupt sehr optimis­ tisch.“ 3 Schöne Aussicht: Am IST Austria wird ein neues Informatik-Zentrum entstehen.

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Das unterschiedliche Abschneiden von Buben und Mädchen ist Folge gesellschaftlicher Zuschreibungen

„Viel besser als seine Schwester ...“ Am „weiblichen“ Gehirn liegt es nicht. Warum Mädchen bei ­Mathematiktests schlechter abschneiden und Frauen seltener ­Topmathematikerinnen werden.  Verena Ahne

Corn, APA

Summers’ Sager Warum reüssieren weniger

Frauen als Männer in Technik und Ma­ thematik? Es könnte ein angeborener Un­ terschied zwischen den Geschlechtern sein, vermutete der damalige Harvard-Präsident Lawrence Summers (heute Chefökonom in Obamas Kabinett) im Jänner 2005. Im Sturm der Entrüstung meldete sich auch der Neurobiologe Ben Barres mit ei­ nem Kommentar in der Zeitschrift Nature zu Wort. Nicht die Biologie lasse Frauen an Mathematik und Naturwissenschaften scheitern, schrieb er, die geringe Zahl von Professorinnen sei vielmehr auf Vorurteile und Diskriminierung zurückzuführen. Der Stanford-Professor weiß aus erster Hand, wie unterschiedlich Frauen und Männer bewertet werden: Bis zum Ende seines Studiums hieß er Barbara. „Kurz nachdem ich mein Geschlecht gewechselt hatte“, so Ben, „meinte ein Fakultätsmit­ glied: ‚Ben Barres hat heute eine großartige Vorlesung gehalten. Aber seine Arbeit ist ja so viel besser als die seiner Schwester.‘“ Als Barbara, so Barres in Nature, muss­ te er ständig um Anerkennung kämpfen. Etwa als sie in einer männerlastigen Vor­ lesung am M.I.T. in Cambridge als Einzige ein kompliziertes mathematisches Problem lösen konnte – und vom Professor nur ein abschätziges „Das hat Ihr Freund für Sie gemacht“ erntete. Oder als sie sich um ein Stipendium in Harvard bewarb und ihr ein

Mann vorgezogen wurde, obwohl sie die beste Bewerbung hatte, wie ihr versichert worden war. Heute, als Mann, werde er mit Respekt behandelt.

Mädchen und Frauen sind (immer im Durchschnitt) also tatsächlich die schlech­ teren Mathematikerinnen – solange ihnen vermittelt wird, dass sie es sind.

Eingetrichterte Unterschiede Stärker als an­

Plastisches Gehirn Daran ist nichts Geneti­ sches, das ist keine Folge frauenspezifischer Hirnstrukturen, wie die Neurobiologin Catherine Vidal kürzlich in einem Inter­ view mit dem EU-Magazin research*eu unterstrich. Die Hirnforschung, so die For­ schungsdirektorin des Pasteur-Instituts in Paris, könne nicht länger dafür herangezo­ gen werden, gesellschaftliche Ungleichge­ wichte zu rechtfertigen. Das Aus für Hemisphären-Denken und Größenvergleiche brachte die Einsicht in die Plastizität des Gehirns. Nur zehn Pro­ zent unserer 100 Milliarden Neuronen sind bei der Geburt miteinander verbunden, der Rest vernetzt sich erst danach, und zwar auf Basis äußerer Eindrücke. So entwickelt jeder Mensch ein einzigartiges Gehirn, und die Unterschiede zwischen Mann und Frau sind nicht größer als die zwischen zwei Frauen. Das unterschiedliche Abschneiden von Buben und Mädchen, Männern und Frauen bei mathematischen Tests ist also eine Fol­ ge gesellschaftlicher Zuschreibungen. Das Ergebnis dieser Überzeugungsarbeit war im letzten Pisa-Ergebnis abzulesen: So­lange Mathe noch Rechnen heißt, schneiden Bu­ ben und Mädchen in Österreich annähernd

dere Fächer gilt die Mathematik bei uns als männliche Domäne. Das Bild vom ver­ meintlich weiblichen Unvermögen sitzt so tief in den Köpfen, dass seine Aktivierung Testergebnisse von Mädchen und Frauen signifikant verschlechtert. In Studien schnitten im Schnitt selbst hochbegabte Frauen beim Lösen von Ma­ thematikaufgaben schlechter ab als ihre Kollegen, wenn sie zuvor Werbeblöcke mit Frauen in stereotypen Rollen gezeigt beka­ men; nachdem sie einen Text gelesen hat­

Das Bild vom weiblichen Mathe-Unvermögen sitzt tief in den Köpfen ten, der eine genetische Ursache als Grund für männliche Mathematiküberlegenheit nennt; wenn ihnen gesagt wurde, es handle sich um einen Test, bei dem Frauen schlech­ ter abschneiden als Männer. Hingegen er­ zielten sie gleich gute Ergebnisse, wenn es beim Test hieß, dass „Männer und Frauen gleich gut abschneiden“.

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gleich gut ab. Ein paar Jahre später, mit 15, liegen die Burschen voran – mit dem größ­ ten Abstand in allen OECD-Ländern. Andernorts gibt es andere Ergebnisse: Eine letztes Jahr in Science veröffentlichte Pisa-2003-Sonderauswertung wies nach, dass sich die Mädchen-Testergebnisse mit zunehmender gesellschaftlicher Gleichstel­ lung der Frau jenen von Buben angleichen. In Schweden oder Norwegen etwa lagen Mädchen und Buben gleichauf, in Island waren sie sogar eine Spur besser. Auch in den USA, wo Schüler vor 20 Jahren noch eindeutig die Nase vorn hat­ ten, haben die Mädchen nachgezogen. Eine

Viele hochbegabte Mädchen verstecken ihre Interessen und Fähigkeiten Anfang Juni in der US-Wissenschaftszeit­ schrift PNAS erschienene Studie der Uni­ versität Wisconsin zeigt, dass Schülerinnen inzwischen in allen Altersstufen mit ihren Kollegen mithalten können – seit sie ähn­ lich viele Mathematikkurse belegen. Und selbst bei den Hochbegabten werde es bald zumindest ebenso viele Frauen wie Männer geben, so die Autorinnen Janet Hyde und Janet Mertz.

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Von der Form zur Formel – im Mathematikum im deutschen Gießen haben auch Mädchen Spaß an der Sache

Mathematikum Gießen/ Rolf K. Wegst, Uni Wien

Entwicklungsland Österreich „Bei uns fehlt da noch das Problembewusstsein“, kriti­ siert Renate Tanzberger vom Verein zur Erarbeitung feministischer Erziehungsund Unterrichtsmodelle EfEU. Schon in der Volksschule schneiden Mädchen beim sogenannten Känguru-Test, einem inter­ nationalen Multiple-Choice-Wettbewerb, bei dem jedes Jahr mehr als 4,5 Millionen Schüler ihre mathematischen Fertigkeiten miteinander messen, schlechter ab. Trotzdem sind in Österreich neue, Mädchen ansprechende Unterrichtsmo­ delle ebenso selten wie Schulbücher oder Onlinematerialien mit gendergerechter Darstellung. Auch spezielle, die Begeisterung von Mädchen weckende Programme für Ma­ thematik gibt es nicht – im Unterschied zu solchen für „Mädchen und Technik“. Ein Fehler im System, meint Tanzberger: Denn viele Mädchen, die sich für einen techni­ schen Beruf interessieren, machen einen Rückzieher, sobald sie hören, dass sie dafür Mathematik bräuchten. Der wichtigste Schritt zum bubenglei­ chen Erleben wäre, das Selbstbewusstsein von Mädchen gezielt zu stärken. Selbst


hochbegabte Mädchen plagen Zweifel an den eigenen Fähigkeiten: Frauen schreiben Erfolge tendenziell eher ihrem Fleiß oder Glück zu, während sie Misserfolge als Zei­ chen mangelnder Begabung deuten – ein Selbstbild, das von außen nur zu oft ge­ spiegelt wird. Im Vergleich dazu ist Buben, Männern und ihrer Umgebung eher die karrierefördernde Einstellung eigen, Erfol­ ge ihrem außergewöhnlichen Talent zuzu­ schreiben und den Grund für Rückschläge bei anderen zu suchen. Hochbegabte Buben – und später Män­ ner – neigen auch dazu, sich in ein Thema regelrecht zu verbeißen. Mädchen, so die Psychologin Aiga Stapf in ihrem Buch „Hochbegabte Kinder“, wirken daneben oft fast farblos. Ihre Talente und Interessen sind meist breiter gefächert, also weniger spektakulär, und, wie das Österreichische Zentrum für Begabtenförderung und Be­ gabungsforschung özbf feststellt, sie passen sich auch stärker den Erwartungen der Ge­ sellschaft an: passiv und zurückhaltend zu sein statt fordernd und fragend. Viele hoch­ begabte Mädchen verstecken ihre Interes­ sen und Fähigkeiten – bis diese unbemerkt verkümmern. Trotz dieser Hürden haben hierzulande in den letzten Jahren fast ebenso viele Frau­ en wie Männer mit einem Mathematik­ studium begonnen, für das Lehramt sind es sogar deutlich mehr Frauen. Auch bei den Abschlüssen gab es 2006/2007 keine Unter­schiede. Die Familienfrage Das Fehlen von Mathe­

matikerinnen in höheren Etagen kann mit Diskriminierung und stillschweigendem Übergehen von Frauen auf ihrem Weg nach oben nur mehr bedingt erklärt werden, zu­ mal sich Arbeitskreise für Gleichbehand­ lungsfragen an österreichischen Unis dafür einsetzen, bei gleicher Qualifikation bevor­ zugt Frauen einzustellen. Eine gerade im Psychological Bulletin ver­ öffentlichte Analyse der Cornell University (USA) über die letzten 35 Jahre Forschung zum Thema Geschlechtsunterschiede in der Mathematik bestätigt das: Frauen entschei­ den sich hauptsächlich deshalb gegen eine Mathe-Karriere, weil diese mit ihrer Le­ bens- und Familienplanung nicht kompa­ tibel ist. Die Lösung eines mathematischen Problems kann wochen- bis jahrelange in­ tensive Kopfarbeit bedeuten. Männer verfügen über diese Zeit, und, gestärkt durch ihre Partnerinnen, geht das auch mit Kindern. Akademikerinnen hin­ gegen, so Andrea Abele, Helmut Neunzert und Renate Tobies im Buch „Traumjob

Mathematik“, haben viel öfter Akademiker als Partner, die selbst voll im Berufsleben stehen. Wollen sie Kinder, müssen sie sich selbst darum kümmern – meist genau in den für eine akademische Karriere so ent­ scheidenden Jahren zwischen 30 und 40. Bei Bewerbungen sind Mütter dann im Nachteil. Auf Publikationslisten stehen keine Kinder. Die innere Karriere Freilich: Frauen stellen

auch oft andere Erwartungen an ein sinn­ volles, ausgefülltes (Berufs-)Leben. Es müsse zwischen äußerer und innerer Karriere unter­ schieden werden, betont Helene Schiffbän­ ker von Joanneum Research in Graz: zwi­ schen objektiv messbarem Vorankommen, Einkommen und Prestige und dem, was

der oder die Einzelne als gelungene Karrie­ re empfindet. Gerade Frauen, so Schiffbän­ ker, legen mehr Wert auf ihre persönlichen Interessen. Dafür verzichten sie oft auch auf „große“, auf „männliche“ Karrieren. Ein Befund, den die Cornell-Studie be­ stätigt: Die Mathematik werde auch von mathematisch höchstbegabten Frauen sel­ ten als einzig glückbringende Wissenschaft gesehen. Durch ihre vielfältigen Talente haben diese Frauen jede Menge Alterna­ tiven in anderen, möglicherweise als dem Leben näher empfundenen Disziplinen wie Medizin, Biologie oder Architektur. Oder sie widmen sich ihren Kindern: Sofern frei von äußeren Zwängen gewählt, muss selbst mathematischen Genies auch dieser Weg zugestanden werden. 3

„Man muss sich trauen“ Johanna Michor (29) hat mit 25 in Mathematik promoviert, war danach unter anderem Postdoc in den USA und Großbri­ tannien und ist seit Jänner wieder an der Uni Wien am Institut für Finanzmathematik. Für die Jahre 2010 bis 2013 hat sie ein Elise-Richter-Stipendium des FWF erhalten. heureka!: Für viele Mädchen ist die Mathe-

matik ein Schreckgespenst. Wann wussten Sie, dass Sie sie lieben würden? Michor: Mein Vater ist Mathematiker. Er hat mir vorgelebt, dass Wissenschaft span­ nend und erfüllend ist. So hatte ich von vornherein einen positiven Zugang, den andere Kinder vielleicht nicht haben. Mit 17 habe ich begonnen, Vorlesungen an der Uni zu hören, weil mir im Mathematikun­ terricht langweilig war. Haben Sie nie Vorurteile verspürt? Eher im Gegenteil, ich habe immer Aner­ kennung bekommen. Leider wohl auch, weil es so viel Angst vor der Mathematik gibt. Ich glaube, dass viele Mädchen überrascht wären, was alles möglich ist, wenn sie sich trauen. Wieso gibt es so wenig führende Mathematikerinnen an den Universitäten? Weil die Rahmenbedingungen schwierig sind. In der Zeit, in der sich Männer ohne größeren Druck habilitieren, müssen wir spätestens an Kinder denken, sprich, die Habilitation eigentlich schon hinter uns ha­

ben. Es wird nicht berücksichtigt, dass Kin­ der Zeit brauchen – Zeit, in der man sich nicht 100-prozentig der Forschung widmen kann. Das ist wohl mit ein Grund dafür, warum viele die Forschung spätestens nach dem Doktorat verlassen. Wie sehen Sie Ihre nächsten Jahre? Ich wünsche mir Kinder. Unter anderem deswegen bin ich so früh ins Ausland gegan­ gen. Ich möchte auch eine Auszeit nehmen, obwohl ich mir das länger als zwei, drei Jah­ re wahrscheinlich nicht leisten kann, ohne den Anschluss zu verlieren. Kinder und die hohe Mathematik sind also schwer miteinander vereinbar? Wir lassen uns auf Probleme ein, die man mit höchster Konzentration verfolgen muss. Dies ist mit Kindern wohl nur schwer mög­ lich. Andererseits aber: Nachdenken kann man überall, und die besten Ideen kommen selten am Schreibtisch. Aber da fragen Sie lieber meine Kolleginnen mit Kindern. Frauen wird nachgesagt, sie hätten ein geringeres Selbstvertrauen als Männer. Ja, auch ich zweifle oft an mir. Vielleicht, weil es uns an Vorbildern fehlt. Mathema­ tikerinnen auf meinem Gebiet habe ich erst auf internationalen Konferenzen kennen­ gelernt, und an unserer Fakultät sind unter 60 Habilitierten nur drei Frauen. Schon schwierig, da Selbstbewusstsein zu entwi­ ckeln. Interview: V.A. Lesen Sie die Langfassung dieses Interviews unter www.heurekablog.at

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In der Schule gilt Mathematik als das Horrorfach par excellence. Zahlreiche Initiativen bemühen sich daher um eine ­Imagepolitur. Wie aber verschafft man dem Fach mehr Pep? Martina Gröschl

Das MathematikerKlischee: männlich, weiß, mittleren Alters und der Prototyp eines Nerds

ist, wird er dich erschießen.“ So kommentierte ein schwedischer Schüler seine Zeichnung, auf der ein Mathematiklehrer ein Maschinengewehr in Anschlag bringt. Entstanden ist die Zeichnung für eine Studie, in der die US-amerikanische Ma­ thematikdidaktikerin Susan H. Picker und ihr britischer Kollege John S. Berry untersuchten, wie sich Zwölf- bis Dreizehnjährige aus Großbritan­ nien, Finnland, Rumänien, Schweden und den USA einen Mathematiker bei seiner Arbeit vor­ stellen. Ein Alter, in dem sich durch Erfahrung und Sozialisation das Image der Mathematik zu verfestigen beginnt. Die Waffe im Anschlag ist besonders dras­ tisch. Sie war aber nicht die einzige Darstellung, die den Mathematiklehrer mit Bedrohung asso­ ziierte. Den distanzierten und gestrengen Lehrer, umgeben von einer Aura der Mathematik-All­ macht, scheint es zumindest in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler immer noch zu geben, wie die Studie von Picker und Berry zeigt. Langweilig, zu nichts nutze und als Schulfach ein Horror – mit solchen und ähnlich schmei­ chelhaften Attributen wird die Mathematik nicht erst seit heute bedacht.

Abstrakt hoch zwei Die Gründe für diese inbrüns­

tige Abneigung sind vielfältig. Mathematik ist ein Hauptfach und damit per definitionem ein Stressfaktor. Mathematik gilt als Gradmesser für Intelligenz und dazu noch als Begabungssache:

Punkt für Punkt die Vorurteile widerlegen: Mathematik ist weder langweilig noch bedrohlich

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Man hat es – oder eben nicht. Mathematik wird an der Uni gerne als Aussiebefach verwendet, um den Spreu vom Weizen zu trennen. Mathematik ist hochabstrakt, ihre Anwendungen sind allge­ genwärtig, aber gleichzeitig ungreifbar. Der Mathematiker Günter M. Ziegler, Pro­ fessor an der TU Berlin und Mitorganisator des deutschen Jahres der Mathematik 2008, sieht das Horrorimage in einem sich selbst verstärkenden Kreislauf gefangen: „Der Schulunterricht macht keinen Spaß und produziert Schüler, die kein vielfältiges Bild von der Mathematik haben. Von jenen, die trotzdem Mathematik studieren, wer­ den die Schwächsten Lehrer. Die sind vom Studi­ um frustriert und gehen so zurück an die Schule.“ Den Rest besorgen dann die Eltern mit wohlmei­ nenden Aussagen wie: „Mathematik macht nie Spaß, da musst du durch.“ Nichts als Nerds Die Studie von Picker und Berry

förderte aber auch noch ein anderes Detail zuta­ ge: Die Schüler schienen offenbar nicht zu wissen, was ein Mathematiker eigentlich macht, wenn er nicht in der Schule unterrichtet. Oft waren sie sich nicht einmal sicher, ob ihr Mathe-Lehrer als Ma­ thematiker durchgehen würde. Auf die Frage, für was man eigentlich einen Mathematiker einstel­ len würde, reichten die Antworten von „Keiner ist so dumm, einen Mathematiker anzuheuern“ bis zu mehr praxisorientierten Antworten wie „Ich würde ihn meine Hausaufgaben machen lassen“. Die Zeichnungen jener Schüler, auf denen ein nicht unterrichtender Mathematiker dargestellt wurde, schienen direkt aus dem Klischee-Bilder­ buch zu kommen: männlich, weiß, mittleren Al­ ters und der Prototyp eines Nerds. Eine derartig verlässliche Reproduktion von Stereotypen ließ bei den Forschern die Frage aufkommen, woher diese Bilder wohl kommen mögen. Vor allem weil sich unter den Zeichnungen der Kinder immer wieder Referenzen auf Albert Einstein (Physiker!) fanden – und das länderübergreifend. Für Picker und Berry ist es offensichtlich, dass die Medien inklusive Comics und Bücher das Image der Mathematik mitprägen. „Diese Bilder

minimath

Tödliche Abneigung „Wenn deine Antwort falsch

Mit ausdrücklicher Genehmigung von Susan H. Picker u. John S. Berry

Inbrünstige Abneigung


und die Erfahrungen in der Schule verfestigen sich dann zu Stereotypen“, so Picker im heureka!Interview. Und im Fall der Mathematik nicht selten zu negativen. Wobei das Nerd-Bild als eine Art Wiedergutmachung für ein in der Schule als unfair empfundenes Machtungleichgewicht ­z wischen Lehrer und Schüler gesehen werden könnte. Man muss der Mathematik das Abstrakte nehmen, sie steckt doch überall drinnen – gleich ob in der Körperlänge oder in bunten Formen

Interessenkiller Dieses unattraktive Image der Ma­

thematik ist eine schwere Hypothek: „Das Bild, das man von einem Schulfach und von jenen hat, die sich dafür interessieren, hat einen entschei­ denden Einfluss darauf, inwieweit sich Schüle­ rinnen und Schüler in diesem Fach engagieren“, erklärt Ursula Kessels von der FU Berlin: Sie hat gemeinsam mit Bettina Hannover das Image von mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern auf die schulische Interessen- und Leistungsent­ wicklung untersucht. Für die Forscherinnen ist gerade das negativ besetzte Image dieser Fächer Grund für das mit steigenden Schuljahren abnehmende Interesse. Vor allem der Mädchen. Kessels: „Mädchen, die sich für Mathematik oder Physik interessieren, haben Angst, als unweiblich und weniger beliebt zu gelten.“ (Zur Genderfrage in der Mathematik siehe S. 13–15.) Aber auch auf Buben hat das schlechte Image von Mathe & Co eine hem­ mende Wirkung. Die Folgen: Interesse wird im Keim erstickt; die Chancen, später einmal eine naturwissenschaftlich-technische Laufbahn ein­ zuschlagen, schwinden. Vorbild Bulgarien Dass Mathematik nicht überall

automatisch negativ besetzt ist, zeigt ein Blick nach Bulgarien: Dort zieren die Internationale Mathematik-Olympiade und das Abschneiden der bulgarischen Mannschaft die Titelseiten der Tageszeitungen und finden sogar ihren Weg in die TV-Hauptnachrichten. „Ein positives Mathe­ matik-Bild gehört in Bulgarien zum Alltag“, sagt Emil Simeonov, gebürtiger Bulgare, Mathema­ tikprofessor am FH Technikum Wien, seinerzeit Mitinitiator des math.space im Wiener Muse­ umsquartier und Obmann des Wiener Vereins minimath, der sich der mathematischen Früher­ ziehung verschrieben hat. In bulgarischen Schulen muss ein Mathe-Crack keinen Spott fürchten, Bildung wird im Lande hochgehalten – „auch, aber nicht nur, weil es im Ostblock Staatsdoktrin war“, vermutet Simeonov. Von einer derartigen Akzeptanz und von so viel Enthusiasmus kann man in Deutschland und Österreich nur träumen. Trotzdem hat der Mathematikvermittler Günter M. Ziegler genug vom Jammern: „Wir haben beim Jahr der Mathe­ matik bewusst die gängigen Klischees ignoriert und das Jammern weggelassen. Denn wer jam­ mert, ist in einer Verteidigungsposition, und wer sich verteidigt, ist ein Loser.“

Was tun? Das Negativimage ignorieren und schlichtweg ein positives Mathe-Bild zeigen, laute­ te die Devise im deutschen Mathe-Jahr 2008. Die Wege dorthin sind vielfältig: Susan H. Picker hat in New York einfach eine bunt zusammengewür­ felte Gruppe von Mathematikern unterschiedli­ chen Alters und Geschlechts und unterschiedlicher Hautfarbe rekrutiert und vor die Klasse gestellt. Günter M. Ziegler wünscht sich mehr Freiräume im Schulunterricht: „Mathematiklehrerinnen und -lehrer sollten die Möglichkeit haben, dar­ über zu erzählen, was sie selbst interessiert: seien es Paradoxien aus der Wahrscheinlichkeitsrech­ nung oder wie man einen Wetterbericht macht.“ Emil Simeonov sieht die derzeitigen Popula­ risierungsinitiativen mit einer gewissen Skepsis. „Sie sind sicher bewundernswert, aber ich glaube nicht, dass sie in der jetzigen verfahrenen Situa­ tion die nötige Breitenwirkung haben werden.“ Viel realistischer ist für ihn die Umsetzung eines Modells, in dem ausreichend viele technische und mathematisch-naturwissenschaftliche Schulen Mathematik als Hauptfach haben. Alle anderen sollten Mathematik als Nebenfach, wie beispiels­ weise Musik, anbieten. Das falsche Publikum Klischees sind bekanntlich hartnäckig. Doch ist für Deutschland und Öster­ reich noch nicht alles verloren. Bei der Abschluss­ veranstaltung zum Jahr der Mathematik vor Schülerinnen und Schülern konnte es sich Bar­ bara Sommer, Ministerin für Schule und Weiter­ bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Ende 2008 nicht verkneifen, das altbekannte „In Mathe war ich immer schlecht, und es ist trotzdem etwas aus mir geworden“ zu paraphrasieren. Dafür hatte sie sich aber das falsche Publikum ausgesucht: Sie wurde gnadenlos ausgebuht.

In Bulgarien berichten die TV-Hauptnachrichten über das Abschneiden der eigenen Mannschaft bei der MathematikOlympiade

Literatur: Susan H. Picker und John S. Berry: Investigating pupils’ images of ­mathematicians. In: Educational Studies in Mathematics 43 (2000), S. 65–94.

Susan H. Picker und John S. Berry: The human face of mathematics: challenging misconceptions. In: D. Worsely (Hg.): Teaching for depth: where math meets the huma­ nities. New York 2002 (Heinemann), S. 50–60. Ursula Kessels und Bettina ­Hannover: Zum Einfluss des Image von mathematisch-naturwissenschaftlichen Schulfächern auf die schulische Interessenentwicklung. In: Manfred Prenzel und Lars Allolio-Näcke (Hg.): Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. Münster 2006 (Waxmann), S. 350–369. Links: www.jahr-der-mathematik.de www.minimath.at

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Marcus du Sautoy: „Mir geht es um die Wunder des Wissens”

ein Mythos. So versuche ich die Geschichte der Forschung zu Symmetrie mit sehr offe­ nen persönlichen Einschüben zu verbinden. Man kriegt ja sonst von der Wissenschaft immer nur das fertige Produkt zu sehen. Auch auf den Wissenschaftsseiten der Zeitungen wird nur von Ergebnissen und großen Durchbrüchen berichtet. Das ist wie das Zaubern von Kaninchen aus dem Hut. Der Mathematiker Carl Friedrich

„Mathematik ist mehr als nur ein nützliches Werkzeug, vieles ist einfach nur schön“ Gauß war der Auffassung, man müsse alle Spuren tilgen, die darauf hinweisen, wie man zu einem Ergebnis gekommen ist. Sein Argument: Bei den Architekten sehe man nach dem Ende der Arbeit das Gerüst ja auch nicht mehr. Was ist das Gerüst bei Ihnen? Das sind all die Sackgassen, all die Denk­ wege, die ich einschlug und die zu nichts geführt haben. Aber wenn die Dinge end­ lich einmal funktionieren, dann geht alles ganz schnell.

Marcus du Sautoy weiß, wie man Mathematik unters Volk bringt. heureka! sprach mit dem Oxford-Professor über den Wert guter Geschichten und die Reise zur Zahl Null. Interview: Oliver Hochadel heureka!: Stimmt es wirklich, dass Sie als Kind zunächst Spion werden wollten? Marcus du Sautoy: Ja, und da dachte ich, um einen Agentenjob zu bekommen, müsste ich unbedingt Sprachen lernen. Ich stürzte mich auf Deutsch, Französisch und natürlich Russisch. Mein Elan erlahmte aber bald, vor allem diese unregelmäßigen Verben frustrierten mich. Ich konnte kein System dahinter erkennen. Dann entdeckte ich die Mathematik. Auch eine schwierige Sprache, aber voller Logik.

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heureka 2/2009 | Mathematik

In Ihrem Buch „Die Mondscheinsucher“ erzählen Sie nicht nur von Ihrer Faszination für Symmetrie, sondern auch viel Persönliches über Ihren beruflichen Werdegang, ja selbst über Ihre Familie. Braucht es das, um Mathematik zu vermitteln? Ich wollte dem Leser so etwas wie einen Backstagepass zur Forschung geben. Ich erzähle etwa von meinem 40. Geburtstag, diesem angeblich so schrecklichen Moment im Leben eines Mathematikers. Dass da­ nach jegliche Kreativität erstirbt, ist aber

Seit Dezember haben Sie den Lehrstuhl für Public Understanding of Science in Oxford inne, auf dem zuvor Richard Dawkins saß. Ist das auch eine Belastung, einem weltweit bekannten Forscher nachzufolgen?

Du Sautoy

Backstagepass zur Forschung

Sind die Heureka-Momente in der Wissenschaft nicht ein Mythos? Klar, die grundlegende Forschung dauert Jahre, und es ist oft sehr hart, die Details auszuarbeiten. Aber es gibt diese Momente der Erleuchtung. Jeder Mathematiker kann Ihnen seine eigene Geschichte dazu erzäh­ len, auch wenn das nur vier- oder fünfmal in einer Karriere geschieht. Ich arbeite der­ zeit mit Neurologen an einem Projekt zum menschlichen Bewusstsein. Mathematik ist die Sprache der Wissenschaft, bei der Er­ forschung des Gehirns, also von neuronalen Netzen, kann sie helfen. Bei diesem Projekt geht es auch genau um diese Heureka-Mo­ mente, bei denen gleichsam die Elektrizität durchs Gehirn schießt. Das Unterbewusst­ sein scheint hier eine wichtige Rolle zu spie­ len: Es arbeitet quasi unerkannt, versucht verschiedene Wege, bis die neue Erkenntnis dann nach oben kommt.


Das ist ein wenig „Gepäck“, das ich mit­ schleppe, aber einschüchtern tut mich das nicht. Ich möchte diesen Lehrstuhl in eine völlig neue Richtung führen, und Mathe­ matik ist genau das Richtige dafür. Für Ri­ chard als Evolutionsbiologen war Religion klarerweise ein Thema, mich interessiert das nicht weiter. Obwohl mir klar war, dass mich nun alle nach meinem Glauben fra­ gen werden. Meine Standardantwort: Ich bin Atheist und glaube an Arsenal (Anm.: Londoner Fußballverein). Mir geht es um die Wunder der Wissenschaft. Was hat sich für Sie konkret verändert? Nicht sehr viel. Ich tue viele Dinge, die ich auch vorher tat. Ich forsche und ich vermitt­ le. Nur unterrichte ich jetzt keine Studie­ renden mehr, sondern gehe in die Schulen, mache Fernsehbeiträge und rede mit Leuten wie Ihnen. Und wie viel ist jetzt Forschung, wie viel Popu­larisierung? Da kann ich keine Prozentangaben machen. Die Idee des Lehrstuhls ist: Freiraum zu schaffen für das, was man am besten kann. Ich bin aber nur eine Person und versuche daher andere Wissenschaftler zu ermutigen, ebenfalls zu popularisieren. Ich sehe mich in der Rolle eines Botschafters. Gilt Mathematik auch in Großbritannien als Horrorfach in der Schule? Ja, das ist wohl universell. Andererseits än­ dern sich die Dinge auch. Ich habe eine wö­

chentliche Kolumne in der Times mit einer treuen Leserschaft, ich mache Radiopro­ gramme und Filme über Mathematik. Die Zeitschrift New Scientist sagt mir, sie hätte gerne mehr Artikel über Mathematik von mir – so viele kann ich gar nicht schreiben. Trotzdem, woran hakt es? Wir begeistern die Kinder nicht. Es gibt – bildlich gesprochen – zu viel Grammatik und Sprache und nicht genug Geschich­

„Man kann keinen Dialog führen, wenn man nicht auch zuhört“ ten. Im Englischunterricht liest mein Sohn schon Shakespeares „Richard III.“ oder Ro­ mane von George Eliot. Vielleicht versteht er noch nicht alles, aber er ist begeistert. Im Mathematikunterricht fehlt das. Das ist, wie wenn man jemand für Musik be­ geistern will und ihn nur Tonleitern üben lässt, anstatt ihm ein tolles Stück Jazzmusik vorzuspielen. Was könnte man konkret tun? Mathematik ist mehr als nur ein nützliches Werkzeug, vieles ist einfach nur schön. Viel­ leicht ließe sich der Unterricht zweiteilen, in die technischen Fertigkeiten einerseits und die großen Geschichten andererseits. Also zum Beispiel, wie Andrew Wiles Fermats Rätsel löste, worüber Simon Singh einen Bestseller schrieb? Mit den großen Geschichten meine ich nicht nur jene der Mathematikgenies, sondern auch jene der Primzahlen, der Symmetrien oder der komplexen Zahlen. Und dann gibt es ja noch die Technologien, die unseren Alltag bestimmen, sei es Kreditkarte oder CD-Player, die nur dank der Mathematik funktionieren. Wir müssen vielfältige Ge­ schichten erzählen. Auf deren Rücken kann man dann die Mathematik transportieren.

„Ich bin Atheist und glaube an Arsenal“ Der Mathematiker Marcus du Sautoy, Nachfolger von Richard Dawkins in Oxford

Sie haben mit der BBC schon mehrere Fernsehsendungen gemacht, etwa eine insgesamt vierstündige Geschichte der Mathematik. Haben die Zuschauer da nicht weggezappt? Radio ist ein gutes Medium für Wissen­ schaft, weil es etwas Abstraktes hat. Fern­ sehen ist die große Herausforderung: Was zeigt man? Wir haben die intellektuelle mit der physischen Reise verbunden und so an­ schaulich gemacht, dass Mathematik eine

Geschichte hat und mit bestimmten Epo­ chen und geografischen Orten verbunden ist. Wir sind etwa nach Indien gereist und haben den Tempel besucht, wo die Null herkommt. Und was auch enorm hilfreich ist: die hohe Qualität der Computeranima­ tionen von heute. So können wir vorführen, wie die alten Ägypter den Rauminhalt einer Pyramide berechnet haben. Die Serie war ein großer Erfolg. Was muss sich der Vermittler beim Vermitteln klarmachen? Ich versuche immer die richtige Plattform für das jeweilige Publikum zu finden. Sind es Kinder oder Erwachsene? In der Schu­ le muss man sich fragen: Was mögen die Schüler? Ich habe selbst Kinder, aber Kin­ der sind sehr verschieden. Und man kann keinen Dialog führen, wenn man nicht auch zuhört. Mit einer Fernsehsendung können Sie Millionen von Menschen erreichen, aber nichts ist besser, als einen Mathematiker live zu erleben. Ich bilde auch meine Stu­ dierenden aus, damit sie in Schulen gehen können. Ich klone mich also (lacht) und nenne sie meine „Mini-Ichs“. Sie sind jetzt 43. Werden Sie bis zu Ihrer Emeritierung die Begeisterung für Mathematik schüren? Das ist mein Job, und ich werde das auch noch tun, wenn ich bereits in Rente bin. 3

Zur Person:

Marcus du Sautoy (43) ist seit Dezember 2008 Charles Simonyi Professor for the Public Understanding of Science an der Universität Oxford. Davor war er dort be­ reits Professor für Mathematik. Er forscht vor allem zur Zahlen- und Gruppentheorie. Um Menschen für Mathematik zu begeis­ tern, nutzt er verschiedenste Formate. „Wa­ rum wählte Beckham das Leiberl mit der 23?“ heißt seine erfolgreiche Vorlesung für Kinder und Jugendliche. Sein erstes popu­ lärwissenschaftliches Buch, „Die Musik der Primzahlen“ (englisch 2003, deutsch 2005), wurde ein vielfach übersetzter Bestseller.

Marcus du Sautoy: Die Mondscheinsucher. Mathematiker entschlüsseln das Geheimnis der Symmetrie. C.H. Beck (2008), 429 S., € 25,10

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Lotsen in der Informationsflut Um die Unmengen neuer genetischer Daten zu interpretieren, braucht es Bioinformatiker und Biomathematiker. Zehn Fragen und zehn Antworten zu einem boomenden Forschungsfeld.  Oliver Hochadel Wieso wird jetzt in der Biologie gerechnet?

Weiße Mäuse und Fruchtfliegen, Mik­ roskop und Petrischale – das ist doch die Grundausstattung eines modernen Biolo­ gielabors. Oder? Ja, aber nicht mehr nur das. In manchen Abteilungen stehen näm­ lich nur mehr Rechner und Server. Das Bild von der Biologie als „weicher, organischer“ Naturwissenschaft im Gegen­ satz zur „harten“, mathematischen Physik stimmt schon lange nicht mehr. In der Ökologie oder der Populationsgenetik nut­ zen die Biologen schon seit vielen Jahrzehn­ ten mathematische Methoden. Längst wird auch in der Molekularbio­ logie modelliert und statistisch ausgewer­ tet. Zu den traditionellen Bereichen in vivo (Organismus) und in vitro (Reagenzglas) ist in den letzten 25 Jahren ein drittes Stand­ bein hinzugekommen: in silico (Silizium, also der Computerchip), kurz: die Bioinfor­ matik. Der Computer, die Datenbank und das Netzwerk sind zu mächtigen Werkzeu­ gen der biologischen Forschung geworden. Lässt sich die Information so einfach digitalisieren?

In den 90er-Jahren sorgte das Human Geno­ me Project für weltweite Aufmerksamkeit. Elektronische Datenverarbeitung spielte bei der Erfassung der mehr als drei Milliarden Basenpaare des menschlichen Erbguts eine zentrale Rolle. Das Buch des Lebens, wie es damals vollmundig hieß, ist damit frei­ lich noch lange nicht entschlüsselt, besten­ falls aufgeschlagen. Die Sequenzierung der DNA mit den immer wiederkehrenden Ba­ senpaaren AT und CG ist ihrer Natur nach digital. Wie aber etwa Gene miteinander interagieren oder wie Proteine gefaltet sind, diese Fragen stellen Biologen und Informa­ tiker vor ungleich schwierigere Probleme. Wo lagern die Daten?

Das erfasste biologische Material (DNA, Gene, Proteine etc.) des Menschen und vie­ ler anderer Organismen ist auf öffentlichen Datenbanken allen zugänglich. „Wir haben mehr Nukleotide in unserer Datenbank, als es Sterne in der Milchstraße gibt“, rühm­ te sich die US-Datenbank GenBank schon 2005. Es gibt zwei weitere Datenbanken in Europa und Japan; die drei gleichen ihre

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Bestände täglich untereinander ab. Nach eigenen Angaben verdoppelt sich ihr Da­ tenbestand alle 18 Monate, nicht zuletzt deshalb, weil viele wissenschaftliche Zeit­ schriften von ihren Autoren verlangen, ihre Daten dort einzustellen. „Man muss natürlich genau wissen, wonach man sucht“, sagt Jacques Colinge, Bioinformatiker am CeMM, dem Zentrum für Molekulare Medizin der ÖAW in Wien. „Aber allein durch die Nutzung öffentlich zugänglicher Daten kann ein cleverer Bio­ loge wahre Schätze heben.“ Was tun Bioinformatiker?

Die digitalisierten Datenmengen sind häu­ fig nicht nur enorm groß, sondern auch sehr heterogen. „Wir entwickeln Algorithmen und statistische Modelle, um Muster auf­ zuspüren“, beschreibt Colinge seine Arbeit. Auch Joachim Hermisson, Stiftungsprofes­ sor für Mathematik und Biowissenschaften an der Universität Wien, betont: „Die je­ weiligen mathematischen Werkzeuge sind nicht einfach gegeben, sondern müssen für die gegebene Fragestellung maßgeschnei­ dert werden.“ Welche Methoden kommen zur Anwendung?

Immer schneller, immer präziser: Die Ent­ wicklung neuer Methoden hält die Biolo­

gen schwer auf Trab. Was noch vor wenigen Jahren in war, sogenannte Genchips oder Microarrays, gelten heute schon wieder als veraltet, nicht zuletzt weil sie schwer zu in­ terpretieren sind. Der letzte Schrei ist die neue Generation an Sequenzierern bzw. das sogenannte „High-throughput Sequen­ cing“. Durch die Mehrfachsequenzierung des genetischen Materials wird das Ergeb­ nis nicht nur genauer, auch die molekulare Variation zeigt sich. „Die Daten sind von einer nie dagewesenen Menge und einer Genauigkeit“, schwärmt der österreichische Biomathematiker Günter Wagner von der Yale University in den USA. Man erhalte ein völlig neues Bild von den Vorgängen auf molekularer Ebene und könne etwa die Interaktion zwischen Zelle und Antikörper quasi „live“ mitverfolgen. Dank der schnel­ len Lesetechniken gehen Datenerwerb und Analyse Hand in Hand, und man muss nicht mehr Monate oder Jahre warten, bis man Rückmeldungen erhält, so Wagner. Wo liegen die Probleme?

Wie immer bei großen Datenmengen müs­ sen Standards für die Aufbereitung und Interfaces für den Austausch der Daten geschaffen werden. Die Schwierigkeiten inhaltlicher Art, also der Datenanalyse, klingen ein klein wenig nach Luxuspro­


Genetische Daten sichtbar gemacht: „errechnete” Molekülstrukturen

blem. „Wir laufen immer hinterher“, be­ richtet Zlatko Trajanoski vom Institut für Genomik und Bioinformatik der TU Graz. „Haben wir eine Methode für ein bestimm­ tes Sequenzierungsverfahren ausgearbeitet, gibt es schon wieder ein schnelleres. Und gerade bei den neuesten Verfahren werden die Daten aufgrund der gigantischen Men­ ge gar nicht mehr gespeichert. Die bleiben auf einer Festplatte, die im Keller gelagert wird, und sind kaum mehr transferierbar.“ „Wir werden bald in Daten ertrinken“, stimmt Joachim Hermisson zu, was ihn als Theoretiker freilich freut. Die Zeit des Fla­ schenhalses, der knappen Daten, ist jeden­ falls vorbei.

IMP Wien

Ist Bioinformatik ein eigenes Fach?

Ursprünglich war die Bioinformatik eine Art Hilfswissenschaft. Mittlerweile ist es aber längst ein eigenes Fach geworden, das man studieren kann und das über ei­ gene Zeitschriften und Fachgesellschaften verfügt. Nach wie vor besteht ein großer Teil der Arbeit im „Service“. Universitäten wie auch außeruniversitäre Forschungsein­ richtungen haben eigene Abteilungen für Bioinformatik, um die experimentell ge­ wonnenen Datenmengen aufbereiten und auswerten zu können. Aber selbst im Sup­ portbereich brauche es eigene Forschung, sonst bleibe die Disziplin steril, so Zlatko Trajanoski. Mittlerweile geht der Austausch aber in beide Richtungen, d.h. die Bioinfor­

matiker generieren selbst Hypothesen, die die experimentellen Biologen überprüfen. An was wird konkret geforscht?

Trajanoski nennt als Beispiel das GOLDProjekt des österreichischen Genomfor­ schungsprogramms GEN-AU, in dem es um die Ursachen von Fettleibigkeit geht. Mittlerweile schlagen die Bioinformatiker den Laborbiologen „Kandidaten“ für Gene vor, die mit Adipositas korrelieren könnten. Biomathematiker Joachim Hermisson modelliert evolutionäre Prozesse, wobei neben den „klassischen“ Größen wie Mu­ tationsrate und Selektionsstärke auch die Geschwindigkeit der Umweltveränderung „mitberechnet“ wird. Dadurch soll simu­ liert werden, wann sich Spezies schnell und wann langsam anpassen. Christian Schmeiser, Mathematiker an der Universität Wien, möchte mithilfe von Modellierungen und Simulationen die Me­ chanik in Zellen beschreiben, also wie etwa weiße Blutkörperchen durch die Zellen „kriechen“. Ziel ist ein besseres Verständnis der Immunabwehr. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

„Die Mathematiker müssen auf die Biolo­ gen zukommen, wir müssen die Distanz überbrücken“, sagt Christian Schmeiser, der mit dem Institut für Molekulare Biotech­ nologie (IMBA) der ÖAW kooperiert. „Wir zeigen den Biologen keine Formeln, sondern

kommunizieren über Bilder. Denn die sind grafische Darstellungen gewohnt.“ Ja, der Mathematiker habe die schwerer zu verste­ hende Information, stimmt Günter Wagner zu. Er weist aber auch darauf hin, dass sich die disziplinären Hintergründe der For­ scher immer stärker vermischen. Sein Team in Yale erledigt sowohl die experimentellen als auch die mathematisch-modellierenden Aufgaben selbst. Wie gut ist die Bioinformatik in Österreich?

Was die Biomathematik angeht, also die Anwendung mathematischer Methoden auf biologische Fragen, gab (und gibt) es in Ös­ terreich schon seit Jahrzehnten auch inter­ national beachtete Forschung. Zu den Vor­ reitern gehören der Wiener Chemiker und frühere ÖAW-Präsident Peter Schuster und der Wiener Mathematiker Karl Sigmund. In der Bioinformatik hingegen war Öster­ reich Nachzügler. In den letzten fünf Jahren hat sich die Situation allerdings wesentlich verbessert, etwa durch die Einrichtung von Stiftungsprofessoren durch den WWTF (Wiener Wissenschafts- und Technologie­ fonds). Mittlerweile gibt es BioinformatikProfessuren in Wien (2), Graz, Linz, Salz­ burg und Innsbruck und etwa zehn weitere Arbeitsgruppen. „Gute Forscher wollen vor allem ein gutes Netzwerk haben, sagt Jac­ ques Colinge, und das entsteht hier mehr und mehr.“ Zur Weltspitze der Bioinforma­ tik reiche es freilich noch nicht. 3

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Kreativ und lustvoll Der Mathematiker Christian Hesse war Deutschlands jüngster ­Uni-Professor. Nun hat der passionierte Schachspieler ein Buch ­darüber geschrieben, wie man klar denkt.  André Behr

Force und Randomisierung. Gerade das letztere Prinzip, das davon handelt, dass der Zufall nicht regellos ist und wir ihn sogar für unsere Zwecke nutzen können, hat ihn schon als Jugendlichen begeistert und mit für seine Berufswahl motiviert. Denktechniken, die sich jeder aneignen kann, der sich bemüht, sind das eine. Was allerdings einen Euler in die Lage versetz­ te, derart ausufernd fundamental Neues zu finden, während andere der Zunft gleich­ sam wie Tramfahrer entlang festgelegter Denkschlaufen kurven, erklärt natürlich auch Christian Hesse nicht – wobei das auch nicht sein Anliegen war.

„Bunter und munterer“ – Christian Hesse öffnet den Werkzeugkasten des Denkens

Stuhlmenschen „Mathematiker sind mytho­ logische Wesen“, soll der Wissenschafts­ manager Simon Golin gesagt haben, „halb Mensch, halb Stuhl.“ Tatsächlich braucht ein Vertreter dieser ältesten Wissenschaft noch heute nicht viel mehr als Papier, Blei­ stift, Tisch und eben einen Stuhl, auf dem er sitzen und denken kann. Ist ein Mathe­ matiker zudem derart unerschütterlich pro­ duktiv wie einst Leonhard Euler (sein Ge­ samtwerk umfasst mehr als 70 Bände), lässt er sich beim Rechnen sogar von Kindern, die zwischen seinen Beinen herumkrabbeln oder auf seinem Rücken turnen, nicht aus der Fassung bringen. Das erzählt Christian Hesse, Professor für Stochastik an der Universität Stuttgart, der Euler für dessen bis ins hohe Alter spru­ delnde Kreativität und Arbeitskraft ebenso bewundert wie wohl alle seine Fachkolle­ gen. Auch Hesse, der 1991 mit 31 Jahren Deutschlands jüngster Universitätspro­ fessor war, denkt am besten zuhause am Schreibtisch sitzend – allerdings am liebs­ ten völlig ungestört.

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heureka 2/2009 | Mathematik

Hürdenhelfer Da sein Denken jedoch selbst unter diesen idealen Bedingungen manch­ mal stockt, begann er sich mit der Frage zu beschäftigen, wie sein mathematisches Suchen und Finden eigentlich funktioniert – insbesondere, wenn die Lösung eines vertrackten Problems ansteht. Entstanden ist aus dieser Selbstreflexion das jüngst er­ schienene Buch „Das kleine Einmaleins des klaren Denkens“, in dem er lustvoll zusam­ menfasst, was ihm in seinen 25 Jahren als professioneller Mathematiker geholfen hat, über die Hürden zu kommen. Wie also denkt ein Mathematiker? Er benutzt Werkzeuge. 22 solcher Denk­ werkzeuge hat Christian Hesse aus seinem Fundus hervorgeholt und zum Teil neu benannt. Jetzt ist er davon überzeugt, dass damit zumindest die Liste der elementaren Methoden vollständig ist. Diese „Grund-, Aufbau- und Meistertechniken beim pro­ blemlösenden Denken“ reichen von den klassischen Denkweisen mittels der Analo­ gie-, Widerspruchs- und Induktionsprinzi­ pien bis zu modernen Techniken wie Brute

nal begabte Denker, wenn man sie fragt, ­warum sie besser sind als ihre Kollegen? Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow etwa verfiel in langes Grübeln und antwortete dann: „Vielleicht weil ich an die 3000 Stellungen sehr tief analysiert habe, mehr als die übrigen Großmeister“. Christian Hesse leuchtet dieses Argument sofort ein. Schach und Mathematik haben viel gemeinsam. Das weiß er, weil er Schach spielt und einen schönen Essayband über dieses Spiel verfasst hat. Die Schachkunst arbeitet mit Figurenmustern, die Mathe­ matik in der Geometrie mit Punktmustern, mit Zahlenmustern in der Zahlentheorie oder mit Mustern bei Zufallsprozessen in der Stochastik. Diese sogenannten Chunks – im Schach beispielsweise sind das nicht nur die Figu­ renstellungen, sondern ganze Zugfolgen, die mitgedacht werden – kann der Profi als Einheit abrufen, ebenso wie wir beim Lesen nicht mehr mühsam Buchstabe für Buchstabe aneinanderreihen, sondern gan­ ze Wörter „sehen“. Der Antwortversuch Kasparows sagt uns aber auch, was Anfänger oft nicht glauben wollen, Väter und Mütter schon immer wussten und Musikneurologen vor einiger Zeit plausibel nachweisen konnten: Aus einem Talent wird nur ein Meister, wenn es früh beginnt und intensiv arbeitet. Wenn sich diese Arbeit mit Freude paart, umso besser. Genau dies hat Christian Hesse im Sinn, wenn er schreibt, dass sein Buch „diesseits und jenseits des Lustprin­ zips bunter und munterer“ sein will, als es ­Mathe-Bücher gemeinhin sind.

Christian Hesse: Das kleine Einmaleins des klaren Denkens. 22 Denkwerkzeuge für ein besseres Leben. Beck’sche Reihe, 352 S., € 15,40

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PROGRAMM ZUR ENTWICKLUNG UND ERSCHLIESSUNG DER KÜNSTE (PEEK) Eine Programm-Initiative des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF) Zielgruppe Jede in Österreich künstlerisch oder künstlerisch wissenschaftlich tätige Person, die über die entsprechenden Qualifikationen verfügt Zielsetzung »» Förderung von innovativer Arts-based Research von hoher Qualität, wobei die künstlerische Praxis eine zentrale Rolle bei der Fragestellung spielt »» Erhöhung der Forschungskompetenz, der Qualität und des internationalen Rufs österreichischer Arts-based Researchers »» Erhöhung des Bewusstseins für Arts-based Research und der potenziellen Anwendung innerhalb der breiteren Öffentlichkeit sowie innerhalb der wissenschaftlichen und künstlerischen Communities Anforderungen »» hohe künstlerische und/oder künstlerisch-wissenschaftliche Qualität im Sinne von EEK auf internationalem Niveau »» ausreichend freie Arbeitskapazität »» notwendige Infrastruktur (Anbindung an eine geeignete universitäre oder außeruniversitäre Institution in Österreich, welche die für das Projekt erforderliche Dokumentationsleistung, Unterstützung und Qualität der Ergebnisse gewährleistet)

Antragstellung »» 24.06.2009 bis 01.09.2009 (Datum des Poststempels) »» auf Englisch »» ein hinsichtlich Ziele und Methodik genau beschriebenes, zeitlich begrenztes Projekt (max. 36 Monate) Kontakt »» Dr. Alexander Damianisch alexander.damianisch@fwf.ac.at +43-1-505 67 40 DW 8112 weitere Informationen, Antragsunterlagen etc.: www.fwf.ac.at/de/projects/peek.html


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