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Zukunft Seite
Schule für eine ungewisse Zukunft
Lockdown und Distanzunterricht als Ansporn, den Lehrplan neu zu denken
Wir haben zwei Stunden online gehäkelt – urfad!“ So der Befund der 11-jährigen Gymnasiastin Vivia über einen Lockdown-Schultag. Auch der Turnunterricht als Klopapierrollen-Balancieren im Jugendzimmer war mäßig spannend. Wie wäre es, Schule in Form von Projekten abzuhalten? Ein Paar Socken, einen Schal, eine Haube zu stricken – oder, im Fall von „Bewegung & Sport“: die Besteigung des Mount Everest? Letzteres geht so: 17 Zentimeter ist eine Treppenstufe hoch. Wer auf den Everest will, muss 8.848 dividiert durch 0,17 = 52.047 Stufen steigen.
Warum hält man am 50-MinutenSchulstunden-Schema fest?
Wie wäre es, wenn sich die Schüler*innen mit ihren Lehrpersonen nur am Montag und am Freitag treffenund dazwischen in Eigenregie lernen? Oder geblockt, oder es wird pro Vormittag nur ein Fach unterrichtet? Warum hält man am 50-MinutenSchulstunden-Schema fest? „Es ist bequem“, liefert Henning Schluß vom Institut für Bildungswissenschaftder Universität Wien die plausibelste Erklärung. Man könne dadurch den Lehrstoff aufteilen,und es komme begrenzten Aufmerksamkeitsspannen entgegen. Einen Schritt zur Aufweichung habe die Laborschule Bielefeld in Nordrhein-Westfalen gemacht – zumindest akustisch: Sie hat die Schulglocke abgeschafft
Was, wenn nur ein Fach pro Vormittag oder Nachmittag unterrichtet würde? „Es ginge, aber wenn ein Schüler die Lehrerin nicht mag, könnte es Probleme geben“, so Schluß. Über einen Vormittag kann sich einiges aufstauen. „Und wer einen einzigen Tag fehlt, versäumt jede Menge“, gibt Schluß zu bedenken. Nachsatz: „Wir haben es mit Menschen zu tun. Die einen sind besser bei Projekten, andere rattern ihr Schulbuch herunter. Dann können auch fünfzig Minuten lang sein.“
Die Chemie der Kochkunst in der eigenen Küche
Ließen sich einzelne Fächer auf sinnvolle Kombinationen eindampfen, etwa die Chemie mit der Kochkunst? Ein Labor hat keiner, aber eine Küche. Es hätte auch gesundheitliche Vorteile: Wer kocht, isst kein Fast Food. Und warum man dabei das Fenster aufmacht, ließe sich in einer chemischen Gleichung erklären. Physik ebenso wie Mathematik könnte man mit Bewegung und Sport kombinieren.
Der Gedanke ist nicht neu, er ist sogar ziemlich alt: Hennig Schluß verweist auf die Philanthropen, die Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung.„Sie haben Bildungsreisen gemacht, sich jeweils in der Sprache des betrachteten Gegenstandes unterhalten, etwa bei der Pflanzenbestimmung auf Latein, und haben Bauern am Land besucht, sind schwimmen gegangen – doch bei dieser
TEXT: SABINE EDITH BRAUN
„Programmier- sprachen zu beherrschen ist auf dem globalen Arbeitsmarkt entscheidend“
CHRISTIN REISENHOFER, UNIVERSITÄT WIEN
Henning Schluß, Universität Wien
Art von Unterricht ist dann eben um zwölf Uhr nicht die Schule aus.“
In Österreich sei es leichter, in alternativen Formen zu unterrichten als etwa in Deutschland. „Viele Eltern tun sich zusammen, was teils auch religiöse Gründe hat. Die Frage ist, warum alternative Formen nicht in den Regelunterricht übergehen?“ Dann würde die klassische Klassenfahrt zur Wanderung durch die Umgebung im Philantropen-Stil. „Ich glaube, dass vieles schon da ist und auch ausprobiert wird“, sagt Schluß. „aber erst nach Notenschluss Ende Juni.“ Eine Form der Bündelung wäre der Unterricht in Epochen: Jede Zeitepoche lässt sich mit der dazugehörigen Musik, Literatur und Kunst oder geografichen Entdeckungen verbinden. Dass man hierfür die pädagogische Ausbildung umstellen müsste, ist klar.
In der Schule lernt man eines: Frustrationstoleranz
Aber in der Schule geht es nicht allein um Wissensvermittlung. „Wir lernen Frustrationstoleranz“, sagt Henning Schluß. Die rigide Zeiteinteilung sei der „heimliche Lehrplan“ der Schule. Der Begriffist abgeleitet von „hidden curriculum“, einem Begriffdes US-Kulturanthropologen Philip W. Jackson (1968). „Man lernt, dass man vielleicht nicht drankommt, selbst wenn man die Antwort weiß. Die Kunst ist, das nicht in Frustration umschlagen zu lassen.“
Auch Kooperationsbereitschaftstünde auf dem heimlichen Lehrplan – aber dazu besteht ein Paradox: die Notengebung. „Noten erzeugen Konkurrenz“, sagt Schluß, „faktisch ist das wie Marktwirtschaft“ Im Gruppenunterricht kann nur einer reden. Eine Lösung wäre die Auftilung auf Kleingruppen. „Die Volksschulen sind da viel weiter als Gymnasien“, meint der Experte, man müsse sich nur die räumliche Gruppierung im Klassenzimmer in Volksschulen und in Gymnasien anschauen. „Der Bildungs- und Erziehungsprozess erfolgt vor dem Hintergrund rascher gesellschaftlicherVeränderungen insbesondere in den Bereichen Kultur, Wissenschaft,Wirtschaft Technik, Umwelt und Recht“, besagen die Leitlinien der Lehrpläne. Was meint die Bildungswissenschaftzu neuen Fächern? „Es sind jeweils die Medien, IT, Straßenverkehr oder Umwelt, die diskuiert werden, aber was uns nicht klar ist: Schule soll auf eine ungewisse Zukunftvorbereiten!“, so Henning Schluß. Ein Bedarf, den wir heute sehen, ist ein paar Jahre später vielleicht keiner mehr.
Die Schule solle Grundlagen vermitteln, aber nicht jedes aufpoppende gesellschaftl che Problem als Schulfach sehen. Ebenso die Klimakrise: „Das, was da passiert, sind physikalische Grundlagen: Mathe, Physik, Chemie. Was macht das CO2 in der Atmosphäre? Dazu brauche ich kein Schulfach ‚Klimakrise‘.“ Es gehe darum, Einzelfächer intelligent zu verbinden. Überhaupt, Programmieren: „Nicht notwendig“, sagt Schluß. Kollegin Christin Reisenhofer sieht dies anders. „Neben den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen wird die Fähigkeit, Programmiersprachen zu beherrschen, auf dem globalen Arbeitsmarkt immer entscheidender“, meint die Expertin für Games.
Kann man mit und von Computerspielen lernen?
Games sind für Reisenhofer eine Möglichkeit, den Unterricht abwechslungsreicher, kreativer und partizipativer zu gestalten: „Sie stellen einen wesentlichen Teil der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen dar.“ Es bräuchte die prinzipielle Anerkennung von digitalen Spielen als Kulturgut und nicht zuletzt „aufgeschlossene, technisch versierte und spielaffinLehrkräfte“. Gamificationheißt das: das Anreichern spielfremder Systeme mit Spielelementen.
Was kann man von Computerspielen lernen? „Je nach Genre fördern Games durch ihre soziale und kommunikative Komponente Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft,Kooperationsfähigkeit, moralische Urteilskompetenz und Hilfsbereitschaft“ Wer sich nicht an Regeln halte, sich anderen gegenüber unfreundlich oder beleidigend zeige, werde von der Community nicht geduldet, in Chats zurechtgewiesen oder mit der härtesten Saktion bedacht: dem Ausschluss aus Spieler-Clans oder -Gilden.
Eine „Games-Stunde“ sieht Reisenhofer nicht im klassischen 50-Minuten-Schema, sondern projektbezogen, fächerübergreifend und als längerfristiges Unterrichtskonzept angelegt. Das Wichtigste sei, „dass Spiele nicht zum Selbstzweck, sondern mit didaktischen Zielvorstellungen verknüpftin den Unterricht eingebunden werden“.
Aber was machen wir mit den in der Corona-Zeit so stiefmütterlich behandelten Fächern wie Häkeln, Musik, Sport, Religion etc.? Darauf zu verzichten würde sich rächen, so Henning Schluß, denn es gehöre zum menschlichen Leben dazu. Übrigens fördere gedankenloses Herumkritzeln, das „Doodeling“, die Konzentrationsfähigkeit. Vielleicht kann man ja Handarbeiten künftig unter diesem Aspekt betrachten: als Mittel, die Konzentration zu fördern.
Welche Altersstufe spielt welche Games?
Jüngere Kinder spielen eher „Story Games“ und Open-World-Spiele sowie Konsolenspiele, meist im Einzelspielermodus: Minecraft(im späteren Alter auch im Multiplayermodus), Super Mario, Legend of Zelda oder Brawl Stars fürs Smartphone. Mit Eintritt in die Pubertät werden Spiele, die man miteinander oder gegeneinander online spielt, bevorzugt. Nun stehen das gemeinsame Spielen am Computer, der Austausch, das Soziale, das Miteinander, der Wettkampf und das Sich-Beweisen im Fokus.