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DAS MAGAZIN DER ÖSTERREICHISCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

Wissenschaft in Zeiten der Pandemie Welche Beiträge heimische Forschende zur Lösung der Corona-Krise leisten

Illustration: Georg Feierfeil / www.schorschfeierfeil.com

WISSENSCHAFTSPREISE. FASSMANN. BILDUNGSLOCKDOW N 01_Cover_20_CZIL2.indd 1

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E D I T O R I A L LIEBE LESERINNEN,

war und ist aufgrund der D anhaltenden Entwicklungen der CoronaPandemie ein besonderes. a s Jahr 2020

Kaum einmal ist seitens der Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit die Kompetenz von Wissenschaft und Forschung dermaßen erwartet und eingefordert worden wie jetzt. Adressat*innen dieser Erwartungen sind nicht „nur“ die Medizin und Biochemie. Die Wissenschaft in ihren unterschiedlichsten Disziplinen ist aufgerufen, ihre Kompetenzen konkret einzubringen und entsprechend zu kommunizieren. Daraus entfacht sich einmal mehr die Diskussion um die Rolle und Funktion von Wissenschaft und Forschung in den diversen Öffentlichkeitsbereichen der Gesellschaft und deren praktische Relevanz. Diese Entwicklung soll in der siebten Ausgabe des Magazins der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) mit dem Schwerpunkt „Wissenschaft und Forschung (in Österreich) im Zeichen der COVID-19-Krise“ reflektiert und anhand verschiedener Fallbeispiele illustriert werden (Seite 8–11 sowie 24–39). Es erwarten Sie überdies Einblicke in das Schaffen unserer Arbeitsgemeinschaften (Seite 14–17) sowie in der Rubrik „4 aus 300“ die Präsentation der vier ausgewählten Projekte, die mit Hilfe unseres Förderprogramms „Internationale Kommunikation“ verwirklicht werden konnten (Seite 6). In bewährter Tradition des Magazins baten wir Vertreter*innen aller neun Bundes-

Reinhold Mitterlehner, Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

Heinrich Schmidinger, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG Medieninhaber und Verleger: Österreichische Forschungsgemeinschaft, Berggasse 25/21, 1092 Wien, T: +43/1/319 57 70 E: oefg@oefg.at Druck: Bösmüller Gesmbh & Co KG, 2000 Stockerau

länder sowie den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Univ.-Prof. Dr. Heinz Faßmann, zum Interview und befragten sie zu ihren aktuellen Schwerpunkten im Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich – auch im Hinblick auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (Seite 18–23). Ganz besonders freuen wir uns, unseren diesjährigen Preisträgern – Jan Assmann und Fritz Paschke – zum Erhalt des Wissenschaftspreises 2020 zu gratulieren! Die feierliche Verleihung des Preises werden wir ehestmöglich nachholen (Seite 4–5 und 12–13). Im Sinne der Sicherheit unserer Teilnehmer*innen und Referent*innen mussten wir leider auch andere Veranstaltungen absagen. Wir werden jedoch im nächsten Jahr die beiden Tagungen – die Badener Tagung mit dem Thema „Studierende zum Abschluss motivieren“ und den Österreichischen Wissenschaftstag zum Thema „Modellbildung und Simulation in den Wissenschaften“ – nachholen und freuen uns, Sie dann hoffentlich wieder persönlich begrüßen zu dürfen! Bleiben Sie gesund! REINHOLD MITTERLEHNER HEINRICH SCHMIDINGER

Foto: Hans Ringhofer, David Sailer

DIE ÖFG IST EINE FORSCHUNGSFÖRDERUNGSEINRICHTUNG, GETRAGEN VON BUND UND LÄNDERN

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Fotos: M. Hasenöhrl, BOKU, Uni Wien, Uni Innsbruck, Sissy Furgler, Nestroy, Heinrich Kolarik, Felicitas Matern, Barbara Mair, Vouk, Puch, Lunghammer, privat, Walter Skokanitsch

LIEBE LESER!


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DER WISSENSCHAFTLICHE BEIR AT DER ÖFG

Fotos: M. Hasenöhrl, BOKU, Uni Wien, Uni Innsbruck, Sissy Furgler, Nestroy, Heinrich Kolarik, Felicitas Matern, Barbara Mair, Vouk, Puch, Lunghammer, privat, Walter Skokanitsch

Foto: Hans Ringhofer, David Sailer

ÖFG

Walter Berka, Univ.-Prof. für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Universität Salzburg

Martin Gerzabek, Univ-Prof. für Ökotoxikologie und Isotopenanwendung, BOKU Wien

Hans Goebl*, Univ.-Prof. em. für Romanische Sprachwissenschaft, Universität Salzburg

Reinhard Heinisch**, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

Bernhard Jakoby, Univ.-Prof. für Mikroelektronik, Universität Linz

Harald Kainz**, Univ.-Prof. für Bauingenieurswissenschaften, Rektor TU Graz

Wolfgang Kautek, Univ.-Prof. für Physikalische Chemie, Universität Wien

Brigitte Mazohl*, Univ.-Prof. für Österreichische Geschichte, Universität Innsbruck

Reinhard Neck, Univ.-Prof. für Volkswirtschaftslehre, Universität Klagenfurt

Oswald Panagl, Univ.-Prof. em. für Sprachwissenschaft, Universität Salzburg

Peter Parycek, Univ.-Prof. für E-Governance, Donau-Universität Krems

Heinrich Schmidinger, Univ.-Prof. für Philosophie, Rektor, Universität Salzburg (Beiratsvorsitzender seit 06/20)

Ursula SchmidtErfurth*, Univ.-Prof. für Augenheilkunde und Optometrie der MedUni Wien

Christiane Spiel, Univ.-Prof. für Bildungspsychologie und Evaluation, Universität Wien (Beiratsvorsitzende bis 6/20)

Hans Tuppy, Univ.-Prof. em. für Biochemie, Univ. Wien, ehem. Wissenschaftsminister

Friederike Wall, Univ.-Prof. für Unternehmensführung, Universität Klagenfurt

Viktoria Weber***, Univ.-Prof. für Biochemie, DonauUniversität Krems

Susanne WeigelinSchwiedrzik, Univ.-Prof. für Sinologie, Universität Wien

*bis 6/20

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***seit 6/20

I N H A LT WISSENSCHAFTSPREIS DER ÖFG 2020

Jan Assmann und Fritz Paschke

4–5 12–13

ÖFG-FÖR DERUNG FÜR DEN NACHWUCHS

Vier von 300 JungforscherInnen, die die ÖFG heuer unterstützte

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Forschende über ihre Situation in der COVID-19-Krise 24–39 14–17

GESPR ÄCH MIT MINISTER HEINZ FASSM A NN

6–7

BILDUNG IM LOCKDOWN

Wie es Schüler*innen und Studierenden sowie Lehrenden während des März-Lockdowns erging

WISSENSCHAFT IN DEN ZEITEN DER PA NDEMIE

ARGE DER ÖFG

aus den ARGEs „Digitale Transformation“, „Internationale Beziehungen“ und „Kulturelle Dynamiken“

Über die Situation der Bildung in Österreich während der Corona-Pandemie

18–19

IN DEN BUNDESLÄNDERN

8–11

Ziele und Schwerpunkte der Wissenschaftspolitik

20–23

Formeln in der Coronakrise Universitäten im Lockdown Echtzeitmonitor zur Versorgungssicherheit Die populistische Dimension Sprachschatz, erweitert Der optimale Lockdown Wissenschaft, wahrnehmbar Wissen, Virus und Verwirrung

PUBLIKATIONEN

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Von Echnaton bis Beethoven Der Kulturwissenschaftler J A N A S S M A N N erhält den Wissenschaftspreis 2020 der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

an Assmann ist einer der bedeutendsten JrerGeistesund Kulturwissenschaftler unseZeit. Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, welche er gemeinsam mit seiner Frau Aleida entwickelt hat, ist nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis der Wissenschaft wegzudenken, ebenso wie seine Forschungen zum biblischen Monotheismus, der neben dem einen „wahren“ nur „falsche“ Götter kennt. Die Liste der Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinigungen und seiner Ehrungen ist lang, ebenso wie die der Publikationen. Nach dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den er 2018 zusammen mit seiner Frau Aleida erhalten hat, bekommt Jan Assmann nun den Wissenschaftspreis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft zugesprochen. „ D A S FA S Z I N I E R E N D E A N D E R Ä G Y P T O L O G I E : S I E I S T K U LT U R W I S S E N S C H A F T G E B L I E B E N “ Ein österreichischer Forschungspreis, so der Ausnahmewissenschaftler, bedeute ihm besonders viel, da es mit Österreich eine große Verbundenheit gebe: „Seit es uns 1971 gelang, eine alte Mühle am Traunsee als Familien-Ferienquartier zu erwerben, verbringen wir dort jeden Sommer und nicht selten auch Oster-, Herbst- oder Weihnachtsferien“, verrät er. Dies und auch mehrere Forschungsaufenthalte von ihm sowie seiner Frau am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien hätten zu zahlreichen österreichischen Kontakten und Freundschaften geführt. Mit seiner Frau befindet er sich seit vielen Jahren in einer Forschungsgemeinschaft. Wie kann man sich Wissenschaft zu zweit überhaupt vorstellen? „In unserem Fall funktioniert Wissenschaft, indem jeder neben der Arbeit an gemeinsamen Projekten auch sein eigenes Fachgebiet betreibt und den eigenen Interessen nachgeht“, sagt Assmann. Letzteres sind in seinem Fall Ägyptologie, Religionswissenschaft und Musik, im Fall seiner Frau Literaturwissenschaft und Erinnerungskultur. „Das heißt aber nicht, dass sich nicht jeder von uns auch lebhaft für die

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Themen des anderen interessiert und an der Entstehung der entsprechenden Arbeiten teilnimmt“ – siehe ihre Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Warum wird man überhaupt Ägyptologe, was fasziniert heute an Kleopatra & Co? „Das Faszinierende an der Ägyptologie ist, dass sie sich nicht in Spezialgebiete wie Archäologie, Philologie und Geschichte ausdifferenziert hat, sondern eine Kulturwissenschaft im eigentlichen Sinne geblieben ist, indem sie sich mit der altägyptischen Kultur in all ihren Ausdrucks- und Erscheinungsformen beschäftigt.“ Damit sei sie, so Assmann, zu einem Vorreiter des „cultural turn“ in den Geisteswissenschaften geworden. Eine ganz andere als die eigene Kultur zu kennen, sei nicht nur generell wichtig, im speziellen Fall der Ägyptologie bedeute es auch noch, „den Weg zu kennen, den die eigene Kultur genommen hat und der sich über Rom, Griechenland und Israel bis nach Ägypten verfolgen lässt“. Auch wenn es „Hieroglyphisch – Wort für Wort“ als Kauderwelsch-ReiseführerBüchlein gibt – für alle Freunde von Fremdsprachen-Crashkursen hat der Ägypten-Spezialist schlechte Nachrichten: „Hieroglyphen mehr oder weniger flüssig lesen zu können, ist einerseits eine Sache von zwei Jahren, vier Semestern, in denen man ein ordentliches Grundwissen erlernen kann, andererseits eine lebenslange Aufgabe, die nie an ein Ende kommt.“ Apropos Ende. Irgendwann wird die Corona-Pandemie hoffentlich ein Ende haben. Es stellt sich die Frage, ob auch sie ein Teil unseres kulturellen Gedächtnisses werden wird, und wenn ja, in welcher Form. Jan Assmann verweist in diesem Zusammenhang auf die Spanische Grippe, die mindestens das Zehnfache an Toten gefordert hat – und dennoch nicht Teil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden ist. Er fügt hinzu: „Die Corona-Pandemie wird sicher eine Weile im kollektiven Gedächtnis bleiben, aber um Teil unseres kulturellen Gedächtnisses zu werden, braucht es ihre Darstellung und Bearbeitung in kulturellen Werken wie Texten, Bildern und Kompositionen, die in den Kanon eingehen.“

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Foto: Phillip Rothe

SABINE EDITH BRAUN


Foto: Phillip Rothe

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Einer, der definitiv in den Kanon eingegangen ist, feiert heuer seinen 250. Geburtstag: Ludwig van Beethoven. Mit dem Buch „Kult und Kunst – Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst“ hat auch Jan Assmann seinen wissenschaftlichen Beitrag zum „Beethoven-Jahr“ geleistet. Was macht diesen Komponisten auch noch nach einem Vierteljahrtausend so populär? „Beethoven ist vielleicht neben Händel der erste Komponist, der neben seinen kammermusikalischen Werken wie Klaviersonaten, Streichquartetten etc. bewusst für eine große Öffentlichkeit komponiert hat. Das macht gerade seine öffentliche Musik, Sinfonien vor allem, so populär“, ist Assmanns Erklärung. Dass in einem aktuellen Fernsehwerbespot ein Getränk aus einer rot-blauen Dose

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Jan Assmann: „Die Corona-Pandemie wird eine Weile im kollektiven Gedächtnis bleiben, aber um Teil unseres kulturellen Gedächtnisses zu werden, braucht es ihre Darstellung in kulturellen Werken, die in den Kanon eingehen“

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Beethoven aus einem kompositorischen Durchhänger rettet, ist dennoch kein Alleinstellungsmerkmal. Das beweisen Mozartkugeln, Goethe-&-Schiller-Salz-undPfefferstreuer und vieles weitere. „Dieses Schicksal der Verkitschung bleibt wohl keinem so Hochberühmten erspart“, resümiert Assmann, der sich der Musik nicht nur passiv, sondern auch aktiv widmet: Klavier, Cembalo und Blockflöte spielt er. Woran er selbst wissenschaftlich gerade arbeitet, verrät der Preisträger nicht. Allerdings ist er gemeinsam mit seiner Frau und einer Handvoll Wissenschaftler*innen an einem Projekt über den „Gemeinsinn“ beteiligt sowie gemeinsam mit vier Nachwuchswissenschaftler*innen an einem Projekt mit dem Titel „Das Gedächtnis der Stadt“.

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In den Wäldern von Laos Trotz Corona-Krise mussten N A C H W U C H S TA L E N T E heuer nicht auf Auslandserfahrungen verzichten. Diese vier holten sich dort dank ÖFG-Förderung wertvolle Impulse

schritt voran. Entsprechend gut vernetzt sind heutige Forscher*innen. Auch der wissenschaftliche Nachwuchs streckt immer früher die Fühler aus, um zu erfahren, was auf der Welt im eigenen Fach passiert. Sich mit seinen Ergebnissen zu präsentieren und Kontakte zu knüpfen, ist zudem ein wichtiger, oft entscheidender Karriereschritt. „Darum unterstützen wir exzellente jüngere Wissenschaftler*innen, die aus Formalgründen oder wegen Erschöpfung der Mittel bei anderen Stellen keine ausreichende Förderung dafür erhalten“, erklärt die ÖFG das Ziel ihres Programms „Internationale Kommunikation“, das jährlich an die 300 Personen fördert. Melanie Pichler, 35, Universität für Bodenkultur (BOKU), Wien Die Oberösterreicherin hat an der Universität Wien in Politikwissenschaft promoviert und ist Postdoc am Institut für Soziale Ökologie der Wiener Universität für Bodenkultur. Hier forscht sie gemeinsam mit Naturwissenschaftler*innen, mit Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen an umweltund klimapolitischen Fragen. „Wir möchten verstehen, warum wir als Gesellschaft so destruktiv mit natürlichen Ressourcen umgehen, suchen aber auch nach Möglichkei-

Melanie Pichler, Universität für Bodenkultur (BOKU), Wien

Jeanett Holzknecht, Medizinische Universität Innsbruck

„VERSTEHEN, WARUM WIR SO DESTRUKTIV M I T N AT Ü R L I C H E N R E S S O U R C E N U M G E H E N “ ten zur Veränderung“, sagt sie. Ebenso ist die ungleiche Verteilung von Klimarisiken ein Thema. „Menschen im globalen Süden spüren die Folgen der Klimakrise schon deutlich, obwohl sie historisch gesehen wenig zu ihr beigetragen haben.“ Derzeit erforscht Pichler im Rahmen eines großen EU-Projekts zu den Klimaeffekten von Wiederbewaldung und Aufforstung die diesbezügliche Situation in Laos. Bei einem zweimonatigen ÖFG-geförderten Aufenthalt vor Ort führte sie Gespräche mit unterschiedlichen Stakeholdern zu der Art der Maßnahmen, den dahinterstehenden Interessen und

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Jeanett Holzknecht, 28, Medizinische Universität Innsbruck Jeanett Holzknecht beschäftigt sich mit einem winzigen Protein namens PAFC (Penicillinum chrysogenum antifugales Protein C), das das Wachstum mikroskopisch kleiner Pilze wie etwa des Hefepilzes Candida albicans einbremsen kann. „Pilzinfektionen werden immer häufiger und sind schwer zu bekämpfen, da es am Markt nur eine beschränkte Anzahl an Medikamenten gibt und Resistenzen gegen herkömmliche Mittel zunehmen“, sagt die Doktorandin. Sie hat an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Biologie und Mikrobiologie studiert und forscht nun in der Arbeitsgruppe von Florentine Marx an der Medizinischen Universität Innsbruck. „Wir konnten in einer Studie nachweisen, dass PAFC auch bei Hefen wirkt, die resistent gegen Antipilzmittel sind“, berichtet sie. An der Anwendung dieses Proteins zur Behandlung von Candida albicans arbeitet sie im Zuge ihrer Dissertation an einem In-vitro3-D-Hautmodell. Ihre Ergebnisse stellte sie im Februar bei der „15th European Conference

„PILZINFEKTIONEN WERDEN IMMER HÄUFIGER UND SIND SCHWER ZU BEKÄMPFEN“ on Fungal Genetics“ in Rom vor. Die Reise wurde von der ÖFG gefördert. „Der Erfahrungsaustausch mit anderen Forscher*innen auf dem Gebiet von humanpathogenen Pilzen war eine Bereicherung.“ Zudem lernte sie

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Fotos: Marius Bolduan, Dino Rekanovic

onferenzen, Symposien, StudienaufentK halte: Die Wissenschaftslandschaft ist international, und Kooperation treibt den Fort-

den daraus folgenden gesellschaftlichen Konflikten. „Aufforstung kann auch zu Lasten von Menschen gehen“, erklärt sie. „In Laos etwa betreiben viele Wanderfeldbau. Sie roden Flächen, um beispielsweise Reis anzupflanzen, und lassen den Wald auf der dann brachliegenden Fläche wieder nachwachsen.“ Zur Selbstversorgung brauchen sie beides, den Wald und die Felder. „Zu strenge Waldschutzmaßnahmen würden ihnen schaden.“ Wegen Corona musste sie den Aufenthalt eine Woche früher abbrechen, das letzte verfügbare Flugzeug brachte sie zurück nach Wien. „Zum Glück hatte ich die Interviews schon abgeschlossen.“ Die Ergebnisse werden Teil ihrer Habilitationsschrift sein.

Fotos: Elsner/riccio.at, Holzknecht

USCHI SORZ


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potenzielle Kooperationspartner*innen für ihre Arbeitsgruppe kennen. Die Welt der für das menschliche Auge unsichtbaren Mikroorganismen habe sie schon früh fasziniert, erzählt Holzknecht. So habe sie relativ schnell den Weg in die Wissenschaft gefunden. „Die Forschung hat mich Geduld und Flexibilität gelehrt“, sagt sie. Jeder Schritt baue auf vorhergehenden Ergebnissen auf. „Das macht die angewandte Mikrobiologie so abwechslungsreich und jeden Tag im Labor spannend.“ Sandra Ladwig, 35, Universität für angewandte Kunst, Wien „Amateurfilme entfalten eigene, meist marginale Sichtweisen auf die Wirklichkeit und stellen etablierte Analysemodelle infrage“, sagt Sandra Ladwig. „Es ist spannend, diese randständige und widerspenstige Kultur filmhistorisch zu verorten.“ Als Teilgebiet der Filmwissenschaft gewinne die Amateurfilmforschung zunehmend an Bedeutung, so die gebürtige Berlinerin, die an der Universität Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert hat. In ihrer Dissertation an der Abteilung für Medientheorie der Universität für angewandte Kunst widmet sie sich dem österreichischen Amateurfilm der 1920er- bis 1960erJahre. Sie erforscht, mit welchen ästhetischen

Fotos: Elsner/riccio.at, Holzknecht

Fotos: Marius Bolduan, Dino Rekanovic

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„Die umfangreichen Einblicke in die Kontextmaterialien der überlieferten Amateurfilmsammlung Kesslers sowie die Zusammenarbeit mit der Archivarin Lindsay Zarwell waren von großem Wert für meine Arbeit.“

Sandra Ladwig, Universität für angewandte Kunst, Wien

Milan Latinović, Technische Universität Graz

„ A M AT E U R F I L M E E N T F A LT E N G A N Z E I G E N E SICHTWEISEN AUF DIE WIRKLICHKEIT“ Praktiken sich die Amateur*innen ihre Freizeit erschlossen und konstruiert haben. Darüber hinaus möchte sie die Rolle von Frauen in der frühen, männerdominierten Amateurkinematografie sichtbar machen, wobei sie das Œuvre der in der Nazizeit nach Amerika emigrierten Wiener Jüdin Alice „Lizzy“ Kessler besonders interessiert. Kessler war vor ihrer Flucht eine der wenigen Amateurfilmerinnen im Klub der Kinoamateure Österreichs. Mithilfe einer ÖFG-Förderung konnte Ladwig vom 24. Februar bis 10. März am United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D. C. die „Kessler Family Collection“ in Augenschein nehmen. „Ich bin froh, dass ich meinen Forschungsaufenthalt noch vor Corona und somit persönlich vor Ort durchführen konnte“, unterstreicht sie.

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Milan Latinović, 34, Technische Universität Graz Wie wird sich die Arbeitswelt verändern? Werden Maschinen unsere neuen Kolleg*innen? „Das weiß im Moment niemand so genau“, sagt Milan Latinović. Er hat in seiner Heimatstadt Banja Luka in Bosnien und Herzegowina Computerwissenschaften studiert und dissertiert nun an der Technischen Universität Graz bei Viktoria Pammer-Schindler. Das Doktoratsstudium absolviert er neben seinem Job als Enterprise-Architect beim IT-Unternehmen apilayer. „Ich erforsche, wie sich Softwareentwicklungsfirmen verbessern können, etwa bei der Prozessautomatisierung, künstlichen Intelligenz oder Sicherheit“, erklärt er. Das Spannende daran sei, dass die sich rasant verändernden Technologien eine Flut von Fragen aufwerfen. „Wie verwenden wir die Geräte, die uns zur Verfügung stehen? Welche neuen Tools sollen wir bauen? Welche Sicherheitsaspekte müssen wir berücksichtigen. Das wird letztlich beeinflussen, wie wir leben, denken, arbeiten und miteinander interagieren.“ Die ÖFG unterstützte seine Teilnahme an einer hochkarätigen Fachtagung in Austin, Texas (USA), bei der er einen Artikel zu Zugriffskontrolle und Web-APIs vorstellen konnte, dessen Ko-Autor er ist.

„ W I E V E R W E N D E N W I R G E R ÄT E ? W E L C H E NEUEN TOOLS SOLLEN WIR BAUEN?“ Web-APIs sind Anwendungsprogrammierschnittstellen für Webserver. In der Arbeit ging es darum, neue Frameworks vorzuschlagen, die Sicherheits- und Interoperabilitätsprobleme lösen könnten. Aufgrund der Corona-Krise fand die Konferenz virtuell statt. „Trotzdem war sie aufregend und nützlich für meine zukünftige Arbeit“, sagt der Computerwissenschaftler. „Es ist großartig, dass es mit der ÖFG eine Institution gibt, die die Bedeutung solcher Veranstaltungen versteht.“

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Es wurde bestätigt, was wir wissen Wie erging es Studierenden und Schüler*innen im L O C K D O W N ? Dieser Frage widmeten sich Studien von Forscher*innen der Fakultät für Psychologie an der Universität Wien

Christiane Spiel hat mit Kolleg*innen schon im ersten Lockdown mit einer psychologischen Studie über seine Auswirkungen begonnen

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WERNER STURMBERGER

hristiane Spiel hat gemeinsam mit ihC ren Kolleg*innen Barbara Schober und Marko Lüftenegger eine Studie zur Situa-

tion der Studierenden und Schüler*innen im Lockdown durchgeführt. Hier erklärt sie, warum der Lockdown eine einmalige Gelegenheit bot, zentrale Erkenntnisse der Bildungsforschung zu überprüfen, und welchen Mehrwert diese für politische Entscheidungsträger*innen und die Gestaltung des Schulsystems bieten können. Die Studie untersucht die Situation von Schüler*innen der Sekundarstufe und Studierenden, die an drei Erhebungszeitpunkten – April, Mai und Juni – befragt wurden. Im folgenden Interview wird der Fokus primär auf Schüler*innen gelegt. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten im Lockdown gut zurechtkamen, d. h. hohes Wohlbefinden empfanden und gute Lernmotivation zeigten, wenn psychologische Grundbedürfnisse wie Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit erfüllt waren. Als Risikogruppe wurden jene Schüler*innen ausgemacht, die eher Probleme bei der Bewältigung der Aufgaben oder der Lernorganisation haben und zu Hause im Bedarfsfall wenig Unterstützung erhalten. Die Studie konnte zudem zeigen, dass sich für viele die Situation dynamisch veränderte: in positive wie negative Richtung. Entscheidender Faktor war das Gelingen der Lernorganisation, bei der viele Schüler*innen ebenso wie beim Umgang mit digitalen Medien deutliche Lernfortschritte hatten. Mehr Informationen zur Studie: lernencovid19.univie.ac.at

Fotos: Nini Tschavoll

F ra u S p ie l,w ie e n ts ta n d d ie Id e e z u r S tu d ie ? Christiane Spiel: Wir forschen schon seit beinahe zwanzig Jahren zum Thema selbstreguliertes Lernen und Bildungsmotivation. COVID-19 hat eine einmalige Experimentalsituation geschaffen. Der Lockdown aller Bildungsinstitutionen, Schulen wie Hochschulen, hat alle Lernenden dazu gezwungen, selbstorganisiert zu lernen und zu arbeiten. Damit hat sich, so schlimm die Situation auch ist, eine historisch einmalige Chance für uns als Forschende eröffnet.

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W ie s e tz t m a n e in e s o lc h e S tu d ie u n te r s o s c h w ie r ig e n R a h m e n b e d in g u n g e n u m ? Spiel: Wir hatten das Glück, dass der Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds einen Rapid Call gestartet hatte. Von der Einladung der Forschungsteams Fortsetzung nächste Seite

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zeigt, dass Menschen, die sich wohlfühlen, eine nachhaltige Lernmotivation entwickeln. Für das Wohlfühlen sind Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit wichtig. Dass das so stabil bestätigt wurde – erste Analysen in anderen Ländern zeigen das ebenfalls –, verweist darauf, dass die Erfüllung dieser psychologischen Grundbedürfnisse in Krisenzeiten eine besonders hohe Relevanz hat. Man darf dabei auch nicht außer Acht lassen, dass es sich um sich selbst verstärkende Prozesse handelt: Wenn ich mich wohlfühle und zu lernen beginne, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich Lernerfolge habe, vor allem dann, wenn ich die Selbstorganisation erfolgreich bewältigen kann. Das führt dann in eine Positivspirale: Der Erfolg führt zu Kompetenzerleben, und man fängt wieder zu lernen an. Ist das nicht gegeben, lasse ich auch das Lernen, habe kein Kompetenzerleben und gerate in eine Negativspirale.

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über die Universitätsrektorate bis zur Förderentscheidung vergingen gerade einmal zehn Tage. Das hat uns die Sache maßgeblich erleichtert und erlaubt, eine Studie in diesem Umfang und mit einem solch aufwendigen Studiendesign zu realisieren. Möglich war das aber nicht zuletzt auch deshalb, weil wir schon seit Jahren an diesem Themenkomplex forschen. Wir kennen die einschlägige wissenschaftliche Literatur inklusive der Instrumente zur Datenerhebung und konnten auf unseren früheren Studien aufbauen. Zugleich haben wir uns von vornherein als großes Team mit erfahrenen Forschenden und Jungwissenschaftler*innen aufgestellt. Um möglichst schnell mit der Datenerhebung beginnen zu können, haben wir auf freiwillige Teilnahme gesetzt und nicht den Weg über Behörden gewählt. Allerdings können wir damit keine Repräsentativität sicherstellen. Wir gehen davon aus, dass all jene Schüler*innen, die nicht über die nötigen technischen Voraussetzungen für die Teilnahme an der Studie und damit auch für Home-Learning verfügen, in unserer Studie unterschätzt werden, genauso wie jene, denen es im Lockdown besonders schlecht gegangen ist. An der ersten Erhebungsrunde haben beinahe 25.000 Schüler*innen teilgenommen. Wie erklären Sie sich dieses große Interesse? Spiel: Ich nehme an, dass es vonseiten der Schüler*innen und Studierenden häufig Neugierde war, vielleicht auch das Gefühl „Man kümmert sich um uns“. Sicher haben viele Eltern ihre Kinder zur Teilnahme motiviert. Wir hatten außerdem die Unterstützung der Universitätskonferenz, der Hochschülerschaft, des Bildungsministeriums und der Bildungsdirektionen. Sie haben uns genau wie die Medien dabei geholfen, für die Teilnahme an der Studie zu werben. Hilfreich war sicherlich auch, dass wir die Veröffentlichung von Zwischenergebnissen jeweils mit der Ankündigung der folgenden Erhebung verknüpft haben, was von den Medien aufgegriffen wurde. Das hat sicher viele zu einer weiteren Teilnahme motiviert. Waren Sie überrascht, wie deutlich sich die Verzahnung von Kompetenzerleben, Autonomieerleben und sozialer Eingebundenheit mit Wohlbefinden und Lernmotivation in allen drei Erhebungsphasen zeigt? Spiel: Das hat uns nicht so sehr erstaunt, da wir diese drei psychologischen Grundbedürfnisse ja bewusst erhoben haben. Die Literatur

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Christiane Spiel: „Viele haben in der Studie angegeben, dass es ihnen im Verlauf des Lockdowns zunehmend schlechter ging, dass das selbstregulierte Lernen weniger gut funktioniert hat und die psychologischen Grundbedürfnisse in geringerem Ausmaß erfüllt werden konnten“

Welche Konsequenzen sollten Lehrende, Schulen und Bildungspolitik aus der Studie ziehen? Spiel: Für mich sind zwei Punkte zentral: Einerseits muss man die Erfahrungen aus dem Lockdown auf unterschiedlichen Ebenen aufarbeiten: Viele haben in der Studie angegeben, dass es ihnen im Verlauf des Lockdowns zunehmend schlechter ging, dass das selbstregulierte Lernen weniger gut funktioniert hat und die psychologischen Grundbedürfnisse in geringerem Ausmaß erfüllt werden konnten. Zugleich muss man fächerübergreifenden Kompetenzen, insbesondere digitalen Kompetenzen und selbstreguliertem Lernen, einen größeren Raum geben und sie gezielt fördern. Beide sind wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches, lebenslanges Lernen. Der zweite Punkt ist die systematische Unterstützung von Risikogruppen. Das sind Schüler*innen, die über sechs Monate oder mehr den Anschluss verloren haben – aufgrund fehlender technischer Voraussetzungen oder weil die Eltern beim Lernen nicht helfen konnten. Da kann man nicht erwarten, dass sofort wieder alles gut ist, wenn die Schule erneut beginnt. Diese Schüler*innen muss man systematisch an den Unterricht heranführen. Für sie sollten die ersten Aufgaben sehr einfach und leicht zu bewältigen sein, um durch kleine Schritte und Lernerfolge wieder Selbstvertrauen zu fassen und das Gefühl zu bekommen, das Lernen und die schulischen Anforderungen schaffen zu können. Wichtig ist, diese Schüler*innen mit Unterstützungsbedarf möglichst rasch zu identifizieren – ich denke, das haben die Lehrpersonen ohnehin schon gemacht – und dran zu bleiben.

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Foto: Nini Tschavoll

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Wäre es da nicht ratsam, das Schulsystem stärker in Richtung Individualisierung und Differenzierung umzugestalten? Spiel: Natürlich. Gerade die digitalen Medien ermöglichen eine stärkere individuelle Förderung. Die von uns auch befragten Lehrpersonen gaben an, dass sie aufgrund des Lockdowns in diesem Bereich sehr viel dazugelernt haben und zukünftig auch vermehrt digitale Medien einsetzen wollen. Krisen decken ja immer Probleme auf: COVID-19 hat deutlich gezeigt, dass die Selbstorganisation zu wenig systematisch gefördert wurde, aber auch die digitalen Medien in Hinblick auf ihre vielfältigen Funktionen zu wenig eingesetzt wurden. Was würden Sie Lehrenden und Eltern zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs raten? Spiel: Jetzt nicht zu viel Druck machen. Es wäre falsch zu versuchen, jetzt in allen Fächern alles nachholen zu wollen, was im Vorjahr nicht mehr erledigt werden konnte. Während der fächerspezifische Unterricht natürlich schwierig war, hat Schule immerhin andere zentrale Kompetenzen fördern können. Etwa das selbstorganisierte Lernen. Hier haben viele Schüler*innen große Fortschritte gemacht und erkannt, wie wichtig Selbstorganisation für ihr Lernen ist.

Foto: Nini Tschavoll

Hat sich die Wertigkeit der Bildungsforschung in der aktuellen Situation verändert? Spiel: Das hoffen wir. Ein direktes Echo aus Politik und Verwaltung gab es bisher nicht. Die Bildungspolitik hat aber mit Maßnahmen wie der Summerschool oder dem AchtPunkte-Plan zur Digitalisierung auf die Situation reagiert und wird dies, wie ich hoffe, noch ausbauen. Insbesondere wünsche ich mir, dass jene Schüler*innen, die zur Risikogruppe gehören, auch entsprechend unterstützt werden. Es gibt aber nach wie vor keine Fördertöpfe für die empirische Bildungsforschung. Anders als etwa in unserem Nachbarland Deutschland, wo man als Reaktion auf das schlechte Abschneiden bei der Pisa-Studie entsprechende Budgets eingerichtet hat. In Deutschland und der Schweiz gibt es auch Panel-Studien, die es erlauben, repräsentativ Bildungsverläufe zu verfolgen. Hier haben wir ein Defizit, und ich hoffe, dass die Politik das rasch erkennt. Wie hat sich die Situation der Schüler*innen der Risikogruppe verändert? Spiel: In der Bundesverfassung ist der Auftrag formuliert, dass jeder Jugendliche die bestmögliche Bildung bekommen soll, um am sozialen, kulturellen und

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Christiane Spiel: „Notwendig ist eine Unterstützung von Risikogruppen, also Schüler*innen, die im Lockdown den Anschluss verloren haben“

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wirtschaftlichen Leben Österreichs, Europas und der Welt teilnehmen zu können. Das heißt, dass wir ein Bildungssystem brauchen, das Chancengleichheit herstellen können soll, denn die Familie, in die wir hineingeboren werden, können wir uns nicht aussuchen, ebenso nicht die Genetik. Leider haben wir aber sehr viele Jugendliche, die das Schulsystem früh verlassen und die nicht gut genug ausgebildet sind, um einen Lehrplatz zu finden – vor allem männliche Jugendliche. Wir haben es vor COVID-19 schon nicht geschafft, Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Der Lockdown hat die Schere zwischen leistungsstarken und -schwächeren Schüler*innen wohl noch vergrößert. Das Bildungssystem muss alles tun, um diesen Kindern eine faire Chance zu geben. Die Maßnahmen, die im Bildungsbereich gesetzt werden, haben Konsequenzen weit über diesen hinaus. Denn Bildungspolitik ist auch Sozial-, Wirtschafts-, Gesundheits- und Justizpolitik und damit auch Finanzpolitik. Österreich ist kein Land mit nennenswerten Bodenschätzen, unser Gemeinwesen und unser Wohlstand sind auf die Bildung der Menschen angewiesen. Die dafür notwendigen Maßnahmen sind bekannt: Ausweitung des Elementarbereichs, weil dort Probleme, die bereits im Vorfeld der Schule bestehen, ausgeglichen werden können, ohne dass es zu Überlagerungen durch Frustrationserlebnisse kommt. Das bedeutet auch Ausbildung der Elementarpädagog*innen auf akademischem Niveau und entsprechende Wertschätzung, sprich Bezahlung. Wir wissen auch, dass Ganztagsschulen sehr wichtig sind, um Kinder, die von zuhause nicht die nötige Hilfe bekommen können, entsprechend zu unterstützen. Natürlich muss es auch die Möglichkeit geben, Interessen und Begabungen nachgehen zu können. Das heißt, man muss die Schulen stärker ins Grätzel integrieren. Wie geht es weiter mit Ihrer Studie? Spiel: Wir haben auch international Forscher*innen eingeladen, die Studie in ihren Ländern umzusetzen. Momentan sind wir noch bei der Auswertung der Daten, um Ländervergleiche anstellen zu können. Gleichzeitig wollen wir die bisherigen Ergebnisse weiter für wissenschaftliche Publikationen aufbereiten, sie jedoch auch Schulen und Lehrpersonen zur Verfügung stellen und mit diesen diskutieren. In der bereits bewilligten Fortsetzung unserer Studie wollen wir mehr Zielgruppen, Lehrpersonen, Schulleitungen und Eltern einbinden, um ein umfassenderes Bild der Gesamtsituation zu erhalten.

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Forscher und Förderer Der Erfinder und Gelehrte F R I T Z PA S C H K E erhält den Wissenschaftspreis 2020 der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

eine erste Erfindung diente durchaus Slieferte aggressiven Zwecken: Als Achtjähriger sich der 1929 in Graz geborene Fritz

Paschke zusammen mit anderen vom rech­ ten Murufer in der Göstinger Au heftige Auseinandersetzungen mit den Buben vom anderen Ufer. Doch Steinschleudern, die sie einsetzten, schafften es nicht über den Fluss. Also baute Klein­Fritz ein Gerät, das mit ei­ nem Hebel gespannt wurde und dabei unbe­ wusst eine von Leonardo da Vincis Kriegsma­ schinen nachahmte. Es funktionierte – und steht gewissermaßen prototypisch für sein Lebenswerk, technische Theorie zu prakti­ scher Funktionstauglichkeit zu verhelfen. Diese Fertigkeit zeigte Paschke zunächst nicht in Österreich. Denn kurz nach dem Ab­ schluss seines Studiums der Elektro­/Nach­ richtentechnik an der Technischen Hoch­ „ D I E R E K T O R AT S Z E I T A N D E R T U W I E N WAR SCHÖN, LEHRREICH UND MÜHSAM“ schule Wien war er in die USA zum David Sarnoff Research Center der Radio Corpora­ tion of America (RCA) gegangen. „Das Wagnis war gleich null, da die US­ Regierung für meine Frau und mich ein Hotel in New York für ein halbes Jahr kostenlos zur Verfügung stellte und ein Taschengeld von 600 Dollar pro Monat zahlte“, erzählt Pasch­ ke. „Die einzige Unsicherheit bestand in der mangelhaften Versicherung der Schwanger­ schaft meiner Frau. Da sprangen aus Wien vertriebene jüdische Ärzte ein. Dabei weiger­ te sich ein Star­Gynäkologe beharrlich, ein Honorar entgegenzunehmen. Er könne den Betrag problemlos beim nächsten Rockefel­ ler­Baby draufschlagen.“ Beim Sarnoff Research Center versuch­ te Paschke das nichtlineare Verhalten von Elektronenstrahlröhren zu analysieren und die Effekte zu reduzieren. „Jeder Verstärker leidet unter nichtlinearen Verzerrungen: Im Fernsehen stören Bild und Ton einan­ der. Abhilfe schaffte früher nur die Überdi­ mensionierung der Senderleistung und der

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Fritz Paschke: „Bis zur Pandemie war ich jeden Dienstag am Institut der TU und konnte sinnvoll arbeiten. Das erledige ich derzeit zuhause“

energievergeudende Betrieb bei schwachen Leistungen. Die Reduktion der Nichtlinea­ ritäten brachte bessere Wirkungsgrade“, er­ klärt Paschke, der für diese Entdeckung mit dem RCA Laboratories Award for Major Con­ tributions to the Nonlinear Theory of Elec­ tron Beams ausgezeichnet wurde. Paschke hatte am David Sarnoff Research Center von Beginn an klargemacht, dass er nicht an militärischen Projekten teilnehmen würde. 1958 jedoch ließ er sich, da es sich um ein rein defensives Projekt handelte, über­ zeugen, ein Raketenfrühwarnsystem mitzu­ entwickeln. Es hatte die Aufgabe, vor einem Angriff der Sowjets zu warnen und Zeit für Gegenmaßnamen zu gewinnen. Das System funktionierte und schlug eines Abends tat­ sächlich Alarm. Allerdings wunderte sich die US Air Force, dass sich die Signale kaum veränderten: Es war, als ob die feindlichen Raketen in der Luft stehen geblieben wären. Schließlich fand man heraus, dass Reflexio­ nen vom aufgehenden Mond die Signale aus­ gelöst hatten. „Später“, erinnert sich Paschke, „habe ich erfahren, dass schon US­Flugzeuge mit Atombomben an Bord gestartet waren und über Grönland kreisend auf weitere Befeh­ le gewartet haben. Auch defensive Systeme können zu Katastrophen führen! Kein Wun­ der, dass Hollywood aus dem Vorfall einen Horrorfilm machte.“ 1961 wechselte Paschke nach München zu Siemens, wo er Entwicklungsleiter des Werkes für Röhren war. Bereits 1965 erfolgte seine Berufung an die Technische Hochschu­ le Wien. Paschke wurde dort zum Ordinarius des Instituts für Allgemeine Elektrotechnik bestellt und behielt diese Position bis zu sei­ ner Emeritierung 1997. 1970/71 übernahm er das Dekanat der Fakultät für Maschinen­ wesen und Elektrotechnik. Von 1972 bis 1975 war Paschke Rektor der Technischen Hochschule, die seit 1975 Technische Univer­ sität (TU) heißt. „Die Rektoratszeit war schön, lehrreich und mühsam. Ich möchte sie nicht missen“, resümiert er.

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In Paschkes Amtszeit wurde das neue Elektrotechnische Institut fertiggestellt, das Gebäude Resselgasse 3 und das ehemalige Hotel Goldenes Lamm adaptiert sowie ein interuniversitärer Rechnerverbund eingerichtet. Im Neuen Elektrotechnischen Institutsgebäude der TU Wien ist ein Hörsaal nach Fritz Paschke benannt. Auch anderweitig ist er dem Haus bis heute verbunden: „Bis zur Pandemie war ich jeden Dienstag am Institut der TU und konnte sinnvoll arbeiten. Das erledige ich derzeit zuhause.“ Die bislang letzte Erfindung, die ohne seine theoretische Arbeit nie angemeldet werden hätte können, ist repuls®, ein schmerz- und entzündungshemmender Tiefenstrahler, für den die gleichnamige Wiener Firma eine Lizenz von der TU Wien erworben hat. Neben seiner Tätigkeit für die TU Wien arbeitete er in zahlreichen wissenschaftlichen Einrichtungen in leitender Position. Von 1974 bis 1982 war er Vizepräsident des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Als Gründungspräsident von 1985 bis 1990 trug er maßgeblich zum Aufbau der Gesellschaft für Mikroelektronik (GMe) bei. Zahlreiche Auszeichnungen würdigen seine Leistungen: Er ist Ehrendoktor der TU Budapest, seit 1977 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Träger des Großen Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich und bekam den Großen Österreichischen Staatspreis für Forschungspolitik verliehen. 1988 wurde er mit dem Erwin Schrödinger-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geehrt. Anders als zur Zeit seiner Anfänge in den 1950er-Jahren habe ein Ingenieur heute in Österreich gute Entfaltungsmöglichkeiten, befindet Paschke. Sein Credo als Forscher und Lehrender: „Ich habe Vorgesetzte verabscheut, die sich für geringfügige Beiträge als Miterfinder eintragen ließen, sondern mich eher als Förderer gesehen.“

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ARGE Digitale Transformation Die D I G I T A L I S I E R U N G ist notwendigerweise mit Globalisierung verbunden EDGAR WEIPPL

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Edgar Weippl, ARGE Digitale Transformation

ter Infrastruktur und der Verletzung der Privatsphäre von Menschen gegeben! Schon jetzt zeigt sich, dass die zunehmende Vernetzung und die damit einhergehenden Herausforderungen wesentliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Neue Chancen eröffnen sich, wie beispielsweise der ressourcenschonende Einsatz in Industrie und Landwirtschaft durch Datenauswertung und Steuerung durch künstliche Intelligenz sowie die Entstehung digitaler Gemeingüter, wie freie Lizenzen und geteiltes Wissen. Gleichzeitig birgt diese Entwicklung auch neue Risiken. Beispielsweise können kleine, geografisch verteilte Gruppen Krimineller durch zunehmende Spezialisierung effizienter arbeiten und umfassenderen Schaden anrichten. Dabei beschränkt sich dieser Schaden nicht mehr auf „digitale Systeme“, sondern kann im Zeitalter von Cyber-PhysicalSystems ganz unmittelbar zur Gefährdung von Gesundheit und Menschenleben führen. Ermittlungsbehörden fordern daher zunehmend allumfassendere Überwachungsmöglichkeiten. Die dadurch gesammelten Daten gefährden allerdings die persönliche Freiheit, da die vorhandenen Daten ebenso leicht für andere Bereiche weiterverwendet werden können. Privatsphäre und die geschützte Kommunikation sind Voraussetzungen für

eine freie Presse, die wiederum ein wichtiger Bestandteil der Demokratie ist. Security und im Besonderen Digital Forensics stehen oft scheinbar im Widerspruch zu Privacy. Daher ist es wichtig, aufzuzeigen, wie Privacy geschützt werden kann, ohne forensische Ermittlungen unmöglich zu machen. Digitale Transformation stellt die Art und Weise in Frage, wie Menschen unsere Umwelt wahrnehmen und mit ihr interagieren. Wie kann es einer Gesellschaft gelingen, den mit der fortschreitenden Digitalisierung einhergehenden positiven Entwicklungen Raum zu geben und dabei gleichzeitig Risiken zu minimieren, ohne an Grundwerten wie Privatsphäre und Pressefreiheit zu rütteln? In welchen Bereichen

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Illustration: Georg Feierfeil

P R I VA C Y S C H Ü T Z E N , O H N E F O R E N S I S C H E ERMITTLUNGEN UNMÖGLICH ZU MACHEN

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nternehmen und Menschen können weltweit kommunizieren und kooperieren. Dabei beeinflusst Digitalisierung grundlegende technische und administrative Infrastrukturen und dringt damit einerseits tief in wirtschaftliche und industrielle Prozesse und Abläufe, andererseits aber auch in den persönlichen Lebensbereich der Menschen ein. „Digitalisierung wird eine Transformation der Gesellschaft nach sich ziehen und die individuelle Autonomie der Menschen vor neue Herausforderungen stellen“, ist Edgar Weippl, Leiter der ARGE Digitale Transformation, überzeugt. Unmittelbar persönlich betroffen sind Menschen von der umfassenden Digitalisierung des Gesundheits- und Krankenpflegebereichs. Hier geht es einerseits um sensible persönliche Daten, andererseits in zunehmendem Maße auch um die computergestützte Diagnoseerstellung und um die Steuerung von chirurgischen Eingriffen. Auch die Abwicklung privater Geschäfte im Internet (Stichwort „Online-Shopping“) erfordert die Speicherung und Übermittlung sensibler Daten. Ebenso werden viele behördenrelevante Vorgänge vermehrt digitalisiert. Man denke nur an die Bürgerkarte und elektronisch unterstützte Wahlgänge. Die Steuerung von Kommunikations-, Verkehrs- und Energieversorgungsnetzen mittels Software ist längst Realität geworden, ebenso die Abwicklung von Finanz- und Börsengeschäften. Die Automatisierung industrieller Fertigungsprozesse (Stichwort „Industrie 4.0“) bedingt den massiven Einsatz von Software, die nicht nur den Fertigungsprozess selbst steuert, sondern auch die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette umfasst. Weniger dramatisch, aber ähnlich „total“ wird in naher Zukunft die Anbindung von Haushaltsgeräten und Unterhaltungselektronik an das Internet sein (Stichwort „Internet of Things (IoT)“). Etwas weiter in der Zukunft, aber durchaus mittelfristig zu erwarten ist das autonome Fahren von Straßenfahrzeugen. Die Konsequenz dieser Entwicklungen ist ein enormer Anstieg des Datenverkehrs über feste Netze und Funknetze. Damit sind aber auch die Gefahren des Auftretens von Fehlern, der Verwundbarkeit softwaregesteuer-


Illustration: Georg Feierfeil

Foto: privat

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sind unsere Systeme verletzbar und welche adaptiven Kapazitäten kann man aufbauen, um eben diese zu schützen? Um sich mit diesen neuen Herausforderungen auseinandersetzen zu können, sind neben den informationstechnischen Kernwissenschaften auch die Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften mit völlig neuen Themenfeldern konfrontiert. Die Arbeitsgemeinschaft Digitale Transformation, gegründet 2019, arbeitet deshalb interdisziplinär und verbindet existierende, fokus-

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sierte Forschungsbereiche miteinander. Wesentlich ist hier die Betrachtung der Aspekte der Resilienz unserer Gesellschaft und wie in verschiedenen Gruppen, d. h. von kleinen lokalen Gruppen über Nationalstaaten zu Staatengemeinschaften, Entscheidungen getroffen werden und das Zusammenleben organisiert wird. Die Arbeitsgemeinschaft hat sich zum Ziel gesetzt, Handlungsempfehlungen und mögliche Alternativen für regionale und nationalstaatliche Einflussmöglichkeiten zu erarbeiten.

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ARGE Internationale Beziehungen Auf der Suche nach dem friedlichen W A N D E L in internationalen Beziehungen

uf welche Weise können territoriale Dispute wie zwischen Armenien und Aserbaidschan deeskaliert und vielleicht sogar friedlich beigelegt werden? Wie kann eine internationale Ordnung den globalen Handel so regulieren, dass sich von legitimen wirtschaftlichen Interessen geleitete staatliche und nichtstaatliche Akteure in der Mitte treffen? Mit diesen und weiteren Fragen zum friedlichen Wandel beschäftigt sich die im Jahr 2019 gegründete ARGE Internationale Beziehungen. Drei Dimensionen des friedlichen Wandels, militärische Zurückhaltung, Kompromiss und Polylog, werden in drei Projektphasen erörtert: Funktionale und regionale Ausdifferenzierungen von internationalen Ordnungen, Prozesse des Wandels dieser Ordnungen und schließlich Schlaglichter auf bestimmte Ordnungen, die von Europa bis zur globalen Rüstungskontrolle reichen. Die Arbeitsgemeinschaft setzt sich aus 17 Wissenschaftler*innen zusammen: Jozef Bátora, Adams Bodomo, Franz Eder, Michael Gehler, Gerit B. Götzenbrucker, Reinhard Heinisch (Stv. Leiter), Hubert Isak, Markus Kornprobst (Leiter), Brigitte Krenn, Gerhard Mangott, Irmgard Marboe, Harald Oberhofer, Martin Senn, Gabriele Spilker, Saskia Stachowitsch und Susanne Weigelin-Schwiedrzik. Die ARGE ist interdisziplinär ausge-

Markus Kornprobst, ARGE Internationale Beziehungen

D I E A R G E I N T E R N AT I O N A L E B E Z I E H U N G E N IST INTERDISZIPLINÄR AUSGELEGT legt. Forschungsfragen werden etwa aus den Blickwinkeln der Politik- und Rechtswissenschaften genauso erörtert wie aus denen der Sprach- und Geschichtswissenschaften oder der Regional- und Computerwissenschaften. Die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft umfassen eine Vorlesungsreihe (Peaceful Change), eine dazugehörige Publikationsreihe (Peaceful Change Discussion Papers), Konferenzen und Workshop (Peaceful Change Workshops) und Podiumsdiskussionen (Peaceful Change Panel Discussions). So sprach Adams Bodomo zu „Peaceful Change in Africa“, Michael Gehler zu „Vom Wandel durch Annäherung zu friedlichem Wandel in Europa?“, T. V. Paul zu „Looking Ahead: The Liberal World Order after COVID-19“

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und Susanne Weigelin-Schwiedrzik zu „China and the Global Politics of COVID-19“. Es fanden Podiumsdiskussionen zu den Themen „Science and Politics. Responses to COVID-19“ mit David Heymann, Kelley Lee und Stephanie Strobl sowie „Visions of Peace“ mit Michael Asiedu, Susanne Jalka, Angela Kane, Walter Kemp und Lukas Wank statt. Vorträge finden bis auf Weiteres online statt. Sie werden live über die Website der Diplomatischen Akademie (www.da-vienna.ac.at) gestreamt und sind danach auch dort und über www.youtube.com abrufbar. 2021 wird eine Konferenz für die Vorbereitung eines Handbuchs zur österreichischen Außenpolitik stattfinden. Die ARGE ist mit weiteren internationalen Projekten zum friedlichen Wandel vernetzt. Dazu gehört u. a. das Global Research Network of Peaceful Change. Die gegenwärtige internationale Politik ist durch eine große Kluft gekennzeichnet: Auf der einen Seite gibt es gewaltige globale Herausforderungen. Die Verbreitung von SARS-CoV-2 führt zu einer globalen Gesundheitskrise und großen wirtschaftlichen Herausforderungen, innerstaatliche Kriege (oft als Stellvertreterkriege) eskalieren weiter, vor allem Großmächte und Regionalmächte rüsten auf statt ab, die Folgen des Klimawandels werden immer offensichtlicher, die globale Zahl der Flüchtlinge überschreitet 25 Millionen und globale Ungleichheiten werden trotz der nachhaltigen Entwicklungsziele größer. Auf der anderen Seite nimmt die Bereitschaft von Staaten, gemeinsam an der Lösung von Problemen zu arbeiten – ganz zu schweigen von der Erarbeitung gemeinsamer Visionen für eine bessere Zukunft –, immer mehr ab. Und dies passiert nicht nur in der globalen Politik, wo sich Großmächte, teils sogar Institutionen über Bord werfend, die sie einst selbst geschaffen haben, rivalisierend gegenüberstehen. Es geschieht auch innerhalb der Europäischen Union, was ihre Akteursqualität auf der internationalen Bühne arg beschränkt und sie im Inneren vor große Probleme stellt. Gerade zu einer solchen Zeit will die ARGE ihren Beitrag zur Beforschung von friedlichem Wandel sowie zum Dialog mit Politik und Zivilgesellschaft leisten.

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ARGE Kulturelle Dynamiken Eine der Fragen der ARGE 2020: A lles hat seinen P R E I S – auch jeder Mensch? SABINE COELSCH-FOISNER

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ie Arbeit der ARGE war 2020 von zwei Dynamiken bestimmt: „Kommodifizie­ rung“ und „Visualisierung“. Das Jahr begann mit der siebten Haupttagung: „For Sale: Kom­ modifizierung in der Gegenwartskultur“ (9.– 10. Jänner in der Universität Wien). Ausge­ hend von zwei grundlegenden Bedeutungen des Begriffs „Kommodifizierung“ – der Pro­ duktion von Gütern zum Tausch via Märkte und dem Prozess, wenn etwas zur Ware ge­ macht wird –, bildete der Kunstbetrieb einen Schwerpunkt. Ethische, soziologische, ästhe­ tische Perspektiven bei der Vermarktung ma­ terieller und immaterieller Güter und Kultur­ debatten um den Finanzkapitalismus und ökonomische Zwänge der „Kulturindustrie“. Das wohl brisanteste Forschungsthema liefert der Handel mit dem menschlichen Körper: So fragt der Wiener Theologe und Medizinethiker Ulrich H. J. Körtner: „Alles hat seinen Preis – auch jeder Mensch?“ Kört­ ners kritische Auseinandersetzung streift das Rechtsinstrument des Schmerzengel­ des ebenso wie den „errechneten“ Wert des menschlichen Körpers. Unter dem Motto „Kunst ohne Artefak­ te und Artefakte ohne Künstler“ wirft der Anwalt und Konzeptkünstler Guido Kucsko einen urheberrechtlichen Blick auf Concept Art und AI Art, und Bettina Steinbrügge, Lei­ terin des Kunstvereins Hamburg, hinterfragt die „Siegerkunst“ Der Musikwissenschaftler Wolfgang Rat­ hert untersucht den Umgang mit der stärke­ ren Funktionalisierung der Musik im Kapita­ lismus des 19. Jahrhunderts und dem Verlust ihrer „kunstreligiösen“ Aura in den Theorien von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und den weniger bekannten Schriften von Hans G Helms, die sich überwiegend mit den sozioökonomischen Bedingungen von Musik befassen. Ratherts Kritik der Kritik hält der Entzauberung der Kultur als Industrie de­ ren Transformationscharakter entgegen: „So sollte auch die Kommodifizierung nicht dä­ monisiert, sondern als Teil einer permanen­ ten Transformation begriffen werden, die der westlichen Musik seit dem 17. Jahrhundert eigen ist.“ Bringt sich nicht gerade jetzt der Trans­ formationswille der Kultur ins Spiel, bedenkt man die innige Verflechtung von Kunst und

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Sabine CoelschFoisner, ARGE Kulturelle Dynamiken

Technologie? Wenn die Dominanz von Fi­ nanzkapitalismus und Quotenverliebtheit im 20. Jahrhundert Anlass zu Institutions­ kritik und Kulturfatalismus gegeben hat, so verstärkt die Ausdifferenzierung kreativer Foren im gegenwärtigen Digitalisierungs­ schub nicht nur den Warencharakter allzeit verfügbarer kreativer Produkte, sondern er­ öffnet Chancen demokratischer Teilhabe. Um den praktischen Zusammenhängen ästhetischer und soziologischer Belange in der Kunst nachzuspüren, warf die ARGE ei­ nen Blick in die „Werkstatt“ des Hamburger Komponisten Gordon Kampe, dessen Kom­ positionen in ganz alltäglichen Situationen (wie im Supermarkt) entstehen können. Dem Bühnenautor Ferdinand Schmalz folgten wir hinter die Kulissen in seiner Hofmannsthal­

DAS BRISANTESTE FORSCHUNGSTHEMA DER ARGE: DER HANDEL MIT KÖRPERN Adaption „Jedermann (stirbt)“. Der zweite Arbeitsschwerpunkt: „Visualisierung“, findet seinen Niederschlag im 4. Band der ARGE, der demnächst unter dem Titel „Visualisierung: Bildwissen – Wissensbilder“ erscheint (siehe Seite 40). Der Band setzt die Bilderflut wissen­ schaftlicher Evidenzkulturen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichkeit und suggesti­ ven Kraft von Bildern. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zusammenhänge von e i k o n und e p i s t e m e in wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Dynamiken des Herstel­ lens und Wahrnehmens von Bildern und de­ ren Rolle für Wissensproduktion, ­dokumen­ tation und ­transfer. Zehn Fallbeispiele aus den Fachgebie­ ten Archäologie, Kunstgeschichte, Biologie, Neurologie, Ethik, Geoinformatik und Geo­ logie, Theologie, Schauspiel und Szenogra­ fie beleuchten das historisch aufgeladene Spannungsfeld von Ästhetik und Epistemik aus heutiger Sicht und erlauben Rückschlüs­ se auf Tendenzen der Visualisierung in Wis­ sens­ und Informationsgesellschaften und deren Implikationen für ein immer wieder neu zu begründendes Verhältnis zwischen dem partikulär Wahrnehmbaren und einem auf das Allgemeine ausgerichteten Denken.

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Wichtig, dass Planbarkeit bleibt Bildungsminister H E I N Z F A S S M A N N über die großen Herausforderungen für die Bildungspolitik durch die Corona-Pandemie

Herr Minister, die Corona-Krise dauert leider immer noch an, eine große Belastung für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Was ist in der momentanen Situation aus Ihrer Sicht das Wichtigste? Heinz Faßmann: Der Schutz der Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger ist das wichtigste Ziel der gesamten Bundesregierung. Ich habe natürlich einen besonderen Fokus auf die Personen im Bildungssystem, egal ob im Kindergarten, in der Schule oder in der Hochschule. Die Sicherheit für alle Lehrenden und Lernenden steht an erster Stelle, daher haben wir mit allen Stakeholdern der einzelnen Sektoren bedarfsorientierte und individuelle Hygienekonzepte erarbeitet, die zur Anwendung kommen. Wichtig ist mir auch, dass trotz der Pandemie eine gewisse Planbarkeit bestehen bleibt. Deswegen wurde auch schon mit Beginn des Lockdowns das stufenweise Wiederhochfahren des Präsenzunterrichts an den einzelnen Bildungseinrichtungen vorbereitet. Wie haben sich die Krise und die dagegen unternommenen Maßnahmen auf die Entwicklung der Schulen und Universitäten bzw. Fachhochschulen ausgewirkt? Faßmann: Ich verwende ungern das Wort Fortschrittstreiber, weil ich den Fortschritt lieber ohne Pandemie gesehen hätte. Aber es ist kein Geheimnis, dass mit Corona ein ordentlicher Digitalisierungsschub durch MIT CORONA IST EIN ORDENTLICHER D I G I TA L I S I E R U N G S S C H U B D U R C H DAS BILDUNGSSYSTEM GEGANGEN das Bildungssystem gegangen ist. Wir merken, wie viel besser die Lehrkräfte mit digitalem Distance Learning umgehen können als noch im Frühling. Ähnlich ist die aktuelle Situation an den Hochschulen. Aufbauend auf den Erfahrungen aus dem Frühjahr, ist der Lehr-, Prüfungs- und Forschungsbetrieb noch besser organisiert. Die Hochschulen haben die Sommermonate genützt, spezielle Sicherheitskonzepte zu erarbeiten. Diese sind für ihren jeweiligen Bedarf anwendbar, denn

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technische Universitäten haben andere Anforderungen als künstlerische. Das Wissenschaftsministerium hat zu diesem Zweck mit ausgewählten Hochschulen aus allen Disziplinen einen „Leitfaden für den gesicherten Hochschulbetrieb“ erarbeitet. Kann man aus den Erfahrungen auch Schlüsse über positive Ansätze für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik ziehen? Faßmann: Den Digitalisierungsschub habe ich genannt. Wir wissen spätestens jetzt aber auch, dass dieser nie ganz den persönlichen Austausch und akademischen Diskurs ersetzen kann. Lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt nennen, der nicht wissenschaftlich messbar ist. Man sagt, dass in Krisenzeiten die Menschen mehr zusammenrücken – und genau das habe ich erlebt. Der Austausch zwischen den einzelnen Hochschulen und zwischen Universitäten und Ministerium ist sehr eng geworden. Alle sind konstruktiv bestrebt, die Krise gemeinsam und bestmöglich im Sinne einer qualitativ hochwertigen Lehre und Forschung zu meistern. Die Wissenschaft ist in der Krise in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Versprechen Sie sich künftig mehr Interesse für die Anliegen der Wissenschaft? Faßmann: Das gesteigerte allgemeine und gesellschaftspolitische Interesse an Wissenschaft und Forschung ist natürlich erfreulich. Die Medizinischen Universitäten Wien, Graz, Innsbruck sowie die medizinische Fakultät in Linz haben in den letzten Monaten viele einschlägige Forschungsprojekte abgewickelt, die Statistiker und Mathematiker informieren beinahe täglich über Entwicklungen und Auswirkungen. Aus Sicht der Wissenschaft zeigt sich hier, wie wichtig es ist, gut ausgestattete Hochschulen zu haben, die mit exzellenten Personen rasch und faktenbasiert helfen können. Die Universitäten und Fachhochschulen leisteten darüber hinaus mit ihren Expertisen oder auch mit ihrer Infrastruktur einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Krise. Wir haben aber auch gesehen, dass Wissenschaften keinen monolithischen Block darstellen. Vielfältig sind manchmal die Meinungen zu spezifi-

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INTERVIEW: CHRISTIAN ZILLNER


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schen Fragen. Sind Kinder gleich ansteckend wie Erwachsene, welche Faktoren beeinflussen die COVID-19-Sterblichkeit oder wie kann ein Lockdown sozialverträglich gestaltet werden? Die Öffentlichkeit erwartet sich eine klare Antwort, die Wissenschaft ist aber vielstimmig. In so einer Situation ist ein guter Wissenschaftsjournalismus gefragter denn je, der wissenschaftliche Ergebnisse medial gerecht übersetzen kann. L a s s e n s ic h a u s d e m G e le r n te n S z e n a r ie n e n tw ic k e ln , d ie e s k ü n ftig e r m ö g lic h e n , in e in e r ä h n lic h e n S itu a tio n fü r S c h u le n u n d U n iv e r s itä te n b z w . F a c h h o c h s c h u le n d e n B e tr ie b o h n e g r ö ß e r e E in s c h rä n k u n g e n a u fr e c h tz u e r h a lte n ? Faßmann: Ja, definitiv, wir haben gelernt, mit dem Virus umzugehen und den Kollateralschaden zu minimieren. Die Hochschulen

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Heinz Faßmann, Bildungs- und Wissenschaftsminister

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haben ihren Betrieb zwar vornehmlich auf Distance Learning umgestellt und bieten dennoch Präsenzlehre an, die unter Einhaltung der Hygienevorschriften in kleinen Gruppen abgehalten wird. Diese Präsenzlehre ist für den Studienerfolg in manchen Fächern unerlässlich. In den Naturwissenschaften sind es Laboreinheiten, Seziereinheiten, der praktische Unterricht am Patienten. In den künstlerischen Fächern sind es die unmittelbaren Interaktionen zwischen den Lehrenden und den Lernenden, die nicht durch Distance Learning substituierbar sind. Der Schauspielunterricht muss auf der Bühne stattfinden und die Gesangsausbildung unmittelbar vor Ort. Wir tasten uns an die Situationen heran, um den Gesundheitsschutz auf der einen Seite sowie die Forschung und Lehre auf der anderen Seite zu einem Gleichgewicht zu bringen.

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Wissenschaft in den Bundesländern Die jährlichen Präsentationen der B U N D E S L Ä N D E R über ihre Förderung von Wissenschaft und Forschung DIETER HÖNIG

Veronica Kaup-Hasler, Stadträtin für Kultur und Wissenschaft in Wien

ARBEITSSTIPENDIEN FÜR FREISCHAFFENDE WISSENSCHAFTLER*INNEN

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Niederösterreich: Wissenschaft und Forschung sind zentrale Themen Noch vor Beginn der Corona-Pandemie hat Landeshauptfrau Mikl-Leitner den Startschuss zur Entwicklung eines neuen Forschungs-, Technologie- und Innovationsprogramms (FTI-Programm) für Niederösterreich gegeben. Dieser erfolgte mit zwei Onlinebefragungen, die sich zum einen an die Forschenden und zum anderen an die Bevölkerung richteten. Die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung zeigen, dass die Themen Wissenschaft und Forschung reges Interesse hervorrufen: Drei Viertel der Befragten interessieren sich für Wissenschaft und Forschung. Knapp siebzig Prozent halten Niederösterreich für einen guten Standort für Wissenschaft und Forschung. „Über 75 Prozent sehen Förderung

75 PROZENT DER BEVÖLKERUNG FINDEN WISSENSCHAFTSFÖRDERUNG WICHTIG

Johanna Mikl-Leitner, Landeshauptfrau von Niederösterreich

von Wissenschaft und Forschung als sehr wichtige Aufgabe unserer Politik. Als sehr wichtig werden auch schulische und außerschulische Programme im Bereich der Wissenschaftsvermittlung gesehen. Es zeigt sich, dass wir mit unseren Maßnahmen im Bereich der Wissenschaftsvermittlung auf einem guten Weg sind“, sagt die Landeshauptfrau. In der Befragung der Forscher*innen bestätigt die wissenschaftliche Community diesen Weg: Acht von zehn Befragten beurteilen den blau-gelben Wissenschaftsstandort als sehr gut oder gut. Es gab aber auch Empfehlungen für die Weiterentwicklung und die

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Fotos: Hermann Wakolbinger, Isiwal

rungen in Tranchen erhalten. Um Illiquidität zu vermeiden und die Auszahlung bereits zugesagter künstlerischer Honorare zu ermöglichen, zog die Stadt diese Zahlungen vor. Subventionen bleiben unangetastet. „Wenn entsprechende Abrechnungen und Dokumentationen vorliegen, kann die Kulturabteilung von der Rückforderung bereits zugesagter oder ausbezahlter Subventionen Abstand nehmen“, sagt Kaup-Hasler. Ab Ende März wurden 6,3 Millionen Euro an Arbeitsstipendien für freischaffende Wissenschaftler*innen und Künstler*innen bereitgestellt, um ihnen die Fortführung ihrer Tätigkeit zu ermöglichen. 2.619 Personen haben von diesem Angebot Gebrauch gemacht, pro Person wurden 3.000 Euro zuerkannt. Für das Publikum wurde um vier Millionen Euro Investitionssumme der „Kultursommer 2020“ initiiert, ein weltweit einmaliges „Corona-sicheres“ Open-AirFestival im Juli/August. „Das garantierte den Wiener*innen die kulturelle Nahversorgung sowie Kulturschaffenden Auftrittsmöglichkeiten“, sagt Kaup-Hasler. Die Kennzahlen dazu: 2.000 Künstler*innen, 800 Veranstaltungen, 25 Bühnen, mehr als 50.000 Besucher*innen. Die neueste Maßnahme wurde erst kürzlich einstimmig im

Gemeinderat beschlossen: Das „KabarettPaket“, das drei Millionen Euro für die Weiter- sowie Durchführung spezifisch wienerischer Kulturprogramme für bisher nicht subventioniertes Unterhaltungstheater bereitstellt. Offen bleibt hingegen nach wie vor Kaup-Haslers Forderung an den Bund: „Ein Rettungsschirm, der über die gesamte Kunstund Kulturlandschaft gespannt wird, so wie in der Schweiz.“ Dort werden sämtliche Einnahmenausfälle zu achtzig Prozent vom Bund übernommen.

Fotos: Christian Jobst, Markus Hintzen

Wien: Die Stadt hat auf Corona umgehend reagiert Unmittelbar nach Bekanntwerden des Ausmaßes der Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie begann das Team um Stadträtin Veronica Kaup-Hasler mit der Ausarbeitung eines Maßnahmenpakets. Es sollte die Krisenintervention des Bundes ergänzen und die Wiener Kulturbranche stabilisieren. Ergebnis: „Die Stadt hält das Förderwesen aufrecht und zahlt Förderungen trotz schwieriger Bedingungen aus.“ In den Kulturausschüssen wurden im zweiten Quartal 2020 Anträge in Höhe von weit über 100 Millionen Euro genehmigt. Dazu kamen vorgezogene Ratenzahlungen, da zahlreiche Kulturbetriebe Jahresförde-


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künftige Ausrichtung der Förderinstrumente für Wissenschaft und Forschung. All diese Ergebnisse sind eine wichtige Grundlage für die Neuaufstellung des FTI-Programms. Das bisherige Programm beurteilen 75 Prozent der Befragten als positiv. Besonders erfreulich ist auch die Bereitschaft der Community, an Citizen-ScienceProjekten mitzuwirken. Dass 84 Prozent der Wissenschaftler*innen angaben, dass sie sich ein Forschungsprojekt mit einer Beteiligung der Bevölkerung vorstellen können, freut die Landeshauptfrau ganz besonders.

Markus Achleitner, Landesrat für Wirtschaft und Forschung in Oberösterreich

Fotos: Hermann Wakolbinger, Isiwal

EINE MILLIARDE EURO AN WIRTSCHAFTSUND FORSCHUNGSFÖRDERUNGEN BIS 2030

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Die Auswirkungen von Corona haben der Digitalisierung einen starken Schub versetzt. Damit die Digitalisierung weiter erfolgreich Einzug in die heimische Wirtschaft und Arbeitswelt hält, soll bei der Weiterentwicklung entsprechender Technologien der Mensch im Mittelpunkt stehen.

Oberösterreich: Eine neue Forschungsstrategie gestartet Zu Beginn dieses Jahres wurde Oberösterreichs neue Wirtschafts- und Forschungs-

strategie #upperVISION2030 gestartet. Nur wenige Wochen danach hat das Coronavirus Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Die großen Themen der oberösterreichischen Wirtschafts- und Forschungsstrategie – digitale Transformation, effiziente & nachhaltige Industrie und Produktion, Systeme & Technologien für den Menschen und vernetzte & effiziente Mobilität – sind nach wie vor aktuell und im Fokus. Doch zugleich wird die Strategie im Hinblick auf die Corona-Auswirkungen sowie die daraus resultierenden Anforderungen für den Wirtschafts- und Forschungsstandort nachgeschärft und teilweise auch neu ausgerichtet. Für die Umsetzung der Strategie wird bis 2030 eine Milliarde Euro an Wirtschafts- und Forschungsförderungen investiert, um das Land nach der Krise wieder stark zu machen und im Wettbewerb der Standorte noch weiter nach vorne zu bringen. Dabei werden Themen wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus wurde eine Förderausschreibung zum Thema Kreislaufwirtschaft gestartet, an der sich lokale Unternehmen und Forschungseinrichtungen gemeinsam beteiligen können.

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Steiermark: Internationale Drehscheibe für Bildung und Wissenschaft Mit einer Forschungs- und Entwicklungsquote von knapp fünf Prozent ist die Steiermark Forschungsland Nummer eins in Österreich und zählt zu den innovativsten Regionen in Europa. Diesen Erfolg verdankt das Land unter anderem der stark ausgeprägten Kooperationskultur zwischen Forschungseinrichtungen, Hochschulen und der Wirtschaft. „Diese Zusammenarbeit findet in unseren Kompetenz- und Impulszentren, Clustern und Kooperationsprojekten zwischen Universitäten und Unternehmen statt. Die steirischen Akteure haben längst erkannt, dass man im globalen Umfeld gemeinsam mehr erreichen kann“, sagt Landesrätin Eibinger-Miedl. Derzeit untersuchen zahlreiche steirische Forschungsteams die Auswirkungen der Corona-Krise auf Wirtschaft und Gesellschaft. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag dazu, dass die Steiermark gestärkt aus dieser Krise hervorgehen kann.

DIE STEIERMARK IST FORSCHUNGSLAND NUMMER EINS IN ÖSTERREICH

Barbara EibingerMiedl, Landesrätin für Wissenschaft und Forschung in der Steiermark

Die herausragenden Leistungen der steirischen Forscher*innen sorgen dafür, dass die Steiermark international einen Ruf als herausragendes Forschungsland genießt. „Aus diesem Grund ist es mir ein großes Anliegen, weiterhin gezielt in Forschung und Entwicklung zu investieren, um die höchste Qualität auch in Zukunft sicherzustellen und unsere Top-Position zu festigen. Ich bin überzeugt, Forschung und Entwicklung sind der Schlüssel für eine positive Zukunft der Steiermark.“ Fortsetzung nächste Seite

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Gaby Schaunig, Landeshauptmannstellvertreterin und Technologiereferentin in Kärnten

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Salzburg: Zukunftsperspektiven für junge Wissenschaftler*innen „Als Wissenschaftslandesrätin ist es mir ein Anliegen, Salzburg in der österreichischen

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NACHWUCHSFORSCHER*INNEN EINE ZUKUNFTSPERSPEKTIVE BIETEN Aufbau der neuen Fakultät für Digitalisierung schreitet dank kurzer Entscheidungswege zwischen Land und Universität Salzburg rasch voran. „Es wird dadurch auch eine Schnittstelle geschaffen, damit die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Universität in wirtschaftliche Erfolge gelingt.“ Andrea Klambauer, Landesrätin u. a. für Wissenschaft in Salzburg

Burgenland: Erfolgreiche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten Das ist nicht zuletzt einer vorausschauenden Bildungspolitik zu verdanken. Der Ausbau der Kinderbetreuung, der schulischen Tagesbetreuung, die massiven Investitionen in die schulische Infrastruktur und in die Zukunft der Schulstandorte haben das Burgenland zum Bildungsland ersten Ranges gemacht. „Um diesen Erfolgsweg weiter zu beschreiten, habe ich im Regierungsprogramm des Landes weitere Verbesserungen im Bildungsbereich als wesentliche Vorhaben definiert“, sagt Landeshauptmann Hans Peter Doskozil. „Neben der Beibehaltung des zusätzlichen freiwilligen Englischunterrichts an Volksschulen sowie des Gratis-Kindergartens zählen die Digitalisierung der Schulen, die stärkere Berufsorientierung und der Ausbau der Fachkräfteausbildung, die gesunde Ernährung im Bildungsbereich sowie der

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Fotos: Manfred Weis , Granada, www.tirol.gv.at,

Bereich der Electronic Based Systems ihren Betrieb aufgenommen. 2020 erfolgte die Ansiedelung des Fraunhofer Instituts KI4LIFE im Lakeside Park in Klagenfurt. Ziel des Zentrums sind Forschung und Innovationsleistungen zum Thema künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen. Im benachbarten 5G Playground wurden 2020 die ersten Use Cases mit Forschungseinrichtungen durchgeführt. Der Kärntner Standort der Joanneum Research wächst: Zum Forschungsschwerpunkt Robotics kam „Innovative Mobility Modeling“ hinzu, neue Laborräume wurden bezogen, die größte Drohnenhalle Europas in Kooperation mit der Alpen Adria Universität wurde errichtet. „Am Standort Villach der Fachhochschule Kärnten siedelten wir das Carinthia Institute for Smart Materials and Manufacturing Technologies an, in St. Veit betreibt das wood k plus Holzkompetenzzentrum Forschung im Bereich des Smarten Leichtbaus auf Spitzenniveau“, berichtet Gaby Schaunig. „Mit kompetenter Beratung unterstützt der neu eingerichtete Forschungs- und Wissenschaftsrat die Kärntner Landesregierung beim Nachschärfen und Nachjustieren unserer F&E-Strategie.“ Denn eines ist für Schaunig klar: „Gerade angesichts des disruptiven Charakters der Corona-Pandemie ist rasches Agieren und kluges Adaptieren innerhalb aller politischer Handlungsfelder unabdingbar.“

und europäischen Wissenslandschaft voranzubringen. Durch die Erhöhung des Wissenschaftsbudgets der Grundlagenforschung von 1,8 Millionen auf 4,5 Millionen Euro pro Jahr seit Beginn meiner Amtszeit tragen wir erheblich zur Stärkung des Wissenschaftsstandorts bei“, erklärt Salzburgs Landesrätin Andrea Klambauer. Das interdisziplinär ausgerichtete Fach Digital Humanities gewinnt durch die Digitalisierung immens an Bedeutung. „Umso wichtiger ist es in diesem Bereich, Nachwuchsforscher*innen eine Zukunftsperspektive zu bieten. Wir wollen die besten Köpfe in Salzburg halten und so den Wissenschaftsstandort stärken.“ Fünf Forschungsprojekte werden unter dem Titel Digital Humanities ausgeschrieben und für die Dauer von fünf Jahren gefördert. Dabei geht es um die Auswirkungen der Verfügbarkeit digitaler Daten auf und für die Gesellschaft, Kultur und Sprache. Jedes dieser Projekte wird mit Post-Doc- bzw. Dissertant*innenstellen ausgestattet. Der

Fotos: Ematticka, LMZ/Neumayr/SB

Kärnten: Aktivitäten am F&E-Sektor 2019/2020 Wissenschaft und Forschung sind elementar für eine sich weiterentwickelnde Gesellschaft. Kärnten setzt dabei Maßnahmen für Innovationen auf entscheidenden Zukunftsfeldern. Die letzten Jahre waren geprägt von großen Meilensteinen: Die 1,6-MilliardenEuro-Investition von Infineon in die modernste Chipfabrik Europas, begleitet von einem massiven Ausbau der Forschungsaktivitäten am Standort Villach. Ebenfalls in Villach haben die Silicon Austria Labs als europäisches Spitzenforschungsinstitut im


Ausbau der Fachhochschulen und Erweiterung des Studienangebots dazu.“ Das Burgenland geht dabei erfolgreich den Weg des klugen Wachstums. „Kluges Wachstum heißt, dass wir eine nachhaltige Entwicklung im Bildungsbereich, aber auch im Wirtschafts-, Sozial- und Umweltbereich gehen. Etwa mit den kostenlosen Bildungseinrichtungen, der Energiewende, der Biowende, einem fairen Mindestlohn oder neuen Angeboten im Pflegebereich. Wir setzen auf moderne Technologien und auf den Ausbau der Forschung im Land“, so der Landeshauptmann.

Hans Peter Doskozil, Landeshauptmann des Burgenlands

K L U G E S W A C H S T U M H E I S S T N A C H H A LT I G E ENTWICKLUNG IM BILDUNGSBEREICH Für den Erfolg dieses Weges brauche es weiterhin eine bestens qualifizierte Jugend, moderne und ausgezeichnete Bildungseinrichtungen. „Damit investieren wir in die Zukunft unseres Landes und in den Wohlstand und die Lebensqualität für alle Burgenländer*innen.“ Vorarlberg: Konservatorium wird Privatuniversität für Musik Die Weiterentwicklung des Vorarlberger Landeskonservatoriums zu einer Privatuniversität für Musik nimmt konkrete Formen an: Geplant ist, dass die Privatuniversität zu Beginn des Sommersemesters 2021 ihren Betrieb aufnehmen kann und erstmals in Vorarlberg musikalische Masterstudien anbieten wird.

Barbara Schöbi-Fink, Landesstatthalterin in Vorarlberg

E N T W I C K L U N G D E S K O N S E R V AT O R I U M S Z U E I N E R P R I V AT U N I V E R S I TÄT F Ü R M U S I K

Fotos: Manfred Weis , Granada, www.tirol.gv.at,

Fotos: Ematticka, LMZ/Neumayr/SB

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Das Vorarlberger Landeskonservatorium wurde 1977 gegründet und hat seither das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Vorarlberg wesentlich mitgeprägt. Um nicht an Attraktivität zu verlieren, braucht es eine eigenständige und von Institutionen außerhalb Vorarlbergs unabhängige Einrichtung, deren Studienangebot auf die kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse Vorarlbergs ausgerichtet ist. Auch Forschung und Wissenstransfer spielen im Landeskonservatorium schon jetzt eine bedeutende Rolle. 2013 wurde eine Forschungsstelle eingerichtet, die sich schwerpunktmäßig der Volksmusikforschung im Bodenseeraum widmet. Als Privatuniversität ist ein weiterer Ausbau der Forschungstätigkeiten, der

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Bernhard Tilg, Landesrat für Gesundheit, Wissenschaft, Pflege und Senioren

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Forschungskompetenz, der Verbindung von Lehre und Forschung und des Wissenstransfers vorgesehen. Neben der IBH sind auch Forschungskooperationen mit der Pädagogischen Hochschule und der FH Vorarlberg angedacht. Die Wirkung in die Breite und Tiefe der Gesellschaft ist eine wesentliche Zielsetzung für die künftige Vorarlberger Musikprivatuniversität. Diese soll wesentlich dazu beitragen, dass Vorarlberg im Speziellen, aber auch die gesamte Bodenseeregion als kulturell hochentwickeltes Zentrum in Mitteleuropa mit hoher Lebensqualität wahrgenommen wird. Tirol: Abwassermonitoring als Corona-Frühwarnsystem Die Bestimmung von Coronavirus-Vorkommen in Tiroler Regionen und Gemeinden ermöglicht ein Verfahren zu Abwasseranalyse vom Land Tirol und dem Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck. Um für die kommenden Monate gerüstet zu sein, wurde ein Abwassermonitoring aufgebaut, um die Viruslast durch Probenentnahme aus Kläranlagen messen zu können. Die Grundlage des Abwassermonitorings unter Federführung von Herbert Oberacher, Chemiker am Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck, ist die Bestimmung von Virus-RNA-Mengen im Zulauf von Kläranlagen. Durch die Entnahme von Abwasserproben kann man feststellen, ob jemand das Virus in sich trägt – unabhängig davon, ob er Symptome verspürt! Darüber hinaus sind Informationen über den Grad der Viruslast verfügbar. Mit diesen Ergebnissen ist eine Warnung über das Auftreten von Infektionen in einzelnen Regionen bereits fünf bis sieben Tage im Voraus möglich. So kann es gelingen, die zeitliche und räumliche Entwicklung des Infektionsgrades eines repräsentativen Bevölkerungsanteils zu untersuchen und dadurch einen Trend in der Virusentwicklung abzuleiten. Außerdem startet ein FH-BSc-Studiengang in Gebärdensprachdolmetschen an der Fachhochschule für Gesundheit. Dies ist eine Österreich-Premiere: Eine sechssemestrige Bachelorausbildung in Gebärdensprache, damit gehörlose Menschen ohne Kommunikationsbarrieren als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft an Aktivitäten in sämtlichen Lebensbereichen teilnehmen können.

NEUER FH-STUDIENGANG FÜR GEBÄRDENSPRACHENDOLMETSCHEN

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Wissenschaft in Zeiten der Pandemie

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Formeln in der Corona-Krise Das C O M P L E X I T Y S C I E N C E H U B V I E N N A hat in der Krise seine Komplexitätsforschung für Entscheidungen und Kommunikation zur Verfügung gestellt

in komplexes System besteht aus EinE zelteilen, verbunden durch Netzwerke. Wenn diese dynamisch sind, wenn die Bau-

teile das Netzwerk beeinflussen und das Netzwerk die Bauteile, ergibt das normalerweise ein komplexes System. Aufgrund unterschiedlicher Netzwerkeigenschaften haben komplexe Systeme verschiedene Eigenschaften, wie ihre Robustheit oder Resilienz. Sie verändern sich, wenn sie unter Stress kommen; lässt der Stress nach, gehen die Veränderungen wieder zurück. Wenn der Stress zu groß wird, gibt es kein Zurück mehr. Komplexe Systeme gehen kaputt: Das macht die Komplexitätsforschung auch zu einer Wissenschaft von Kollapsen, den Kollaps etwa von Finanzsystemen, von Gesellschaften oder des Klimas. Sie versucht unter anderem herauszufinden, wann und wie etwas kollabiert. Wie weit weg sind wir von den sogenannten Tipping Points – jenen Punkten, da der Stress zu groß und eine Entwicklung unumkehrbar wird? Es wird immer öfter möglich festzustellen, ob wir uns auf einen kritischen Punkt zu oder von ihm weg bewegen.

Stefan Thurner, Medizinische Universität Wien

Wir haben eine Liste mit 18 Problemen der Krise erstellt Als einen Teil unserer Aufgabe am Complexity Science Hub sehen wir, Information so aufDER LEVEL AN HASS IST WÄHREND DES LOCKDOWNS IM MÄRZ GESUNKEN zubereiten, dass sie auch für Laien verständlich ist, um gegen das Problem anzugehen, dass viele Menschen nicht mehr wissen, was die Wissenschaft eigentlich tut. Als unser Auftraggeber sollte die Öffentlichkeit wissen, was wir tun. Daher legen wir großen Wert darauf, begleitend zu wissenschaftlichen Publikationen Apps oder interaktive Tools entwickeln zu lassen, um unsere Einsichten möglichst allen verständlich zu machen. Vor allem auch die Themen, die wir im Zuge der Corona-Krise bearbeitet haben. Anfang März haben wir uns die Frage gestellt, was die Wissenschaft beitragen kann,

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und eine Liste mit 18 Problemen erstellt, die uns dringlich erschienen und die man mit unserer Datenexpertise angehen könnte. Für einige Wochen haben wir alle laufenden wissenschaftlichen Projekte vorübergehend gestoppt, um diese 18 Probleme zu lösen. Der Fokus lag auf medizinischen Fragen, wir befassten uns aber auch mit Lieferketten, den Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf die Psyche und auf den Tourismus. Wir haben anonymisierte Mobilitätsdaten analysiert, um zu sehen, wie der Lockdown funktioniert: Wie sieht es aus, bevor er in Kraft ist, wie stark haben sich Appelle und Kampagnen vorher (Abstand, Hygiene, Zuhausebleiben) auf die Mobilität ausgewirkt, wie viel bewirkt der Lockdown und wie schnell kommen die Menschen wieder zurück ins normale Leben. Wir analysierten Unterschiede von Kommunikationsmustern zwischen Männern und Frauen. Letztere etwa erwiesen sich zum Teil als wesentlich besorgter. Eine Arbeitsgruppe um David Garcia hat versucht, anhand bestimmter Wortkombinationen aus Tweets abzulesen, wie viel Angst in der Bevölkerung steckt, wie viel Unsicherheit, aber auch wie viel Solidarität oder wie sie emotional auf die ersten Corona-Toten, auf Ischgl und den Lockdown reagiert. Zum Teil gab es überraschende Resultate, etwa dass der Level an Hass während des Lockdowns gesunken und eine Art Solidaritätsgefühl entstanden ist. Das konnte man messen. Der Tipping Point der Corona-Pandemie Die 18 Probleme kreisten um die Frage: Wie bekommt man die Seuche unter Kontrolle – ohne Impfstoff ? Etwa durch Logistik. Wenn Menschen, die sich mit Symptomen melden, sofort zu Hause bleiben und innerhalb von zwei, längstens drei Tagen klar ist, wen sie die letzten Tage getroffen haben, und diese Menschen auch zuhause bleiben, verschwindet die Seuche. Dauert es länger als drei Tage, um die K1-Personen zu isolieren, bleibt sie. Es gibt also auch da einen Tipping Point, nämlich die kritische Zeit, um die Kontaktpersonen zu finden. Um Infektionen, die von außen hereinkommen, erfassen zu können, haben wir Anfang April unsere Ampel entwickelt: Wer

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aus einer problematischen Region kommt, müsste sich nach unserer „virtuellen Strategie“ vor der Einreise nach Österreich einem Test unterziehen. Wir wollten verständlich vermitteln, wie wahrscheinlich es ist, eine infizierte Person zu treffen. Wenn mehr als einer aus 1.000 infiziert ist, war sie rot, sonst gelb, bei einem von 10.000 grün. Wir wollten die Ampel mit weiteren Faktoren kombinieren: Anzahl der Tests in jedem Bezirk und welche Arztpraxis hat offen, denn als die Pandemie ausbrach, haben viele die Praxen geschlossen. In beiden Fällen haben wir die Daten nicht bekommen. Dafür konnten wir die Dichte der verschiedenen Vorerkrankungen in Österreich altersabhängig darstellen.

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Warum Corona schwerer als Influenza zu berechnen ist Corona ist schwerer berechenbar als eine Influenza-Welle. Die epidemiologische Ausbreitung erfolgt im Sozialkontaktnetzwerk. Dessen Dichte und die Ansteckbarkeit des Virus sind entscheidend für den Verlauf einer Pandemie. Wenn eine Person viele andere anstecken kann, funktionieren die klassischen epidemiologischen Modelle sehr gut, weil man eine Näherung durchführen kann. Das geht nicht mehr, wenn Dichte und Ansteckbarkeit gering sind. Die Folge ist die Ansteckung Cluster für Cluster – und das ist Fortsetzung nächste Seite

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mathematisch nicht mehr so einfach zu berechnen. Bei Influenza gibt es am Anfang einen exponentiellen Anstieg, dann ein Maximum, dann geht es zurück und läuft aus. Bei Corona gab es zwar auch einen exponentiellen Anstieg, dann ging es aber hinunter zu wochenlang etwa gleich hohen Fallzahlen, etwa fünfzig täglich im Sommer. Dann sprang die Zahl auf 150 und blieb wieder ein paar Wochen gleich. Es geht also nicht exponentiell auf und ab, sondern bleibt fast konstant, was damit zu tun hat, dass das SARS-COV-2-Virus weniger ansteckend als das Influenzavirus ist. Deswegen spielt das Sozialkontaktnetzwerk bei COVID-19 eine wichtigere Rolle. Es hat ein bisschen gedauert, bis man das genauer verstanden hat. In einer Arbeit in der Fachzeitschrift PNAS konnten wir es aufklären. Leider liegt es ein bisschen in der Natur der Sache, dass sich auch entsprechend verbesserte epidemiologische Modelle für langfristige Vorhersagen nicht gut eignen. Das mussten wir im Prognose-Konsortium des Gesundheitsministeriums schon früh feststellen. Prognosen, die länger als sieben Tage in die Zukunft reichen, scheinen uns nach wie vor wenig hilfreich. Mit Mathematik haben wir auch zum Testen beigetragen. Anfangs waren die Testkapazitäten sehr beschränkt, deshalb haben wir eine Formel geliefert, die eine PoolingStrategie optimiert. Die Idee des Pooling ist, dass man Tests zusammenwerfen kann. Gibt man zehn Abstriche zusammen in eine Gruppe und ist die Auswertung negativ, sind alle zehn negativ. Ist sie positiv, muss man alle E S I S T K L A R G E W O R D E N , D A S S M A N D AT E N SAMMELN UND MIT ANDEREN TEILEN MUSS einzeln testen und braucht elf Tests für zehn Personen. Wenn wenige infiziert sind, kann man so enorm einsparen. Wenn die Fallzahlen steigen, muss man die Gruppen kleiner machen. Wie groß die Gruppen optimalerweise sind, geben die Infektionszahlen und die Testqualität vor, besagt unsere Formel. Die richtigen Formeln für minimalinvasive Quarantänestrategien Ein neues Werkzeug in der Medizin, dessen mögliche Relevanz für Corona wir herauszufinden versuchen, sind Ko-Morbiditätsnetzwerke. Wenn Menschen bestimmte Krankheiten gleichzeitig haben, etwa Diabetes und Bluthochdruck, lässt sich abschätzen, was in

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fünf Jahren noch dazukommen wird. Damit werden Krankheitsverläufe besser voraussagbar. Wer in einem bestimmten Cluster mit Krankheit A und B steckt, springt in ein paar Jahren in einen mit Menschen, die A, B und E haben. Das lässt sich in einem Fließdiagramm darstellen. Manchmal teilt sich der Strom: In einem Arm geht es Richtung Komplikationen, im anderen besser. Man kann so kritische Cluster finden mit Abzweigungen in eine gute Richtung und in eine weniger gute. Das versuchen wir nun bei Corona anzuwenden: Bei welchen Gruppen von Personen mit bestimmten Vorerkrankungen verläuft die Erkrankung besonders gut oder schlecht? Wenn man die gefährlichen Kombinationen von Krankheiten kennt, muss man nicht ein ganzes Altersheim absperren, sondern kann bestimmte Gefährdete isolieren. So lassen sich minimalinvasive Quarantänestrategien entwerfen. In der Krise ist vielen Institutionen klar geworden, dass man Daten strategisch sammeln und mit anderen Stellen teilen muss, um einen Mehrwert erzeugen zu können. Hier gibt es große Unsicherheiten. Man braucht Protokolle und Abläufe, wo jede*r, der/die Daten weitergibt, versichert ist, dass nichts Falsches passiert, also eine institutionelle Fertigkeit zum Datenaustausch, so dass sich niemand sorgen muss, etwas falsch zu machen. Das ist alles andere als einfach. Die dazu nötigen Prozesse müssen gelehrt und geübt werden, etwa in „Regulatory Sandboxes“, also in „Spielfeldern“, wo der Umgang mit Daten gemeinsam geübt werden kann. Vielleicht wird ein neuer Berufszweig entstehen: Datenaustauschexpert*in mit juristischem, technischem und algorithmischem Wissen. Der Vorwurf der Öffentlichkeit an die Wissenschaft Zu Beginn der Krise gab es ein Zeitfenster, da in meiner Wahrnehmung der Austausch zwischen Entscheidungsträgern und Wissenschaft sehr gut funktioniert hat. Es dauerte eine Weile, bis man herausgefunden hat, was man vom Gegenüber überhaupt erwarten kann und soll, etwa wie weit in die Zukunft eine Prognose gehen kann. Normalerweise haben wir in der Wissenschaft kaum Stress. Wir erforschen und verstehen etwas, bis es passt und ein Qualitätssicherungsprozess durchlaufen wurde. Das geht in Krisenzeiten nicht mehr, wenn man sich entschlossen hat, Information und Fakten für die Öffentlichkeit und Entscheidungsträger aufzubereiten. Wenn ein Resultat oder eine Einschätzung morgen

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benötigt wird, muss man schnell liefern. Man weiß, dass so unweigerlich Fehler entstehen, die unter normalen Umständen vermeidbar sind. Und das fällt natürlich auf einen zurück: „Die Wissenschaftler haben Fehler gemacht“, heißt es dann. Und: „Die sind sich untereinander nicht einig. Das sind Chaoten!“ Ein Vorwurf, der mich sehr nachdenklich gestimmt hat, war: „Die Wissenschaftler sind intransparent, die sagen nicht alles. Sie beraten hinter verschlossenen Türen.“ Das stimmt natürlich nicht. Alle wissenschaftlichen Beiträge, Meinungen und Einschätzungen haben wir öffentlich kommuniziert. Aber Journalist*innen haben uns als intransparent hingestellt, weil wir Telekommunikationsdaten nicht ins Netz gestellt haben. Das kann man nicht, ohne eine massive Datenschutzverletzung zu begehen. Was möglich war, haben wir öffentlich gemacht.

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Die Erfahrung gemacht, wie Entscheidungen entstehen Interessant war zu sehen, wie Entscheidungsträger herausfinden, was im Gemenge unzähliger verschiedener Informationen und Behauptungen „die richtige“ ist. Es gab Einladungen, wo Expert*innen aus verschiedenen Fachgebieten zu ihrer Meinung gefragt wurden. Es ist faszinierend, wie viel Information da zusammenkommt, wie viel zusammenpasst, wie viel aber auch nicht zusammenpasst. Es war schön zu sehen, wie Zivilgesellschaft funktioniert: Man kann sich einbringen, man hört einander zu, und allmählich entsteht ein Konsens über die Lage. Ein demokratischer Entscheidungsfindungsprozess, von dem niemand ausgeschlossen ist.

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Universitäten im Lockdown Wie L E H R E U N D F O R S C H U N G während der Corona-Krise funktioniert, und was es für die Zukunft braucht

trieb aufrechtzuerhalten? Und was kann man aus der Krise lernen? Als Vizerektorin für Digitalisierung und Change-Management bin ich davon überzeugt, dass uns die Digitalisierung bei der Aufrechterhaltung des Lehr- und Forschungsbetriebs während des Lockdowns genutzt hat. Auch wurden im Bereich der digitalen Transformation der Hochschulen große Fortschritte gemacht. Mit dem Change Management im Blick beschäftigt mich aber auch, dass sich der Alltag unserer Mitarbeiter*innen in den letzten Monaten massiv verändert hat. Diese Situation stellt für alle eine große Herausforderung dar, wobei die Mehrbelastung durch die Krise nicht zum Dauerzustand werden darf.

Claudia von der Linden, Technische Universität Graz

Die digitale Transformation der Hochschulen Schon vor Beginn der Corona-Krise standen die Zeichen im österreichischen Hochschulraum auf Digitalisierung. Ich erinnere mich an die Ankündigung im Wissenschaftsministerium der Gewinnerprojekte der Ausschreibung zur digitalen und sozialen Transformation der Hochschulbildung: Freude unter den für die Digitalisierung zuständigen Rektoratsmitgliedern und ihren Teams, ein Höhepunkt nach einer langen Vorbereitungszeit. Die Technische Universität Graz setzt sich seit 2017 mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Hochschulen auseinanD I E PA N D E M I E B R A C H T E E I N E B E S C H L E U N I G U N G D E R D I G I TA L I S I E R U N G A N D E N U N I S der und hat nach einem partizipativen Meinungsbildungsprozess 2018 die institutionelle Digitalisierungsstrategie beschlossen. 2019 wurden die Umsetzungsinitiativen gestartet, und es intensivierte sich die Vernetzung der Rektorate im Bereich der Digitalisierung. Dabei zeigte sich, dass alle Universitäten bereits einen guten Plan für die nächsten Jahre hatten. Universitäten ohne institutionelle Digitalisierungsstrategie wa-

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Der Ausbruch der Corona-Krise vor dem Sommersemester Beim Start des Sommersemesters 2020 stand das Corona-Virus bereits im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Infektionszahlen waren besorgniserregend, die Schließung der Universitäten wurde angedacht. Als erste stellten die Medizinische Universität Wien und die Universität Wien wenige Tage nach Semesterstart den Betrieb auf Onlinelehre um, viele Universitäten zogen wenig später nach. Am 11. März stand die baldige Schließung aller Universitätsgebäude fest. Die Hochschulen, die bis zu diesem Zeitpunkt nur punktuelle Erfahrungen mit digitalen Lehr- und Lernformaten hatten, waren plötzlich gefordert, auf einen flächendeckenden Onlinelehrbetrieb umzustellen. Was hat nun dieser abrupte Umstieg an den Universitäten konkret bewirkt? Die Frage soll anhand der Erfahrungen der Technischen Universität Graz beantwortet werden. Wie an allen österreichischen Universitäten wurde dort der Dienstbetrieb auf Telearbeit umgestellt und der Zugang zu den Gebäuden stark beschränkt. Gleichzeitig erfolgte ein Update der Serverinfrastruktur für den bevorstehenden Umstieg auf Onlinelehre. Lehrveranstaltungsleiter*innen wurden aufgefordert, ihre Vorlesungen zu streamen oder aufzuzeichnen. Das TeachCenter, das Lernmanagementsystem der Technischen Universität Graz, verzeichnete im März 2020 an die 200 zusätzliche digitale Lehrveranstaltungen. Aber nicht nur hier gab es massive Steigerungen. Den Daten zufolge stiegen die Aktivitäten der Studierenden im TeachCenter von März 2019 bis März 2020 um rund hundert Prozent, die Aktivitäten der Lehrenden nahmen um 139 Prozent zu. Auch das Nutzungsvolumen des zentralen Videokonferenztools, das zuvor sehr selten in Gebrauch genommen wurde, stieg im März explosions-

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ie ist es den Hochschulen in Österreich W gelungen, auch im Pandemiejahr 2020 den exzellenten Lehr- und Forschungsbe-

Foto: TU Graz_Lunghammer

ren gerade dabei, eine zu erarbeiten. Kurz gesagt, im Jänner 2020 blickten alle sehr positiv und enthusiastisch auf die digitale Entwicklung der österreichischen Hochschulen in den kommenden Jahren. Niemand hatte eine Vorstellung davon, womit wir bald befasst werden sollten.

CLAUDIA VON DER LINDEN


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Foto: TU Graz_Lunghammer

artig auf 2.300 Nutzer*innen pro Tag an. Diese Zahlen veranschaulichen auch, was keine Hochschulmitarbeiter*in überraschen wird, wie herausfordernd und arbeitsintensiv diese ersten Wochen der Krise waren. Ein ungeplanter Digitalisierungsschub Die COVID-19-Pandemie brachte eine Beschleunigung der Digitalisierung an den österreichischen Universitäten. Dieser Umstand ging mit vielen positiven wie auch einigen negativen Effekten einher. Beginnen wir mit den positiven Aspekten. Eindeutig positiv zu bewerten ist, dass wir die verfügbaren digitalen Technologien jetzt aktiv nutzen und schrittweise gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Denn nicht nur Lehre kann digi-

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tal abgehalten werden, auch Besprechungen, Workshops oder wissenschaftliche Konferenzen können ohne wesentliche Einbußen bei den Ergebnissen im virtuellen Raum stattfinden. Für Forschende wurde die Bedeutung des digital gestützten Forschungsdatenmanagements augenscheinlich. Außerdem konnten Prozesse im Bereich der Forschung wie Datenanalysen oder Dokumentation durch innovative Tools von zuhause aus erledigt werden. Generell wurde die informelle Kommunikation über digitale Tools innerhalb der Forschungsteams, aber auch mit externen Kollaborationspartner*innen erleichtert. Auch Verwaltungsarbeiten konnten aus dem Homeoffice durchgeführt werden. Fortsetzung nächste Seite

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Dabei wurde viel Wissen über Mobile Office und New Work gesammelt, beides Themen, für die es zukunftsfähige Strategien braucht. Nicht nur Personen sind an dieser He­ rausforderung gewachsen, auch Organisa­ tionen konnten lernen und haben bei ihrer digitalen Entwicklung einen großen Schritt gemacht. Innerhalb kürzester Zeit mussten Alternativen entwickelt und musste kurzfris­ tig entschieden werden, was sonst monate­ lang gedauert hätte. Oft wurden diese schnellen Entschei­ dungen in der Krise als etwas angeführt, das unbedingt beibehalten werden sollte. An dieser Stelle ist aber Vorsicht geboten. Es ist richtig, Universitäten haben bewiesen, dass sie schnell und flexibel reagieren können, und dieses Bewusstsein sollten wir auch mit­ nehmen, aber tatsächlich wurde dabei den Mitarbeitenden sehr viel abverlangt. Was uns zu den kritischen Punkten führt. Lehrende hatten praktisch keine Vorbe­ reitungsmöglichkeiten für den Umstieg auf digitale Lehrformate. So sehr sich die Univer­ sitäten bemüht haben, didaktische und tech­ nische Unterstützung zu bieten, am Ende ist es dem herausragenden Engagement der Lehrenden zu verdanken, dass Studierende ihre erforderlichen Lehrveranstaltungen be­ suchen und absolvieren konnten. Für die digitale Umsetzung des Lehrpro­ gramms wurden kreative Lösungen gefun­ den, die aber in mathematiklastigen Fächern, in Laboren oder im Kunstunterricht an Gren­ zen stoßen. Von den Forschenden wurde berichtet, dass die Zeit ohne Möglichkeit für Laborar­ beiten oder Konferenzreisen für das Verfassen von Publikationen oder Forschungsanträ­ gen genutzt wurde. Erschwert hatte sich aber D I G I TA L I S I E R U N G L Ä S S T S I C H N I C H T N U R DURCH TECHNISCHE INVESTITIONEN LÖSEN die Situation, wenn Homeoffice mit Home­ schooling oder anderen Betreuungspflichten kombiniert werden musste oder wenn die technische Ausstattung zuhause mangelhaft war. Für Nachwuchswissenschaftler*innen hat sich der Aufbau eines Netzwerks enorm erschwert. Mit einer besonderen Belastung hatten auch Teile des allgemeinen Universi­ tätspersonals zu kämpfen. Insbesondere In­ formatikdienste und Serviceeinrichtungen für (digitale) Lehre hatten eine enorme Arbeits­ last während der Krise zu tragen. Aber auch die Studierenden mussten sich schnell auf die neue Lernumgebung einstellen.

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Es steht fest, dass die Corona­Krise die di­ gitale Transformation der österreichischen Universitäten stark vorangetrieben hat. Es wäre aber falsch, die in der Krise notwendig gewordenen Digitalisierungsprozesse mit der Digitalisierung der Universitäten gleich­ zusetzen. Nicht alles, was wir tun mussten, wird auf Dauer so bleiben, auch wenn das Jahr 2020 sicher zu nachhaltigen Verände­ rungen an den Universitäten führen wird. Die Erfahrungen aus der Krise gemeinsam nutzen Damit wir auch die richtigen Lehren aus dieser Krise ziehen, hat die Technische Uni­ versität Graz das Projekt „Reallabor Digi­ talisierung“ gestartet, das die Erkenntnisse der digitalen Semester für die Zeit danach zusammenfasst. Ähnliche Projekte wurden auch an den anderen Universitäten durch­ geführt. Im UNIKO­Forum Digitalisierung wurden die Erkenntnisse aus diesen Projek­ ten zusammengetragen, um gemeinsam die aktuellen Hauptthemen der digitalen Ent­ wicklung für die nächsten Jahre herauszuar­ beiten. Aus Sicht der für Digitalisierung zu­ ständigen Rektoratsmitglieder werden sich Universitäten noch stärker mit Fragen der IT­Infrastruktur, ­Architektur und ­Sicher­ heit auseinandersetzen müssen. Im Zusam­ menhang mit der digitalen Lehre muss auch die Rolle der Präsenzuniversität im digitalen Zeitalter definiert werden, denn es wurde deutlich, wie wichtig die Universität als sozi­ aler Ort für Studierende und Lehrende ist. Weiterhin werden Forschungsdatenma­ nagement, Open Data und digitale Kollabo­ ration zentrale Themen der nächsten Jahre sein, wie uns auch der Weg in eine neue Ar­ beitsweise der Verwaltung länger beschäfti­ gen wird. Zudem wollen Universitäten den gesellschaftlichen Anforderungen an moder­ ne und nachhaltige Hochschulen weiterhin gerecht werden. Das alles ist mit tiefgreifen­ den Veränderungen verbunden, weshalb Universitätsleitungen gefordert sind, diesen Transformationsprozess aktiv zu gestalten. Gemeinsam an Universitäten eine neue Kultur entwickeln In den letzten Monaten brauchten wir schnelle, improvisierte Lösungen, doch mit­ telfristig müssen die rechtlichen Rahmen­ bedingungen für die neue Situation geklärt werden. Beispielhaft hierfür sind notwendige Richtlinien zur Anerkennung digitaler Lehre, Vorgaben zur Abhaltung elektronischer Prü­ fungen und Vereinbarungen zum mobilen Arbeiten. Die Erstellung von Policys für die kontrollierte Nutzung von Forschungsda­

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teninfrastrukturen ist essentiell, um einen effizienten Austausch von Forschungsdaten und -ideen zu ermöglichen und schneller zu Forschungsergebnissen zu kommen. Auch infrastrukturelle Erfordernisse müssen angepasst werden. Diese Aufbaumaßnahmen brauchen weitere Unterstützung und finanzielle Ressourcen. Es zeigt sich aber sehr klar, dass sich die Frage der Digitalisierung nicht allein durch technische Investitionen lösen lässt. Es geht um einen übergreifenden Transformationsprozess, einen Kulturwandel in der Organisation, damit Universitäten den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht werden können. Und damit man den Menschen an der Universität das bieten kann, was sie sich heute erwarten. Digitalisierung soll verschiedene Lebensmodelle ermöglichen und die

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Mein Dank für den fachlichen Input geht an Martin Ebner und Stefanie Lindstaedt

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Arbeits-/Studierendenqualität steigern. Um diesen Wandel zu fördern, werden Transformationsmaßnahmen wie Anreizsysteme notwendig sein. Schon länger setzt die Technische Universität Graz auf die gezielte Förderung digitaler Lehrinnovationen. Die entsprechenden Anreizsysteme werden weiter ausgebaut und auf neue Bereiche übertragen. Mitarbeitende der Hochschulen werden vermehrt mit digitalen Arbeitsprozessen und Kommunikationsformen konfrontiert, und Führungskräfte wie auch Mitarbeitende brauchen Unterstützung bei diesen neuen Herausforderungen. Die Krise ist noch nicht überstanden, wir werden einige Monate im hybriden beziehungsweise im digitalen Modus verbringen. Die Erfahrungswerte nehmen wir mit auf unserem Weg der digitalen Transformation.

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Echtzeitmonitor zur Versorgungssicherheit

m Logistikum der Oberösterreich A forsche ich seit vielen Jahren mit meiner Gruppe zum Thema „Supply Chain ManageFH

ment“. Wir analysieren und visualisieren das Zusammenspiel in komplexen Lieferketten und Netzwerken, damit Unternehmen Störungen frühzeitig erkennen und intervenieren können. Das ist ein brisantes Thema in der Wirtschaft, denn verschiedene Ursachen führen immer wieder zu Versorgungsproblemen. Seit 2019 leite ich das Josef Ressel Zentrum an der FH OÖ für Echtzeitvisualisierung von Wertschöpfungsnetzwerken (JRZ LIVE). Aufgabe ist, einen Kontroll-Tower für Unternehmen zu realisieren, mit dem ihre Wertschöpfungsnetzwerke analysiert und in Echtzeit kontrollierbar gemacht werden sollen. Als Unternehmenspartner haben wir die BMW-Group und die HOFER KG mit an Bord. Unser Projekt ist interdisziplinär im besten Sinn, denn Kolleg*innen aus unterschiedlichen Disziplinen steuern ihre Expertisen bei. Die Universitäten Oxford, Mannheim und die Universität der Bundeswehr in München sind mit ihren Forschungsexpertisen zu IT und Softwareentwicklung bzw. Risikomanagement und Operations Management ein zentraler Bestandteil unserer Forschung.

Markus Gerschberger, FH Oberösterreich

ECHTZEITMONITOR ZUR BEWERTUNG DER VERSORGUNGSLAGE IN ÖSTERREICH Im Zuge der COVID-19 Future Operations Plattform der Bundesregierung, der ich von Beginn an angehöre, entstand das Projekt „Systemische Risikoidentifikation für die Lebensmittel-Versorgungssicherheit in Österreich (SYRI)“. In diesem interdisziplinären Projektkonsortium, bestehend aus Complexity Science Hub Vienna, der Universität für Bodenkultur Wien, der Veterinärmedizinischen Universität Wien und dem JRZ LIVE, entwickeln wir einen Echtzeitmonitor zur kontinuierlichen Bewertung der Versorgungslage in Österreich. Das Modell soll auch aufzeigen, welche Betriebsstandorte im Wertschöpfungsnetzwerk für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung besonders kritisch sind. Dieser Echtzeit-

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monitor stellt die Handlungsfähigkeit der Entscheidungsträger*innen sicher und wird die rechtzeitige Identifikation von Versorgungsengpässen in zukünftigen Krisenzeiten ermöglichen. Wir sind stolz und dankbar, dass alle vier großen Lebensmitteleinzelhändler sofort bereit waren, am Projekt SYRI mitzuwirken. Gemeinsam decken HOFER, LIDL, Rewe und Spar 95 Prozent des Bedarfs im österreichischen Lebensmitteleinzelhandel ab. Aktuell arbeiten wir an der Realisierung des Pilotmodells, der Visualisierung der Verfügbarkeit von Schweinefleisch, von der Urproduktion über die Verarbeitung bis hin zur Bereitstellung in der jeweiligen Filiale. Projektauftraggeber ist das Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus. Dort wird dieser Versorgungsmonitor in Krisenzeiten auch betrieben werden, auf dem in Echtzeit zu sehen ist, wo Engpässe auftreten könnten. Dieses Tool ist für den Krisenmodus bestimmt, denn in normalen Zeiten funktioniert das existierende Meldesystem zwischen Produzenten, Handel und Ministerium sehr gut. Wir entwickeln hier kein Monitoring-Tool, das in normalen Zeiten den Touch der Überwachung bekommen könnte. Ein Überblick über die Versorgungslage ist auch wichtig, um Quarantänemaßnahmen planvoll einleiten zu können, man denke beispielsweise an die Voraussage, wie etwa die Schließung von Schlachthöfen sich auf die Produktverfügbarkeit auswirken würde. Aber auch bei einseitigen Grenzschließungen hat man ein Tool, um Abhängigkeiten vom Ausland zu vergegenwärtigen, etwa wo wäre ein Korridor hilfreich? In einer Krise haben Entscheidungsträger*innen die Möglichkeit, proaktiv zu agieren und zu verhandeln. Der Prototyp „Schweinefleisch“ ist demnächst fertig. Nach dessen erfolgreicher Implementierung gilt es dann, die Logik auf alle weiteren relevanten Produktgruppen des Lebensmittelhandels und in weiterer Folge auf alle versorgungskritischen Güter, wie Arzneimittel und Medizingüter, auszurollen. Durch das Projekt SYRI wird sichergestellt, dass wir aus der derzeitigen Krisensituation lernen, die richtigen Schlüsse zu ziehen und als Nation viel besser für zukünftige, definitiv auftretende Störungen vorbereitet sind.

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Foto: Privat, Fotohaus Zacharias

MARKUS GERSCHBERGER UND BARBARA FREITAG

Foto: Privat

Das Projektkonsortium Systemische Risikoidentifikation SYRI entwickelt ein S U P P LY C H A I N M A N A G E M E N T T O O L zur Vermeidung von Lieferausfällen


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Die populistische Dimension von Corona Die Ergebnisse einer R E P R Ä S E N TAT I V E N U M F R A G E durch Reinhard Heinisch und Susanne Rhein über Populismus in Zeiten der Pandemie REINHARD HEINISCH UND SUSANNE RHEIN

ie Politik muss bei der Bekämpfung der D Pandemie viele Entscheidungen treffen, die zu massiven Eingriffen in die individuelle

Autonomie führen und existenzbedrohende Folgen für die Wirtschaft haben. Dies erzeugt extreme Stresssituationen für die Bevölkerung. Auch deshalb spielt der politische Faktor Populismus eine wichtige Rolle. Unter Populismus versteht die empirische Politikwissenschaft einen konstruierten Gegensatz zwischen einem guten, abstrakten Volk und einer korrupten, unscharf definierten Elite, deren Macht es zu brechen gilt. Dazu kommt eine Tendenz zu Verschwörungstheorien und einer schwarzweißen Weltsicht, wobei Medien und Expertentum als suspekt betrachtet werden. In der Corona-Krise beruft sich die Politik in ihren Entscheidungen auf Expert*innen, während die Belange der Bevölkerung dem nachstehen. Daher liegt der Verdacht nahe, dass in der Pandemie das subjektive Betroffenheitsempfinden einer Person eng mit ihrer populistischen Einstellung zusammenhängt. Dies führt zur Forschungsfrage: Wie gestaltet sich die subjektive Betroffenheit der Bürger*innen durch die Pandemie und welche Rolle spielt Populismus dabei?

Reinhard Heinisch, Universität Salzburg

Susanne Rhein, Universität Salzburg

Foto: Privat, Fotohaus Zacharias

Foto: Privat

S I G N I F I K A N T E E I N F L U S S F A K T O R E N : A LT E R UND ANGST BEZÜGLICH DES EINKOMMENS Um diese Frage zu überprüfen, wurde von uns Anfang September eine repräsentative Umfrage in Österreich mit einer Stichprobengröße von 1.200 Personen durchgeführt. 23,9 Prozent der Befragten zeigten sich in ihrer Gesundheit und 30,5 in wirtschaftlichen Belangen betroffen. Alter und das subjektive Gefühl, mit dem Einkommen auszukommen, waren signifikante Einflussfaktoren. Ältere Personen und subjektiv Wohlhabendere zeigten sich deutlich weniger berührt. Eine hohe Bildung reduzierte das Empfinden gesundheitlicher Betroffenheit, nicht aber das Gefühl, wirtschaftlich betroffen zu sein. Bei Zusatzfragen klagten Männer signifikant mehr darüber, in ihrer „Entscheidungsfreiheit im Haushalt durch andere Personen

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eingeschränkt zu sein“. Frauen berichten deutlich häufiger, „zu Hause Auseinandersetzungen erlebt“ zu haben. Bei den politischen Faktoren erwiesen sich populistische Einstellungen als besonders relevant: Etwa 32 Prozent glaubten nicht oder nur gering daran, dass die Regierung für das Land das Beste will, 73,92 Prozent stimmten der Aussage zu, dass „in unserem Land die Mächtigen viel zu wenig auf das einfache Volk hören“. 41,5 Prozent zeigten autoritäre Tendenzen, indem sie angaben, dem Land ginge es besser, „wenn die jungen Leute zu Gehorsam und Disziplin erzogen werden würden“. Die Selbsteinordnung zwischen links und rechts sowie zu Parteien hat eine Auswirkung auf das wirtschaftliche Betroffenheitsempfinden, nicht auf das gesundheitliche. Bei der Parteizugehörigkeit fällt auf, dass die Unterschiede in der Betroffenheit besonders mit populistischen und antisystemischen Einstellungen korrelieren. Wir sehen Ähnlichkeiten im Verhalten zwischen Nichtwählern und FPÖ-Wählern, bei wirtschaftlichen Belangen eindeutig und in gesundheitlichen tendenziell. Unter FPÖ-Wählern ist der Anteil der Betroffenen relativ zu den Nichtbeeinträchtigten am höchsten. Nur Nichtwähler zeigen sich ähnlich stark von der Krise berührt. SPÖ-Wähler liegen an zweiter Stelle, bei Grünwählern ist die subjektive Betroffenheit tendenziell am geringsten. In einer Regressionsgleichung sehen wir deutlich, dass gesundheitliche Betroffenheit am besten von den Variablen populistische Einstellung, subjektiv ausreichendes Einkommen und Lebensalter erklärt wird. Im Fall der wirtschaftlichen Betroffenheit sind die signifikanten Faktoren Populismus, Alter und politisch rechte Einstellungen. Diese Befunde legen nahe, dass politische Faktoren und vor allem populistische Einstellungen starke Erklärungskraft besitzen. In weiterer Folge werden sich unsere Untersuchungen auf politische Konsequenzen der subjektiven Betroffenheit durch COVID-19 konzentrieren. Unser Fokus wird dabei besonders darauf liegen, inwieweit Betroffene bereit sind, zur effektiven Pandemiebekämpfung von demokratischen Prinzipien abzuweichen. Zu diesem Zweck wurde ein „Umfrageexperiment“ durchgeführt.

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Sprachschatz, erweitert

ockdown! Wie selbstverständlich das L Wort doch binnen weniger Monate in die deutsche Sprache eingemeindet wurde, als

wäre es längst Teil des medialen Diskurses gewesen. Es bezeichnet ein mobilitäts- und kontaktreduzierendes politisches Maßnahmenbündel im Gesundheits- und Sicherheitsdispositiv, mit dem auf den aktuellen pandemischen Notstand reagiert wird. Das Wort ist zur Chiffre für die weltweite COVID19-Krise geworden. Vom britischen Wörterbuch Collins Dictionary wurde „Lockdown“ daher gerade zum Wort des Jahres erklärt. Der Ausdruck hat sich im Deutschen eingebürgert, um sowohl rigide Ausgangs-, Betretungs- und Kontaktsperren zu bezeichnen (harter Lockdown) als auch mildere Ausgangs- und Bewegungsbeschränkungen (weicher Lockdown). Ein Grund für die sprachliche Übernahme besteht in der Sprachkontaktökonomie, die auf die Internationalität der Krise zurückgeht. Ein zweiter Faktor mag in der fachsprachlich anmutenden technokratischen Überzeugungskraft liegen. Der dritte Grund ist die euphemistische Wirkung des englischen Fremdworts. Ein Ausdruck wie „Ausgangssperre“ löst dagegen mulmige Begleitgefühle aus und teilweise Assoziationen mit

Martin Reisigl, Universität Wien

DIE SPRACHWISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNG WIRD WEGEN CORONA SPRIESSEN Krieg oder militärisch und polizeilich kontrollierten Gebieten. Der Wortschatz rund um die Pandemie scheint regelrecht zu wuchern. Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache hat ein Themenglossar zur COVID-19-Pandemie erstellt, das bereits 240 Wörter umfasst. Etliche von ihnen sind Anglizismen, für die es deutsche Entsprechungen gäbe, darunter „Homeschooling“ (,Hausunterricht‘, ,häuslicher Unterricht‘), „Homeoffice“ (,Heimbüro‘, ,Heimarbeit‘) und „Social Distancing“ (eine unglückliche Bezeichnung für physisches Abstandhalten, weil es ja nicht um soziale Distanz gehen sollte). Das linguistische Augenmerk, das sich auf die Pandemie richtet, gilt also diesem

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Wortschatz, der krisenbedingt erweitert und verändert wird. Zudem richten sich die Forschungsinteressen der Angewandten Sprachwissenschaft auf weitere Aspekte der kommunikativen Dimension der COVID19-Krise. Ausgangspunkt bildet dabei die Überzeugung, dass gelingende Kommunikation ein entscheidendes Moment für eine erfolgreiche Bewältigung der Krise darstellt, auch im Umgang mit einer etwaigen „Coronamüdigkeit“. Zentral ist eine pragmatische und diskursanalytische Perspektive, die sprachliches und bildbasiertes Zeichenhandeln erforscht, welches der Wissenskonstitution sowie Wissensvermittlung und der zwischenmenschlichen Handlungskoordination in der Krise dient. Der Wissenschaftskommunikation im Dreieck zwischen Medizin, Politik und Medien kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Für das menschliche Verhalten ist es wichtig zu lernen, dass wir es nicht mit einer örtlich begrenzten Epidemie, sondern mit einer alle betreffenden Pandemie zu tun haben. Es gilt erfolgreich zu kommunizieren, dass nicht alle mit dem SARS-CoV-2-Virus Infizierten Symptome entwickeln, sondern manche asymptomatisch bleiben, aber andere trotzdem anstecken können. Was die Handlungskoordination im bisherigen Krisenverlauf angeht, so beobachten wir eine länder- und phasenspezifische Politik der deklarativen und direktiven Sprechhandlungen, die je nach politischer Kultur und Infektionszahl zwischen stärker obligativen Ge- und Verboten und stärker auf Selbstverantwortung setzenden Empfehlungen oszillieren. Die sprachwissenschaftliche Forschung zur Krise wird sprießen und sich dabei mit Sprachlandschaften auseinandersetzen, die der Reorganisation der Fortbewegung von Individuen im öffentlichen Raum dienen. Sie wird sich diskurs- und politolinguistisch mit widersprüchlicher Regierungskommunikation und der Rechfertigung einer zeitweiligen Einschränkung von Grundrechten befassen, mit der komplexen Verschränkung der Diskurse über die Corona-, Klima- und Wirtschaftskrise, mit medien- und diskursbasierten Manipulationen, die zu angstbesetzten Verschwörungstheorien, Politiken sowie Protesten führen, und mit vielem mehr.

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Foto: Luiza Puiu

MARTIN REISIGL

Foto: Privat

COVID-19-Pandemie: Beobachtungen zur krisenbedingten Veränderung des Sprachgebrauchs


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Der optimale Lockdown Die Demografin und Bevölkerungsökonomin Alexia Fürnkranz-Prskawetz über den Lockdown: Parameter für eine effektive und ökonomisch verträgliche Form ALEXIA FÜRNKRANZ-PRSKAWETZ UND WERNER STURMBERGER

or der Pandemie hätte sich wohl kaum V jemand vorstellen können, dass so restriktive Maßnahmen wie ein Lockdown so

schnell und weitgehend klaglos umgesetzt werden können. Auch meine beiden Arbeitsplätze an der TU Wien und an der ÖAW waren davon betroffen, so wurde auch für meine Kolleg*innen und mich das Zuhause zum Arbeitsplatz. Eine Umstellung, die mir relativ leichtfiel, selbst wenn ich die sozialen Kontakte mit meinen Kolleg*innen natürlich vermisst habe. Die sozialen Medien haben es aber erlaubt, sich über Onlinemeetings, News-Feeds und Discussion-Boards auszutauschen und so die Forschungstätigkeit aufrechtzuerhalten. Eine Erkenntnis, die wohl auch unseren Alltag nach Corona verändern wird: Man muss nicht für jedes Meeting um den halben Erdball fliegen. Teilweise ist es sogar so, dass sich Kooperationen mit internationalen Kontakten, etwa mit unseren Kolleg*innen in den USA, intensiviert haben. COVID-19 hat unsere Tätigkeit als Wissenschaftler*innen nicht gestoppt, jedoch stark beeinflusst, formal wie inhaltlich. So konnte man vor allem im Lockdown ein exponentielles Wachstum der COVID-19-Forschung beobachten – zunächst vor allem in

Alexia FürnkranzPrskawetz, TU Wien

Foto: Luiza Puiu

Foto: Privat

WIR KÖNNEN DABEI HELFEN, AUSHANDLUNGSPROZESSE ANZUREGEN der Epidemiologie, aber auch zusehends im Bereich der Demografie und Ökonomie. Gerade zu Beginn der Pandemie war nicht ganz klar, welche Trade-offs es zu beachten gibt. Einerseits wollte man durch den Lockdown das starke Wachstum der Infektionen durch eine Beschränkung sozialer Interaktionen stoppen. Gleichzeitig musste man sich auch überlegen, was das für die Wirtschaft bedeutet. Aufgrund der gebotenen Eile konnten nicht alle Aspekte in vollem Umfang berücksichtigt werden. Die Ökonomie ist für mich die Wissenschaft der begrenzten Ressourcen: Wie kann ich mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, optimale Ergebnisse erreichen? Einige Ökonom*innen haben darum begonnen,

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nicht nur deskriptive, sondern auch normative Modelle zu entwickeln: Was ist unter gegebenen Umständen und Zielsetzungen eine optimale Strategie? Meine sieben Kolleg*innen und ich haben uns daran gemacht, ein qualitatives Modell zu entwickeln, das es erlaubt, zentrale Parameter für eine optimale Strategie zu identifizieren: Wann soll der Lockdown beginnen? Wann soll er, abhängig vom Anfangszeitpunkt, enden? Wie sieht eine Lösung aus, die Sterbefälle reduziert, Kapazitäten der Krankenhäuser berücksichtigt und wirtschaftliche Folgeschäden möglichst gering hält? Unser erstes Modell konnte zeigen, wie sensitiv die Lockdown-Dauer aufgrund der nichtlinearen Infektionsdynamiken auf den Anfangszeitpunkt reagiert. Zugleich wurde deutlich, dass es für ein Parameter-Set zwei optimale Lösungen geben kann. Die zwei wesentlichen Strategien, die wir in unterschiedlichen Ländern beobachten konnten – längerer oder kürzerer Lockdown, um die Infektionen zu stoppen oder die Ansteckungskurve abzuflachen –, können beide, abhängig von den Zielsetzungen der jeweiligen Regierungen, rational sein. Aufbauend auf die zusehends bessere Datenlage, haben wir weitere Modelle entwickelt, die unterschiedlich umfangreiche Lockdown-Szenarien berücksichtigen. Aktuell beschäftigen wir uns mit einem möglichst effektiven Einsatz von Impfungen bei einer heterogenen Bevölkerung. Auch hier gilt es wieder, unterschiedliche Gewichtungen und Zielsetzungen zu berücksichtigen: Schütze ich vor allem Risikogruppen oder potenzielle Superspreader, etwa Menschen, die bei ihrer Erwerbsarbeit besonders exponiert sind? Unsere Modelle machen deutlich: Selbst wenn sich einzelne Policies stark unterscheiden, können dahinter ähnliche Werthaltungen stehen. Wir können so dabei helfen, Aushandlungsprozesse anzuregen, um in diesen schwierigen Zeiten common ground zu finden. Die aktuelle Situation hat deutlich gemacht, dass wir als Wissenschaftler*innen nicht warten dürfen, bis wir eingeladen werden. Wir müssen proaktiv mit unserem Know-how und unserer Expertise umgehen und diese auch viel stärker nach außen kommunizieren.

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Corona macht Wissenschaft wahrnehmbar früher eher nur von Forscher*innen gelesen, gehören seit Corona beinahe zu unserer Alltagslektüre SY LV I A K N A PP U N D MO N A S A I D I

ie Bedeutung der Wissenschaft hat in D diesem Jahr der Corona-Pandemie eine noch nie zuvor erfahrene Aufmerksamkeit

erhalten. Besonders und gerade in Österreich, dessen Bevölkerung bislang kein allzu großes Interesse an der Wissenschaftswelt gezeigt hat. Unsere allgemeine Verunsicherung und Überforderung mit der neuen Viruserkrankung hat den Wunsch nach mehr Informationen und Wissen beflügelt. Das zeigt sich auch in den Medien. Seit dem Frühjahr werden Wissenschaftler*innen in vielfältigen Zusammenhängen für die Berichterstattung in Zeitschriften, Magazinen, in Hörfunk und Fernsehen, aber auch in den Social-Media-Kanälen interviewt. Außerdem hat sich ein medizinisches Fachvokabular wie von selbst in den Wortschatz der meisten Menschen eingefügt. Da bleibt natürlich wenig Raum für eine Differenzierung in der Präsentation der Expert*innen und ihrer Fachbereiche. Auch sorgt der Kampf der Medien untereinander um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dafür, dass in ihnen praktisch jede Fachperson als Virolog*in bezeichnet wird. Nichtsdestoweniger ist die Corona-Pandemie ohne Zweifel einer jener vitalen Momente, da sich die Gesellschaft auf ihre Expert*innen

Sylvia Knapp, Medizinische Universität Wien

D I E U N T E R S C H ÄT Z T E G E F A H R : D I E Ü B E R FORDERUNG DES GESUNDHEITSSYSTEMS und somit auch auf den Wert der Wissenschaft besinnt. Mit gutem Grund, denn wissenschaftliche Erkenntnisse müssen nicht nur erbracht, sondern von den durch sie Betroffenen auch verstanden werden, und dazu benötigt es einfach die Expertise. Auch für uns Wissenschaftler*innen hat sich vieles verändert. In absoluter Rekordzeit überrollte uns geradezu eine Lawine an wissenschaftlichen Publikationen zu COVID-19 und seine gesellschaftlichen, psychologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Mit großem Erstaunen wurde von Beobachtern, seien sie selbst Wissenschaftler*innen oder doch Laien, die qualitativ hochwertige Forschung verfolgt, die zum neuen Coronavirus SARS-CoV-2 betrieben wurde.

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Das enorme weltweite Engagement vieler Wissenschaftler*innen einerseits sowie die technischen Mittel, die heutzutage zur Verfügung stehen, eröffneten ganz neue Möglichkeiten und beschleunigten den dringend gebrauchten Erkenntnisgewinn über diese neue Infektionskrankheit. Als eindrucksvollstes Beispiel sticht dabei auch die rapide Entwicklung von Impfstoffen heraus. Noch nie ist es bei der Entwicklung neuer Medikamente oder eben auch Impfstoffe gelungen, alle klinischen Phasen bis zur so wichtigen Phase 3 innerhalb eines einzigen Jahres zu durchlaufen. Bei der Pandemie SARS-CoV-2 hat dies zum ersten Mal stattgefunden. Auch in Österreich kamen spontan die vielfältigsten Forschungsgruppen und Wissenschaftler*innen zusammen, um die Diagnostik, den Verlauf von COVID-19, die Inzidenz der asymptomatisch Infizierten oder auch virologische Aspekte zu untersuchen. Zwischendurch hat sich mit dem Abflauen der Infektionszahlen während der Sommermonate das Verlangen der Öffentlichkeit nach mehr Informationen etwas vermindert, außerdem sind eine Menge Verschwörungstheorien entstanden. Manche Menschen verstehen nur schwer, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur linear entwickeln, dass manche Hypothese auch wieder revidiert werden muss. Auch fehlt in Österreich eine Institution ähnlich dem Robert-Koch-Institut in Deutschland, die im Fall der Pandemie das Geschehen zentral kommuniziert. Parallel dazu wird die Gefahr von vielen auch unterschätzt. Nicht unbedingt die Gefahr vor einer Infektion, die ja eine Mehrzahl der Menschen überlebt. Die unterschätzte Gefahr betrifft die Überforderung des Gesundheitssystems, besonders der Intensivstationen. Dort bildet nicht die Bettenanzahl das Limit, obwohl diese zur Beurteilung der Kapazität herangezogen wird, sondern die Anzahl der kompetenten Expert*innen, die Patient*innen auf Intensivstationen betreuen können – sie sind die Mangelware. Nicht bei jedem Intensivbett stehen pflegerische und ärztliche Mitarbeiter*innen zur Verfügung, die auch Erfahrung mit dieser Erkrankung haben. Das macht aber den Unterschied, letztendlich für uns alle.

Foto: Andre Sebastiani

WISSENSCHAFTLICHE MEDIENBERICHTE,

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Wissen, Virus und Verwirrung Corona wirbelt Wissenswelten durcheinander und sorgt bei vielen Menschen für I R R I TAT I O N über die Grenzen von Politik und Wissenschaft MANFRED PRISCHING

ie einen sagen: Man möge doch mehr D auf die Expert*innen hören. Die anderen: Die Politik dürfe sich nicht von

Wissenschaftler*innen bestimmen lassen. Viele verlangen: Man möge doch endlich einmal genau sagen, wo die Entwicklung in den nächsten Monaten hingehe. Andere kritisieren Expert*innenversagen: Die schrecklichen Prognosen waren alle falsch, alles war harmlos – ein Irrtum. Wieder andere sind völlig verwirrt: Die einen Expert*innen sagen A und die anderen B. Immer neue Revisionen der Erkenntnisse. Und nicht so wenige raunen: Autoritäres droht. Oder Neoliberales. Oder Gates. Diese und andere Aussagen haben etwas gemeinsam: Wissensinkompetenz. Die mangelnde Fähigkeit, mit Wissen umzugehen und Wissenschaft zu verstehen, führt zu Irritationen in alle Richtungen. Irritation über die Komplexität dieser Welt: Die einfache Vorstellung vom „sicheren Wissen“ (aller einschlägigen Wissenschaftler*innen) war auf den großen Cluster von Fortschritt, Vernunft, Aufklärung, Forschung, Gesetzmäßigkeit und Experiment festgelegt. Auf diesem Wege gelange man zu Machbarkeit, Gestaltbarkeit, Planbarkeit, Lösbarkeit. Das war immer schon die halbe Wahrheit, aber Corona ist anders: Wei-

Manfred Prisching, Universität Graz

WIE LANGE KANN MAN MIT DER COMPLIANCE DER MENSCHEN RECHNEN?

Foto: Christian Jungwirth

Foto: Andre Sebastiani

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te Bereiche des Nichtwissens; Informationen, die sich von Woche zu Woche verändern; Handlungsnotwendigkeiten in unsicherer Situation; permanente situative Neubewertungen; und immer die offene Frage, ob die Menschen, auf deren Verhalten man angewiesen ist, mitmachen. So ist das in einer komplexen Welt. Irritation über die Liquidität des Wissens: Die Unsicherheit prägte schon die anfängliche Wahrnehmung und Einschätzung des Phänomens. Die Epidemien der letzten Jahre (wie SARS und MERS) haben sich als relativ harmlos erwiesen, das hätte auch bei COVID-19 der Fall sein können. Aber ebenso leicht hätte die Sache explodieren können, mit der Folge von Millionen Toten. Irgendwo

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sind wir zwischen Harmlosigkeit und Todesseuche gelandet. Doch die Logik des „Biests“ musste man erst Schritt für Schritt entziffern: Mortalität und Letalität, Verbreitungsmechanismen und Krankheitsverläufe, Risikogruppen, Behandlungsweisen und Testverfahren. Alles musste von Woche zu Woche nachjustiert, angereichert und revidiert werden. Forschung verläuft auf diese Weise. Aber das öffentliche Wissenschaftsbild wird vom „Gravitationsgesetz“ geprägt: Da weiß man, was man hat. Bei unsicherem Wissen kippt man schnell um in Aggression, Verachtung oder Diffamierung. Unverständlich scheint der Öffentlichkeit (allerdings auch manchen Wissenschaftler*innen) das Präventionsparadoxon: Nach der Abwendung einer Katastrophe gibt es genug Unverständige, die feststellen, dass hiermit bewiesen ist, dass gar keine Gefahr bestanden hat. Irritation über die Grenzen von Wissenschaft und Politik: Es gibt sachliche Befunde (der Expert*innen) und wertende Entscheidungen (der Politik), mit Überlappungen. Sache der Ersteren ist es, das Nichtwissen Schritt für Schritt zurückzudrängen: Was macht das Virus? Was ist eine vernünftige Behandlung der Krankheit? Welche Dynamiken können sich entwickeln? Sache der Politik bleiben die wertgebundenen Entscheidungen: Wie viele Tote akzeptieren wir im Dienste anderer (etwa wirtschaftlicher) Interessen? Lassen wir, wie vorgeschlagen wurde, die Alten sterben, damit die Jungen feiern können? Dazu kommen politikpsychologische Erwägungen: Wie lange kann man mit der Compliance der Menschen rechnen? Wann droht soziale Anomie? Irritation über Wissenskonturen des Weltbildes: Zarte Impulse gibt es zu einem Diskurs über die Verdrängungen oder Verbiegungen des spätmodernen Weltbildes: Bekommen wir ein realitätsgerechtes Bewusstsein von der Hinfälligkeit des Menschen? Von lebensnotwendigen Bereichen unserer Versorgung? Von Wohlstands- und Sicherheitsselbstverständlichkeiten, die in Wahrheit keine sind? Reißt uns die Irritation reflexionsfreundlich aus der Routine? Glaubten wir fälschlich zu wissen, was wir nicht wissen? Wissen wir, was wir nicht wissen? Das Virus wirbelt Wissenswelten durcheinander.

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Publikationen der ÖFG Eine Auswahl N E U E R E R Band 22 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften? Herausgegeben von Christiane Spiel und Reinhard Neck. 2020, Böhlau Verlag, 165 Seiten

Der Österreichische Wissenschaftstag 2018 widmete sich dem Thema „Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften?“. Der Bindestrich im Titel signalisiert eine mehrfach offene Frage, an deren Beantwortung sich die Beiträge zum Wissenschaftstag 2018 in diesem Band annähern. Befindet sich die demokratische Staatsform in einer Krise und könnte das auch Folgen für die Wissenschaften haben? Sind die jeweiligen Gefährdungen aufeinander beziehbar? Hängen kritische Zustände in den Wissenschaften von kritischen Zuständen der Demokratie ab, oder sind Wissenschaften und Demokratie unabhängig voneinander?

Band 23 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Wissenschaft und Aberglaube. Hrsg. Christiane Spiel und Reinhard Neck. 2020, Böhlau Verlag, 176 Seiten

Die Beiträge des Österreichischen Wissenschaftstags 2019 setzten sich mit dem Thema des Aberglaubens und mit der damit verbundenen Wissenschaftsfeindlichkeit in interdisziplinärer Weise auseinander. Sie versuchen sich u. a. der Beantwortung folgender Fragen anzunähern: In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Pseudowissenschaft? Hängen Aberglaube und Überleben zusammen? Wie entsteht Aberglaube und wie wird dieser aufrechterhalten? Wo verlaufen die Grenzen der Wissenschaft?

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BÜCHER

im Umfeld der Forschungsgemeinschaft Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – Visualisierung. Hrsg. Sabine Coelsch-Foisner und Christopher Herzog. Universitätsverlag Winter. (Erscheint 12/2020)

Kritisches Handbuch der österreichischen Politik: Verfassung, Institutionen, Verwaltung, Verbände. Hrsg. Reinhard Heinisch. 2020, Böhlau Verlag, 334 Seiten

Der Band setzt die Bilderflut wissenschaftlicher Evidenzkulturen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichkeit und suggestiven Kraft von Bildern. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zusammenhänge von eikon und episteme in wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Dynamiken des Herstellens und Wahrnehmens von Bildern und deren Rolle für Wissensproduktion, -dokumentation und -transfer. Zehn Fallbeispiele aus unterschiedlichen Fachgebieten beleuchten das Spannungsfeld von Ästhetik und Epistemik. Im Lichte aktueller Anwendungen hinterfragt der Band die wechselseitige Abhängigkeit von analogen und virtuellen Bildern, die an der Schwelle zu einer Neubewertung von Taktilität im Zeichen der CoronaKrise 2020 besondere Brisanz erfährt.

Wie funktioniert das politische System in Österreich? Warum hat es in den letzten Jahren an Vertrauen eingebüßt? Antworten auf Fragen wie diese zu finden, gestaltet sich oft schwierig. Die rechtlichen Grundlagen gelten als schwer verständlich. Und viele politische Weichen werden in informellen Räumen gestellt. Das politische System gleicht einem Rätsel. „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ möchte hier Antworten geben, wissenschaftlich fundiert, aber allgemein verständlich. Es beleuchtet das Regelwerk der Bundesverfassung, die Institutionen des demokratischen Prozesses und die politischen Funktionsweisen der Verwaltung. Vor allem zeigt es Theorie und Wirklichkeit des österreichischen Parteienstaates auf und benennt Reformmöglichkeiten.

Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – Transmedialisierung. Herausgegeben von Sabine Coelsch-Foisner und Christopher Herzog. 2019, Universitätsverlag Winter, 438 Seiten

Staatliche Aufgaben, private Akteure. Band 3: Neuvermessung einer Grenze. Hrsg. Claudia Fuchs, Franz Merli, Magdalena Pöschl, Richard Sturn, Ewald Wiederin, Andreas W. Wimmer. 2019, Manz, 242 Seiten

Mit dem Begriff „transmedial“ wird der Fragebezug zwischen medialen Konfigurationen und dem, was gemeint ist, ins Blickfeld der Forschung gerückt. Digitale Technologien und weltweite Netzwerke haben ein Neudenken dieses Sinnzusammenhangs gefordert und Debatten über das transmediale Spannungsverhältnis zwischen Mediengebundenheit und Mediendurchlässigkeit um die Annahme einer radikalen Transitivität aller Inhalte und Verfahren erweitert.

Nach „Erscheinungsformen und Effekten“ (2015) und „Konzepten zur Ordnung der Vielfalt“ (2017) widmet sich der abschließende Band des Forschungsprojekts der Abgrenzung zwischen staatlicher und privater Sphäre: Inwieweit gelten für die vielen Personen und Organisationen, die außerhalb des Staates stehen, aber an der Erfüllung staatlicher Aufgaben mitwirken, die Regeln für den Staat oder die Regeln für Private?

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