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Kinder sind Konstrukteure ihres eigenen Wissens» von Michael Hunziker

«Kinder sind Konstrukteure ihres eigenen Wissens»

Fünf Velos sind eingespannt in jeweils einen Montageständer, Werkzeug liegt bereit, von draussen drückt eine Sonne, die Velowetter verspricht. Wir befinden uns aber nicht in einer Reparaturwerkstatt, sondern im ersten Stock des modernen FHNW-Campus Muttenz in einem Vorlesungsraum bei Svantje Schumann, Professorin für Sachunterrichtsdidaktik, die sich mit den Studierenden, allesamt angehende Primar-Lehrpersonen, auf den anstehenden Besuch einer Schulklasse vorbereitet.

Von Michael Hunziker (Text) und Matthias Dietiker (Fotos)

Die Gruppe diskutiert das Vorgehen für den Nachmittag, fragt sich, was didaktisch sinnvoll ist, um mit den Schüler*innen das Thema Velo zu thematisieren und zwar mit einem forschend-entdeckenden Ansatz. «Der Sachunterricht ermöglicht es Lehrpersonen gemeinsam mit der Klasse neue Horizonte zu erschliessen. Dabei kann es auch sein, dass Lehrpersonen bloss einen kleinen Wissensvorsprung haben», erklärt Schumann und rät, «die Kinder also nicht mit Arbeitsblättern zudecken, sondern sich situativ und spontan dem Gegenstand nähern». Eine Studentin fragt zurück: «Aber was machen wir, wenn wir auf die Fragen der Kinder keine Antwort wissen?» Sie spricht damit eine Grundhaltung an, die für das forschende Lehren und Lernen entscheidend ist. Die Studierenden diskutieren und kommen zum Schluss: «Vom Nicht-Wissen ausgehen.»

Forschen entspricht kindlichen Bedürfnissen

Dieser Startpunkt ist allen wissenschaftlichen Erkundungen gemein und kann auch für die Schule sehr produktiv sein: Svantje Schumann, die das Projekt «Kinder forschen an der FHNW» initiiert und nun in einer ersten Pilotdurchführung eine Schulklasse eingeladen hat, sagt: «Das Forschen entspricht den kindlichen Bedürfnissen. Dabei ist die Schule in der Pflicht, diese Neugier zu schützen und zu erhalten und nicht durch verfrühtes Systematisieren abzuklemmen.» Das pädagogische Verständnis hinter diesem Ansatz sei, vom Kleinen auf das Grosse zu schliessen, «also zuerst richtig in die Materie einzutauchen und alles Theoretische folgen lassen». Mit dieser Herangehensweise können nicht nur das Velo, sondern auch diverse Themen aus Ökologie und Technik thematisiert werden. So sieht das Projekt denn auch Workshops zu ganz unterschiedlichen Themen vor.

Mit dem forschend-entdeckendem Ansatz werden auch sogenannte Tiefenstrukturen des Lernens angesprochen. Indem eine Lehrperson im Unterricht sinnliche, originale Begegnung mit einem Gegenstand stattfinden lässt, ermöglicht sie den Schüler*innen einen qualitativen Zugang zur Materie. Wenn die Kinder dann

Mit Enthusiasmus schraubten die Schüler*innen Velos auseinander.

«Je mehr Kinder aus eigener Kraft auf Lösungen kommen, desto nachhaltiger ist der Lerneffekt.»

Svantje Schumann, Leiterin Professur Didaktik des Sachunterrichts, PH FHNW

Gemeinsam forschen: Studierende der PH dekonstruieren mit Schüler*innen Velos nach allen Regeln der Kunst.

noch eigene Fragen entwickeln, läuft der Lernprozess schon beinahe von selbst. Schumann nennt diese forschende Herangehensweise «rekonstruktionslogisch induktiv». Sobald sich Schüler*innen fragen, warum ein konkretes Ding so ist, wie es gerade ist, eröffnen sich Erkenntnismöglichkeiten und erleben die Kinder sich als selbstwirksam: «Kinder sind Konstrukteure ihres eigenen Wissens. Und je mehr sie aus eigener Kraft auf Lösungen kommen, desto nachhaltiger ist der Lerneffekt», sagt Svantje Schumann.

Laut Schumann ereignet sich das Lernen auf zwei Ebenen. Einerseits ist da das sinnliche Begreifen, das an sich schon ein Erkenntnisprozess ist, und andererseits, darauf aufbauend, das sprachlich-begriffliche Verstehen. Das Zusammenspiel dieser beiden Ebenen könnte man als «tiefes» – weil intrinsisches und daher sehr wirksames – Lernen beschreiben. Didaktisch gesehen beginnt also der Prozess mit einer originalen, sinnlichen Begegnung. Die sinnliche Erfahrung sollte dann in Worte gefasst werden – je nach Schulstufe könnte das etwa im Beschreiben der einzelnen Bauteile bestehen. Anschliessend geht es dann darum, das Zusammenspiel der Bauteile und die Funktionsweise des Gegenstandes zu erschliessen. Natürlich lässt sich nicht alles sinnlich erfahren, daher rät Schumann auch, dort wo nötig, vorab elementare Konzepte zu klären. Etwa, wenn es um Spannung und Strom geht, wo die empirischen Evidenzen nicht einfach auf der Hand liegen. Aber auch hier bestünden spätestens in der Frage nach der Anwendung genügend Beispiele aus dem Alltag, mit dem sich das Thema, wenn nicht erfahren, so doch illustrieren oder «in einen sokratischen Dialog, in ein gemeinsames Nachdenken und Fragen überführen lässt», so Schumann.

Jetzt wird geschraubt

Mittlerweile ist die Klasse der Primarschule Muttenz mit ihrer Lehrerin Egzona Xhemajlaj, ihrerseits frische PH-Absolventin, angekommen und die Schüler*innen sind bereit, die Velos buchstäblich und auch im übertragenen Sinn zu dekonstruieren: Sie dürfen die Räder in ihre Einzelteile zerlegen und dabei so vorgehen, wie sie möchten. Wer bis hierhin dachte, Veloreparieren hätte nichts mit Wissenschaft zu tun, hat entweder noch nie am Velo rumgeschraubt oder ein etwas angerostetes Wissenschaftsverständnis. Denn was nun folgt, zeigt, dass über das Objekt Velo das ganze disziplinäre Spektrum von Geistes- bis zur Naturwissenschaft thematisiert

«Mir hat gefallen, wie angstfrei und selbstbewusst die Schüler*innen vorgegangen sind.»

Egzona Xhemajlaj, Primarlehrerin

werden kann. Während die Kinder sich in Gruppen um je ein Velo versammeln und sich absprechen, wie man am einfachsten die Kette vom Rad entfernt, bilden sie Hypothesen und falsifizieren sie solange, bis etwas funktioniert. Sitzt eine Schraube fest, hilft nur ein grösserer Hebel. Es fällt auf, wie integrativ die Arbeit am Rad ist: Es herrscht eine konzentrierte Heiterkeit, alle beziehen einander ein, kein Kind steht abseits.

Studierende arbeiten wissenschaftlich

Die Studierenden der PH assistieren, wo nötig, geben kleine Anregungen, etwa, dass auch eine abgeschraubte Klingel noch weiter zerlegt werden kann und sie beobachten gleichzeitig die sozialen Dynamiken, die im Zusammenspiel unter den Schüler*innen entstehen. Ein paar Studierende filmen einzelne Sequenzen, um später verschiedene Interaktionsformen zwischen den Schüler*innen und den Beteiligten genauer zu analysieren. «Es bestehen teilweise deutliche Unterschiede zwischen den Schüler*innen. Einige haben noch nie an einem Rad herumgebastelt, während andere bereits ein sehr differenziertes und spezifisches Vokabular mitbringen, was ein Hinweis auf ihre sozialen Hintergründe sein könnte», sagt Michèle Steck, die im 6. Semester studiert und bereits in einem kleinen Pensum als Lehrerin arbeitet. Wissenschaftlich sei die Videoanalyse interessant und die Erkenntnisse auch im Lehrberuf relevant: «Mir hilft dieses Setting, mal in die Sicht der Kinder einzutauchen, um verstehen zu können, was zwischen und in ihnen abläuft.» Michèle Steck kann es sich vorstellen, ein paar Jahre nach ihrem PH-Abschluss weiter zu studieren, etwa noch einen Master in Sonderpädagogik oder Educational Sciences zu absolvieren. «Ich möchte beides, Wissenschaft und Praxis, miteinander verbinden.»

Auf Augenhöhe

Ihrem Kollegen Michael Roschi, der im 3. Semester studiert, gefällt dieses Unterrichtskonzept, das stark auf die praktische Auseinandersetzung fokussiert: «Ich könnte mir gut vorstellen, später mit meinen Klassen den Sachunterricht auch so zu gestalten. Als Lehrperson transparent und authentisch mit dem eigenen Wissensstand umgehen, das kann die Kinder ja auch zusätzlich motivieren – wenn sie merken, der Lehrer geht mit uns auf Augenhöhe und mit demselben Interesse an die Sache heran.»

Die Velos wieder zusammenzuschrauben, dafür hat die Zeit für die Schüler*innen nicht mehr gereicht. Die Einzelteile wird der Velomechaniker abholen, der die Räder der Pädagogischen Hochschule FHNW freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Gemäss der Lehrerin Egzona Xhemajlaj wird das Thema Velo die Klasse aber schon noch etwas beschäftigen: «Wir werden uns musisch und kreativ weiter damit auseinandersetzen. Mir hat gefallen, wie angstfrei und selbstbewusst die Schüler*innen vorgegangen sind.» Sie ist überzeugt, dass die Kinder viel von diesem Nachmittag mitnehmen und hofft, dass sie wieder an den PH-Workshops mit ihrer Klasse teilnehmen kann.

Michael Hunziker ist freier Journalist

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