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Unser Wohnen im Wandel
Andrea Sterchi
Mehrgenerationenhaus, Cluster-WG, Single-Haushalt: Gesellschaftliche Veränderungen und Normen prägen unser Wohnen. Neue Formen entstehen, bekannte wandeln sich und müssen künftigen Herausforderungen begegnen. Wir mögen unser Wohnen individuell gestalten, nach wie vor dominiert aber ein bürgerliches Verständnis unsere Vorstellung.
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Zuhause – das geht für uns einher mit einer Vorstellung von Privatheit und Individualität. Das Wohnen hat sich, zumindest in unserem Kulturkreis, als ein privates Phänomen etabliert. Obwohl wir heute mehr Wahlmöglichkeiten haben, halten wir alltagssprachlich an einem bürgerlichen Wohnverständnis fest. Nähert man sich dem Wohnen allerdings aus sozialwissenschaftlicher Sicht an, dann greift diese ideologische Alltagsvorstellung zu kurz. «Wohn-Räume sind mehr als die physische Abgrenzung, mehr als Zimmer oder Wohnungen. Sie sind Effekte sozialer Praktiken und werden produziert und reproduziert. Es sind gesellschaftliche Räume, weil sie von gesellschaftlichen Verhältnissen und Normen geprägt sind», sagt Miriam Meuth, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Räume. Wohn-Räume seien deshalb nicht fix, sondern vor dem Hintergrund gefestigter Strukturen veränder- und verhandelbar. Als Beispiel nennt sie das begleitete Wohnen in einer Institution für Menschen mit Beeinträchtigung. «Wer prägt hier die Wohn-Räume? Einerseits sind das die Bewohnenden und Fachpersonen, andererseits sind auch die ausgehängte Hausordnung, die Einkaufsplanung oder das Eintrittsformular Teile der Wohn-Räume.»
Fünf Dimensionen des Wohnens
Miriam Meuth unterscheidet analytisch verschiedene Aspekte des Wohnens, die sie abstrakteren Dimensionen zuordnet. Da ist als Erstes die physisch-materielle Dimension, wozu sie die bauliche Struktur, den Grundriss und die Ausstattung des Ortes zählt. Bei der sozial-strukturellen Dimension geht es um die Haushaltsstruktur, um Zugang zu Infrastruktur oder die rechtliche Regelung eines Wohnverhältnisses, aber auch darum, wie die Arbeit im Haushalt und die Erziehungsarbeit aufgeteilt werden. Auf der Handlungsdimension verortet Miriam Meuth z. B. den Wohnalltag, also Routinen, Interaktionen oder die Raumaneignung, die stattfinden. Die emotional-kognitive Dimension ihrerseits umfasst die Vorstellungen, Gefühle und Erinnerungen, die einen Ort – auch in unseren Köpfen – zu einem Zuhause werden lassen. Diese vier Dimensionen werden von Miriam Meuth zusammen gedacht. Quer dazu liegt die kulturgeschichtlich-gesellschaftliche Dimension. Hier geht es darum, welche Funktionen und Ideen des Wohnens sich kulturgeschichtlich etabliert haben. Und: Welche Erwartungen haben wir, wer mit wem wohnen soll? Welche Wohnform gilt als normal, welche als besonders?
Mehr Lebens- und Wohnstile
Das Unterscheiden der fünf Dimensionen macht deutlich, wie komplex und gesellschaftlich geprägt das Wohnen ist. «Entstehen neue Wohnformen, hat das immer auch mit einem gesellschaftlichen Wertewandel zu tun», sagt Nicola Hilti, Dozentin am Institut für Soziale Arbeit und Räume. Dabei gehe es weniger um einen grundlegenden Wandel der Lebensund Wohnformen, sondern vielmehr um deren Ausdifferenzierung. «Viele Menschen, aber natürlich nicht alle, haben heute die Möglichkeit, ihre Lebens- und Wohnform selbstbestimmter zu wählen und zu gestalten als frühere Generationen. Allerdings hat es auch früher eine grössere Anzahl verschiedener Wohnformen gegeben», sagt Nicola Hilti. Nach dem Zweiten
«WOHN-RÄUME SIND EFFEKTE SOZIALER PRAKTIKEN UND SIND DAHER VERHANDELBAR UND VERÄNDERBAR.»
Weltkrieg hätten sich diese auf die «Normalfamilie mit zwei Kindern» verengt. Erst in den 1970er-Jahren brach diese Form mit dem Aufkommen von Wohngemeinschaften wieder auf.
Individualisierung und Telearbeit
Wie beeinflussen gesellschaftliche Veränderungen unser Wohnen? Zum Beispiel steigt der Anteil der Einpersonenhaushalte als Folge der Individualisierung. In der Schweiz leben 16% (Stand 2017) der ständigen Wohnbevölkerung alleine in einer Wohnung. In vielen Städten machen die Single-Haushalte 40% oder mehr aus, 2030 sollen es gemäss Prognosen 57% sein. Folgen hat auch die Migration. Die Schweizer Städte und Ballungsgebiete wachsen wegen der Land-Stadt-Migration und der Zuwanderung. 85% der Schweizer Bevölkerung leben in den Städten und den Agglomerationen. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach mehr Wohnfläche. Die Arbeitswelt verändert sich ebenfalls. «Wohnen und Arbeiten fallen mit der Telearbeit wieder mehr zusammen. Nur haben sich im Vergleich zu früher, als unter einem Dach gelebt und gewirtschaftet worden ist, die Bedingungen geändert», sagt Nicola Hilti. Auch der Gedanke der «Shared Economy» wirkt sich aus. Es gibt flexibel zumietbare Zimmer, man teilt sich Hobbyräume und Parkplätze oder leiht sich in der Nachbarschaft gegenseitig Dinge aus.
Cluster-WG, multilokales Wohnen
Mit der Gesellschaft verändern sich auch die Wohnformen. Gemeinschaftliches Wohnen ist wieder ein Thema, zum Beispiel in Alterssiedlungen oder Cluster-Wohnungen. Letztere sind Wohngemeinschaften, in denen zirka acht bis zehn Personen wohnen, wobei jede Person oder auch Paare und Familien ihre Wohneinheit haben und zusätzlich Gemeinschaftsräume nutzen. «Heute hat der Rückzug eine grössere Bedeutung. Zudem geht man das gemeinschaftliche Wohnen freiwillig ein, anders als früher, als die Grossfamilie unter einem Dach gelebt hat», sagt Nicola Hilti. Eine weitere interessante Wohnform mit historischen Vorläufern ist das multilokale Wohnen, das Wohnen an mehreren Orten. In der Schweiz nutzen gemäss einer Studie von 2015 rund 28% der Bevölkerung mehrere Wohnsitze. Insgesamt hat mehr als die Hälfte Erfahrung mit dieser Wohnform, sei es aus beruflichen, familiären oder freizeitbezogenen Gründen.
Angespannte Wohnungsmärkte
Im Wohnen kommen auch soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse, gesellschaftliche Spaltung und die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts zum Ausdruck. In Bezug auf das Alter sind etwa die Vereinsamung und die Diskriminierung älterer Menschen auf dem Wohnungsmarkt akute Probleme. Weiter ist Wohnen für viele Menschen nicht mehr so einfach leistbar. Durch die bauliche Aufwertung von Quartieren kommt es zur Verdrängung sozio-ökonomisch schlechter gestellter Haushalte. Das Wohnen hat sich verändert und wird sich weiter ändern, der Wandel ist aber letztlich nicht willkürlich und total.