substanz FHS St.Gallen - Nr.2/2019

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Brennpunkt – Raum

Unser Wohnen im Wandel

Andrea Sterchi

M

ehrgenerationenhaus, Cluster-WG, Single-Haushalt: Gesellschaftliche Ver­änderungen und Normen prägen unser Wohnen. Neue Formen entstehen, bekannte wandeln sich und müssen künftigen Herausforderungen begegnen. Wir mögen unser Wohnen individuell gestalten, nach wie vor dominiert aber ein bürgerliches Verständnis ­unsere Vorstellung.

sagt Miriam Meuth, wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Räume. Wohn-Räume seien deshalb nicht fix, sondern vor dem Hintergrund gefestigter Strukturen veränder- und verhandelbar. Als Beispiel nennt sie das begleitete Wohnen in einer Institution für Men­ schen mit Beeinträchtigung. «Wer prägt hier die Wohn-Räume? Einer­ seits sind das die Bewohnenden und Fachpersonen, andererseits sind auch die ausgehängte Hausordnung, die Einkaufsplanung oder das Eintritts­ formular Teile der Wohn-Räume.»

Fünf Dimensionen des Wohnens Zuhause – das geht für uns einher mit einer Vorstellung von Privatheit und Individualität. Das Wohnen hat sich, zumindest in unserem Kulturkreis, als ein privates Phänomen etabliert. Obwohl wir heute mehr Wahlmög­ lichkeiten haben, halten wir alltags­ sprachlich an einem bürgerlichen Wohnverständnis fest. Nähert man sich dem Wohnen allerdings aus so­ zialwissenschaftlicher Sicht an, dann greift diese ideologische Alltagsvor­ stellung zu kurz. «Wohn-Räume sind mehr als die physische Abgrenzung, mehr als Zimmer oder Wohnungen. Sie sind Effekte sozialer Praktiken und werden produziert und reprodu­ ziert. Es sind gesellschaftliche Räume, weil sie von gesellschaftlichen Verhält­ nissen und Normen geprägt sind»,

Miriam Meuth unterscheidet analy­ tisch verschiedene Aspekte des Woh­ nens, die sie abstrakteren Dimensi­ onen zuordnet. Da ist als Erstes die physisch-materielle Dimension, wozu sie die bauliche Struktur, den Grund­ riss und die Ausstattung des Ortes zählt. Bei der sozial-strukturellen Di­ mension geht es um die Haushalts­ struktur, um Zugang zu Infrastruk­ tur oder die rechtliche Regelung eines Wohnverhältnisses, aber auch darum, wie die Arbeit im Haushalt und die Erziehungsarbeit aufgeteilt werden. Auf der Handlungsdimension veror­ tet Miriam Meuth z. B. den Wohnall­ tag, also Routinen, Interaktionen oder die Raumaneignung, die stattfinden. Die emotional-kognitive Dimension

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ihrerseits umfasst die Vorstellungen, Gefühle und Erinnerungen, die einen Ort – auch in unseren Köpfen – zu ­einem Zuhause werden lassen. Diese vier Dimensionen werden von Miriam Meuth zusammen gedacht. Quer dazu liegt die kulturgeschicht­ lich-gesellschaftliche Dimension. Hier geht es darum, welche Funktionen und Ideen des Wohnens sich kulturge­ schichtlich etabliert haben. Und: Wel­ che Erwartungen haben wir, wer mit wem wohnen soll? Welche Wohnform gilt als normal, welche als besonders?

Mehr Lebens- und Wohnstile Das Unterscheiden der fünf Dimensio­ nen macht deutlich, wie komplex und gesellschaftlich geprägt das Wohnen ist. «Entstehen neue Wohnformen, hat das immer auch mit e­ inem gesell­ schaftlichen Wertewandel zu tun», sagt Nicola Hilti, Dozentin am In­ stitut für Soziale Arbeit und Räume. Dabei gehe es weniger um ­ einen grundlegenden Wandel der L ­ ebensund Wohnformen, sondern vielmehr um deren Ausdifferenzierung. «Viele Menschen, aber natürlich nicht alle, haben heute die Möglichkeit, ihre Le­ bens- und Wohnform selbstbestimm­ ter zu wählen und zu gestalten als frü­ here Generationen. Allerdings hat es auch früher eine grössere Anzahl ver­ schiedener Wohnformen gegeben», sagt Nicola Hilti. Nach dem Zweiten


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