substanz FHS St.Gallen - Nr.2/2019

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substanz FHS St.Gallen – Nr. 2 /2019

Brennpunkt

Raum

Eine Annäherung über vier Wände hinaus Freiraum für den Kopf Loslegen ohne Plan schafft Raum für Visionen Hört den Kindern zu! Wie setzt die Schweiz die Kinderrechte um? Mit Hightech Brokkoli ernten Wenn die Technik weiss, wann das Gemüse reif ist Stets in Bewegung Zu Besuch bei Alumnus Jonas Hubmann


FHO Fa chhoch schule Ostsch weiz

Noch nicht genug? Mehr Lesestoff online. www.fhsg.ch/substanz


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser Ein Rätsel zu Beginn: Was ist es, das an sich selbst nichts ist und nur durch seine eigenen Grenzen etwas wird? Es ist der Raum: Der Raum ist a priori eine Leere, die sich zwischen den sie begrenzenden Objek­ ten, Wänden oder Fassaden aufspannt. Denken wir zum Beispiel an die metaphysischen Stadtlandschaften eines Giorgio De Chirico, so verstehen wir, dass Raum zuerst einmal Platz und Weite, ein «­Dazwischen» ist. Erst wenn Raum zwischen Objekten gefasst ist, entsteht seine Form, seine Kontur, zeigt er ein Innen und Aussen, vermittelt er Perspektiven und Orien­ tierung und gibt sich als nutzbarer Raum zu erkennen. Erst wenn der Raum genutzt wird, erhält er durch die Art der Nutzung, die Weise, wie Menschen sich in ihm aufhalten, einander begegnen, miteinander zu tun haben, seine Bedeutung. Dann entstehen Aufent­ haltsräume, Arbeitsräume, Wohnräume, Erholungs­ räume und Lebensräume. Dann geben die Menschen dem Raum einen Zweck und eine Deutung. Wir alle kennen solche Räume, in denen uns wohl ist und die uns etwas bedeuten. Zu diesen Räumen sollten wir Sorge tragen. Aktuell beobachte ich ein Raumverständnis, welches von immer engeren Grenzen bestimmt wird. Räume, die zunehmend unterteilt werden, in Sektoren und Regionen aufgespaltet, und wo diese zueinander in Kon­kurrenz gesetzt werden. Regionalpolitik und Standortwettbewerb nennt man das, und es führt oft zu Ter­ritorialität und räumlicher Abschottung. Das ist meist nicht nur kleinräumig gedacht, es führt auch zu ei­ner Horizontverengung jener, die dies hinnehmen. Offenheit, Weltläufigkeit und grenzüberschreitendes Denken wären demgegenüber heute wichtiger denn je. Und damit kommen wir zum wesentlichen Punkt: Räume entstehen zuerst in unserem Kopf. Es sind Denk­ räume. Weites Denken schafft weite und neue Möglich­ keitsräume. Genutzte Möglichkeitsräume schaffen Freiräume. Ist das nicht das, wonach wir spätestens seit der Zeit der Aufklärung streben (sollten)? Hier fühlen wir uns als Bildungsinstitution einem gesellschaft­ lichen Beitrag verpflichtet, indem wir nicht nur Lern­ räume gestalten, sondern Denkräume in den «Dach­ stuben der Menschen» öffnen, altes Mobiliar, welches

Prof. Dr. Sebastian Wörwag, Rektor FHS St.Gallen

das Denken verstellt, herausräumen und richtig durch­ lüften, damit neue Denkräume entstehen, neue Erkenntnisse und nicht nur kleinräumig nutzengetrie­ benes Wissen. Auch zu diesen Räumen sollten wir Sorge tragen und nicht das Denken an allzu Einfaches und Naheliegendes heften. Das führt uns zurück zu De Chirico mit seinen Zwi­ schenräumen. In diesem «Dazwischen», zwischen Erfahrung und Erwartung, zwischen Fantasie und Rea­ lität, zwischen Kunst und Vorstellung, da sind die eigentlichen Freiräume angesiedelt. Haben wir also den Mut, in diesen Zwischenräumen nach vorne weit und nicht rückwärtsgerichtet eng zu denken. Schaffen wir neue Möglichkeits- und Freiräume. Das vorliegende «substanz» widmet sich schwerpunkt­ mässig diesen Räumen: sozialen und architektonischen Räumen, Wohnräumen, Jugendräumen, Leerräumen und eben Freiräumen. Ich wünsche Ihnen heute und in Zukunft viel Raum zum Lesen und Denken.

Sebastian Wörwag, Rektor


Wir sind Zukunfts-Macher. Wer bist du? Bachelor in Architektur | Betriebsรถkonomie Pflege | Sozialer Arbeit | Wirtschaftsinformatik Wirtschaftsingenieurwesen www.werbistdu.ch

FHO Fachhochschule Ostschweiz


Inhalt

06 Einblicke News der FHS St.Gallen

40 Netzwerk Getroffen im «Gleis 8»

08 Brennpunkt Raum

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Zeit für Raum: über die Grenzen von Mauern Eine Annäherung an den Begriff Raum im Gespräch mit Sozialgeograf Christian Reutlinger

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Raum entwerfen Was macht einen guten Raum aus? – ein Essay aus Sicht des Städtebaus und der Raumplanung

Interview mit Kindesschutzexpertin Regula Flisch über 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention

44 Erkenntnis Neues aus Forschung und Dienstleistung, Studium und Weiterbildung

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Unser Wohnen im Wandel Wie gesellschaftliche Normen und Veränderungen unsere Vorstellung von Wohnen prägen

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«Oft ist nur das Trottoir öffentlicher Platz» Wie Gemeinden ihre Lebens- und Wohnräume weiterentwickeln können

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Per Messenger-App die Innenstadt beleben Eine neue App soll gegen das «Lädelisterben» wirken und den St.Galler Stadtraum verändern

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Wie Kreativräume weite Kreise ziehen Bei der Kreativität spielt der Raum eine Schlüsselrolle

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Ideen und Visionen vom Waldrand Freiräume für Innovationen schaffen

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Digital Natives verändern die Freiwilligenarbeit In der Nachwuchsförderung sind neue Ideen gefragt

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Jedes zweite Unternehmen hilft beim Stressabbau Betriebliche Gesundheitsförderung in der Ostschweiz

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Wann sich die Ernte von Brokkoli lohnt Neue Schlüsseltechnologien für die Landwirtschaft

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Alltagskunst, Blockchain und Freundschaften Neue Buchpublikationen der FHS St.Gallen

52 Persönlich Zu Besuch bei Jonas Hubmann

56 Ausblick Veranstaltungskalender 57 Impressum

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Die Welt retten dank virtueller Realität Welchen Mehrwert bringt ein virtueller Raum?

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Von der «Wühlkiste» bis zum Szeneclub Jugendräume wandeln sich stetig

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Die Arbeitswelt freiräumen Wie Freiräume für Mitarbeitende gewinnbringend genutzt werden können

58 Schlusspunkt Kolumne Ludwig Hasler

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Einblicke – News

RAUM FÜR ZUKUNFT Seit dem 29. Oktober hat St.Gallen ein Zukunftsbüro – und damit eine Anlaufstelle für Interessierte, um Ideen und Visionen aller Art zu konkretisieren. Das Angebot des Zukunftsbüros im Lattich Quartier richtet sich an Personen, die Neues ausprobieren wollen und Hilfe beim Ordnen der Ideen suchen. Egal, ob Fragen zu Geschäftsmodellen, Unternehmensstrukturen oder Politik – das Ziel der Zukunftsmachenden ist, andere zu befähigen, die eigene Zukunft zu gestalten. Dies, indem sie in Sprechstunden zuhören, beraten, mental unterstützen und ihr Wissen weitergeben. Zusätzlich dazu bieten die Zukunftsmachenden des Instituts für Innovation, Design und Engineering der FHS St.Gallen in Zusammenarbeit mit Niki Wiese und Florian Wieser, den Initianten der Zukunftsbüros, kostenlose Workshops und Impulsreferate zu Themen wie etwa Gamification oder Künstliche Intelligenz an. Infos unter www.zukunftsbuero.ch/stgallen. (hej)

VERSORGUNGSFORSCHUNGSPREIS GEHT AN DIE FHS Im Sommer wurde der zweite Zürcher Versorgungsforschungspreis verliehen. Zusammen mit den Spitexorganisationen der Stadt Zürich holte sich die FHS St.Gallen den ersten Rang und damit 30 000 Franken. Die Jury hat das Projekt «Palliative­ Care-Phasen bei Klientinnen und Klienten mit onkolo­gischen Erkrankungen im ­Setting Spitex» zum Sieger erkoren. Seitens der FHS w ­ aren die Pflegewissenschaft­ lerinnen Andrea Kobleder und Eleonore ­Arrer verantwortlich. Das Projekt zielt auf eine Verbesserung der Palliativversorgung von krebskranken Spitexpatientinnen und -patienten. Die Jury würdigte vor allem die grosse Bedeutung der Fragestellung und das Potenzial des vorgeschlagenen Phasenansatzes für eine effiziente Palliativversorgung von Krebspatienten, die vorbildliche Konzipierung des Forschungsprojektes sowie dessen Interdisziplinarität. (hob)

DIGITALISIERUNG: EINE FRAGE DES ALTERS? Ein interdisziplinäres Forscherinnenteam der Fachhochschule St.Gallen hat die (vermeintliche) digitale Kluft in Unternehmen unter die Lupe genommen. Existiert sie tatsächlich oder ist sie ein Vorurteil? Die Forscherinnen haben herausgefunden, dass älteren Menschen aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters weniger Kompetenz zugesprochen wird. Zu Unrecht. Sie brauchen vielleicht einen Moment länger, um sich Wissen und Kompetenzen anzueignen als ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen, sie sind aber durchaus bereit und in der Lage, die digitale Transformation zu bewältigen. Wie die digitale Transformation in Unternehmen für alle gelingen kann: www.fhsg.ch/digitalekluft. (zuc)

Digitale Kluft: Vorurteil oder Realität? (Foto: Debora Giammusso)

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Einblicke – News

EIN VOLLER ERFOLG Harte Arbeit wird belohnt: 540 Studierende der FHS meisterten 2019 ihre Abschlussprüfungen mit Bravour. Der Fachbereich Wirtschaft verzeichnete 111 Bachelor- sowie 42 Master-Abschlüsse, wobei 9 Master-­Diplome in Wirtschaftsinformatik und 33 Master-Diplome in Business Administration überreicht wurden. 27 Wirtschaftsingenieurinnen und -ingenieure – darunter ein Master-Absolvent – nahmen ihr Diplom im Fachbereich Bau und Technik entgegen. Die Soziale Arbeit gratulierte zu 174 Bachelor- und 10 Master-Abschlüssen, der Fachbereich Gesundheit überreichte 64 Bachelor- und 12 Master-Diplome. Die Diplomübergabe des Weiterbildungszentrums steht noch aus: Diplomiert werden am 6. und 12. Dezember voraussichtlich 100 Studierende. (hej)

Der langersehnte Moment: 88 Absolventinnen und Absolventen des Fachbereichs Soziale Arbeit nahmen diesen Herbst ihr Diplom entgegen. (Foto: Donato Caspari)

ERSTE DEPARTEMENTSLEITUNGEN DER OST GEWÄHLT Die Ost – Ostschweizer Fachhochschule gliedert sich in sechs Departemente. Im Oktober wählte die designierte Trägerkonferenz die Leitungen der ersten drei Departemente. Margit Mönnecke, derzeit Rektorin der HSR Rapperswil, wird dem Departement «Architektur, Bau- und Planungswesen» vorstehen. Das Departement «Gesundheit» wird Birgit Vosseler leiten, derzeit Fachbereichsleiterin Gesundheit und Prorektorin der FHS St.Gallen. Lothar Ritter, aktuell Rektor der NTB Buchs, wird das Departement «Technik» führen.

Die Leitungen der anderen Departemente waren bis Redaktionsschluss nicht bekannt, genausowenig wie der Ausgang der

Anfang Oktober wurde das neue Logo der Ost – Ostschweizer Fachhochschule enthüllt.

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Volksabstimmung zur Fusion im Kanton St.Gallen. Margit Mönnecke und Lothar Ritter amten zugleich als Standortleitende in Rapperswil resp. Buchs. Die Standortleitung in St.Gallen bestimmt die Trägerkonferenz aus dem Kreis der Departements­ leitungen «Gesundheit», «Soziale Arbeit» und «­Wirtschaft». Verwaltungsdirektor der Ost wird Carlo Höhener, heute Verwaltungsdirektor und Mitglied der Hochschulleitung der FHS. Mehr dazu: www.fhsg.ch/news. (sxa)


Brennpunkt – Raum

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Brennpunkt – Raum

ArbeitsRaum, WohnRaum, KreativRaum, JugendRaum, FreiRaum – seine Bedeutung erhält der Raum erst dadurch, wie wir ihn nutzen. Mit unse­rem Denken und Handeln stecken wir die Kon­turen, Grenzen und Dimensionen ab. In diesem «Brennpunkt» spürt die Redaktion Räumen und ihren Eigenheiten nach. Wie ein Raum ist, bestimmt letztlich auch unsere Wahrnehmung. Der St.Galler Fotograf Sebastian ­Stadler spielt mit eben dieser Wahrnehmung, indem er Details des Raumes künstlerisch in Szene setzt. Mit s­ einer B ­ ilderstrecke öffnet er wiederum neue Räume mit neuen Per­ spektiven. Weitere Fotografien des Künstlers erscheinen anfangs 2020 in der Buch­publi­kation «Kunst + Bau » mit Fokus auf das ­Zusammenspiel zwischen Architektur und Kunst im Fachhoch­ schulzentrum. Mehr dazu: www.fhsg.ch/substanz

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Brennpunkt – Raum

Zeit für Raum:

über die Grenzen von ­Mauern Claudia Züger

W

ir reden so oft über Räume wie noch selten. Derzeit scheint alles Raum zu sein, zu brauchen und zu haben. Raum schafft Platz und grenzt gleichzeitig ab. Aber was genau meinen wir, wenn wir «Raum» sagen? Und wie hat sich unser Verständnis dessen über die Jahre verändert? Ein Gespräch mit ­Christian Reutlinger, Leiter des Instituts für Soziale Arbeit und Räume, über ein neues altes Phänomen. Herr Reutlinger, in welchen Räumen halten Sie sich am liebsten auf? Christian Reutlinger: In Räumen, in denen ich meine Bedürfnisse situa­ tiv leben kann: Möchte ich Menschen treffen, sollten die Räume anders be­ schaffen sein, als wenn ich in Ruhe ein gutes Buch lese oder einen Text schreibe. Generell fühle ich mich in gestaltbaren, individualisierbaren und flexiblen Räumen am wohlsten.

Also macht Gestaltbarkeit einen guten Raum aus? Reutlinger: An allgemeingültige Kri­ terien für die Bewertung eines Raums glaube ich nicht. Dafür sind die Sicht­

weisen und Bedürfnisse der Menschen zu vielfältig. Ausserdem müssten wir zuerst klären, was genau wir meinen, wenn wir «Raum» sagen.

Dann frage ich Sie: Wie definieren Sie «Raum»? Reutlinger: Meines Erachtens gibt es keine Definition mit Gültigkeits­ anspruch, sondern vielmehr unter­ schiedliche Antworten auf vielfältige raumrelevante Fragen. Derzeit wird so oft über Räume geredet wie noch sel­ ten. Entfaltungsräume, Möglichkeits­ räume, Beteiligungsräume, Integra­ tionsräume, Kinder- und Altersräume, Sozialräume, öffentliche Räume – Raumbegriffe sind allgegenwärtig. In der Alltagssprache scheinen soziale und politische Phänomene, die sich wandeln, mit «Räumen» beschreibbar zu werden. Um den Überblick nicht zu verlieren und alles zum Raum wer­ den zu lassen, ist es also wichtig, zu sa­ gen, was wir mit dem Begriff eigent­ lich meinen. Als Sozialgeograf finde ich dieses «Räumeln im Alltag», die

­mnipräsenz des Raumes, inso­ O fern hoch spannend, als dass ich das Thema längst überwunden glaubte.

Was meinen Sie konkret mit der Überwindung des Raums? Reutlinger: Der Abbau von Grenzen und die damit verbundene Abkehr eines Denkens in kleinen Einheiten erreichte mit dem Ende des Kalten Kriegs in den 1990er-Jahren seinen Höhepunkt. Technologische und so­ ziale Errungenschaften ermöglich­ ten den Menschen, sich im gleichen Raum zu bewegen, ohne am selben Ort zu sein, mit Menschen zu kom­ munizieren, ohne sich gegenüberzu­ stehen. Die vormals enge Verschrän­ kung von Räumen mit bestimmten, auf dem Globus durch geografische Länge und Breite festgelegten Orten, wurde aufgelöst oder «entankert», wie es in der Fachsprache heisst.

Leben wir also in einer «entankerten» Welt, in der sich die Räume aufgelöst haben?

«DIE KOMPLEXITÄT HEUTIGER SOZIALER HERAUSFORDERUNGEN LÄSST SICH KAUM MIT DEM RÜCKZUG INS LOKALE LÖSEN.»

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Brennpunkt – Raum

Reutlinger: Nein. Parallel zu entan­ kernden Prozessen, angetrieben durch Globalisierung und Digita­lisierung, steigt angesichts der erhöhten Kom­ plexität unserer Welt das Bedürfnis der Menschen, im Alltag wieder Über­ sicht, Ordnung und Sicherheit zu er­ langen. Zeichen hierfür sind beispiels­ weise der wahrnehmbare Gegentrend zum Grenzabbau, neue Regionalis­ men und das Erstarken des Lokalen.

Wo genau stellen Sie diese Gegentrends fest? Reutlinger: Im politischen Diskurs er­ langen physische Grenzen eine neu­ erliche Wertigkeit. Selten wurden so viele Mauern und Grenzzäune gebaut wie heute. Weltweit. Damit stellen sich wieder Fragen nach Zugehörigkeit. Danach, wer oder was «wir» sind und wer oder was «die anderen». Mit dem Hochziehen einer Mauer werden diese sozialen Fragen in eine bestimmte Richtung, mit einem Sich-Abgrenzen und Sich-Abschotten, beantwortet. Man sehnt sich nach abgeschlossenen, sicheren Einheiten. Dieses Denken hinterlegt ein Verständnis von Räu­ men als überschaubare dreidimensio­ nale Kammern. Das lässt sich auch in anderen Gesellschaftsbereichen, bei denen es um das Zusammen­leben geht, beobachten. Das gute kleinräu­ mige Soziale, wie zum Beispiel die Nachbarschaft, das Quartier, werden als Allheilmittel für alle möglichen

Dinge gesehen: Vereinsamte alte Men­ schen, unbeaufsichtigte Kinder oder sich zu integrierende Menschen mit Fluchterfahrung – für sie alle soll der Nahraum eine Antwort bieten.

Sie scheinen skeptisch. Reutlinger: Obwohl ich das Bedürfnis nach Übersicht nachvollziehen kann, ist das Bild des guten Nahraums für mich zu sozialromantisch. Das dahin­ ter liegende Raumverständnis kommt an seine Grenzen, wenn man betrach­ tet, unter welchen globalen und digi­ talen Einflüssen wir heute leben und wie fliessend die Prozesse sind. Eine sozial-integrative Gesellschaft, die al­ len Menschen Zugänge zu verschie­ denen Ebenen ermöglicht, ist meines Erachtens weit mehr als eine Anein­ anderreihung von einzelnen Raum­ kammern. Deshalb warne ich vor zu einfachem Denken. Die Komplexität heutiger sozialer Herausforderungen lässt sich kaum mit dem Rückzug ins Lokale lösen.

Welche alternativen Lösungen schlagen Sie vor? Reutlinger: Man sollte die ­Menschen unterstützen, indem man ihnen Denkund Handlungsalternativen anbietet, sowohl für den Alltag als auch im pro­ fessionellen Handeln. Das versuchen wir als Institut für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS, indem wir die Grundlagen dafür schaffen, die Welt

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Prof. Dr. phil. habil Christian Reutlinger Institutsleiter IFSAR-FHS Christian Reutlinger ist Sozialgeograf und Erziehungswissenschaftler. Er leitet das Institut für Soziale Arbeit und Räume an der FHS St.Gal­len. Seine Arbeits- und Forschungsthemen sind «Soziale Nachbarschaften und Wohnen», «Soziale Arbeit im öffentlichen Raum» sowie «Sozialgeografien der Kinder und Jugendlichen».

nicht bipolar in Gut und Böse, Innen oder Aussen zu denken, sondern den dazwischen liegenden Graubereich bewältigbar zu machen.

Wie gelingt das? Reutlinger: Es braucht die Offenheit, Unterschiede überhaupt ­ zuzulassen und unterschiedliche Optionen auch situativ auszuhandeln. Als Sozialwis­ senschaftlerinnen und ­-wissenschaftler


Brennpunkt – Raum

haben wir die Aufgabe, die M ­ enschen dabei zu unterstützen, einander bes­ ser zu verstehen. Wir müssen dazu viel nachfragen, aber auch zwischen For­ mulierungen und Vorstellungen über­ setzen. Gerade wenn wir von Räumen sprechen. Unterstützend sind hierfür konzeptionelle Denkmodelle. Wir am IFSAR-FHS arbeiten seit mehr als zehn Jahren mit dem «St.Galler Mo­ dell» zur Gestaltung des Sozialraums. Dieses hat sich gut etabliert und zeigt auf, dass es unterschiedliche professio­ nelle Gestaltungszugänge zu Sozialen Räumen gibt, nämlich über die Struk­ tur, über Orte und über Menschen. Durch das Handeln und Mit­einander unterschiedlichster Akteurinnen und ­Akteure entstehen Räume erst und beeinflussen wiederum zukünftiges ­Handeln.

Wo und wie wenden Sie das Modell an? Reutlinger: Die Denkfigur unterstützt uns, gemeinsam im Gespräch mit Auftraggebenden, mit Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen und mit Studierenden herauszufin­ den, wie das Gegenüber die Zusam­ menhänge von Strukturen, Orten und Menschen versteht und letzt­ lich, wie er oder sie den Raum denkt und ihn professionell zu gestalten ver­ sucht. Durch die Denkfigur wird die­ ser Austausch möglich, unterschied­ liche Zugänge werden sichtbar, was

gerade für eine interdis­ ziplinäre Fachhochschule wie die FHS St.Gal­ len essenziell ist.

Und bei Ihnen im Institut steht der Mensch im Zentrum? Reutlinger: Uns als IFSAR-FHS zeichnet das Wissen darüber aus, wie Menschen durch ihre Handlungen alltäglich Räume herstellen und repro­ duzieren – wie sie bei der Aneignung und Gestaltung von Welt professionell unterstützt werden können, mit dem Ziel, in belastenden Situationen hand­ lungsfähig zu bleiben.

Kommt daher auch die Umbe­ nennung des Instituts, das vor ei­nem Jahr noch IFSA «Institut für Soziale Arbeit» hiess? Das R für Räume kam dieses Jahr dazu. Reutlinger: Das zusätzliche R für Räume trägt dem beschriebenen Schwerpunkt Rechnung. Das geriet mit dem IFSA zu wenig in den Blick. Mit dem Zusatz «Räume» wollten wir hervorheben, dass wir einen Spezial­ blick haben, einen sozialräumlichen Blick auf aktuelle soziale Fragestel­ lungen. Quer zu unseren vier Schwer­ punkten «Wohnen und Nachbar­ schaften», «Öffentliches Leben und Teilhabe», «Aufwachsen und Bildung» sowie «Integration und Arbeit».

Wohin wird sich das Thema Raum weiterentwickeln? Welche

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Vorstellung haben Sie vom Raum der Zukunft? Reutlinger: Ein Menschenleben-­ Horizont war früher stark an einen Ort und eine lokale Gemeinschaft ge­ bunden. Man lebte, wo man geboren worden war und starb, wo man gelebt hatte. Zwischenzeitlich sind längst so­ wohl physische als auch soziale Mo­ bilität Usus. Nach der Euphorie der 1990er-Jahre, in denen das Bild ei­ nes individuell gestaltbaren Lebens jenseits von hinderlichen Grenzen dominierte, scheint heute durch die beschriebenen Veränderungen das Schliessen und Rückbinden auf das Lokale auf dem Siegeszug. Das finde ich zu kurz gedacht, da Handlungs­ möglichkeiten eingeschränkt und Menschen ihrer Möglichkeiten be­ raubt werden. Darüber kann man sich aber selbstverständlich streiten. Soll man vielleicht sogar; Aushandlungs­ prozesse sind in einer Gesellschaft un­ abdingbar. Wenn jede und jeder für sich ihr oder sein eigenes kleines Insel­ chen schafft, geht das vielleicht isoliert für sich, für eine gut funktionierende Gesellschaft ist das jedoch zu wenig.


Brennpunkt – Raum

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Brennpunkt – Raum

Raum

entwerfen Essay* Die Frage nach dem, was e­ inen Raum ausmacht, ist zugleich die Frage nach den Qualitäten eines Raums und nach den diesen Raum bildenden Ele­ menten. Das gilt dabei sowohl für In­ nen- als auch für Aussenräume. Wie wir den Raum wahrnehmen, hängt dabei zunächst von unseren Sinnen ab. Unsere Raumbeschrei­ ­ bungen bestehen oftmals aus ­einem Gemisch an visuellen ­ Eindrücken, Klangbildern, Gerüchen. Wie neh­ men wir das Licht wahr? Wie ist das Verhältnis von Raum und den in ihm befindlichen Objekten? All diese As­ pekte stehen in einem direkten Zu­ sammenhang und bedingen sich ­gegenseitig.

Gesamteindruck und damit zu unse­ rer Beurteilung des Raums. Gibt es Kriterien, die für jeden Raum gelten, wie etwa eine gute Proportio­ nierung, so ist seine Beurteilung auch abhängig vom jeweiligen Ort, der Situa­tion, in der wir uns befinden: Sind wir bei der Arbeit, zu Hause, in der Stadt, auf dem Land? Gleichzeitig spielen kulturelle, klimatische, wirt­ schaftliche und technische Parameter eine Rolle. Müssen Plätze und Räume vor Hitze und Sonne geschützt wer­ den, oder will man Sonne und Wärme gerade auf den Platz, in den Raum ein­lassen? Sind Holz- oder Steinbau­ ten typisch für eine Region, einen Ort, eine Stadt?

Raum sehen, hören, begreifen

Raum bilden

Wir bewegen uns mit unserem Kör­ per durch den Raum und können ihn so erfassen. Wir sehen die umgeben­ den Häuser eines Platzes, wir riechen, ob es einen Bäcker gibt, hören den Brunnen plätschern. In Innenräumen nehmen wir deren Grösse wahr. Wir ­sehen, wie die Fenster sitzen, wohin wir durch sie blicken, ob die Sonne in den Raum scheint oder nicht. Wir nehmen wahr, ob es hell ist oder dun­ kel, ob Oberflächen verputzt oder mit Holz verkleidet sind, auf welchem Bo­ den wir gehen. All dies führt zu einem

Es ist die Aufgabe der Architektur, Raum zu bilden. Architektur schafft eine Grenze zwischen aussen und in­ nen, so entsteht ein Innenraum und ein Aussenraum. In der Architektur gestalten wir die Körper und Flächen, die den Raum begrenzen. Wir setzen sie zueinander in Beziehung, um ei­ nen Ort zu schaffen. Wir arbeiten an der jeweiligen räumlichen Situation. Um zu erläutern, was einen guten Raum ausmachen kann und welcher Zutaten es dafür bedarf, gehen wir im Folgenden zuerst auf den städtischen

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Platz und danach auf den Innenraum näher ein.

Der städtische Platz Platzräume dienen in der Stadt der Begegnung, dem Austausch, dem Aufenthalt und dem Tätigwerden von Menschen. Sie haben Funktionen, wie zum Beispiel als Markt- oder Kirch­ platz. Die Wände der Plätze bilden die Fassaden der angrenzenden Bau­ ten. Mit ihrer Ausgestaltung prägen sie den Charakter des Platzes. Sind es offi­zielle Bauten oder Wohnbau­ ten, die den Platz rahmen; handelt es sich also um einen privaten Platzraum oder einen öffentlichen? Materialien wie Stein vermitteln in unseren Brei­ ten einen offiziellen Charakter, wäh­ rend wir Holzfassaden eher Wohn­ bauten zuordnen würden. Ob wir den Platz erfassen können, hängt dabei von seiner ­­Grös​se und Bebauung ab. Elemente wie Brunnen können eine Zonierung vorgeben, Möblierungen wie Bänke können gewisse Bereiche für gewisse Nutzungen definieren. Gerade bei kleineren Plätzen wie dem Bärenplatz in der St.Galler Innenstadt ist der Platzraum gut erfahrbar. Die umgebenden Geschäftsbauten mit ihren als Ladenzonen ausgestalteten Erdgeschossen rahmen den Platz und weisen ihn als städtischen Raum aus.


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Der grosse, lang gezogene Raum des Bahnhofplatzes ist durch seine Funk­ tion als Busbahnhof vom Verkehr be­ stimmt, die Haltestellen verbauen die Sicht auf den Platz und die um­ gebenden Fassaden. Der Raum ist in der Folge nicht mehr wahrnehmbar. Einen ganz anderen Platz bildet wie­ derum der Klosterhof. Mit seiner parkähnlichen Anlage ist er offizielle Platzanlage im Stiftsbezirk. Die Platz­ wände werden gebildet aus den weiss verputzten Fassaden der barocken Klosteranlage und erzählen von ihrer tausendjährigen Kulturgeschichte. Für die imposante steinerne Ein­ gangsfront der Kathedrale wird der Klosterhof gleichsam zum Bühnen­ bild. Der Klosterhof zeigt, dass sich die Platzgestaltung in der Ausformu­ lierung der einzelnen Fassaden, der Platzstruktur, den Oberflächen wider­ spiegelt. Zugleich spielt die Funktion des Platzes eine wesentliche Rolle.

Der Innenraum Einen Innenraum bestimmen Pro­ portionen und dessen Oberflächen ebenso wie den Stadtraum. Auch bei ihm ist die Funktion entscheidend für seine Ausgestaltung. Je nach Grös​se spielt seine Zonierung, die Lichtfüh­ rung, die Anordnung von Möbeln und Elementen im Raum eine ent­ scheidende Rolle. Ebenso seine Nut­ zung: Dient der Raum der Begegnung

oder dem Rückzug, ist es ein Arbeits­ ort oder ein Wohnraum? Repräsentative Räume, wie etwa das Foyer eines Theaters oder ein Kir­ chenraum, haben die Aufgabe, die Funktion des Gebäudes zu vermitteln. Sie dienen wie Platzräume der Begeg­ nung, dem Austausch. Dabei ist im In­ nenraum bei der Wahl der Materia­ lien eine grössere Varianz möglich, da die gewählten Oberflächen nicht der Witterung, dem Regen oder Wind, standhalten müssen. So kann ein Raum mit Stoff ausge­ kleidet sein; seine gemauerten Wände können verputzt oder roh belassen werden. Mit dem Entscheid für die Oberfläche verändern sich der Ein­ druck und die Eigenschaften des Raums. All dies kann zu seiner Insze­ nierung genutzt werden. Dabei sollte der Entscheid für oder gegen den Ein­ satz eines Materials immer in Bezug zum Bauwerk selbst stehen. Wie ist es gebaut, warum kommen welche Ma­ terialien zum Einsatz? Auch die Lage des Gebäudes spielt eine Rolle. Steht es in der Stadt, auf dem Land, am Wasser? Bei einem städtischen Wohnhaus in der St.Gal­ ler Innenstadt beispielsweise kom­ men andere Materialien zum Einsatz als bei einem Wohnhaus, das am Bo­ densee steht. Wasser assoziieren wir mit Holz. Das Bild, barfüssig auf ei­ nen hölzernen Balkon zu treten, ge­ hört zunächst an den See.

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>> *Andrea Wigelmann ist Architektin, Publizistin und Verlegerin. Seit 2018 ist sie in der ArchitekturWerkstatt St.Gallen für die internen Publikationen zuständig. Zu ihren Themenschwerpunkten gehören Fragen des Städtebaus und der Raumplanung, Typologien mit Schwerpunkt Wohnbau sowie Materialentwicklungen und ihre Auswirkungen auf Architektur und Konstruktion.

All diese Fragen beeinflussen die Ge­ staltung des Raums. Es geht also we­ niger um den guten, als den für seine Funktion und seinen Zweck ange­ messenen, strukturell und räumlich, in Material und damit in seinem Aus­ druck gut entworfenen Raum. Dies ist die Aufgabe der Architek­ tur. Sie manifestiert sich im einzel­ nen Raum, im Gebäude, in einem Gebäude­komplex, in einer Siedlungs­ struktur oder auch in einer ganzen Stadtanlage.


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Unser Wohnen im Wandel

Andrea Sterchi

M

ehrgenerationenhaus, Cluster-WG, Single-Haushalt: Gesellschaftliche Ver­änderungen und Normen prägen unser Wohnen. Neue Formen entstehen, bekannte wandeln sich und müssen künftigen Herausforderungen begegnen. Wir mögen unser Wohnen individuell gestalten, nach wie vor dominiert aber ein bürgerliches Verständnis ­unsere Vorstellung.

sagt Miriam Meuth, wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Räume. Wohn-Räume seien deshalb nicht fix, sondern vor dem Hintergrund gefestigter Strukturen veränder- und verhandelbar. Als Beispiel nennt sie das begleitete Wohnen in einer Institution für Men­ schen mit Beeinträchtigung. «Wer prägt hier die Wohn-Räume? Einer­ seits sind das die Bewohnenden und Fachpersonen, andererseits sind auch die ausgehängte Hausordnung, die Einkaufsplanung oder das Eintritts­ formular Teile der Wohn-Räume.»

Fünf Dimensionen des Wohnens Zuhause – das geht für uns einher mit einer Vorstellung von Privatheit und Individualität. Das Wohnen hat sich, zumindest in unserem Kulturkreis, als ein privates Phänomen etabliert. Obwohl wir heute mehr Wahlmög­ lichkeiten haben, halten wir alltags­ sprachlich an einem bürgerlichen Wohnverständnis fest. Nähert man sich dem Wohnen allerdings aus so­ zialwissenschaftlicher Sicht an, dann greift diese ideologische Alltagsvor­ stellung zu kurz. «Wohn-Räume sind mehr als die physische Abgrenzung, mehr als Zimmer oder Wohnungen. Sie sind Effekte sozialer Praktiken und werden produziert und reprodu­ ziert. Es sind gesellschaftliche Räume, weil sie von gesellschaftlichen Verhält­ nissen und Normen geprägt sind»,

Miriam Meuth unterscheidet analy­ tisch verschiedene Aspekte des Woh­ nens, die sie abstrakteren Dimensi­ onen zuordnet. Da ist als Erstes die physisch-materielle Dimension, wozu sie die bauliche Struktur, den Grund­ riss und die Ausstattung des Ortes zählt. Bei der sozial-strukturellen Di­ mension geht es um die Haushalts­ struktur, um Zugang zu Infrastruk­ tur oder die rechtliche Regelung eines Wohnverhältnisses, aber auch darum, wie die Arbeit im Haushalt und die Erziehungsarbeit aufgeteilt werden. Auf der Handlungsdimension veror­ tet Miriam Meuth z. B. den Wohnall­ tag, also Routinen, Interaktionen oder die Raumaneignung, die stattfinden. Die emotional-kognitive Dimension

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ihrerseits umfasst die Vorstellungen, Gefühle und Erinnerungen, die einen Ort – auch in unseren Köpfen – zu ­einem Zuhause werden lassen. Diese vier Dimensionen werden von Miriam Meuth zusammen gedacht. Quer dazu liegt die kulturgeschicht­ lich-gesellschaftliche Dimension. Hier geht es darum, welche Funktionen und Ideen des Wohnens sich kulturge­ schichtlich etabliert haben. Und: Wel­ che Erwartungen haben wir, wer mit wem wohnen soll? Welche Wohnform gilt als normal, welche als besonders?

Mehr Lebens- und Wohnstile Das Unterscheiden der fünf Dimensio­ nen macht deutlich, wie komplex und gesellschaftlich geprägt das Wohnen ist. «Entstehen neue Wohnformen, hat das immer auch mit e­ inem gesell­ schaftlichen Wertewandel zu tun», sagt Nicola Hilti, Dozentin am In­ stitut für Soziale Arbeit und Räume. Dabei gehe es weniger um ­ einen grundlegenden Wandel der L ­ ebensund Wohnformen, sondern vielmehr um deren Ausdifferenzierung. «Viele Menschen, aber natürlich nicht alle, haben heute die Möglichkeit, ihre Le­ bens- und Wohnform selbstbestimm­ ter zu wählen und zu gestalten als frü­ here Generationen. Allerdings hat es auch früher eine grössere Anzahl ver­ schiedener Wohnformen gegeben», sagt Nicola Hilti. Nach dem Zweiten


Brennpunkt – Raum

«WOHN-RÄUME SIND EFFEKTE SOZIALER PRAKTIKEN UND SIND DAHER VERHANDELBAR UND VERÄNDERBAR.»

Weltkrieg hätten sich diese auf die «Normal­familie mit zwei Kindern» verengt. Erst in den 1970er-Jahren brach diese Form mit dem Aufkommen von Wohngemeinschaften wieder auf.

Individualisierung und Telearbeit Wie beeinflussen gesellschaftliche Ver­änderungen unser Wohnen? Zum Beispiel steigt der Anteil der Einperso­ nenhaushalte als Folge der Individu­ alisierung. In der Schweiz leben 16 % (Stand 2017) der ständigen Wohnbe­ völkerung alleine in einer Wohnung. In vielen Städten machen die Single-­ Haushalte 40 % oder mehr aus, 2030 sollen es gemäss Prognosen 57 % sein. Folgen hat auch die Migration. Die Schweizer Städte und Ballungsgebiete wachsen wegen der Land-Stadt-Mig­ ration und der Zuwanderung. 85 % der Schweizer Bevölkerung leben in den Städten und den Agglomeratio­ nen. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach mehr Wohnfläche.

Die Arbeitswelt verändert sich eben­ falls. «Wohnen und Arbeiten fallen mit der Telearbeit wieder mehr zu­ sammen. Nur haben sich im Vergleich zu früher, als unter einem Dach ge­ lebt und gewirtschaftet worden ist, die Bedingungen geändert», sagt Nicola Hilti. Auch der Gedanke der «Shared Economy» wirkt sich aus. Es gibt fle­ xibel zumietbare Zimmer, man teilt sich Hobbyräume und Parkplätze oder leiht sich in der Nachbarschaft gegenseitig Dinge aus.

Cluster-WG, multilokales Wohnen Mit der Gesellschaft verändern sich auch die Wohnformen. Gemeinschaft­ liches Wohnen ist wieder ein Thema, zum Beispiel in Alterssiedlungen oder Cluster-Wohnungen. Letztere sind Wohngemeinschaften, in denen zirka acht bis zehn Personen wohnen, wo­ bei jede Person oder auch Paare und Familien ihre Wohneinheit haben und zusätzlich Gemeinschaftsräume nut­

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zen. «Heute hat der Rückzug eine grössere Bedeutung. Zudem geht man das gemeinschaftliche Wohnen freiwil­ lig ein, anders als früher, als die Gross­ familie unter einem Dach gelebt hat», sagt Nicola Hilti. Eine weitere interessante Wohnform mit historischen Vorläufern ist das multilokale Wohnen, das Wohnen an mehreren Orten. In der Schweiz nutzen gemäss einer Studie von 2015 rund 28 % der Bevölkerung mehrere Wohnsitze. Insgesamt hat mehr als die Hälfte Erfahrung mit dieser Wohn­ form, sei es aus beruflichen, familiä­ ren oder freizeitbezogenen Gründen.

Angespannte Wohnungsmärkte Im Wohnen kommen auch soziale Ungleichheits- und Machtverhält­ nisse, gesellschaftliche Spaltung und die Gefährdung des sozialen Zusam­ menhalts zum Ausdruck. In Bezug auf das Alter sind etwa die Vereinsamung und die Diskriminierung älterer Men­ schen auf dem Wohnungsmarkt akute Probleme. Weiter ist Wohnen für viele Menschen nicht mehr so einfach leist­ bar. Durch die bauliche Aufwertung von Quartieren kommt es zur Ver­ drängung sozio-ökonomisch schlech­ ter gestellter Haushalte. Das Wohnen hat sich verändert und wird sich weiter ändern, der Wandel ist aber letztlich nicht willkürlich und total.


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«Oft ist nur das Trottoir öffentlicher Platz»

Nina Rudnicki

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in biodiverser Bahnhof in Egnach und ein öffentlicher Platz in Muolen statt «Copy-­ Paste-Architektur»: Lineo Devecchi und Patrick Aeschlimann vom Ostschweizer Zentrum für Gemeinden an der Fachhochschule St.Gallen analysieren, wie Gemeinden ihre Lebens- und Wohnräume weiterentwickeln können. Sie unterstützen Gemeinden, die ihr Gemeindeleben wieder auf­ blühen lassen möchten. Ein Ansatz ist, die Gemeinde als Wohnraum zu gestalten. Wie gelingt dies? Patrick Aeschlimann: Wohnen ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Die Frage ist also, wie wollen Leute heute wohnen? Darunter versteht jeder ­etwas anderes. Für die einen ist die Gemeinde dann ein attraktiver Wohn­ raum, wenn sie einen Autobahnan­ schluss hat. Andere verstehen unter Wohnraum viel Grünfläche oder die Nähe zu Wald und Natur. Dann gibt es Gemeinden mit, und Gemeinden ohne historischen Ortskern. Manche Leute wollen ein belebtes Zentrum, anderen ist dies schlicht nicht wichtig.

Braucht es einen Ortskern, damit eine Gemeinde zum Wohn­ raum werden kann?

Lineo Devecchi: Sagen wir es so: Das Dorfleben ist der zentrale Bestandteil eines Wohnraums. Und der Ortskern steht für das Dorfleben. Verschwin­ den Läden, Vereine, Cafés und an­ dere Treffpunkte aus dem Zentrum, sterben auch die Ortskerne. Die Ver­ ödung der Ortskerne ist aktuell ein riesiges Thema in den Gemeinden. Hier hilft paradoxerweise die unge­ liebte Verdichtungsdiskussion: Eine verdichtete Bauweise mit Raum für kleine Angebote wie Treffpunkte und Quartiercafés würde helfen, den Orts­ kern wiederzubeleben.

Gibt es Ostschweizer Gemeinden, denen es gelungen ist, den Orts­ kern wiederzubeleben und Wohn­ raum zu schaffen? Aeschlimann: Ja, als Erstes fällt mir Muolen ein. Dort war auf dem Areal des ehemaligen Restaurants Rössli eine riesige Überbauung geplant. Vorgesehen waren ursprünglich 50 Wohnungen im Stil der sogenann­ ten «Copy-­ Paste-Architektur», also gesichtslose Bauten, die überall ste­ hen könnten. Das gefiel aber der Ge­ meinde nicht. Sie intervenierte und in der gemeinsamen Diskussion mit den Investoren wurden nun fünf Gebäude mit insgesamt 23 Wohnungen gebaut. Ausserdem wurde Rücksicht auf die Umgebung genommen: Die neuen Wohnhäuser passen gut ins Ortsbild und fallen nicht als ­Neubauten auf.

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Zudem gibt es im Erdgeschoss einen Bäcker samt Café. Wichtigstes Ele­ ment ist aber der Rössliplatz, der als öffentlicher Raum für die Bevölke­ rung bestehen geblieben ist. Devecchi: Das Beispiel M ­ uolen zeigt, wie wichtig es ist, dass Gemeinden Wohnraum aktiv mitgestalten. Wich­ tiger Bestandteil solcher Prozesse ist, dass Gemeinden die Bevölke­rung ak­ tiv in die Planung miteinbe­ziehen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Eine Gemeinde ist dann ein guter Wohnraum, wenn es al­ ternative Wohnformen und öf­ fentliche Plätze gibt und die Be­ völkerung miteinbezogen wird? Devecchi: Ja, das sind die Vorausset­ zungen. Wobei in vielen kleinen Ge­ meinden der öffentliche Platz nur das Trottoir ist. Dank der Miteinbeziehung ist Muolen mit dem Rössliplatz eine Alternative gelungen. Für kreative Lö­ sungen braucht es die Ideen und das Engagement der Bevölkerung. Partizi­ pationsprozesse bringen hierfür rele­ vante Diskussionen in Gang.

Wie sollen Gemeinden mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern kommunizieren? Aeschlimann: Die Kommunikation ist bei den Gemeinden derzeit ein grosses Thema. Es gibt ­immer weni­ ger Lokaljournalistinnen und Lokal­ journalisten, die über das ­Dorfleben


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berichten. Das bedeutet, dass die Be­ völkerung immer weniger über ihre Gemeinde und die Themen erfährt, die anstehen. Da stellt sich die Frage, ob und auf welche Kanäle die Ge­ meinden setzen sollen. Die Digita­ lisierung eröffnet hier neue Chancen, ist aber eine Herausforderung. Devecchi: Es geht aber nicht nur um die Kommunikation zwischen Ge­ meinde und Bevölkerung. Genauso wichtig ist es, die Kommunikation zwischen den Einwohnerinnen und Einwohnern zu fördern. Damit diese Kommunikation überhaupt statt­ finden kann, muss Raum geschaffen werden, in dem sich die Bevölkerung begegnen kann.

Welchen Gemeinden ist es gelungen, die Bevölkerung ein­ zubinden? Devecchi: Ein spannendes Projekt ist «Egnach 2030». Im Sommer 2018 hat der Egnacher Gemeinderat eine Pro­ jektgruppe eingesetzt, die eine nach­ haltige Strategie für die Gemeinde im Kontext des gesellschaftlichen Wan­ dels, der Energie- und Klimafragen sowie der Nahversorgung und des Gewerbes entwickeln sollte. Organi­ siert wurde unter anderem ein Mit­ wirkungstag, an dem rund 150 Egna­ cherinnen und Egnacher mitmachten. Entstanden sind zahlreiche Ideen, etwa für einen biodiversen Bahnhof ohne Einheitshecken sowie mit einem

guten Lebensraum für Tiere und In­ sekten. Aeschlimann: Es stellt sich die Frage: Wäre der Gemeinderat in Klausur­ sitzungen auf die Idee eines bio­ diversen Bahnhofs gekommen? Das Beispiel Egnach zeigt: Damit Kreati­ ves entsteht, braucht es neue Perspek­ tiven und vor allem partizipative Pro­ zesse.

Soll dabei auch über die Gemein­ degrenze hinaus gedacht werden? Devecchi: Unbedingt. Einige Gemein­ den werden es aufgrund verschiede­ ner Gegebenheiten nie schaffen, ihren Ortskern zu beleben. Eine Möglich­ keit ist daher, Themen regional an­ zugehen: Welche Gemeinden eig­ nen sich zum Einkaufen? Wo könnte Kultur stattfinden? Das Klang- und Energietal Toggenburg hat es bei­ ­ spielsweise geschafft, der Bevölkerung über die Gemeindegrenze hinaus eine Identifikation zu geben.

Ist die Identifikation mit der eige­ nen Gemeinde als Wohnraum die Rettung der lokalen Demokratie? Aeschlimann: Sie ist eine wichtige Vor­aussetzung. Die spannenden Pro­ zesse finden meist vor der Gemeinde­ versammlung statt. Jede Diskussion trägt zum Erhalt der lokalen Demo­ kratie bei. Insofern schaffen Begeg­ nungsorte demokratische Orte.

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Lineo Devecchi Co-Leiter Ostschweizer Zentrum für Gemeinden OZG-FHS Der promovierte Politikwissenschaftler erforscht lokalpolitische Entscheidungsfindung in Gemeindeentwicklungsprozessen. Aktuell analysiert er in einem internationalen Forschungsprojekt partizipative Prozesse auf kommunaler Ebene in der Schweiz sowie in Deutschland und Österreich.

Patrick Aeschlimann Wissenschaftlicher Mitarbeiter OZG-FHS Der Politikwissenschaftler arbeitete als Lokaljournalist und zuletzt als Chefredaktor des Kommunalmagazins. Derzeit erforscht er in einem interdisziplinären Projekt die Information und Kommunikation in Gemeinden.


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Per Messenger-App die Innenstadt beleben

Andrea Sterchi

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as Internet und der Online­ Handel haben unser Einkaufsverhalten verändert. Das spüren nicht nur die Geschäfte in den Innenstädten, auch der Stadtraum verändert sich. Der City Messenger will zur Belebung der St.Galler Innenstadt beitragen. Die Idee und das Konzept zur Messenger-App stammen vom Kompetenzzentrum Marketing Management der FHS St.Gallen. Mit jedem leer stehenden Ladenlo­ kal verschwindet etwas Leben aus der Innen­stadt, geht ein Stück ihres indivi­ duellen Charakters verloren. Das mag den Spass an einem Einkaufsbummel schmälern, vor allem aber verändert es den Stadtraum. Statt quirliges Ge­ wusel droht Verödung. Was wiederum Behörden, Politik und Gewerbe auf den Plan ruft. Zum Beispiel in St.Gallen. «Die Innenstadt ist der zentrale Ort beziehungsweise eine Bühne für das Zusammentreffen der St.Gallerin­ nen und St.Galler sowie für Arbeit­ nehmende und Gäste aus dem In- und Ausland», sagt Samuel Zuberbühler, Leiter Standortförderung der Stadt St.Gallen. Hier konzentriere sich die St.Galler Essenz aus Lebensqualität, Urbanität, Historie und Lebendigkeit.

Die Innenstadt sei eine Art Gegen­ pol zur digitalen Welt. Damit das so bleibt, muss St.Gallen dem veränder­ ten Einkaufsverhalten und dem Ein­ kaufstourismus wirksam begegnen.

Viele Ansprüche erfüllen Kein einfaches Unterfangen, muss eine Innenstadt doch den unterschied­ lichsten Erwartungen gerecht werden. «Sie ist sowohl Zuhause als auch Treff­ punkt, Arbeits- sowie Freizeitort und war schon immer der Ort, an dem all diese Ansprüche aufeinandertreffen und das Stadtleben stattfindet», sagt Samuel Zuberbühler. Eben weil die Innenstadt privater und öffentlicher Raum ist, wird es immer schwieriger, ihn zu bespielen. Er soll lebendig und gut erreichbar sein, ein vielfältiges An­ gebot aufweisen. Nur: «Den gestiege­ nen, hohen Erwartungen steht eine tiefe Toleranz gegenüber. Über The­ men wie Öffnungszeiten oder Park­ plätze gehen die Meinungen ausein­ ander», sagt Ralph Bleuer, Präsident der Vereinigung Pro City St.Gallen. Umso schwieriger sei es, eine Mehr­ heit zufriedenzustellen.

Eine Stadt lebt von Menschen Wie aber gelingt es, den Stadtraum zu beleben? Das Wichtigste sind die Menschen. «Nur sie können die St.Galler Innenstadt als Lebensraum

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von historischer Bedeutung nutzen, beleben und bereichern», sagt S ­ amuel Zuberbühler. Umso wichtiger sei es, die lokale Bevölkerung aktiv zu invol­ vieren und so die zukünftige Belebung der Innenstadt nachhaltig zu sichern. «Jede und jeder ist dafür verantwort­ lich, dass die St.Galler Innenstadt auch in Zukunft ein Treffpunkt ist, ob im Café, im Laden oder an ­einer Veranstaltung.»

Einfacher, schneller, direkter Hier setzt der City Messenger des Kompetenzzentrums Marketing Management am Institut für Un­ ­ ternehmensführung der Fachhoch­ schule St.Gallen an. Er funktioniert ähnlich wie der vor allem privat ge­ nutzte Messenger-Dienst WhatsApp. Betriebe können ihre Kundschaft mit Text- und Bildnachrichten über Neuheiten, Aktionen, Empfehlungen und Anlässe informieren – schnell, einfach und direkt. «Jede Nachricht soll die Menschen zu einem Besuch in der Innenstadt motivieren. Dies ist das oberste Ziel», sagt Projektleiterin ­Sigrid Hofer-Fischer. Persönliche Nachrichten erlauben es den Betrieben, direkt mit ihrer Kund­ schaft zu kommunizieren. «Ein Opti­ ker zum Beispiel kann der Kundin mitteilen, dass die neue Brille ab­ holbereit ist. Per Messenger-App er­ reicht er sie jederzeit, was telefonisch


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City Mes nicht immer der Fall ist», sagt Sigrid Hofer-Fischer. Die Nutzerinnen und Nutzer ihrer­ seits erfahren über den City Messen­ ger, was die Geschäfte, Restaurants und Institutionen in der Innenstadt zu bieten haben. Und sie können un­ mittelbar antworten. Zum Beispiel um zu fragen, ob ein bestimmtes Pro­ dukt vorrätig ist, oder um einen Tisch zu reservieren, rund um die Uhr und unabhängig von Öffnungszeiten.

Käufe getätigt und Inhalte geteilt wer­ den, und ob die Frequenzen in der St.Galler Innenstadt insgesamt steigen.

Eigenen Messenger entwickelt

Bei den Partnern, der Standortförde­ rung, Pro City St.Gallen und den Be­ trieben, stiess das Forschungsprojekt der FHS auf offene Türen. Zumal es ideal zum vor drei Jahren gestarteten Projekt «Zukunft St.Galler Innen­ stadt» passt. Gemein­sam ging es an die Umsetzung. ­Samuel Zuberbühler City Engagement steigern ist vom Erfolg überzeugt: «Die Kon­ Der City Messenger ist im Oktober sumentinnen und Konsumenten von mit über 30 Betrieben gestartet. Das heute erwarten eine sofortige Reak­ durch die Innosuisse mitfinanzierte tion wie sie diese vom Online-Handel Forschungsprojekt ist ein Pilot und her kennen. Der City Messenger ver­ dauert bis Januar 2021. «Die Innen­ netzt die Bevölkerung digital mit den stadt ist die Seele des menschlichen lokalen Läden, Restaurants und In­ Zusammenseins. Wir wollen ­wissen, stitutionen. So fördert er den unkom­ wie die Digi­talisierung zur Belebung plizierten Kontakt und bringt uns zu­ beitragen kann», sagt Sigrid Hofer-­ sammen.» Fischer. Mit dem City Messenger Ein erster Erfolg ist das rege Enga­ soll die Bevölkerung auf das Ange­ gement bei den St.Galler Betrieben. bot der Innenstadt aufmerksam ge­ «Innovationen interessieren mich macht werden. Dabei untersucht die grundsätzlich. Der City Messenger ist FHS St.Gallen, wie sich die Wahrneh­ etwas Neues in St.Gallen, da wollen mung der Innenstadt in der Bevölke­ wir ­dabei sein», sagt Mirjam Hadorn, rung durch die Nutzung der App ver­ Geschäftsführerin der Stiftung Lok­ ändert. Im Vorfeld führte sie deshalb remise. «Es ist wichtig, dass wir uns eine Image-Umfrage durch, die im als Kulturzentrum aktiv einbringen. Herbst 2020 wiederholt werden soll. Für eine lebendige Stadt braucht es Ebenfalls Gegenstand der Forschung Kultur.» Auch Dominic Krähenbühl, ist, wie der Messenger das «City En­ Uhrmacher beim Juwelier Frisch­ gagement» steigern kann, also wann knecht, ist angetan: «Wir können un­

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einfach. schnell. dir

• Jetzt herunterladen und profitie

• Einfach informiert bleiben, was

CITY MESSENGER Stadt St.Gallen bietet.

Die Messenger-App ist einfach • Schnell und direkt mit vielen und intuitiv zu bedienen. Sie ist Betrieben kommunizieren. gratis und kann im AppStore oder bei Google Play heruntergeladen werden.

sere Kundinnen und Kunden schnell und direkt erreichen. Einfacher als per E-Mail oder mit einer Nachricht auf die Combox, die vielleicht nicht gelesen oder abgehört werden.» Ralph Bleuer hofft, dass weitere Be­ triebe aufspringen und der City Mes­ senger viele Nutzerinnen und Nutzer erreicht. «Eine Innenstadt ohne Ge­ schäfte kommt letztlich einer Kultur­ vernichtung gleich.» WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/substanz

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Wie Kreativräume weite Kreise ziehen

Lea Müller

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ür die Kreativität sind nicht nur einzelne Menschen zentral. Eine Schlüsselrolle spielt auch der Raum des kreativen Schaffens. Ein Forschungsprojekt der FHS St.Gallen geht anhand des historischen Fallbeispiels der St.Galler Erker-Galerie der Frage nach, welche Faktoren zum Erfolg eines Kreativraums führen können – und wie sich Prozesse und Methoden auf aktuelle Projekte in der Ostschweiz übertragen lassen. Fast unbemerkt von einer grossen Öffentlichkeit war St.Gallen in der Zeit zwischen 1958 und 2014 ein An­ ziehungsort für Künstlerinnen und Künstler sowie Autorinnen und Au­ toren von Weltruf. Ein Zentrum des kreativen Schaffens war das «Unter­ nehmen Erker» mit seiner Galerie, der Presse und dem Verlag (siehe Kas­ ten). «Das künstlerische Schaffen war enorm umfangreich. An diesem klei­ nen Ort sind neuartige Werke gros­ sen Wertes entstanden», sagt Maria Nänny, Leiterin der Fachstelle Kunst an der FHS St.Gallen. Sie ist zustän­ dig für Werke, Druckgrafiken und bib­ liophile Bücher aus der Erker-Galerie, welche die FHS St.Gallen beher­ bergt. Die Kunstwerke sind als fester

­ estandteil des Fachhochschulzent­ B rums und in Form von Wechselaus­ stellungen für die Öffentlichkeit zu­ gänglich. Nun ist die Erker-­Galerie als historisches Fallbeispiel für ei­ nen «Kreativraum» in den Fokus der Forschung gerückt. Ein interdiszipli­ när zusammengesetztes Team der FHS St. Gallen – mit Vertreterinnen und Vertretern der Fachstelle Kunst, des Instituts für Innovation, Design und Engineering sowie des Instituts für Soziale Arbeit und Räume – be­ fasste sich mit den Erfolgsfaktoren des Erker-Unternehmens.

Zeitzeugen befragt, Hypothesen geprüft Obwohl es sich um ein historisches Beispiel handelt, eignet es sich für den Übertrag auf moderne Unter­ nehmen aus drei Gründen besonders gut: Die Erker-Galerie war erstens als eine Art Netzwerkorganisation kon­

stituiert, indem sich ein kleines Team von St.Gallen aus mit herausragen­ den Denkerinnen und Denkern sowie Kunstschaffenden vernetzte. Zweitens bot sie einen physischen Ort des Aus­ tausches. Drittens zeichnete sie sich durch ihren einmaligen Output aus. Ausgehend von einer umfassenden Li­ teraturrecherche und Zeitzeugen-In­ terviews gingen die Forschenden den Hypothesen nach, dass bestimmte Faktoren einen Einfluss auf den kre­ ativen Output eines Kreativraums haben und ein Kreativraum mit ho­ hem Output wiederum eine positive Wirkung auf die Umgebung hat – wie etwa die Kreativitätskultur eines Unternehmens oder die Kreativwirt­ schaft einer ganzen Region.

Menschen, Strukturen und Materialität Unter «Kreativraum» verstehen die Forschenden keinen physischen

«DAS RÄUMLICHE SETTING ERHÄLT IN DER KREATIVITÄTSFORSCHUNG NOCH WENIG BEACHTUNG.»

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Raum mit vier Wänden, sondern ei­ nen Handlungsraum, der von den Menschen stetig hergestellt und neu definiert wird. «Die Kreativitätsfor­ schung fokussiert sich meist auf die Kreativität von Individuen. Das kon­ krete räumliche und soziale Setting hingegen, in welchem Kreative mit entsprechenden Methoden und Pro­ zessen arbeiten, erhält noch wenig Beachtung», sagt Selina Ingold, Pro­ jektleiterin am Institut für Innova­ tion, Design und Engineering. Genau in diesem Kreativraum, wo kreative Menschen aus unterschiedlichen Be­ reichen miteinander in Kontakt tre­ ten, sieht sie ein grosses Innovations­ potenzial. «Wir gehen davon aus, dass der kre­ ative Output und auch der ökonomi­ sche Erfolg eines Kreativraums von den drei Faktoren Mensch, Struktur und Materialität beeinflusst wird», führt Selina Ingold aus. Zentrale Fragen sind etwa: Welche Infrastruk­ tur ist notwendig, um einen kreativen Prozess in Gang zu setzen? Welche Methoden und Prozesse werden an­ gewendet? Welche Menschen treffen in diesem Kreativraum aufeinander?

Der Zeitgeist begünstigt die Erfolgsfaktoren «Innerhalb eines Kreativraums ist die Vernetzung sehr wichtig», sagt Maria Nänny. Das zeige auch das historische

«DIE GALERISTEN HABEN ES GEWAGT, UNGEWÖHNLICHE KOOPERATIONEN EINZUFÄDELN UND ÜBER DIE GRENZEN DER DISZIPLINEN HINAUSZUSCHAUEN.»

Fallbeispiel Erker-Galerie eindrück­ lich auf. Die Galerie-Gründer Franz Larese und Jürg Janett seien nicht nur mit den Kunstschaffenden und der Kundschaft in regem Austausch gestanden. «Sie haben es gewagt, un­ gewöhnliche Kooperationen einzufä­ deln, neue Wege zu gehen und über die Grenzen der Disziplinen hinaus­ zuschauen.» Diese und weitere Fak­ toren führten dazu, dass der kreative Output der Erker-Galerie hoch war und dass das Unternehmen florierte.

Neue Kreativräume in der Ostschweiz «Das Modell der Erker-Galerie lässt sich nicht eins zu eins auf heutige Kre­ ativräume übertragen», sagt Selina Ingold. Als Ergebnis des Projekts ist jedoch ein Forschungsdesign entstan­ den, das es erlaubt, Modelle von Ein­ fluss- und Erfolgsfaktoren von Krea­ tivräumen zu entwickeln. Durch den

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Modellierungsprozess können Kre­ ativräume weiterentwickelt werden. «Derzeit entstehen in der Ostschweiz viele neue Kreativräume wie zum Bei­ spiel das Lattich Quartier in St.Gal­ len», sagt Selina Ingold. Hier kom­ men unterschiedliche Akteurinnen und Akteure der Kreativwirtschaft zusammen. Die Innovationsexper­ ten der FHS St.Gallen möchten den Impact solcher neuer Kreativräume auf die Kreativwirtschaft in der Ost­ schweiz untersuchen – wenn möglich über einen längeren Zeitraum hinweg. Mögliche Projekte sind derzeit noch in einer Antragsphase. Ein weiteres mögliches Anwendungs­ feld der Forschungserkenntnisse ist die Auseinandersetzung mit der Gale­ rienlandschaft. Viele Galerien kämp­ fen heute ums Überleben. Ihre Rolle hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, und die Bedeutung für den Kunstbetrieb wird zuneh­ mend kleiner. «Das hat damit zu tun,


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dass der Wirkungskreis der Kunst­ schaffenden grösser geworden ist. Künstlerinnen und Künstler kennen sich heute mit wirtschaftlichen Fra­ gen besser aus und können sich zu­ nehmend selber vermarkten», sagt Maria Nänny. Das bedeutet auch, dass Kunstschaffende ihre Werke oft nicht mehr «auf Vorrat» produzieren und warten, bis ein Galerist oder eine Ga­ leristin ins Atelier kommt. Viele er­ stellen ihre Werke für ein bestimmtes Ausstellungsthema oder direkt für ei­ nen Auftraggeber.

Die Galerie der Zukunft neu entwerfen «Es ist Zeit, unser Bild von Galerien zu überdenken», sagt Maria Nänny. Wie muss eine Galerie der Zukunft aufgestellt sein, damit sie Erfolg hat? Welche (neuen) Funktionen könnte sie annehmen? Wie könnten heu­ tige Galerien von der Idee des Kre­ ativraums profitieren? «Unsere Hy­ pothese ist, dass eine heutige Galerie sich innovieren kann, indem sie sich für neue Tätigkeitsfelder öffnet», sagt Maria Nänny. Sie und Selina Ingold sind bereits im Gespräch mit Galerie­ betreibern in der Ostschweiz, um dies weiterzudenken.

MIT TÀPIES, IONESCO UND BILL ZUSAMMENGEARBEITET 1958 gründeten Franz Larese und Jürg Janett mitten in der St.Galler Altstadt die Erker-Galerie mit dem angegliederten Verlag und der eigenen Presse. In den Jahren ihres Bestehens bis 2014 gingen aus diesem «Kreativraum» umfangreiche Werke von bekannten Künstlerinnen und Künstlern sowie Intellektuellen der Nachkriegsmoderne hervor. Vernissagen waren Dreh- und Angelpunkt für die intensive Vernetzung von Kunstschaffenden, Kunden und Galeristen. Der Erfolg und das langjährige Bestehen des «Unternehmens Erker» seien im Kontext des Zeitgeistes zwischen 1960 und 2000 zu verstehen, als eine hohe Nachfrage nach Künstlerischem bestand, sagt Maria Nänny, Leiterin der Fachstelle Kunst an der FHS St.Gallen. Die Schaffenskraft und der ökonomische Erfolg der Erker-Galerie seien zudem in einem grossen Masse von den beiden Galeristen Franz Larese und Jürg Janett abhängig gewesen. Diese waren mit vielen Künstlerinnen und Künstlern freundschaftlich verbunden. Max Bill, Hans Hartung, Eugène Ionesco, Antoni Tàpies, Serge Poliakoff oder ­Günther Uecker sind nur einige Namen von Künstlern, mit denen die Galeristen oft über Jahre eng zusammenarbeiteten. In der Erker-Presse wurden unter anderem Lithografien gedruckt, der Erker-­Verlag gab bibliophile Bücher – etwa vom isländischen Schriftsteller H ­ alldór ­Laxness – heraus. 1995 erhielten Franz Larese und Jürg Janett den Anerkennungspreis der Stadt St.Gallen für ihr Lebenswerk. Franz Larese verstarb im Jahr 2000 im Alter von 73 Jahren, Jürg Janett im Jahr 2016 im Alter von 89 Jahren. (mul)

WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/kunst

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Ideen und Visionen

vom Waldrand

Lukas Schmid/Thomas Utz

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er Neues denken will, zieht sich oft in ein Kloster zurück oder geht auf Reisen. Nicht so Lukas Schmid und Thomas Utz. Die beiden Leiter des Instituts für Innovation, Design und Engineering der Fachhochschule St.Gallen bauten eine Hütte im Wald, um Ideen und Visionen für die Zukunft des Instituts zu entwickeln. Und erlebten dabei, wie Handwerken die gedankliche Gestaltungskreativität stimuliert. Einen Monat Auszeit, um das Er­ reichte zu reflektieren und, darauf auf­ bauend, Ideen und Visionen für zu­ künftige Entwicklungen des Instituts zu generieren – dies waren die Bedin­ gungen und das Ziel unseres Unter­ fangens. Von Anfang an war klar: Am Arbeitsplatz in gewohnter Arbeitsum­ gebung kann das nur schlecht gelin­ gen. Zu gross wäre die Ablenkung durch E-Mails und Telefonate, zu stark die Verführung, sich dem Daily Business zu widmen. Vielmehr musste

ein Umfeld her, das ein gedankliches Ausbrechen aus der Arbeitsroutine er­ laubt und zu neuem Denken anregt.

Das Bauen als Innovationsraum Doch welchen Innovationsraum soll­ ten wir wählen? Die klassische Wahl wäre ein Kloster oder eine Pilgerreise. Eine Alphütte in den Bergen böte sich ebenfalls an und wäre zumindest et­ was weltlicher gelagert, wenngleich nicht weniger unserem familiären Umfeld entrückt, das wir doch nicht ganz missen wollten. Uns gefiel der Aspekt der Pilgerreise, wo das Den­ ken im Einklang mit den Schritten ge­ schieht, und die Idee einer einfachen, aufs Wesentliche reduzierten Hütte frei jeglicher Ablenkung. Das brachte uns auf die Idee, selber eine Hütte zu errichten. Der Bau sollte dabei aber nicht zum Ziel verkommen, sondern lediglich der Mittel zum Zweck des eigentlichen Unterfangens sein. Dar­ über hinaus konnten wir der archa­ ischen Konstruktion und (Weiter-) Entwicklung einer Waldhütte als Me­ tapher für das Entwickeln von Visio­ nen für das Institut vieles abgewinnen. So entschieden wir uns auch bewusst

dagegen, etwas Neues zu e­ rrichten. ­Stattdessen wählten wir einen beste­ henden Holzschuppen am Waldrand mit weitläufiger Sicht ins Grüne. Die einfache Hütte war einst zur Heu­ lagerung errichtet worden und diente die letzten Jahrzehnte, mehr schlecht als recht, als Materiallager. Der Holz­ riegel wie auch das Dach machten ei­ nen guten Eindruck, das Fundament und der Schirm mussten nur teilweise erneuert werden, und die Kubatur bot viel Freiraum für eine kreative Raum­ gestaltung.

Starten ohne Plan Vom methodischen Standpunkt aus kam für uns nur infrage, ohne konkre­ ten Plan zu starten. Dessen Existenz hätte unser Vorhaben auf eine vorab bestimmte Ausführung und Umset­ zung degradiert, die Kreati­vität mas­ siv eingeschränkt und letztlich den Umbau der Hütte zum Ziel gemacht. So starteten wir frisch von der Leber weg mit einem Besuch der lokalen, no­ tabene klösterlichen Sägerei, um uns mit den unterschiedlichsten Balken und Brettern einzudecken. Aus dem Metallwarenladen kamen Schrauben,

>> Lukas Schmid ist Dozent im Fachbereich Bau und Technik sowie Co-Leiter des Instituts für Innovation, Design und Engineering IDEE-FHS. Thomas Utz ist Dozent im Fachberich Bau und Technik sowie Co-Leiter des IDEE-FHS.

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«MIT EINER VISION IM BLICK KANN MAN DAS ZIEL AUCH NACH RÜCKSCHLÄGEN ERREICHEN.»

Nägel und Profile. Steine und Mörtel aus dem Betonwerk komplementier­ ten das Baumaterial – es konnte los­ gehen.

Mit Kopf, Hand und Bauch Zu Beginn tasteten wir uns an einfa­ chere Arbeiten wie das Ausbessern des Fundaments oder des Holzschirms heran. Nach und nach wagten wir uns an anspruchsvollere Tätigkeiten: Wir zimmerten Böden, zogen Zwischen­ böden ein und errichteten Trenn­ wände. Zuerst arbeiteten wir schwei­ gend, ganz auf das noch ungewohnte Handwerk konzentriert. Mit jedem Tag wurden die Handgriffe und Werk­ zeuge vertrauter, dies erlaubte immer öfters ein Abschweifen der Gedanken. So konnten wir uns wie erhofft immer intensiver über das Institut unterhal­ ten und gemeinsame Ansichten über dessen Selbstzweck und Legitimation bilden. Der eigentliche Bau rückte zu­ nehmend in den Hintergrund, stimu­ lierte aber durch die geforderte Ge­

staltungskreativität die gedankliche Entwicklung möglicher Zukunftsvisi­ onen. «Mit dem Kopf arbeiten, den Händen denken und dem Bauch ent­ scheiden» – die Eckpfeiler unseres Ins­ tituts konnten wir beim Bau der Wald­ hütte 1:1 umsetzen.

Neues entsteht aus Fehlern Fehler beim Bau passierten unwei­ gerlich. Daraus liess sich aber ­etwas lernen, oft entstand gar Neues. Die­ ses Neue war selten das, was wir an­ fänglich im Kopf gehabt haben. Dies war sowohl unserem handwerklichen Geschick als auch der Nichtexistenz eines Plans geschuldet. Trotzdem ­ war es immer konsistent mit ­unserer ­Vision, aus einem ehemaligen Lager­ schuppen eine kleine Retraite am Waldrand zu schaffen. So wie uns die Hütte mit ihrem eigenen Charak­ ter immer vertrauter wurde, sich je­ der Ausbauschritt logisch, fast vor­ bestimmt erschloss, so offenbarten sich uns auch die Grundmauern und

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-werte, auf denen wir das I­ nstitut auf­ gebaut haben. Nach vier Wochen Bauzeit konnten wir erfolgreich Bilanz ziehen: Erstens ist eine herrliche, zweckmässige Wald­ hütte entstanden, die zu viel mehr imstande ist, als Material zu lagern. Zweitens hat sich ein gemeinsames Verständnis rund um das Institut ge­ festigt, das eine hervorragende Aus­ gangslage bildet, Fragen erfolgreich zu beantworten, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ost – Ost­ schweizer Fachhochschule auf uns zu­ kommen werden, unabhängig davon wie sie im Detail lauten. Drittens haben wir vielversprechende Ideen und Visi­ onen für das Institut entwickelt. Viertens sind wir zur Erkenntnis gekom­ men, dass sich kreatives Handwerken mit kognitiven Leistungen nicht nur verträgt, sondern sich beide gegen­ seitig enorm befruchten. Und schliess­ lich fünftens hat das Vorhaben unsere Zuversicht gestärkt, dass man auch bei Rückschlägen und Unsicher­heiten mit einer Vision im Blick das Ziel er­ reichen kann. So erlebten wir in unserer Auszeit eine spezielle Ausprägung design­ getriebener Innovationsentwicklung, indem wir uns parallel zum handwerk­ lichen Design der Waldhütte auch dem ­Design und der Weiterentwick­ lung des Instituts widmeten. Damit hat sich der Kreis auch methodisch-­ inhaltlich wieder geschlossen.


Brennpunkt – Raum

Die Welt retten

dank virtueller Realität Basil Höneisen

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elchen Mehrwert bringt ein virtueller Raum? ­Viele Menschen stehen neuen Technologien kritisch gegenüber. Vor allem, wenn der kon­krete Nutzen nicht auf Anhieb sichtbar ist. Für Jörg Bachmann vom In­stitut für Innovation, Design und Engineering aber besitzt Virtual Reality ein riesiges Potenzial. Zum Beispiel, um Ressourcen zu sparen oder Mitarbeiter virtuell an Maschinen zu schulen. VR-Arena, Games, spielerische Simu­ lationen. Das wohl bekannteste Ein­ satzgebiet von Virtual Reality (VR) beschränkt sich aktuell auf Entertain­ ment. Der konkrete Mehrwert wird noch verkannt – auch darum, weil es keine guten, weltverbessernden Beispiele gibt, über die gesprochen wird. Wo stehen wir heute mit virtu­ eller Realität? Jörg Bachmann, VR-­ Experte und Projektleiter am Institut für Innovation, Design und Enginee­ ring IDEE-FHS, skizziert den Status quo. «Die Technologie ist so weit, dass das benötigte Equipment für alle ver­ fügbar und auch bezahlbar ist. Jetzt steht die Praxis mit einem Fuss auf der Schwelle zur Produktivität», sagt Jörg Bachmann. «Produktivsein ohne

physikalische Grenzen wird in abseh­ barer Zeit möglich.» Denn das ist es, was die virtuelle Welt an Mehrwert bietet: einen Raum, der die physika­ lischen Gesetze aushebelt.

VR wird bis anhin kaum eingesetzt In der Arbeitswelt ist der VR-Einsatz trotz dieser Vorteile noch wenig ver­ breitet. Bislang nutzt vor allem die In­ dustrie entsprechende Technologien, um Maschinen zu designen. Aus­ serdem setzt die Gesundheitsbran­ che VR ein, primär im Bereich von Schmerz- und Angsttherapien. Zum Beispiel, um Höhenangst zu bekämp­ fen, indem der Patient erst virtuell in luftige Höhen steigt, bevor er im ech­ ten Leben auf einen hohen Turm klet­ tert. Oder um den Schmerz zu lindern bei einem Verbandswechsel an einer offenen Wunde. Dabei taucht die Pa­ tientin mit der VR-Brille in eine ent­ spannende Landschaft ab und spürt dadurch den Schmerz nachweislich ­weniger. Jörg Bachmann betont vor

allem die Vorteile für die Entwick­ lung von Innovationen. «Der virtu­ elle Raum ist ein Spielplatz ohne Grenzen. Die Gravitation zum Bei­ spiel existiert im virtuellen Raum nicht, Distanzen können nach Belie­ ben überwunden werden.» Ein span­ nender Aspekt ist, dass der Mensch mit einer VR-Brille echtes 3D sieht. «Das menschliche Auge nimmt nur 2D wahr. Das Gehirn passt sich der Umwelt an und interpretiert die dritte Dimension. Mit der VR-Brille sehen wir nun plötzlich richtiges 3D», sagt Jörg Bachmann. Darum werde es ei­ nigen Menschen übel, sobald sie die VR-Brille aufsetzen.

Das nächste Level: VR in der VR Wie stark könnte VR die Arbeitswelt überhaupt beeinflussen? «Weltverän­ dernd wird es dann, wenn der Auf­ wand für das Programmieren von VR-Welten abnimmt», erläutert Jörg Bachmann. Aktuell ist es so, dass vir­ tuelle Inhalte programmiert werden

«PRODUKTIVSEIN OHNE ­PHY­SIKA­LISCHE GRENZEN WIRD IN ABSEHBARER ZEIT MÖGLICH.»

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müssen – soll heissen, dass beispiels­ weise der virtuelle Turm zur Bekämp­ fung der Höhenangst aufwendig nach­ gebaut werden muss. Will man einen anderen Turm, geht das Spiel von vorne los – ganz zu schweigen von Interaktivität, welche die Komplexi­ tät von VR gleich nochmals um ein Level anhebt. «Um dieses Problem zu lösen, laufen derzeit diverse Pro­ jekte von ‹VR in VR›: Wenn ich meine

DAS IDEE-FHS UND VIRTUAL REALITY Das Institut für Innovation, Design und Engineering der IDEE-FHS hat sich der Antizipation von Trends und deren Bedeutung für Unternehmen verschrieben. Dabei ergänzt das Team klassische Management- und Entwicklungsprozesse mit designgetriebenen Elementen wie Prototyping, Szenarien-Denken, Use Storys und ­Testing. In Bezug auf V­ irtual R­ eality (VR) befasst sich Projektleiter Jörg Bachmann damit, wie sich VR in der heutigen Zeit einsetzen lässt, wo kollaboratives Zusammenarbeiten möglich ist und welchen Mehrwert sie für die Bildung hat. www.fhsg.ch/idee

v­ irtuellen Inhalte direkt in einer vir­ tuellen Welt erschaffen kann, spare ich mir viel Programmieraufwand.» Ziel ist es also, dass der Turm direkt in einem leeren virtuellen Raum ge­ baut wird – statt händisch program­ miert und danach in die VR-Welt ein­ gespiesen. Wie weit sind wir da? «Im Pilotstatus. Die Industrie, die aktuell am weitesten ist bezüglich der Anwen­ dung von VR, arbeitet immer noch sehr klassisch damit. Sie entwickeln Inhalte und laden sie danach in die VR hoch», sagt Jörg Bachmann. Ei­ nige Firmen würden aber aktuell den virtuellen Aufbau von Maschinen di­ rekt im virtuellen Raum testen.

Klares Ziel: Ressourcen schonen Was bedeutet es, wenn Firmen d ­ irekt im virtuellen Raum Objekte entwi­ ckeln und testen können? «Das würde den Ressourcenaufwand massiv re­ duzieren», sagt Jörg Bachmann. Das Ziel von VR müsse sein, ressourcen­ schonenderes Arbeiten zu ermögli­ chen. «Das Virtuelle bietet die grosse Chance, dass in Tat und Wahrheit nichts existiert. Ich baue schnell ein Hochhaus und schaue, ob es ästhe­ tisch in die Landschaft passt. Bereits so etwas Simples war ohne VR gar nicht möglich. Wenn ich als Entwick­ ler eine Maschine direkt im virtuellen

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Raum entwickle und im Vergleich zu üb­lichen 3D-Anwendungen auch teste und erlebe, bevor ich einen tatsächlich existierenden Prototyp mit viel Mate­ rialverschleiss herstelle, spare ich welt­ weit ungeheure Mengen an Ressour­ cen ein», sagt Jörg Bachmann.

Die Zukunft klopft bereits an Doch die Möglichkeiten gehen e­ inen Schritt weiter: Alles, was irgendwie mit einem Szenario abgebildet wer­ den kann, könnte grundsätzlich zu­ erst in der virtuellen Welt simuliert werden. «VR ist das beste Simulations­ tool. Eine schwierige Operation im in­ terdisziplinären Team durchspielen? Einen Hochhausbrand ohne echtes Wasser löschen oder gar einen krie­ gerischen Einsatz üben, ohne einen einzigen realen Schuss abzufeuern? In der virtuellen Welt ist das möglich», sagt Jörg Bachmann. Weil in der VR selbst Distanzen keine Rolle spielten, könnten Schulungen weltweit ange­ boten werden. Eine internationale Firma kann ihre Montage-Fachperso­ nen über das neu entdeckte Problem ihrer grossen Maschine bis ins Detail briefen. Dafür müssten die Monteure lediglich einen VR-Zugang haben. Es ist wohl eine Frage der Zeit, bis die vir­ tuelle Realität als Retterin der Welt in Erscheinung tritt. Und zwar ganz real.


Brennpunkt – Raum

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Brennpunkt – Raum

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Brennpunkt – Raum

Von der «Wühlkiste»

bis zum Szeneclub Lea Müller

L

eere Jugendzentren sind für die Offene Kinder- und Jugendarbeit in Gemeinden oft ein Schreckgespenst. Dabei ist es ganz normal, dass die Jugendlichen irgendwann fernbleiben und sich ein Generationenwechsel vollzieht, sagen Forscherinnen der FHS St.Gallen. Entscheidend sei, dass Jugendliche sich ihre Räume immer wieder aufs Neue aneignen können. Eine Baracke in einem Industriequar­ tier. Sie steht am Anfang der Erfolgs­ geschichte eines Jugendzentrums in einer Schweizer Grossstadt. Skatende Jugendliche machen den Ort zu ih­ rem Treffpunkt. Die Jugendarbei­ terinnen und Jugendarbeiter stellen sich auf die Skater ein und bauen ge­ meinsam mit ihnen ein Jugendzent­ rum auf. Das Zentrum ist belebt, wird von vielen Jugendlichen besucht, und es finden zahlreiche partizipative Pro­ jekte statt. Nach Jahren des Booms folgt die Flaute: Es kommen immer weniger Jugendliche ins Zentrum und die Offene Kinder- und Jugendarbeit sieht sich mit einem grundlegenden Nachwuchsproblem konfrontiert. Viele Jugendzentren kennen diese Krise: Ein Angebot funktioniert gut,

doch plötzlich kommen keine Jugend­ lichen mehr. Die offene Kinder- und Jugendarbeit gerät dann zunehmend unter Legitimationsdruck.

Schweizweite Studie «Das Konzept des Jugendtreffs wird in der Öffentlichkeit immer wieder angezweifelt», sagt Bettina Brüschweiler, die mit ihren Kolle­ ­ ginnen ­ Ulrike ­ Hüllemann und Jo­ hanna ­Brandstetter im Schwerpunkt «Aufwachsen und Bildung» des Ins­ tituts für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS forscht. Dabei sei die «vermeintliche» Krise der plötzlich leeren Jugendhäuser eine ganz nor­ male Entwicklung: «Jugendliche eig­ nen sich Räume an und verbringen dort eine gewisse Zeit – bis diese die Bedeutung für sie verlieren und sie sich neuen Orten zuwenden.» Dann biete sich die Möglichkeit für eine neue Generation Jugendlicher, das Zentrum zu dem ihren zu machen. Der Generationenwechsel sei für

viele Jugendzentren in der Schweiz eine Herausforderung, sagt Ulrike Hüllemann. «Im Kern stellt sich den Jugendarbeitenden die Frage, wie sie einen Ort schaffen und gestalten kön­ nen, den sich die Jugendlichen immer wieder aufs Neue aneignen wollen.» Dazu hat das IFSAR-FHS von 2014 bis 2017 eine ethnografische Studie in der Offenen Kinder- und Jugend­ arbeit in der Schweiz durchgeführt.

Klare und unklare Räume Sechs Fallbeispiele illustrieren un­ terschiedliche Varianten der Orts­ gestaltung. Da ist zum Beispiel die «Wühlkiste», ein Treff, wo die Jugend­ arbeitenden bewusst keine konkreten Angebote für Jugendliche schaffen. Vielmehr stellen sie ein Sammelsu­ rium an Gegenständen und Themen bereit. Die räumliche Gestaltung ist bewusst nicht eindeutig. Im Gegensatz dazu zeichnet sich das «Dienstleistungszentrum» durch eine klare räumliche Gestaltung aus. ­Jedes

«IM KERN STELLT SICH DIE FRAGE, WIE WIR EINEN ORT SCHAFFEN UND GESTALTEN KÖN­NEN, DEN SICH JUGENDLICHE ANEIGNEN WOLLEN.»

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Brennpunkt – Raum

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Brennpunkt – Raum

Angebot ist örtlich und zeitlich ge­ nau definiert und damit für Jugend­ liche klar erkennbar. Das Ziel ist es, eine breite Angebotspalette für unter­ schiedliche Jugendliche zu bieten. Im Beispiel «Szeneclub» hingegen ist der Jugendtreff auf eine spezifische Jugendkultur eingestellt. Jugendarbei­ tende bauen gemeinsam mit Jugend­ lichen einen Ort auf – wie im Beispiel des Skaterzentrums.

Es gibt keine Rezepte Ein Best-Practice-Konzept, das auf an­ dere Orte übertragen werden kann, gibt es aber nicht, wie Ulrike Hülle­ mann betont: «In Zukunft ist eine Fle­ xibilität der Modelle gefragt, um auf die sich immer schneller wandelnden Jugendräume eine fachliche Antwort zu haben.» Es sei entscheidend, die eigene Situation vor Ort laufend zu analysieren und die Perspektive der Jugendlichen einzunehmen, ergänzt Bettina Brüschweiler. Welche Jugend­ lichen sind aktuell da? Wie nutzen sie die Angebote? Was machen sie mit den zur Verfügung stehenden räum­ lichen Elementen? Die Forscherin­ nen haben einen Katalog mit zentra­ len Fragen entwi­ckelt, der bereits in Workshops mit der Offenen Kinderund Jugend­arbeit zum Einsatz kommt (siehe Kasten). Zudem arbeiten sie an einer Buchpublikation mit Entwick­ lungsimpulsen für die Jugendarbeit.

EIGENE GESCHICHTEN FINDEN Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt zu Praktiken pädagogischer Ortsgestaltung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit fliessen in konkrete Dienstleistungsprojekte ein. Zum Beispiel in Rapperswil-Jona, wo im Sommer 2020 ein grosser Umzug ansteht. «Nach über 20 Jahren in einer Baracke in einem Industrieareal brechen wir unsere Zelte ab und ziehen ins Zentrum», sagt Marion Lucas-­Hirtz, Leiterin der Kinder- und Jugendarbeit Rapperswil-Jona. Die Bürgerversammlung hat im vergangenen März einen Kredit von 2,9 Millionen Franken für ein neues Kinder- und Jugendzentrum gesprochen. Standort ist das Zeughausareal, das sich zwischen Rapperswil und Jona befindet. Marion Lucas-Hirtz und ihr Team freuen sich auf den Wechsel, denn sie sehen neue Chancen, ihre Angebote für mehr Jugendliche zugänglich zu machen. Derzeit erarbeiten sie das Konzept für das Kinder- und Jugendzentrum und werden in diesem Prozess von der FHS begleitet. Johanna Brandstetter und ihre Kolleginnen vom IFSAR-FHS führen mehrere Workshops durch, in welchen unter anderem auch die Fallbeispiele aus dem Forschungsprojekt besprochen werden. «Nun geht es darum, für Rapperswil-Jona eine eigene Geschichte zu finden», sagt Johanna Brandstetter. Vieles sei noch völlig offen, einiges – wie das übergeordnete Raumkonzept – schon vorgegeben, sagt Marion Lucas-Hirtz. Die Hoffnungen sind gross: «Wir wünschen uns, dass das Kinder- und Jugendzentrum zu einer Art Drehscheibe wird. Ein belebtes Haus, in dem Kinder und Jugendliche sich wohl fühlen und eine Ansprechperson für ihre Anliegen finden.» In einem weiteren Projekt in einer kleinen Ostschweizer Gemeinde begleitet das Team des Instituts für Soziale Arbeit und Räume ein ganz anderes Modell: Hier soll kein fixer Jugendtreff entstehen, sondern eine mobile aufsuchende Jugendarbeit. «Das Ziel ist, Räume nur im Rahmen von Projekten und für einen befristeten Zeitraum zu nutzen», sagt Johanna Brandstetter. Ein spannender Ansatz, der den sich laufend verändernden Jugendräumen Rechnung trage. Einer dieser beiden Formen den Vorzug zu geben, liegt der Forscherin aber fern: «Das Wichtigste ist, dass Jugendliche im Prozess mitgenommen werden und ihre Mitgestaltung dauerhaft möglich ist.» (mul)

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Brennpunkt – Raum

Die Arbeitswelt freiräumen

Christian Jauslin

B

edeuten weniger Regeln mehr Freiheit? Neue Arbeitsmodelle zielen auf diese Prämisse ab. Starre, enge Strukturen sollen mehr Selbstgestaltung, Diversität und Eigenverantwortung weichen. Was aber braucht es, damit Mitarbeitende Freiräume gewinnbringend nutzen können? Antworten liefern FHS-Studien. Keine fixen Arbeitszeiten oder -plätze, Selbstorganisation in (Projekt-)Teams, flache Hierarchien oder gar keine. Die Regeln der Arbeitswelt scheinen sich aufzulösen, neue Freiräume ent­ stehen. Deren Wichtigkeit und Nut­ zen werden generell bestätigt und mit mehr Identifikation, Kreativität und einer hohen Arbeitsqualität begrün­ det. «Wer den Mitarbeitenden Frei­ räume und Vertrauen gewährt, der wird Engagement und Vertrauen ern­ ten», fasst Roland ­Waibel, Leiter des Instituts für Unternehmensführung IFU-FHS, zusammen. Dass Mitarbeitenden Freiräume ge­ währt werden müssen, kann somit als etablierte Erkenntnis bezeichnet werden. Oder wie Alexandra Cloots, Co-Leiterin des HR-Panel New Work, bemerkt: «Diese Entwicklung ist be­ reits so weit fortgeschritten, dass man sich dem nicht mehr ­verwehren kann.

Und sie ist nicht nur Jüngeren geschul­ det, auch ältere Mitarbeitende wollen eine sinnvolle Arbeit mit Eigenver­ antwortung sowie frei und selbstbe­ stimmt arbeiten.»

Verantwortlichkeiten aufräumen Damit solche Freiräume von Mitar­ beitenden Nutzen bringend ausgefüllt werden können, sei es notwendig, eine Kongruenz der Aufgaben, Kompe­ tenzen und Verantwortungen herzu­ stellen. «Mitarbeitende brauchen zu ihren Aufgaben nicht nur Verantwort­ lichkeiten, sondern auch die entspre­ chenden Freiräume, beziehungsweise Kompetenzen, um diese zu gestalten», sagt Roland Waibel. Doch gerade hier scheint es zu stocken, so die Feststel­ lung von Sibylle Olbert-Bock, Leiterin des Kompetenzzentrums Leadership und Personalmanagement. Führungs­ kräfte sollen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oft Freiräume ge­ währen, «ohne dass ihnen selbst die dazu notwendigen Freiräume zuge­ standen werden».

Roland Waibel benennt eine solche Limitierung des möglichen Spiel­ raums: «Unternehmen sind soziale Systeme und um die Idee der Zusam­ menarbeit gebaut. Ohne Zusammen­ arbeit können die unternehmerischen Potenziale nicht ausgeschöpft werden. Ein Unternehmen muss demnach so viele individuelle Freiräume gewäh­ ren, dass noch ausreichend Zeit und Ressourcen für intensive Zusammen­ arbeit bleiben.» Hinzu kommt, dass gemäss Alexandra Cloots die gesetz­ lichen Rahmenbedingungen noch nicht auf diese neuen Freiräume aus­ gerichtet sind – Stichwort Zeiter­ fassung. Sibylle Olbert-Bock betont, Freiräume würden grundsätzlich zwar geschätzt. «Sie überfordern aber be­ stimmte Personen oder führen bei an­ deren zu Selbstausbeutung.»

Regeln wegräumen Eine viel genannte Forderung der Mitarbeitenden betrifft den Frei­ raum zur Vereinbarkeit von Arbeit und Privat­leben. Hier erkennt Ursula

«WER DEN MITARBEITENDEN FREIRÄUME UND VERTRAUEN GEWÄHRT, DER WIRD ENGAGEMENT UND VERTRAUEN ERNTEN.» 37

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Brennpunkt – Raum

Graf, ­Leiterin der Fachstelle Gender und Diversity an der FHS St.Gallen, einen Trend: «Es wird zukünftig da­ rum gehen, Mitarbeitenden möglichst vielfältige und individuelle Freiräume zu gewähren und zugleich mannigfa­ che Unterstützungsangebote bereitzu­ stellen.» Diese Forderung schlägt sich aber heute im Arbeitsalltag noch nicht nieder. Die aktuelle HR-Panel-­Studie stellt fest, dass die Digitalisierung we­ niger Freiräume schafft, sondern in

HR-PANEL-STUDIE Jährlich führt das HR-Panel der FHS St.Gallen eine Studie zum Thema New Work durch. Basierend auf den Resul­taten von 2019, konzentriert sich die aktuelle Studie auf das Thema Unternehmenskultur. An der Studie kann bis Ende November unter folgendem ­ Link teilgenommen werden: ww2.unipark.de/uc/nwk_sz Präsentiert werden die Resultate am 3. St.Galler New Work ­Forum zum Thema «Neue Arbeitswelt – New Work Culture?». Das Forum findet am 8. Januar 2020 statt. Weitere Informationen unter: www.newworkforum.ch

der Wahrnehmung vor allem zu Effi­ zienzdruck und mehr Regeln führt. So werde der Forderung nach Freiräu­ men zum Lernen, also Zeit und Res­ sourcen zu bekommen, um sich in ein Thema zu vertiefen, nicht nach­ gekommen, sagt Alexandra Cloots. Ein Freiraum zum Lernen wäre aller­ dings einer, welcher allen Personen­ gruppen zugutekommt. Denn wie Sibylle ­Olbert-Bock feststellt, profitie­ ren Entwicklungsmitarbeitende meist stärker von Freiräumen als Leute aus der Produktion.

Anderssein einräumen Nur gleichgepolte Mitarbeitende ein­ zustellen, mag einige Herausforde­ rungen umgehen, wird aber dazu führen, dass vor allem gleichgepolte Lösungen entwickelt werden. «Ins­ besondere eine Kombination von unterschied­lichen Sicht- und Lösungs­­ -Herangehensweisen kann zu neuen und ­kreativen Lösungen führen», be­ schreibt Ursula Graf den Nutzen des Freiraumes, so sein zu dürfen, wie man ist. Sie ergänzt: «Durch den zu­ nehmenden Innovationsdruck, den Fachkräfte­mangel und nicht zuletzt durch den Diversitätsdiskurs haben Unternehmen erkannt, dass Plurali­ tät im Denken, Fühlen und Handeln eine wichtige Ressource ist. Sie muss sich aber in einer entsprechenden Personal­politik abbilden und in der

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Unternehmenskultur eingelöst wer­ den.» Unterschiedliche Ansichten, ab­ weichende Meinungen und kritische Sichtweisen sollen nicht als Störfak­ toren angesehen werden, sondern als Potenzial, das die Entwicklung des Unternehmens, der Produkte und der Mitarbeitenden voranbringt und zu besseren Ergebnissen führt.

Stillstand abräumen Diese Botschaft überbrachte auch FHS-Rektor Sebastian Wörwag den anwesenden Gewerbetreibenden am letzten Zyklusanlass des Gewerbes St.Gallen: Er forderte die Gewerble­ rinnen und Gewerbler auf, verschie­ dene Meinungen zu fördern und vor allem Kritik zuzulassen. Abweichende Ideen, Meinungen oder Wege zu ei­ nem gemeinsamen Ziel mögen zwar den allgemeinen Konsens disruptie­ ren, aber nur so entstehen neue Lösun­ gen, an welche zuvor noch nie j­ emand innerhalb eines per Definition engen Korsetts von «akzeptierten» Meinun­ gen oder Lösungen gedacht hat. Be­ reits Henry Ford erkannte den Nutzen von Freiräumen, um sich selber oder das Unternehmen, in dem man tätig ist, zu entwickeln. Denn, wie ihm zu­ geschrieben wird, stellte er fest, dass wer immer nur das Gleiche macht, was er schon immer gemacht hat, der wird immer der Gleiche bleiben, der er bereits ist.


Brennpunkt – Raum

Arbeitsleben kommen. Die zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Privatleben stellt eine Herausforderung dar, die viele Mitarbeitende einem hohen Stresslevel aussetzt und krank macht. Unternehmen reagieren bereits mit Empfehlungen für eine Abgrenzung.

«PLURALITÄT IST EINE RESSOURCE» Die Fachstelle Gender und Diversity setzt sich dafür ein, die Vielfalt an der Fach­ hochschule St.Gallen zu fördern, die Chancengleichheit und Partizipation aller Hochschulangehörigen zu gewährleisten sowie Diskriminierungen entgegenzuwirken. ­Ursula Graf ist Leiterin dieser Fachstelle. Welche Freiräume sollen Unternehmen Mitarbeitenden zur Verfügung stellen? Ursula Graf: Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien und aus unserer Umfrage bei den Hochschulangestellten der Fachhochschule Ostschweiz zum Thema Work-Life-Balance, dass Freiräume wichtig sind, damit Mitarbeitende ihre Potenziale möglichst gut entfalten können, sie längerfristig Motivation und Zufriedenheit in der Arbeit finden und gesund durchs

Wie können sie das tun? Graf: Es wird zukünftig darum gehen, Mitarbeitenden möglichst vielfältige und indi­viduelle Freiräume zu gewähren und zugleich mannigfache Unterstützungsangebote bereitzustellen. Die Angebote sollten so niederschwellig und unkompliziert wie möglich verfügbar sein, ohne dass sich Betroffene gegenüber Vorgesetzten erklären müssen oder formalen Antragsverfahren unterworfen sind. An welche Freiräume denken Sie? Graf: Konkret heisst das beispielsweise, Mitarbeitenden mit Kindern genügend Freiräume zu bieten, damit sie die beruf­ lichen Anforderungen mit den privaten Aufgaben unter einen Hut bringen können – also flexible Arbeitsmodelle anzubieten, Blockzeiten abzuschaffen, bedürfnis­ gerechte Anpassungen des Anstellungspensums zu erlauben und auch mit einem Teilzeitpensum attraktive Aufgabenport­ folios und spannende Karrieremöglich­ keiten zu eröffnen.

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Diversität bezieht sich oft auf demografische Attribute. Sind Freiräume auch für unter­schied­ liche Charakteren notwendig? Graf: Durch den zunehmenden Innovationsdruck, den Fachkräftemangel und den Diversitätsdiskurs haben Unternehmen erkannt, dass Pluralität im Denken, Fühlen und Handeln eine wichtige Ressource ist, die sich in einer entsprechenden Personalpolitik abbilden und in der Unternehmenskultur eingelöst werden muss. Vielfalt bedeutet, Menschen mit verschiedenen Lebensrealitäten und -erfahrungen, unterschiedlichen Charakteren und Arbeitsstilen Arbeiten zu ermöglichen und die Arbeitsform praktizieren zu können, die zu ihnen passt, ohne dass sie einer ­Bewertung unterliegen. Ob Teamworker oder Tüftler – alle Mitarbeitenden sollten den Raum erhalten, ihren persönlichen Arbeitsstil zu praktizieren. Das bedeutet? Graf: Grundsätzlich kommt es darauf an, vielfältige Perspektiven und Herangehensweisen im Arbeitsleben zu erreichen, unterschiedliche Lebensrealitäten zu fördern und unterschiedliche Facetten menschlicher Verschiedenheit im Unternehmen zu ermöglichen. Wir wissen aus Studien, dass vielfältige Teams über eine grosse Pro­ blemlösungskompetenz verfügen. (jac)


Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»

«Fragt die Kinder, aber

hört ihnen auch zu!» Lea Müller

K

inder sind nicht einfach «nur» kleine Menschen, ­ sondern Personen mit eigenen Rechten. Seit genau 30 Jahren herrscht darüber weltweit Einigkeit – 1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Ein Gespräch mit Kindesschutzexpertin Regula Flisch über die Situation in der Schweiz, über Kinder, die ihre Rechte einfordern, und über Fachpersonen, die lernen, ihnen zuzuhören. Frau Flisch, Kinder haben Rechte, darüber besteht Konsens. Aber kennen sie diese überhaupt? Regula Flisch: Kinder in der Schweiz kennen ihre wichtigsten Rechte. Dass sie zum Beispiel ein Recht auf Schul­ bildung haben, ein Recht auf F ­ amilie und Freizeit und auch auf die Privat­ sphäre.

Und wo erfahren sie davon? Flisch: Diese Grundrechte lernen sie spätestens in der Schule kennen. Die meisten Kinder können aber nur

drei bis vier Rechte benennen. Durch die aktuellen Klimastreiks wissen auch viele Jugendliche von ihrem Recht auf eine gesunde Umwelt. Die grosse Schwierigkeit besteht meiner Meinung nach darin, dass insbeson­ dere gefährdete Kinder ihre eigenen Schutzrechte nicht kennen.

Was braucht es denn, damit Kin­ der mehr über ihre Rechte wissen? Flisch: Das Wichtigste ist eine kinder­ gerechte Übermittlung. Es gibt zum Beispiel eine für Kinder geschriebene Fassung der UN-Kinderrechtskonven­ tion oder Bilderbücher, welche die Kinderrechte einfach erklären. In der Schweiz besteht Nachholbedarf, wenn es darum geht, die Kinder via digitale Medien zu erreichen. Es braucht kin­ dergerecht dargestellte Apps, Games, Videos und so weiter.

Welche elementaren Grundsätze enthält die UN-Kinder­rechts­konvention? Flisch: Die UN-Kinderrechtskonven­ tion umfasst 54 formulierte Rechte. Vier Artikel gelten als Grundprin­ zipien, die für die Umsetzung aller ande­ren Kinderrechte zentral sind: das Recht auf Gleichbehandlung, das

Recht auf Wahrung des Kindeswohls, das Recht auf Leben und persönliche Entwicklung sowie das Recht auf An­ hörung und Partizipation.

Welche Kinderrechte sind in der Schweiz gut umgesetzt? Flisch: Wir verfügen über gute struk­ turelle Systeme, wenn es darum geht, Kinder in schwierigen Situationen – seien sie bedingt durch Armut, Be­ hinderung, Migration – in das Schul­ system aufzunehmen. Wir haben erreicht, dass Sans-Papiers-Kinder mit einer Sondergenehmigung eine Be­ rufslehre machen können. Das wäre noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen. Wir haben funktionierende Kindesschutzsysteme und eine Kin­ des- und Erwachsenenschutzbehörde, die allen Meldungen von Kindeswohl­ gefährdung nachgehen muss.

Aktuell verschaffen sich Jugend­ liche mit Klimaprotesten Gehör. Wie steht es um die politische ­Partizipation von Kindern und Jugendlichen? Flisch: In der Schweiz wird vieler­ orts eine politische Partizipation ge­ lebt. Es gibt Kinder- und Jugendpar­ lamente in Kantonen und natürlich

>> Regula Flisch ist Dozentin im Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St.Gallen und leitet die Seminarreihe «Kindes- und ­E rwachsenenschutz». Sie ist Vertreterin der FHS St.Gallen in der Schweizer Fachgruppe «Quality 4 Children».

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Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»

auch Gruppen, die sich thematisch äussern. Kinder haben das Recht auf freie Meinungsäusserung. Und – das ist im Bezug auf den Klimawan­ del ganz zentral – Kinder haben ein Recht auf Leben und Überleben und somit auch das Recht auf die Erhal­ tung der Lebensgrundlage. Wenn un­ ser Klima zerstört wird, betrifft das die Zukunft der Kinder. Ich finde es super, dass sie ihre Rechte einfordern und politisch Druck machen – und zwar laut. Wie sich zeigt, werden sie zunehmend auch gehört: Viele Par­ teien in der Schweiz nehmen Klima­ ziele in ihr Parteiprogramm auf. Ich finde: Weiter so!

Wie können Kinder ihre Rechte im Justizsystem einfordern? Flisch: Das ist gar nicht so einfach. In der Schweiz gibt es dafür seit 2008 den «Verein Kinderanwaltschaft». An diese Stelle können sich Kinder wen­ den, wenn sie zum Beispiel in einem Gerichtsverfahren nicht angehört wer­ den. Hier melden sich täglich Kinder.

Steht es in der juristischen Praxis demnach nicht so gut um die Umsetzung der Kinderrechte? Flisch: Einer der grössten Kritik­ punkte ist die Umsetzung des Rechts auf Anhörung und Partizipation in Gerichtsverfahren. Für mich ist zum Beispiel der Fakt erschreckend, dass in Trennungs- und ­Scheidungsverfahren

Regula Flisch im Gespräch in der Cafeteria «Gleis 8» des Fachhochschulzentrums. (Foto: Bodo Rüedi)

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Bereit für den nächsten Schritt? Jetzt weiter­ bilden. www.fhsg.ch/weiterbildung

FHO Fachhochschule Ostschweiz

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Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»

nur zehn Prozent der betroffenen Kin­ der angehört werden. Während die El­ tern stark einbezogen sind, werden die Kinder meistens vor vollendete Tatsachen gestellt. Etwa so: «Du lebst jetzt bei deinem Mami, und deinen Papi siehst du alle zwei Wochen.» Das Kind hätte vielleicht eine ganz andere Idee gehabt, wie die neue Familien­ situation aussehen könnte.

Kinder sollten mitentscheiden können? Flisch: Es geht nicht darum, die Kin­ der entscheiden zu lassen, sondern sie nach ihrer Meinung zu fragen und – ganz wichtig – auch zuzu­hören. Ich habe das selber als Beiständin von Kindern bei Fremdplatzierungen er­ lebt. Da war zum Beispiel der Wunsch, lieber in einer Pflegefamilie als im Heim platziert zu werden. Oder der Wunsch, als Geschwister zusammen­ bleiben zu können. Wenn man sich die Zeit nehmen kann, den Kindern genau zuzuhören, findet man bessere Lösungen. Denn die Kinder sind es, die letztlich mit unseren Entscheidun­ gen leben müssen.

Wie können die zuständigen Fach­ personen das Zuhören verbessern? Flisch: Meine Erfahrung im Aus­ tausch mit Fachpersonen der juristi­ schen Praxis zeigt, dass das Bewusst­ sein für den Einbezug der Kinder wächst, aber das richtige Werkzeug

noch fehlt. Mehrere Bildungsinstitu­ tionen haben sich des Themas an­ genommen und bieten Schulungen an, in welchen Fachpersonen die Ge­ sprächsführung mit Kindern lernen. Ich selbst gebe im Rahmen des Semi­ nars Kindes- und Erwachsenenschutz an der FHS St.Gallen Unterricht in Gesprächsführung.

anerkennen. 2020 wird die UNICEF in Zusammenarbeit mit Kindern ei­ nen Schattenbericht zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention er­ stellen. Daraus werden wir wieder neue Massnahmen ableiten können.

Wo sehen Sie bereits heute Handlungsbedarf?

Wie beurteilen Sie insgesamt die Umsetzung der UN-Kinderrechts­ konvention in der Schweiz?

Flisch: Es gibt verschiedene Ansätze. Meiner Meinung nach sollte ein Au­ genmerk besonders auf dem Kindes­ schutz liegen. Wir müssen stärker auf die Rechte von fremdplatzier­ ten Kindern aufmerksam machen. Hierzu arbeite ich als Vertreterin der FHS St.  Gallen in der Gruppe «­Quality 4 Children» mit. Im vergan­ genen Jahr haben wir dem Bundes­ rat in einem Brief die Situation von Flüchtlingskindern in Asylunterkünf­ ten beschrieben. Teils wohnen jugend­ liche Mädchen und Jungs mit Erwach­ senen unter einem Dach und vor Ort ist keine sozialpädagogische Betreu­ ung gewährleistet. Wir fordern eine Untersuchung. Weiter macht sich UNICEF stark dafür, dass Jugend­ liche nicht mit Erwachsenen zusam­ men inhaftiert werden dürfen. Das ist vor allem in der Ausschaffungs­ haft ein grosses Thema. Hier hinkt die Schweiz im Vergeich zu anderen Ländern hinterher.

Flisch: Wir sind generell auf einem guten Weg, weil die Behörden sensibi­ lisiert sind und den Handlungsbedarf

WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/kesb

An einer Tagung im November an der FHS St.Gallen tauschen sich Vertreter der juristischen Praxis über Kinderrechte aus. Was ist das Ziel? Flisch: An unserer Tagung am 26. No­ vember gehen wir folgenden Fragen nach: Wie können kindergerechte Ge­ richtsverfahren gestaltet werden? Wie werden Kinder einbezogen? Und wie lassen sie sich in Gerichtsverfahren vor Diskriminierungen schützen? Das Ziel ist, dass Kinderrechte im Berufs­ alltag nicht Worthülsen bleiben. Wir befassen uns auch mit Best Practices. Etwa mit Gerichtsverfahren im Aus­ land, in welchen Kinder wie selbst­ verständlich angehört werden. Mein Wunsch ist es, dass das auch in der Schweiz ­irgendwann Standard ist.

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Erkenntnis – Freiwilligenarbeit

Digital Natives verändern

die Freiwilligenarbeit

Daniel Jordan

D

ie Nachwuchsförderung gehört zu den wichtigsten Herausforderungen des zivilgesellschaftlichen Sektors. Die Bedürfnisse und Verhaltensweisen von jungen Menschen verändern sich im digitalen Zeitalter rasant. Neue Ideen sind gefragt, um Freiwilligenarbeit für sie attraktiv zu gestalten. Die FHS führte deshalb eine Befragung durch, an welcher 2618 Digital Natives teilnahmen. Den Begriff «Digital Natives» prägte der US-amerikanische Autor und Ma­ nager Marc Prensky. Er versteht dar­ unter jene Generation, die mit di­­gi­ talen Technologien vertraut ist, weil sie mit diesen aufgewachsen ist. In­ ternet, Computerspiele und Instant Messag­ ing sind integrale Bestand­ teile ihres Lebens. Diese allgegenwär­ tige Infrastruktur und die massive Interaktion führen zu anderen Denk­ mustern und zu einer unterschiedli­ chen Art und Weise, Informationen zu verarbeiten. Deshalb stellen sich zahlreiche zivil­gesellschaftliche Ak­

teurinnen und Akteure die Frage, wie sie junge Menschen zukünftig errei­ chen und motivieren können. Dazu befragte das In­stitut für Qualitätsma­ nagement und Angewandte Betriebs­ wirtschaft IQB-FHS im Frühling 2019 in einer Online-Umfrage Digital Nati­ ves zwischen circa 16 und 25 Jahren im Kanton St.Gallen. Das Projekt hat das IQB-FHS in Zusammenarbeit mit der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St.Gallen, der Evange­ lisch-reformierten Kirche des Kantons St.Gallen sowie dem Bistum St.Gallen durchgeführt.

Jung, dynamisch und freiwillig engagiert Junge Menschen engagieren sich in den unterschiedlichsten Bereichen der Zivilgesellschaft. 92 % der Befrag­ ten gaben an, bisher mindestens ein Mal Freiwilligenarbeit geleistet zu ha­ ben. 51% sind zum Zeitpunkt der Da­ tenerhebung freiwillig engagiert. Das frei­willige Engagement steigt dabei mit zunehmendem Alter. Ein Desinteresse gegenüber gemein­ nütziger Arbeit hat sich im Rah­ men der Studie nicht bestätigt. Im Gegenteil: Viele junge Menschen

­engagieren sich freiwillig, obgleich schulische, berufliche oder familiäre Verpflich­tungen viel Zeit und Ener­ gie beanspruchen. In Bezug auf die aktuellen Interessen erhielten die Bereiche Sport (56 %), Kultur und Freizeit (47 %) sowie Bil­ dung/Erziehung (44 %) den höchsten Zuspruch bei den Jungen. Ein Blick auf das mögliche Zulaufpotenzial an Freiwilligen gegenüber der heutigen Situation zeigt, dass im Bereich Um­ welt-/Natur-/Tierschutz das grösste Potenzial besteht (+19 %). Der hohe Wert kann unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass seit An­ fang 2019 mehrere Hundert Jugend­ liche im Rahmen der globalen Klimabewegung mehrfach in den Klima­ streik g­ etreten sind.

Professionelle Begleitung der Digital Natives Ein Grossteil der Befragten (82  %) fühlte sich im Rahmen ihrer frei­ willigen Tätigkeit ausreichend durch erfahrene Personen eingeführt und begleitet. Dieser hohe Wert spricht für eine ansprechende und zeitgemässe Führungs- und Mentoringarbeit in gemeinnützigen Organisationen und

>> Daniel Jordan ist Leiter Kompetenzbereich Empirische Datenerhebung/Markt- und Unternehmensanalysen am In­s titut für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft IQB-FHS.

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Erkenntnis – Freiwilligenarbeit

Welche Bereiche würden dich momentan am meisten interessieren für einen freiwilligen Einsatz? (Mehrfachauswahl) Sport

16% 2% 56%

26%

Kultur und Freizeit Umwelt- / Natur- / Tierschutz Soziales / Karitatives Kirche / Religion

44% 47%

Politik Gesundheitswesen Bildung / Erziehung

21%

Dorf /Quartier

13%

34% 16% 30%

Öffentliche Dienste Anderer Bereich

Digital Natives würden sich am ehesten im Sport freiwillig engagieren. Ebenfalls einen hohen Stellenwert hat bei ihnen ein Einsatz im Bereich Kultur und Freizeit sowie für die Umwelt, die Natur und den Tierschutz.

selbstorganisierten Gruppen. Werden die ersten Gehversuche partizipativ und mit angemessenen Entfaltungs­ räumen gewährt, steigt die Chance, dass sich junge Menschen auch län­ gerfristig für die Zivilgesellschaft en­ gagieren.

Elternhaus und Schule als zentrale Vorspurer Im Hinblick auf den Einfluss des ­Elternhauses gaben 81% der Freiwil­ ligen an, dass auch andere Familien­ mit­glieder freiwillig engagiert sind. Im Vergleich dazu waren es bei den nicht freiwillig Engagierten lediglich 60 %. Auch die Rolle von Bildungsinsti­ tu­tionen wurde analysiert. Fast ein

­ rittel der Befragten gab an, dass D Freiwilligenarbeit während ihrer Schul-/Studienzeit gar nicht thema­ tisiert wurde. Wird die Antwortmög­ lichkeit «eher wenig» dazugerechnet, erreicht dieser Wert sogar 78 %. Die­ ser hohe Wert ist dahingehend als kri­ tisch zu betrachten, da schulische Ini­ tiativen als ideale Übungsfläche für gemeinnützige Aktivitäten und erste Wirksamkeitserfahrungen angesehen ­werden.

WhatsApp und Instagram sind Trumpf Die Digitalisierung schafft neue Mög­ lichkeiten der Kommunikation. Im Bereich der digitalen ­ Kanäle wird

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WhatsApp von den Digital N ­ atives mit Abstand am stärksten genutzt (93 %). Vor allem Gruppenchats sind ein Feature, das es Vereinen ermög­ licht, untereinander einfach und di­ rekt zu kommunizieren. Auf den wei­ teren Rängen folgen Instagram (62 %) sowie YouTube (53 %). Facebook ver­ liert hingegen an Bedeutung. In Be­ zug auf die Nutzung von digitalen Technologien ist jedoch auch festzu­ halten, dass Motivation und Gemein­ schaftsbildung weiterhin stark im Analogen verortet bleiben. Die Ergebnisse der Studie werden am Kantonalen Tag der Freiwilligen vom 23. November 2019 erstmals öf­ fentlich präsentiert und diskutiert. Für die zivil­gesellschaftlichen Akteu­ rinnen und Akteure sind die Erkennt­ nisse von Bedeutung hinsichtlich der Frage, w ­ elche Voraus­setzungen sie ih­ rerseits schaffen müssen, um Freiwilli­ genarbeit für junge Menschen attrak­ tiv zu gestalten. Denn nur wenn sie sich mit den Chancen und Risiken auseinander­setzen, können sie die di­ gitale Zukunft aktiv mitgestalten. In dieser Hinsicht ist abschliessend fest­ zuhalten, dass die Protagonisten nicht im Sinne eines übertriebenen Aktio­ nismus alles digitalisieren müssen. Sie benötigen aber zumindest eine Strate­ gie für das digitale Zeitalter. WEITERE INFORMATIONEN: daniel.jordan@fhsg.ch


Erkenntnis – Betriebliche Gesundheitsförderung

Jedes zweite Unternehmen

hilft beim Stressabbau Adrian Giger/Daniel Jordan

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in Monitoring-Bericht der FHS St.Gallen zur betrieb­ lichen Gesundheitsförderung in Ostschweizer Unternehmen zeigt: Unternehmen erkennen den Wert eines ganzheitlichen Gesundheitskonzeptes und setzen verschiedene Massnahmen ein. Das Befinden der Mitarbeitenden rücken sie dabei zunehmend in den Fokus. Wie steht es um die betriebliche Ge­ sundheitsförderung in Ostschweizer Unternehmen? Welche Massnahmen werden eingesetzt und welche gewin­ nen in Zukunft an Bedeutung? Um diese Fragen zu klären, hat das «Fo­ rum BGM – Betriebliches Gesund­ heitsmanagement Ostschweiz» das In­ stitut für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft IQBFHS beauftragt, die gegenwärtige Si­ tuation zu untersuchen. Der kürzlich erschienene Monitoring-Bericht 2019 gibt dazu Antworten. An der Umfrage, die im Juni und Juli 2019 durchgeführt wurde, nahmen mehrheitlich Geschäftsführende von

665 kleinen und mittelgrossen Unter­ nehmen teil. Über die Hälfte davon stammt aus dem Kanton St.Gallen, überwiegend aus folgenden Bran­ chen: Gesundheits- und Sozialwesen, Verarbeitendes Gewerbe/Herstel­ lung von Waren, Baugewerbe/Bau so­ wie Dienstleistungsunternehmen. Die andere Hälfte kommt aus den Kan­ tonen Thurgau, Appenzell Innerrho­ den, Appenzell Ausserrhoden und dem Fürstentum Liechtenstein.

Konsequent gegen Mobbing und Belästigung vorgehen Die Umfrageteilnehmenden s­etzen zur Gesundheitsförderung ihrer Mit­ arbeitenden unterschiedliche Mass­ nahmen ein. Einige solcher Mass­ nahmen setzen neun von zehn Unternehmen um: Eine erste essen­ zielle Massnahme besteht darin, dass Unternehmen bei Anzeichen von Be­ lästigung oder Mobbing konsequent eingreifen. Des Weiteren wird gemäss den Befragten den Mitarbeitenden ausreichend Zeit für die Aufgabenbe­ wältigung zur Verfügung gestellt und eine wertschätzende Feedbackkultur gelebt. Die Unternehmen lassen ihre

Mitarbeitenden z­ udem ihre Arbeits­ abläufe und Aufgabeneinteilung aktiv mitgestalten. Eine systematische Ab­ senzenerfassung wird ebenfalls bei fast allen Unternehmen durchgeführt.

Mehr Stressabbau und Entspannung Gegenüber der letzten Erhebung im Jahr 2016 konnten einige Verände­ rungen festgestellt werden. Fast jedes zweite Unternehmen ergreift inzwi­ schen Massnahmen zum Stressabbau und zur Entspannung. Dies stellt die grösste positive Veränderung zur letz­ ten Erhebung dar (+  6 %  ). Zudem bie­ ten mittlerweile 74 % der Unterneh­ men ergonomische Arbeitsplätze an (+  5 %  ). Weiter zum Positiven verän­ dert haben sich Belastungsfaktoren wie häufige Arbeitsunterbrechungen, Termindruck und Überstunden. Im Vergleich zur Befragung vor drei Jahren bieten lediglich noch 60 % der befragten Unternehmen Unterstüt­ zung bei Suchtproblemen an, was ei­ nem Rückgang von 13 % entspricht und somit die grösste negative Ver­ änderung darstellt. Von 95 % auf 87 % reduzierte sich der Aspekt «Klärung

>> Adrian Giger ist Projektleiter Kompetenzbereich Empirische Datenerhebung/Markt- und Unternehmensanalysen am ­Institut für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft IQB-FHS. Daniel Jordan ist Leiter Kompetenzbereich Empirische Daten­e rhebung/Markt- und Unternehmensanalysen am IQB-FHS.

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Erkenntnis – Betriebliche Gesundheitsförderung

der Aufgaben und Verantwortung der einzelnen Mitarbeitenden». Etwas we­ niger stark umgesetzt werden Mass­ nahmen zur Förderung der Konflikt­ fähigkeit der Mitarbeitenden (-  4 %  ).

Fehlendes Gesamtkonzept der Gesundheitsförderung Gemäss der Erhebung verfügt die Hälfte der Befragten aktuell über kein implementiertes Gesamtkon­ zept zur betrieblichen Gesundheits­ förderung und plant auch keines. 32  % sind auf dem Weg, ein Konzept zu er­ arbeiten, und 17% verfügen bereits über ein Gesamtkonzept. Unterstüt­ zung vom Forum BGM Ostschweiz für die betriebliche Gesundheitsför­ derung wünscht sich jedes fünfte Un­ ternehmen. Rund ein Drittel möchte mehr Unterstützung des Branchenver­ bands, aus dem persönlichen Umfeld oder von der SUVA erhalten. Nur je­ der Zehnte wünscht sich hingegen von einer externen Beratungsfirma Unter­ stützung. In Bezug auf die finanziellen und personellen Ressourcen ist rund die Hälfte der befragten Unterneh­ men der Meinung, dass in ihrem Be­ trieb ausreichende Mittel für die be­ triebliche Gesundheitsförderung zur Verfügung stehen. Das Forum BGM Ostschweiz, Auf­ traggeber der Studie, gewann in den letzten drei Jahren deutlich an Be­ kanntheit, sodass über die Hälfte der

Zu welchen Themen soll Ihr Betrieb weitere Massnahmen treffen? (Top 5 Antworten Mehrfachauswahl) Förderung von psychischer Gesundheit, Entlastung bei psychischen und emotionalen Belastungen

42.7 %

Förderung der Konflikt- und Teamfähigkeit (Förderung eines wertschätzenden Umgangs untereinander)

39.7 %

Förderung der körperlichen Fitness, Bewegungsförderung und körperlichen Entspannung

39 %

Verbesserung der Arbeitsabläufe und Klärung der Zuständigkeiten

36.3 %

Unterstützung bei der Erstellung von Gesamtkonzepten zur betrieblichen Gesundheitsförderung 0.0 %

33.2 %

10 %

20 %

30 %

40 %

50 %

Massnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements, die in den kommenden Jahren in Ostschweizer Unternehmen an Bedeutung gewinnen werden.

Befragten das Forum unterdessen kennt. Dies ist beachtlich und stellt einen positiven Leistungsausweis für das Forum und seine Tätigkeiten dar. Gemäss den Umfrageteilnehmenden werden in Zukunft unterschied­liche Massnahmen an Bedeutung gewin­ nen. Ein wichtiger Punkt ist das Ge­ samtkonzept zur Gesundheitsförde­ rung. 33% der Unternehmen planen hierzu ergänzende Massnahmen. Ein weiterer Punkt, der die Ostschwei­ zer Unternehmen in den kommen­ den Jahren beschäftigen wird, ist die Förderung der psychischen Gesund­

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heit. Das psychische Wohlbefinden, im Rahmen d ­ essen sich die Mitarbei­ tenden bestmöglich entfalten, erach­ ten die befragten Unternehmen als zentral. Überdies möchten 40  % wei­ tere Entwicklungspotenziale bei der Förderung der Konflikt- und Teamfä­ higkeit ausschöpfen. Mehr Beachtung wollen sie auch der Verbesserung der körperlichen Fitness beziehungsweise der Bewegungsförderung der Mitar­ beitenden schenken. WEITERE INFORMATIONEN: www.bgm-ostschweiz.ch


Erkenntnis – Digitalisierung und Landwirtschaft

Wann sich die Ernte von

Brokkoli lohnt

Oliver Christ/Katharina Giger/ Jürgen Prenzler

G

enau wissen, wo im Feld das Gemüse gedeiht und wo nicht: Die FHS St.Gallen und die NTB Buchs haben in einem gemeinsamen Forschungsprojekt Organisationsmodelle und Schlüsseltechnologien für den Ernteprozess von Kohlgewächsen in der Bodenseeregion entwickelt. Landwirte erhalten bereits während der Ernte eine Auswertung und können somit entscheiden, ob sich ein weiterer Durchgang finanziell lohnt. Die Ernte von Brokkoli, Blumenkohl oder Romanesco ist teuer. Denn da­ für braucht es viel Handarbeit und Er­ fahrungswissen. Dies macht s­peziell den Ernteprozess von Kohlge­wächsen kosten­intensiv und aufwendig, was sich auf den Preis des Gemüses aus­ wirkt. Um das Gemüse zu ernten, be­ freien die Erntehelfer auf dem Feld den Kopf der Pflanze vorsichtig von den umliegenden ­Blättern und

s­chneiden diesen mit einem Messer ab. Einzelne unreife Exemplare wer­ den zurückgelassen und zu einem spä­ teren Zeitpunkt geerntet. In diesem Prozess werden aber keine D ­ aten zum Feld oder den Pflanzen an sich gesam­ melt. Das angewandte Forschungs­ projekt DigiLand (Digitale Landwirt­ schaft in der Bodenseeregion) der FHS St.Gallen und der NTB Buchs setzt hier an und bietet den Land­ wirten eine neue Entscheidungs­ grundlage in Form eines Proto­typs.

Laufende Auswertung der Ernte Während der Ernte erfasst der Pro­ totyp mehrere Parameter zu jeder Pflanze. Im Anschluss erfolgt eine Er­ tragskartierung des Feldes. Landwirte erhalten bereits während der Ernte eine Auswertung und können anhand dieser entscheiden, ob sich ein weite­ rer Erntedurchgang finan­ziell lohnt. Die Ergebnisse der Auswertung unter­ stützen den verarbeitenden Betrieb zusätzlich in der Kapazitätsplanung. Beim Prototyp handelt es sich um eine Eigenentwicklung des Instituts für Entwicklung Mechatronischer Systeme der NTB Buchs. Das System

­ esteht aus einer Wiegeeinrichtung, b die mit einem smarten mechatroni­ schen Messer verbunden ist. Wäh­ rend des Ernte­prozesses werden der Zustand der Pflanze sowie das Ge­ wicht des geernteten Kopfes erfasst. Ein integriertes GPS-System ordnet die Werte einer Position auf dem Feld zu. Für jede Pflanze wird ein Daten­ satz generiert, der in der Datenbank einer Cloud gespeichert wird. Eine Web-Applikation erstellt eine Auswer­ tung auf Basis der vorliegenden Da­ ten. Dies erlaubt den Landwirten, die aktuellen Ergebnisse von einem belie­ bigen Endgerät aufzurufen.

Eine Lücke schliessen Solche und weitere innovative Tech­ nologien wie verteilte Sensor-Netz­ werke, selbstfahrende Traktoren oder Drohnenaufnahmen klingen für die Land- und Ernährungswirtschaft viel­ versprechend. Allerdings entsprechen sie in der Bodenseeregion – und gene­ rell in der Schweiz – nur ansatzweise der Praxis. Die Gründe sind vielfältig: • Viele landwirtschaftliche Betriebe nutzen lokale, oftmals nicht-integ­

>> Oliver Christ ist Dozent für Qualitätsmanagement & Angewandte Betriebswirtschaft an der FHS St.Gallen. Katharina Giger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft der FHS St.Gallen. Jürgen Prenzler ist Leiter des Instituts für Entwicklung Mechatronischer Systeme EMS der NTB Buchs.

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Erkenntnis – Digitalisierung und Landwirtschaft

rierte Technologien und Informa­ tionssysteme zur Planung und Or­ ganisation ihrer Abläufe. • Die meisten technologischen An­ wendungen konzentrieren sich nicht auf die gesamte Wertschöp­ fungskette der landwirtschaftlichen Produkte, sondern lediglich auf ei­ nen Teilbereich. • Die Informationsflüsse in der land­ wirtschaftlichen Kette sind – ver­ glichen mit anderen Industrien – stark fragmentiert und können selten integriert und automatisiert abgebildet werden. • Landwirtschaftlichen Betrieben mangelt es an organisatorischen ­Fähigkeiten, um das Potenzial der zahlreichen Technologien einzu­ schätzen, relevante Technologien auszuwählen und diese in die be­ trieblichen Abläufe zu integrieren. • Für KMU stehen momentan weder integrierte, verteilte und leicht ein­ zusetzende Softwarelösungen noch standardisierte Prozess- und Or­ ganisationsmodelle zur s­chnellen Selektion und Implementierung neuer Technologien zur Verfügung. Ziel des angewandten Forschungs­ projekts DigiLand ist es deshalb, diese Lücke zwischen Möglichkeit und Wirk­ lichkeit zu schliessen. Dies geschieht insbesondere durch die Entwicklung pragmatischer Handlungsempfehlun­ gen, Entscheidungshilfen, Ordnungs­

raster und Referenz­ modelle, aber auch durch die Entwicklung von Pro­ totypen zur Verbesserung der Ab­ läufe. Da die zahlreich bestehenden Technologien stark spezialisiert sind, ist eine vertiefte Analyse und Entwick­ lung solider Handlungsempfehlungen und Referenzmodelle nur möglich, wenn der Anwendungsbereich sehr spezifisch definiert und untersucht wird. Aus diesem Grund entschied sich das Projektteam für die detail­ lierte Analyse der Wertschöpfungs­ kette der drei Kohlgewächse Brok­ koli, Blumenkohl und Romanesco, die insbesondere im Bereich Tiefkühlpro­ duktion in der Bodenseeregion aus­ reichend relevant sind. In einem wei­ teren Schritt wurden die Analysen auf den Bereich Most- und Tafel­äpfel übertragen.

«Precision Farming» wird attraktiv Die Ergebnisse der Prozess- und Tech­ nologieanalysen sämtlicher Abläufe, Technologien und Entscheidungs­ logiken entlang der Wertschöpfungs­ ketten wurden durchgehend als BPMN 2.0 Prozessmodelle modelliert und zu durchgängigen Prozessketten verbun­ den. Alle Prozesse wurden hie­ rarchisch dargestellt, an obers­ ter Stelle erscheint die Prozessland­ karte der gesamten Wertschöpfung. Die verschiedenen Prozesse wurden mit den passenden Steuerungsgrössen

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Prototyp für die Ernte von Kohlgemüse: Die Wiegeeinrichtung ist mit einem smarten mechatronischen Messer verbunden.

(Kennzahlen, ­Wirkungsbeziehungen) sowie möglichen Digitalisierungspo­ tenzialen angereichert und können durch integrierte Management Cock­ pits gesteuert werden. Aus den Analysen ergaben sich nach den ersten Projektmonaten verschie­ dene Potenziale für neue Technolo­ gien und eine Verknüpfung bestehen­ der Basistechnologien zu spezifischen Anwendungen. Dies führte zu eingangs beschriebener prototypischer Entwick­ lung einer für Kohlgewächse relevan­ ten Schlüsseltechnologie. Dank der Or­ ganisationsmodelle und Prototypen wird «Precision Farm­ing» auch für den Gemüseanbau attraktiv. WEITERE INFORMATIONEN: www.agrodigital.ch


Erkenntnis – Neuerscheinungen

Alltagskunst, Blockchain und Freundschaften

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orschungsergebnisse, Fachbeiträge, Referate und öffentliche Vorlesungen – die Do­zie­renden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden der Fachhochschule St.Gallen schreiben regelmässig über ihre Arbeit und über aktuelle Themen. In dieser Rubrik stellen wir einige ausgewählte Buchpublikationen aus dem Jahr 2019 vor.

Biografien von administrativ versorgten Menschen

Blockchain und Co. anschaulich erklärt

Das Spektrum der Veröffentlichun­ gen an einer Fachhochschule mit vier Fachbereichen, zahlreichen Institu­ ten und Kompetenzzentren ist breit. In Zusammenarbeit mit dem Biblio­ theksteam hat die Redaktion für diese Übersicht einige aktuelle, thematisch möglichst breit ausgerichtete Publika­ tionen ausgewählt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Alle diese Bücher sind im Jahr 2019 erschienen und kön­ nen in der Bibliothek der FHS St.Gal­ len ausgeliehen werden. (mul/sxa)

Wer sind die Menschen, die von einer administrativen Versorgung betroffen waren? Wie gerieten sie in den Fokus der Behörden? Wie erlebten sie die Versorgung und welche Auswirkun­ gen hatte diese auf ihr Leben? Die Analyse von 58 biografischen Inter­ views mit ehemals administrativ ver­ sorgten Menschen offenbart Gemein­ samkeiten. Etwa, wie die Betroffenen Opfer der Massnahme wurden, wel­ che beruflichen Wege ihnen offen­ standen oder Erfahrungen, die sie im fami­liären und sozialen Leben teilten.

Die komplexe Welt von Blockchain und Co. wird in diesem Nachschlage­ werk auf verständliche und praxis-​ orientierte Weise vermittelt. «Block­ chain für die Praxis» bietet dank klarer Strukturierung, zahlreichen Illu­strationen und Praxis-Beispielen einen fundierten Einblick in die Funk­ tionsweise und Anwendungsfelder der Blockchain-Technologie. In zugäng­ licher Weise werden vielfältige Er­ kenntnisse für Einsteigerinnen und Einsteiger sowie für Fortgeschrittene vermittelt.

WEITERE PUBLIKATIONEN finden sich im Bibliothekskatalog: www.fhsg.ch/bibliothek

Ruth Ammann/ Alfred Schwendener: «Zwangslagenleben». Biografien von ehemals administrativ ­versorgten Menschen (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommis­ sion Administrative Versorgungen; Volume 5). Zürich: Chronos Verlag, 2019, ISBN: 978-3-0340-1515-8

Pascal Egloff/Ernesto Turnes: Blockchain für die Praxis. Krypto­währungen, Smart Contract, ICOs und Tokens. Zürich: Verlag SKV, 2019. ISBN: 978-3-286-50305-2 (Print), 978-3-286-11752-5 (E-Book)

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Erkenntnis – Neuerscheinungen

MakerSpaces – Innovative Lernumgebungen in der Schule

Wirtschaft und Musik passen bestens zusammen

Wie gestalten wir in Zukunft Freundschaften?

Immer mehr Schulen wagen erste Experimente im Bereich Making. Mit der Maker-Idee sind aber Prinzi­ pien verbunden, die sich nicht immer vollständig mit den Strukturen der Schulwirklichkeit decken. Was pas­ siert, wenn die Maker-Idee direkt auf die Schule trifft? Wie gross sind die Chancen und Reibungspunkte? Wel­ che Rahmenbedingungen braucht es für eine erfolgreiche Implementation? Dieser Band beschäftigt sich n ­ eben der Klärung von grundlegenden Be­ griffen und Perspektiven rund um das schulische Making mit konkreten Er­ fahrungen aus der schulischen und ausserschulischen Praxis.

Das «Handbuch Alltagskunst» rich­ tet sich an Unternehmen und Kunst­ schaffende. Es zeigt, wie sich die unter​schiedlichen Sphären verknüpfen las­ sen und wie daraus eine nachhaltige und für alle Beteiligten bis hin zu den Mitarbeitenden und den Kunden ge­ winnbringende Zusammenarbeit ent­ steht. Die Autorinnen und Autoren umreissen den konzeptionellen Rah­ men und stellen anhand von BestPractice-Beispielen erfolgreiche Ko­ operationsprozesse, Ergebnisse und Kennzahlen zur Erfolgsmessung vor.

Freundschaftsbeziehungen gelten als ein hohes Gut im menschlichen Zu­ sammenleben. Durch die Individua­ lisierung, Mobilität und Social Media gestalten sie sich heute aber unter­ schiedlich. Wie werden wir in Zukunft Freundschaften leben und gestalten? Die Autorinnen und Autoren betrach­ ten Freundschaft und ihr Verhältnis zu Liebe, Politik und Fürsorge sowie unter den Aspekten Lebens­alter und Geschlecht. Als Ergebnis entstehen Szenarien zwischen Idealisierung und Auflösung bisher bekannter Freund­ schaftsformen.

Selina Ingold/Björn Maurer/ Daniel Trüby (Hrsg.): Chance MakerSpace. Making trifft auf Schule. München: kopaed, 2019, ISBN: 978-3-86736-539-0 (Print), 978-3-86736-648-9 (E-Book)

Wilfried Lux/Evelyn Fink-­ Mennel/Pietro Morandi/ Maria Nänny: Handbuch Alltagskunst. Kooperatio­ nen zwischen Musik und Wirtschaft. Erfolgsmodelle für die Praxis. Berlin: Frank & Timme, 2019, ISBN: 978-3-7329-0549-2 (Print), 978-3-7329-9449-6 (E-Book)

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Steve Stiehler (Hrsg.): Zur Zukunft der Freundschaft. Freundschaft zwischen Idealisierung und Auflösung (Transpositionen; Band 7). Berlin: Frank & Timme, 2019, ISBN: 978-3-7329-0445-7 (Print), 978-3-7329-9558-5 (E-Book)


Persönlich – Zu Besuch bei Jonas Hubmann

Jonas Hubmann beim Training: «Im Street Workout kann man sich sehr gut entwickeln und auf ein Ziel hinarbeiten.» (Foto: Bodo Rüedi)

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Persönlich – Zu Besuch bei Jonas Hubmann

Von Menschen,

Maschinen und Muskelkraft Malolo Kessler

S

tehenbleiben wäre für ihn ein Horror. Jonas Hubmann, Wirtschaftsinformatiker und FHS-Alumnus, ist stets in Bewegung, privat als auch beruflich. Für seinen Arbeitgeber beschäftigt sich der 27-jährige Ausserrhödler mit der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine – was ihn auch schon ins Silicon Valley verschlagen hat. Er hatte sich alles bunt vorgestellt. Leuchtend, pulsierend, lebendig. Doch als er da war, am bedeutendsten aller bedeutenden Hightech-Standorte der Welt, in der Wiege von Apple, Facebook und Tesla, war alles ganz anders. Dort, wo täglich Milliarden­­investitionen ge­ tätigt und Träume begraben werden, dort, wo er die nächsten Monate arbei­ ten sollte, sah alles ganz normal aus. Da gab es Wohnsiedlungen mit klas­ sischen amerikanischen Häusern und Garagen, aber keine Industrie, keine Hochhäuser. Und Jonas Hubmann fragte sich: Ist das hier jetzt wirklich das Silicon Valley? Jetzt, vier Monate später, muss der Wirtschaftsinformatiker lachen, wenn er daran zurückdenkt. Der FHS-Alum­ nus sitzt am Rande eines Street-Work­ out-Platzes an seinem Wohnort Win­ terthur. Hier erzählt er, wieso es ihn ins Silicon Valley verschlagen hat und

weshalb er nicht Dozent geworden ist – vielleicht noch nicht.

Mit der Lehre geliebäugelt Jonas Hubmann ist im ausserrhodi­ schen Gais aufgewachsen. In «quasi ei­ ner Zweier-WG», wie er sagt, gemein­ sam mit seinem Vater. Seine Eltern lebten getrennt, er ist ein Einzelkind. «Deshalb sehe ich meinen Freundes­ kreis seit jeher auch als Familie», sagt der 27-Jährige. Er absolvierte eine Mediamatiker-Lehre und anschlies­ send die kaufmännische Berufsmatur. Nach einem Zwischenjahr mit Rekru­ tenschule und Sprachaufenthalt in den USA entschied sich Hubmann für ein Studium an der FHS. «Mir war es wich­ tig, in der Region zu bleiben.» Er zog nach St.Gallen, machte zwischen 2013 und 2016 den Bachelor in Business Ad­ ministration mit Vertiefung in Wirt­ schaftsinformatik. «Die Studienrich­ tung hat mich interessiert, weil sie sich um Mensch und Maschine dreht und sich mit der Nahtstelle zwischen Busi­ ness und IT befasst.» Mit der Position

an dieser Nahtstelle könne er sich sehr gut identifizieren, sagt er. «Ich bin ein Übersetzer zwischen beiden Welten. In meinem Verständnis wird es künf­ tig keine klassische Betriebswirtschaft mehr geben, da die IT bereits alle Be­ reiche eingenommen hat, sowohl privat wie auch im Berufsalltag.» Während des Bachelor-Studiums habe er nebst dem persönlichen Austausch insbeson­ dere die Praxisorientierung geschätzt. Er entschied sich, den Master in Busi­ ness Informatics anzuhängen, den die FHS gemeinsam mit den Hochschulen Zürich, Bern und Luzern anbietet. Daneben arbeitete Hubmann in einem 70-Prozent-Pensum als Wissenschaft­ licher Mitarbeiter im Institut für In­ formation und Prozessmanagement IPM-FHS, wo er etwa die ­«eBusiness Challenge» organisierte und Tutorats­ vorlesungen hielt. Eine Weile liebäu­ gelte er mit der Lehre, mit einer aka­ demischen Karriere – «einfach, weil mir der Draht zu anderen Menschen wichtig ist». Er machte einen CAS in Hochschuldidaktik, legte den Plan dann aber ad acta: «Ich fühlte mich zu

«ALS WIRTSCHAFTSINFORMATIKER SEHE ICH MICH ALS ÜBERSETZER ZWISCHEN ZWEI WELTEN.»

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Persönlich – Zu Besuch bei Jonas Hubmann

jung, um als Dozent vor Studierenden zu stehen. Ein Dozierender sollte wis­ sen, ­wovon er spricht und auch prak­ tische Erfahrung mitbringen.»

Ein Lebenslauf mit Superlativen Der FHS-Alumnus ist ein Mann mit einem Plan. Hubmann denkt vor und mit, ist ehrgeizig. Spricht er über sei­ nen Beruf, werden die Gesten ausho­ lender, die Anglizismen branchen­ bedingt mehr. Stehenbleiben, sagt er, wäre für ihn ein Horror. Seinen Le­ benslauf ziert der eine oder andere Superlativ. 2018 hat er den besten Masterabschluss gemacht, die beste Master-Thesis geschrieben. Danach bewarb er sich bei der Swisscom für ein Trainee-Programm, zusammen mit etwa 300 anderen Bewerber­innen und Bewerbern. Als einer von elf und als Einziger mit Hochschul- und nicht Universitätsabschluss wurde er – «nachdem ich am Assessmenttag eher ein wenig durch den Prozess gestolpert war» – ins Programm aufgenommen. Und von diesen elf wiederum war Hubmann der Einzige, der im Rah­ men dieses Trainee-Programms ins Silicon Valley durfte. «Im Swisscom­Outpost recherchierte ich dann zum Beispiel, inwiefern das Thema  Block­ chain  für Swisscom strategisch rele­ vant sein könnte, oder welche Innova­ tionen und Start-ups interessant für den Schweizer Markt wären.»

Die Arbeitskultur, sagt Jonas Hub­ mann, sei in den USA ganz anders als in der Schweiz. «Alles geht schnel­ ler, alles ist explorativer.» Auch sei er davon ausgegangen, dass alle immer sehr offen seien und aufeinander zu­ gingen. «Das habe ich nur wenig ge­ spürt. Die Leute waren dann offen, wenn sie an einem Networking-Event waren, mit dem Ziel, ein Geschäft abzuschliessen oder Kapital für den Aufbau i­hres Start-ups zu gewinnen.» An anderen Orten Locals kennenzu­ lernen, sei schwieriger gewesen. «Da muss man selbst sehr offen sein.» Das ist er, der von sich sagt, er habe auch bei Apéros an der FHS eher zu de­ nen gehört, die zuletzt gingen. In San Francisco schloss sich Hubmann ei­ nem Fussballverein an, traf regelmäs­ sig Freunde, die er schon im Zwischen­ jahr kennengelernt hatte. Und obschon das Silicon Valley weni­ ger bunt, weniger leuchtend, w ­ eniger pulsierend war, als er sich das vorge­ stellt hatte: Die Firmenbesuche, etwa bei Netflix, Google, Tesla und Face­ book, seien sehr eindrücklich gewe­ sen. «Ich konnte die unterschiedlichen Firmenkulturen hautnah miterleben.» Bei Tesla und Apple beispielsweise durfte er gar nichts vom Unternehmen sehen, er und die anderen Besucher hätten in einem Neben­raum im Tesla-­ Hauptquartier in Palo Alto einfach eine Diskussion mit e­ inem Geschäfts­ leitungsmitglied geführt. Bei Netflix

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hingegen habe ein Entwickler eine Führung durch alle Räume gemacht. Die Digitalisierung sei im S ­ilicon ­Valley und allgemein in der Bay Area überall präsent, erzählt Hubmann wei­ ter. «Es gibt Robo-Polizisten, die Au­ tos auf der Strasse fahren vorwiegend für Uber oder Lyft und überall sind E-Scooter und E-­Velos ­unterwegs.»

FHS ALUMNI Die Ehemaligen-Organisation der FHS St.Gallen ist ein wachsendes Netzwerk von 3000 aktiven Mitgliedern sowie Studierenden-­ Mitgliedern. Ehemalige und aktuelle Studierende bleiben unterein­ander und mit der Hochschule verbunden. Kontakte pflegen und neue knüpfen, innerhalb des eigenen Fachbereichs sowie interdisziplinär: Social­ izing ist bei Alumni-Veranstaltungen sowie beim grös­sten und öffentlichen Anlass, dem Networking-Tag, möglich. Auf den Social-Media-Plattformen Xing, LinkedIn, Facebook und Ins­tagram finden sich unter «FHS Alumni» spannende News rund um das Ehemaligen-Netzwerk. www.fhsalumni.ch


Persönlich – Zu Besuch bei Jonas Hubmann

«NOCH HABEN VIELE MENSCHEN RESPEKT DAVOR, MIT EINER MASCHINE EINEN SCHEINBAR UNNATÜRLICHEN DIALOG ZU FÜHREN.» Mitte Mai ist Hubmann zurückgekehrt in die Schweiz, von seinem Apartment im 13. Stock in San Francisco zurück in die WG in Winterthur. Er hat das Trainee-Programm fertig absolviert und arbeitet jetzt als Product Owner bei Swisscom, wo er sich insbesondere mit dem Thema «Voice» beschäftigt, mit automatisierter Spracherkennung für den Businessbereich. «Noch haben viele Menschen Respekt davor, mit ei­ ner Maschine einen scheinbar unna­ türlichen Dialog zu führen, was ver­ ständlich ist. Auch Datenschutz ist ein wichtiges Thema. Ich bin aber über­ zeugt davon, dass der Voice-Kanal in Zukunft grosse Relevanz haben wird.» Sein berufliches Ziel in langfristiger Hinsicht sei, Menschen in die digitale Welt zu begleiten und die damit ver­ bundene Komplexität zu bewältigen.

Mit dem eigenen Körpergewicht Als Ausgleich zu seinem Beruf macht Jonas Hubmann Sport. Er fährt Snow­ board, spielt Fussball, macht Fitness, hat Breakdance und Salsa getanzt.

Seit drei Jahren macht er Street Work­ out. Ihn fasziniert, nur mit dem ei­ genen Körpergewicht zu trainieren, ganz ohne Maschinen. «Und das im Freien, das macht einfach sehr viel Spass.» Drei bis vier Mal pro Wo­ che besucht er Street-Workout-Plätze, manchmal trainiert er alleine, manch­ mal mit anderen. Ihm gefalle das So­ ziale, aber auch das Kompetitive. «Im Street Workout kann man sich sehr gut entwickeln und auf ein Ziel hin­ arbeiten.» Und schliesslich sei es auch noch gratis, sagt Hubmann und lacht. Während zehn Jahren hat der Wirt­ schaftsinformatiker Schlagzeug ge­ spielt, zwischendurch auch in Bands. Momentan spiele er wieder für sich selbst, mit einem E-Drum. «Ein mittel­ fristiges Ziel für mich ist, wieder eine Band zu gründen.» Und ein eigenes Start-up. Gerne würde er auch eine Weile im Ausland arbeiten. Und weil Jonas Hubmann ein Mann mit einem Plan ist, hat er auch bereits einen fürs Altwerden: Das will er dereinst in ei­ ner Alters-WG. Mit seinen Freunden, die ihm Familie zugleich sind.

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Alumni-Events Dezember Eisstockschiessen – wer zielt näher an die « Daube »? Donnerstag, 5. Dezember 2019 18 Uhr St.Gallen

Januar FHS Alumni Jahresversammlung Dienstag, 14. Januar 2020 St.Gallen

März FHS-Seminar «Essenz» Schöne neue Welt ganz konkret. Freitag und Samstag, 27.  /28. März 2020 St.Gallen

September Networking-Tag 2020 «Wie viel Erde braucht der Mensch?» Im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie Freitag, 4. September 2020 St.Gallen Aktuelle und laufend weitere Alumni-Events: www.fhsalumni.ch/ veranstaltungen


Ausblick – Veranstaltungskalender

November Bücherflohmarkt Donnerstag, 28. November 2019, 15.00 bis 19.00 Uhr, FHS-Bibliothek, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/buecherflohmarkt Ringvorlesung Megatrend (Un-)Sicherheit Donnerstag, 28. November 2019, 17.00 bis 18.30 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost, St.Gallen www.fhsg.ch/megatrends

Dezember Vadian Lectures Digitalisierung: Zwischen Technik­ gläubigkeit und apokalyptischen Befürchtungen Donnerstag, 5. Dezember 2019, 18.00 Uhr, Kantonsratssaal, St.Gallen www.fhsg.ch/vadianlectures Öffentlicher Vortrag ArchitekturWerkstatt St.Gallen Mittwoch, 11. Dezember 2019, 18.30 bis 20.00 Uhr, ArchitekturWerkstatt St.Gallen www.fhsg.ch/architektur-vortraege

Ringvorlesung Urbanisierung und ­Soziale Frage Donnerstag, 12. Dezember 2019, 17.00 bis 18.30 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost, St.Gallen www.fhsg.ch/megatrends Präsentation Industrieprojekte aus der Praxis – für die Praxis Montag, 16. Dezember 2019, 17.00 bis 19.00 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/industrieprojekte

Januar 3. St.Galler New Work Forum «Neue Arbeitswelt – New Work Culture?» Mittwoch, 8. Januar 2020, 9.00 bis 17.00 Uhr, Lokremise, St.Gallen www.newworkforum.ch FHS-Infoabend Mittwoch, 8. Januar 2020, Weiterbildungen ab 17 Uhr, Bachelor- und Master-Studiengänge ab 18.00 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/infoabend

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Vernissage Buchpublikation «Kunst+Bau» Dienstag, 21. Januar 2020, 18.00 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/kunst Impulsreferat: Künstliche Intelligenz Dienstag, 28. Januar 2020, 18.00 bis 21.00 Uhr, Zukunftsbüro, St.Gallen www.fhsg.ch/zukunftsbuero

Februar FHS-Infoabend Donnerstag, 6. Februar 2020, 18.00 bis 19.30 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/infoabend FHS-Infoabend Dienstag, 18. Februar 2020, 19.00 bis 20.30 Uhr, Berufsbildungszentrum Weinfelden www.fhsg.ch/infoabend

März 11. Unternehmensspiegel Ostschweiz Dienstag, 3. März 2020, 18.00 bis 19.30 Uhr, Pfalzkeller, St.Gallen www.fhsg.ch/ifu-unternehmens­ spiegel


Ausblick – Veranstaltungskalender

FHS-Infoabend Mittwoch, 4. März 2020, 17.30 bis 19.00 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/infoabend

Impulsreferat: Superforcasting Dienstag, 31. März 2020, 18.00 bis 21.00 Uhr, Zukunftsbüro, St.Gallen www.fhsg.ch/zukunftsbuero

Impressum Herausgeberin FHS St.Gallen, Hochschule für An­ gewandte Wissenschaften, St.Gallen. ­Redaktion Lea

11. Unternehmensspiegel Ostschweiz Mittwoch, 18. März 2020, 18.00 bis 19.30 Uhr, Hotel zur Linde, Teufen www.fhsg.ch/ifu-unternehmens­ spiegel 9. Schweizer Bildungsforum Donnerstag, 26. März 2020, 18.00 bis 19.45 Uhr, Pfalzkeller, St.Gallen www.fhsg.ch/bildungsforum Vadian Lectures Interpretationen zur Demokratie. Kohäsion, Lebensform, Macht, Zukunft Donnerstag, 26. März 2020, 18.00 bis 19.30 Uhr, Kantonsratssaal, St.Gallen www.fhsg.ch/vadianlectures FHS-Infoabend Montag, 30. März 2020, 18.00 bis 19.30 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/infoabend

Mai Innovationstagung Mittwoch, 6. Mai 2020, 14.00 bis 20.00 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/innovationstagung

Müller (Redaktions- und Projekt­leitung), ­Andrea Sterchi (stv. Leitung), Basil Höneisen, Christian Jauslin, Claudia Züger. Weitere Autorinnen und ­Autoren dieser Ausgabe Oliver Christ, A ­ drian Giger, Katharina Giger, ­Ludwig ­Hasler, Jasmina Henggeler, Daniel Jordan, ­Malolo Kessler,­­Jürgen Prenzler, Nina Rudnicki, Lukas Schmid, Thomas Utz, Andrea Wiggelmann, Sebastian Wörwag. Bildkonzept «Raum» Sebastian Stadler, St.Gallen. Fotografie Debora Giammusso, FHS St.Gallen;

Business Analytics – Einsatz­ möglichkeiten, Chancen und Risiken des datenbasierten Arbeitens Montag, 11. Mai 2020, ab 17.00 Uhr, Fachhochschulzentrum St.Gallen www.fhsg.ch/iqb-event Vadian Lectures Interpretationen zur Demokratie. Kohäsion, Lebensform, Macht, Zukunft Donnerstag, 14. Mai 2020, 18.00 bis 19.30 Uhr, Kantonsratssaal, St.Gallen www.fhsg.ch/vadianlectures

Weitere Veranstaltungen Mehr über unser öffentliches Programm: www.fhsg.ch/veranstaltungen

Donato Caspari, St.Gallen; Bodo Rüedi, St.Gallen. Grafik/­Layout Milena Bieri, FHS St.Gallen. Illustration Kolumne Philip Meuli, St.Gallen. Korrektorat/ Vorstufe/Druck Schmid-Fehr AG, Goldach. ­Inserate MetroComm AG, 9001 St.Gallen, +41 71 272 80 57 Auflage 7500 Exemplare. Erscheint zwei Mal jähr­ lich. Nächste Ausgabe Mai 2020, ISSN-­Nummer: 2297-4806 Abonnemente Jahres-Beitrag CHF 30 für die Print-Ausgabe, substanz@fhsg.ch, www. fhsg.ch/substanz Kontakt FHS St.Gallen, Redak­ tion Substanz, Rosenbergstrasse 59, Postfach, 9001 St.Gallen, +41 71 226 16 04, substanz@fhsg.ch ­Anmerkung Die Beiträge im «substanz» entspre­ chen dem Leitfaden für die sprachliche Gleich­ stellung der FHS St.Gallen. Wird aus Platzgrün­ den nur die männliche Form verwendet, ist die weibliche Form immer mit eingeschlossen.

PERFO RMAN CE

neutral Drucksache No. 01-19-130510 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

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SUBSTANZ


Schlusspunkt – Kolumne

Räume

machen Leute

Ludwig Hasler, Publizist und Philosoph Ich war kürzlich in einem dieser Schweizer Historic Hotels, es reicht ins 18. Jahrhundert zurück, chic auf­ gefrischt, doch man sieht ihm an, dass es schon einiges hinter sich hat. Räume mit bewegter Vergangenheit, mit Sinn für rauschende Feste, mit Diskretion für kleine schmutzige Ge­ heimnisse, mit Trost für Narben, die das Leben schlägt. Sie verstehen sich prima mit dem ewigen Problemfall Mensch. Jedenfalls merkte ich plötz­ lich: Ich bewege mich bewusster, ich achte auf Haltung, auf meinen Gang, meine Redeweisen. Der Anspruch der Räume springt über auf meinen Anspruch an mich selbst. Ich bringe mich in Bestform, bin eine Spur kulti­ vierter als normal, etwas klüger, ge­ selliger, aufmerksamer, lustiger.

Die Kulisse, sagt man, ist das halbe Theater. Räume sind nicht Raum­ hüllen, sie sind eher Kulissen, sie ­laden zum Spiel auf der Bühne. Da­ bei geben sie die Art des Spiels schon vor. Was gibt es in diesem Raum zu spielen – ein Trauerspiel, einen Schwank, eine Posse, ein Lustspiel? Wirken Räume animierend, leben wir auf, das Spiel wird reich. Wirken Räume abweisend, schrumpfen wir – oder rasten aus. Schliesslich sind wir keine reinen Geister, sondern Sinnen­ wesen. Also kommt es darauf an, wie unsere Sinne ge­füttert, gelenkt, im besten Fall verzaubert werden. Wo ich bei zeitgenössischen Bauten von Ratio schwärme, von technischer Raffinesse und kühler Funktiona­lität, kapiere ich hier sogleich: Atmosphäre ist wichtig! Empfindung! Intensität! Stil! Eleganz! Hier beschränkt sich Architektur nicht auf transparente Rechtwinkligkeit und riesige Fenster, hier baut sie auf Sinn und Sinnlich­ keit, sie weiss aus Erfahrung, wie be­ schwingt ein Raum sein kann, wie er­ hebend, wie verführerisch, sie weiss, warum Menschen in Räumen ge­ borgen sind oder abgelehnt oder an­ geregt. Gilt telquel für Aussenräume. Am besten nehmen sie uns in eine Er­ zählung hinein, wie die sagenhaften

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SUBSTANZ

­ iazze ­italienischer Kleinstädte. Da P lebt eine reiche Wechselwirkung zwi­ schen Architektur und mensch­lichem Körper. Der Mensch fühlt sich in ge­ bauter Umgebung umso wohler, je viel­fältiger er mit Architektur «kom­ munizieren» kann. Das heisst: Je mehr er von sich selbst in der Archi­ tektur wiederfindet. Darum hat er (die Neuro­ wissenschaft weiss es längst) eine Vorliebe für Architektur, bei der etwas übersteht, bei der es Erker gibt und Terrassen, Vorsprünge, wo wir uns unterstellen können. Wir sind ja darauf programmiert, Gesichter zu er­ kennen, und wir freuen uns, wenn das auch bei Gebäuden gelingt, wenn sich an Fassaden (wie bei uns) etwas fin­ det, das vorsteht und auffällt, das sich leicht einprägt und eindeutig wieder­ erkennen lässt. Und da wir dauernd nach Orientierung suchen, sollten öf­ fentliche Plätze wie ein Handlungs­ bogen funktionieren, mit Aufforde­ rungen zum Tun, mit einem Ablauf, mit so etwas wie Anfang, Mitte und Schluss. So kultivieren Räume uns Menschen. Wenn aber alles gleich und glatt aus­ sieht? Dann versetzen sie uns in einen Zustand aggressiver Gelangweiltheit. Die einen werden niedergeschlagen, andere wütend. So machen, wie ge­ sagt, Räume Menschen.


FHO Fa chhoch schule Ostsch weiz

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substanz FHS St.Gallen – Nr. 2 /2019

Brennpunkt

Raum

Eine Annäherung über vier Wände hinaus Freiraum für den Kopf Loslegen ohne Plan schafft Raum für Visionen Hört den Kindern zu! Wie setzt die Schweiz die Kinderrechte um? Mit Hightech Brokkoli ernten Wenn die Technik weiss, wann das Gemüse reif ist Stets in Bewegung Zu Besuch bei Alumnus Jonas Hubmann


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