substanz FHS St.Gallen - Nr.1/2019

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substanz FHS St.Gallen – Nr. 1/2019

Brennpunkt

substanz goes international Von St.Gallen in die Welt hinaus und wieder zurück

Blick in den Suppentopf Die Suppe als Sinnbild für die Internationalisierung Raus aus der Komfortzone Brauchen wir mehr kulturelle Kompetenz? Zwischen Neugier und Skepsis Die Digitalisierung ist noch kein Massenphänomen Das moralisch gute Leben Die Suche nach einer Formel



Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser Bildung bedeutet, die Welt denkend zu durchdringen. Das wusste schon Hegel vor mehr als 200 Jahren. Die Welt, zumindest das, was man von ihr wusste, war damals vielleicht kleiner, aber auch damals hörte sie nicht im «Vorgarten» der eigenen Vorstellungswelt auf. Damals wie heute gilt: Wissen kennt keine Grenzen – keine Landesgrenzen, keine technischen Grenzen, vor allem auch keine Vorstellungs­grenzen. Auch Bildung muss sich diesen Grenzen ver­wehren. Ein schönes Beispiel für grenzüberschreitende Bildung ist die Internationale Bodenseehochschule: 30 Universitäten, Fachhochschulen, Duale und Pädagogische Hochschulen sowie Kunst- und Musikhochschulen bilden unter dem Vorsitz der FHS St.Gallen aktuell Europas grössten sparten-übergrei­ fenden Wissenschaftsraum – grenzüberschreitend über vier Länder. Und mit der Digitalisierung werden bisherige Grenzen nochmals abgebaut: Heute können wir alles Wissen dieser Welt in Sekundenbruchteilen erhalten, nutzen und teilen. Das ist grandios, doch birgt die digital globalisierte Wissensgemeinschaft auch das ­Risiko, zwar grenzenlos informiert, aber deswegen noch lange nicht gebildet zu sein. Darin liegt aber der Anspruch der Hochschulen. Wissen ist mehr als Information, und Bildung ist mehr als Wissen. Bildung ist Anleitung zur Reflexion, Aufforderung zum Denken in und über eine Welt, die uns gleich­zeitig immer näher kommt und doch immer fremder wird. Das führt uns weg von Territorial­staatsdenken (z.B. «America First») zu Fragen unserer internationalen Verantwortung in einer komplexen Welt. Das betrifft Staaten, Professionen ebenso wie Individuen. Jene, die lernen, die Welt als Ganzes kritisch denkend und verantwortungsvoll zu verstehen und einen Beitrag zu leisten, dass sie für alle ein besserer Ort wird, zeichnen sich durch so etwas wie Weltläufigkeit aus. Gemeint ist eine Haltung, offen und vorurteilsfrei der Vielfalt und Fremdheit dieser Welt zu begegnen. Das erleben unsere Studierenden im Austausch mit Studierenden anderer Kulturkreise. Die vorliegende Ausgabe des FHS-Magazins «substanz» lässt sie mit ihren Erfahrungen zu

Prof. Dr. Sebastian Wörwag, Rektor FHS St.Gallen

Wort kommen. Weltläufigkeit hat auch viel mit interkulturellen Kompetenzen zu tun, wie der Essay von Christa Uehlinger beschreibt. Internationalität und grenzüberschreitendes Denken beziehen sich aber nicht nur auf die Bildung, sondern auch auf die Forschung: Jede Forschung überschreitet die Grenze des Bekannten und Vertrauten und öffnet uns eine «Terra Incognita». Der Austausch zwischen der Schweiz und Japan im Bereich der technischen Unterstützungssysteme älterer Menschen hat manche Grenze des Vertrauten überschritten, wie Sabina Misoch zu berichten weiss. Mindestens das: Wer die Welt aus der Innenseite bekannter Grenzen zu erkunden sucht, hat auf der abenteuer­lichen Suche nach neuen Erkenntnissen nichts verloren, das er oder sie je finden würde. Davon sind wir überzeugt, und deshalb gibt es an unserer Hochschule keine Grenzen, die es zu verteidigen gilt, sondern einen offenen und interessierten Blick über die Grenzen hinweg. Viel Spass bei der Lektüre.

Sebastian Wörwag, Rektor


Wir sind Zukunfts-Macher. Wer bist du? Bachelor in Architektur | Betriebsรถkonomie Pflege | Sozialer Arbeit | Wirtschaftsinformatik Wirtschaftsingenieurwesen www.werbistdu.ch

FHO Fachhochschule Ostschweiz


Inhalt

06 Einblicke News der FHS St.Gallen

44 Netzwerk Getroffen im «Gleis 8»

08 Brennpunkt substanz goes international 10

Internationalität ist eine Frage der Kultur Rektor Sebastian Wörwag zur Internationalisierungsstrategie der Fachhochschule St.Gallen

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In fremde Kulturen abgetaucht Zwei Studierende berichten von ihren Erfahrungen im Ausland und in der Schweiz

Interview mit Mathias Lindenau, Leiter Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit

48 Erkenntnis Neues aus Forschung und Dienstleistung, Studium und Weiterbildung 48

«Digital Human Work» – eine Utopie? Denkanstösse zur Digitalen Transformation

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Mit der Bestellliste zwischen 100 Schubladen Zwei Studentinnen wagen einen «Blickwechsel»

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Mit einem Simulator zur Work-Life-Balance Anstoss zur Gestaltung von neuen Arbeitsmodellen

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Spurensuche nach Community in Nordamerika Ansätze der Gemeinwesenarbeit erleben einen Boom

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Das International Office der FHS St.Gallen Zahlen und Fakten

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Mit einem Plan im Gepäck Zwei Studierende berichten von ihren Erfahrungen im Ausland und in der Schweiz

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Vier Menschen, vier Wände Zu Besuch in einer internationalen WG

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Nach dem Spital lieber daheim statt im Heim Die stationäre Kurzzeitpflege als Alternative

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Digitale Reise durch drei Länder Studierende arbeiten in einem E-Project zusammen

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«Hilfe Alexa, ich bin in Not» Potenziale und Risiken von Sprachassistenten

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Slowenien lernt vom Fachbereich Gesundheit Wie die FHS erfolgreiche Module exportiert

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Bier, BMW und Bytes in Bayern Eine Studienreise nach München

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Wo die Schweiz «Luxembourg City» heisst Wie die FHS zu neuen Partnerhochschulen kommt

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Zum grossen Finale nach Pittsburgh Studierende betreiben Marktforschung in den USA

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«Die Welt ist zu einem Dorf geworden» Interview mit Peter Müller zur Bedeutung der internationalen Praxisprojekte

60 Persönlich Zu Besuch bei Karin Müller

64 Ausblick Veranstaltungskalender 65 Impressum

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Interkulturelle Kompetenz – braucht man das? Essay von Christa Uehlinger

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«Die Japaner denken sehr mutig» Ein Forschungsaustausch im Bereich Alter

66 Schlusspunkt Kolumne Ludwig Hasler

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Einblicke – News

HOCHSCHULMAGAZIN SUBSTANZ MIT NEUEM ONLINE-AUFTRITT Nach dem Website-Relaunch der FHS St.Gallen im vergangenen Herbst präsentiert sich neu auch die Online-Ausgabe des Hochschul­ magazins «substanz» in einem neuen Design. Dieses übernimmt wesentliche Gestaltungselemente des gedruckten Magazins und ent­ wickelt sie für die Online-Leserinnen und -Leser weiter. Auf der Website gehen die Geschichten weiter – hier können Inte­ressierte zu­ sätzliche Interviews und ergänzende Berichte zu den Artikeln in der Printausgabe lesen. Im aktuellen Brennpunkt (ab Seite 8) ­widmet sich die Redaktion der Internationalisierung rund um die FHS St.Gallen. Die ins Englische übersetzten Texte sowie eine interaktive Weltkarte finden die Leserinnen und Leser auf der Website: www.fhsg.ch/substanz (mul)

DAS «MINI ROCK» PRÄSENTIERT DEN KULTURPARTNER «BANDXOST» Knapp vier Quadratmeter. So klein ist die Bühne für die Musikerinnen und Musiker am kleinsten Ostschweizer Openair, das von der FHS St.Gallen organisiert wird. Das Mini Rock wurde 2018 lanciert und findet auch dieses Jahr wieder im September auf einer umgebauten Piaggio Ape statt. Kleine Bühne, kleine Ostschweizer Bands, tiefe Preise – aber grossartige Stimmung und ein wuchtiger Rollrasen, der den grauen Vorplatz kurzweilig in eine saftige Wiese verwandelt. Obwohl das Mini Rock noch keine direkte Konkurrenz für das Sitter­ tobel ist, kommen neue und bisherige Stu­ dierende sowie auch alle Interessierten in den Genuss eines Mini-Openair-Feelings – mitten in der Stadt St.Gallen direkt am Bahnhof und ohne Ticket zugänglich. Neu dieses Jahr sind zwei Dinge: Erstens konnte mit «bandXost» ein Kultur­partner gefunden werden. Der Verein verbindet die Ostschweizer Musikszene und ver­ hilft mit seinem jährlichen «bandXost-­ Contest» Newcomern zu einer Plattform.

Er ­unterstützt die FHS bei der Bandsuche, womit gleich die zweite Neuigkeit einge­ läutet wird: Dieses Jahr können sich Bands für einen Auftritt am Mini Rock bewerben.

Das Openair findet am 19. September auf dem Vorplatz der FHS St.Gallen statt. ­Weitere Informationen unter www.fhsg.ch/ mini-rock. (hob)

Trotz knapper Platzverhältnisse eine grossartige Performance: «Kaufmann» am Mini Rock. (Foto: Bodo Rüedi)

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Einblicke – News

IDEEN ALLER BETEILIGTEN ABHOLEN Die Pädagogische Hochschule Thurgau und das IDEE-FHS untersuchen in einem Praxis­forschungsprojekt, wie Making in die Schule integriert werden kann, um wichtige Kompetenzen für die Zukunft wie Kreativi­ tät, Kollaboration und kritisches Denken zu fördern, und welche Rahmenbedingungen es dazu braucht. An der Primar­schule in Thayngen (SH) läuft der Pilotbetrieb ­eines MakerSpace. Die Entwicklungsphase hat gezeigt: Wichtig ist, dass alle Beteiligten – Schulkinder wie Lehrpersonen – ihre Ideen für die Gestaltung des Raumes und was da­ rin möglich ist, einbringen können. Im Som­ mer 2019 erscheint im kopaed-­Verlag ein Buch zum Thema «Chance M ­ akerSpace. Making trifft auf Schule». (sxa)

Derzeit im Pilotbetrieb: Die finalen Forschungsergebnisse zur Nutzung des MakerSpace in der Primarschule Thayngen liegen im Frühling 2020 vor. (Foto: Raphael Wild)

WEITERE SCHRITTE IM AUFBAU DER OST Unter dem Namen «Ost» mit dem Zu­ satz «die Ostschweizer Fachhochschule» ­werden die drei Fachhochschulen im Kan­ ton St.Gallen ab dem 1. September 2020 ­unter dem gemeinsamen Dach auftreten. Das hat die designierte Trägerkonferenz im vergangenen März entschieden. Seit Kurzem ist auch bekannt, wer diesen Neuanfang steuern soll: Daniel Seelhofer. Die Trägerkonferenz hat den 46-Jährigen zum Gründungsrektor gewählt. Bereits in den kommenden Monaten wird er in den Aufbau der Ost involviert sein, bevor er am

1. November 2019 sein Amt offiziell an­ treten wird. Seinen Arbeitsplatz wird er in Rapperswil haben, da das Rektorat bei der technischen Hochschule Rapperswil HSR angesiedelt ist. Mit dem neuen Namen und dem neuen Gesicht sind zwei wichtige Schritte im Neustrukturierungsprozess geklärt. Der­ zeit läuft die Wahl für den neuen Hoch­ schulrat, der seine Aufgaben ab dem 1.  Ja­ nuar 2020 wahrnimmt. Im 15-köpfigen Gremium stellt der Kanton St.Gallen acht Mitglieder sowie die Präsidentin oder den

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Präsidenten, der Kanton Thurgau zwei, die anderen Träger – beide Appenzell, Schwyz, Glarus und das Fürstentum Liechtenstein – je ein Miglied. Gewählt weden sie von der jeweiligen Kantonsregierung. (sxa)

Neuer Rektor der «Ost»: Prof. Dr. Daniel Seelhofer.


Brennpunkt – substanz goes international

substanz goes international: von Pittsburgh bis Japan, von Berlin bis Slowenien. Wie international die Fachhochschule St.Gallen ist, zeigt die Redaktion im «Brennpunkt». Sie beleuchtet das Netzwerk mit Partnerhochschulen auf der ganzen Welt, die Zu­sammenarbeit in der Lehre, den Aus­tausch in der Forschung und besucht eine Studenten-WG. Für die Bilderstrecke hat sich der St.Galler Künstler Marco Kamber – er lebt in Amsterdam – ins Suppen­kochen vertieft. Die Suppe ist ein Sinnbild für die Internationalisierung: Praktisch jedes Land hat sein eigenes Rezept oder solche anderer Nationen weiterent­wickelt. Suppen transportieren unzählige Geschichten. So ist Marco Kamber bei der Recherche immer wieder auf spannende Anekdoten gestossen. In den Fotolegenden erzählt er uns davon. Welches Rezept er selbst ausprobiert hat, verrät er in der Online-Ausgabe des «substanz». Hier finden Sie auch die ins Englische übersetzten Artikel: www.fhsg.ch/substanz 8

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Brennpunkt – substanz goes international

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Brennpunkt – substanz goes international

Internationalität

ist eine Frage der Kultur Lea Müller/Andrea Sterchi

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ie Arbeitswelt wird immer globaler. Wie international muss deshalb eine regio­ nale Fachhochschule wie die FHS St.Gallen sein? Und welche Kom­ petenzen brauchen die Studie­ renden? Ein Gespräch mit Rektor Sebastian Wörwag über die Vor­ teile und Herausforderungen der Internationalisierung. Herr Wörwag, haben Sie im Ausland studiert? Sebastian Wörwag: Nein, Auslandsemester waren damals an der HSG noch nicht üblich. Allerdings war ich vor und nach dem Studium für Praxiseinsätze im Ausland. Heute würde ich mit Sicherheit ein internationales Austauschsemester machen.

Wohin würden Sie gehen? Wörwag: Ich würde in Paris an der Sorbonne Philosophie studieren. Das wäre eine gute Ergänzung zu meinem Betriebsökonomiestudium gewesen. Und es passt zu den Themen, die mich heute beschäftigen. Deshalb besuche ich, wann immer es mein Job zulässt, eine Summer School.

Wörwag: In einer zunehmend globalisierten Welt, in der die Berufsbiografien und Berufskontexte internationaler werden, ist es für junge Menschen wichtig, dass sie einen Bezug zur Welt haben und sie in ihrer Vielfalt, Farbigkeit aber auch Widersprüchlichkeit kennenlernen. Einerseits brauchen sie ein Verständnis für interkulturelle Differenzen, damit sie Fremdheit als ­etwas Positives verstehen. Ande­ rerseits sollen sie in ihrem eigenen Verständnis so etwas wie Weltläufigkeit entwickeln. Dafür reicht ein Auslandsemester nicht aus. Es geht darum, einen weltoffenen Blick zu bekommen.

Wann ist eine Hochschule inter­ national? Wörwag: Wenn sie am Standort, wo sie ihre hochschulischen Leistungen erbringt, eine internationale Kultur pflegt. Das betrifft die Studierenden, die Lehrinhalte und den Lehrkörper. Sie muss weltoffen sein, indem sie sich nicht nur mit Themen vor ihrer Haustüre beschäftigt.

Und der Mensch, wann ist er international? Wörwag: Auch auf der individuellen Ebene braucht es eine Weltläufigkeit und ein Verständnis unterschiedlicher Kulturen und Kontexte. Dazu gehört eine Informiertheit über das aktuelle Weltgeschehen, das uns auch hier in der Schweiz betrifft, sowie die Fähigkeit, mit ausländischen Bezügen ­offen und kompetent umzugehen. Das ist eine Form von Fremdsprachigkeit, die aber über die reine Sprachkompetenz hinausgeht.

Inwiefern? Wörwag: Indem ich einem fremden Land gegenüber offen, neugierig und interessiert bin und mich mit dessen kulturellen Wurzeln beschäftige. Nur so bin ich in der Lage, einen Bezug zu den hiesigen Verhältnissen herzustellen. Dieses Eingebettetsein in einen inter­nationalen Kontext und sich darin souverän zu bewegen, das hat mit internationaler Kompetenz zu tun.

«WIR SIND WELTOFFEN, WENN WIR UNS NICHT NUR MIT THEMEN VOR DER EIGENEN HAUSTÜRE BESCHÄFTIGEN.»

Wie international muss eine Fach­ hochschule heute sein?

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Brennpunkt – substanz goes international

Die FHS bildet Fachkräfte für die regionale Praxis aus. Ist da eine Internationalisierung nicht ein Widerspruch? Wörwag: Nein, gerade in der sehr exportorientierten Ostschweiz, in welcher seit jeher schon internationale Kontakte gepflegt wurden – man denke nur an die Hochblüte der Textil­industrie –, ist internationale Kompetenz wichtig. Wenn für jemanden die Welt am Grenzübergang in Konstanz aufhört, dann ist er wenig befähigt für die Praxis.

Wie hat sich die Internationa­lität an der FHS St.Gallen in Ihrer Zeit als Rektor verändert? Wörwag: Am Anfang gab es wenige internationale Verträge. Diese entstanden erst mit dem Aufbau unseres International Offices ab 2004. Heute haben wir ein breites Netzwerk mit über hundert Partnerhochschulen und einem lebendigen Studierenden- und Faculty-Austausch. Ersichtlich wird das immer wieder in unserer Cafeteria Gleis8, wo man regelmässig Englisch hört. Das hat die Vielfalt an der FHS bereichert. Trotzdem haben wir noch ein Stück des Weges vor uns.

indem wir Themen aufgreifen, bei denen wir Schweizer Forschungsfragen mit internationalen verknüpfen – wie wir das im Rahmen von EU-­ Forschungen bereits tun. Letztlich erweitern wir unsere Kultur auch mit ­einer Themenorientierung, die sich nicht nur an nationalen und regionalen Themen ausrichtet, sondern auch allgemeine und damit internationale gesellschaftliche Herausforderungen adressiert.

Was bringt die Internationali­ sierung der FHS St.Gallen? Wörwag: Erstens ist es für ein kleines Land wichtig, sich in der internationalen Gemeinschaft selbstbewusst zu verorten. Um uns eine Form der Eigenständigkeit zu bewahren, müssen wir uns gegenüber der Welt öffnen. Zweitens: Die Wirtschaft in der Ostschweiz ist stark exportorientiert. Und drittens sitzen wir mitten in Europas grösstem Hochschularten-übergreifenden Wissenschaftsverbund, der Internationalen Bodensee Hochschule IBH. Sie bietet unglaubliche Chancen für ein grenzüberschreitendes Bildungs- und Forschungssystem.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Welche Art von Internationalisie­ rung braucht die FHS?

Wörwag: Steigern können wir uns bei den Ausbildungen in interkulturellen Kompetenzen. Auch in der Internationalität unserer ­Forschungsergebnisse,

Wörwag: Eine Art Zwiebelmodell. Als engere Schicht ist es wichtig, Kooperationen mit den angrenzenden Ländern Baden Württemberg, B ­ ayern, Vorarl-

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Prof. Dr. Sebastian Wörwag Rektor FHS St.Gallen Sebastian Wörwag ist seit 2003 Rektor der Fachhochschule St.Gal­ len. Er studierte und promovierte an der Universität St.Gallen, da­ nach machte er sich mit einem Management-Buy-Out in den 1990er-­Jahren mit den KS Kader­ schulen selbstständig. 2001 grün­ dete er die Humanlogix AG für webbasierte Führungsassessments sowie Talentmanagement und führt diese bis heute als Verwaltungsrats­ präsident. Zudem ist er Vorstands­ mitglied der Internationalen Boden­ seehochschule und der Vereinigung Wirtschaft St.Gallen-Bodensee.

berg sowie dem Fürstentum Liechtenstein aktiv zu pflegen. Obwohl wir dem gleichen Kulturraum angehören, gibt es doch länderspezifische Unterschiede, von denen alle lernen können. Zudem bin ich überzeugt, dass der Bildungs- und Forschungsbereich einen Beitrag leisten kann, das auch in Europa zunehmende territoriale


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Grenzzaun-Denken zu überwinden. Das zeigt die Arbeit in der IBH. Wissen und Wissenskooperationen kümmern sich nicht um Grenzen. Der Wissenschafts- und Bildungsraum kann hier grenzüberschreitende Fragestellungen aufgreifen und auch Länder vergleichen.

Und weiter? Wörwag: Eine weitere Zwiebelschicht ist, sich mit vergleichbaren Hochschulen im europäischen Raum zu Forschungs- und Lehrkooperationen enger zusammenzuschliessen. Mitein­ ander können ähnliche Fragestellungen besser beantwortet werden – sei es in der Forschung oder bei der gemeinsamen Lehrentwicklung. Es braucht Kooperationen, die Anschlussmöglichkeiten im Ausland bieten.

Braucht die FHS auch eine Internationalität über unseren Kulturraum hinaus? Wörwag: Ja, das ist die dritte Zwiebelschicht. Hier geht es um andere Kulturen, andere Wirtschafts- und Praxisräume mit spannenden Ansätzen. Nehmen wir zum Beispiel die Pflegewissenschaften im Angelsächsischen Raum mit ihrem evidenzbasierten Ansatz, oder die Entwicklung von technischen Assistenzsystemen zwischen Japan und der Schweiz. Beidseitig stellen wir fest, dass wir vonein­ ander lernen können. Spannend ist

auch, unterschiedliche Herangehensweisen an soziale Herausforderungen in einem breiteren kulturellen Raum zu betrachten.

Und welche Internationalität bie­ tet die FHS ihren Studierenden? Wörwag: Wir müssen unsere Studierenden, etwa in der Wirtschaft, auf die Kulturräume vorbereiten, in denen sie vielleicht einmal arbeiten. Oder darauf, dass sie mit Kollegen aus Südamerika bis China zusammenarbeiten, wie wir das in unseren internationalen Praxisprojekten tun. Hier gibt es viele kulturelle Lerneffekte. Gerade das Transkulturelle, die unterschiedliche Wahrnehmung davon, was ein Problem ist, oder wie Teamwork aussieht, sind sehr unterschiedlich.

Vertrauens­geschäft. Besteht einmal gegenseitiges Vertrauen, können wir eine gute Visitenkarte der Schweiz im Ausland abgeben. Das nützt der Gesamtgesellschaft.

Gibt es auch politische Herausfor­ derungen? Stichwort Europäische Hochschulinitiative? Wörwag: Mit der Europäischen Hochschulinitiative bewegt sich in Europa eine Exzellenz-Initiative, die von der EU stark gefördert wird. Hier darf die Schweiz nicht abseits stehen, will sie bei der Forschungs- und Lehrentwicklung in Europa dabei sein. Die IBH wäre, als Verbund, qualifiziert, eine europäische Universität zu sein. Sie bringt alles mit.

Und wieso ist sie das nicht? Welche Herausforderungen muss die FHS bei der Internatio­ nalisierung meistern? Wörwag: Einerseits sind wir in ­einem Transitionsprozess. Noch ist der Mensch weniger mobil, als er es gerne wäre. Wir fahren zwar gerne ins Ausland in die Ferien, nehmen aber immer unsere Perspektive mit. Der offene Blick auf das Fremde bedingt eine geistige Mobilität. Ich beobachte auch bei jungen Menschen eine gewisse Zurückhaltung zu einer physischen und mentalen Mobilität. Andererseits ist die Internationalisierung in einem Partnernetzwerk ein

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Wörwag: Das hängt am Nichteintretens-Entscheid des Bundes zum Erasmus + Programm, das die Europäische Hochschulinitiative finanziert. Die Schweiz ist kein Vollmitglied und somit mit einem Ausschluss konfrontiert. Wir müssen den Diskurs führen, wie wir mit unserem Hochschulbildungssystem an der Europäischen Universitätsinitiative beteiligt sein wollen. Wollen wir das, braucht es in der Regelung der internationalen Zusammenarbeit ein Bekenntnis zu diesen europäischen Universitätsverbünden. Sonst schlagen wir ein Fenster zu, das über Generationen zubleibt.


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In den Niederlanden nennt man Erbsensuppe mit Wurst « Snert ». Am besten soll sie in besonders eisigen Wintern schmecken: Nämlich auf zugefrorenen Kanälen, wenn die Amsterdamer an einigen Ecken kleine wärmende Suppen-Stände aufbauen.

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Die viele Freizeit war

eine Herausforderung Celina Heiniger

«Mit dem Auslandsemester wollte ich elena Hänsli wollte wissen, wie einen anderen Fokus setzen und in Pflegefachfrauen im Nachbar­ ­Bereichen der Arbeitsplanung und Organisation etwas Neues kennen­ land Österreich arbeiten. Das lernen.» Auch Einblick zu bekommen dreimonatige Praktikum in einem in ein anderes Gesundheitssystem, hat Privatspital in Wien hat ihr Ein­ die 23-Jährige gereizt. blick in andere Formen der Organi­ Die Arbeit im Rudolfinerhaus in Wien bot Jelena Hänsli all dies. Als Praksation gegeben. Aber vor allem in tikantin durfte sie die Abteilungen puncto Selbstständigkeit hat sie im Privatspital wechseln und in unviel dazugelernt. terschiedliche Bereiche hinein­sehen, so zum Beispiel in die PflegeentwickReha, Spitex, Spital – als gelernte lung, die Intensivstation oder punkFachfrau Gesundheit (FAGE) im tuell in OPs. «Ursprünglich ging ich sechsten Semester des Bachelor-­ davon aus, dass Pflegefachpersonen Studiums hat Jelena Hänsli schon in in Österreich weniger Verantwortung verschiedensten Bereichen g­ earbeitet. übernehmen als hier. Deshalb war ich überrascht über das grosse Wissen, das meine Kolleginnen und Kollegen mitbrachten, aber auch über den ­hohen Standard der Pflege.»

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Wenig Strukturen, viel Freizeit

FHS-Studentin Jelena Hänsli absolvierte ein Prakti­ kum im Rudolfinerhaus in Wien. (Foto: Milena Bieri)

Ganz anders hingegen ist die Arbeits­ organisation. «Während wir in der Schweiz Drei-Schicht-Betrieb haben, arbeiten sie in Österreich nur in zwei Schichten.» Das heisst, die Pflegefachpersonen arbeiten in 12,5-Stunden-Schichten und übergeben direkt an die Nachtschicht. «Das hat durchaus Vorteile. Aber der Bezug zum Patienten geht meiner Meinung nach etwas verloren», sagt Jelena Hänsli. Denn aufgrund der 38-Stunden-Wo-

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che arbeitet eine Pflegefachperson nur drei bis vier Tage die Woche – in der Regel nur zwei Tage hintereinander. Für Jelena Hänsli war das aber von Vorteil. «So hatte ich genügend Zeit, Wien und die Umgebung auszukundschaften.» Während des dreimonatigen Praktikums hat die FHS-Studentin in einer kleinen Wohnung mit eigenem Garten gewohnt. «Das war für mich als Naturmensch ein absoluter Glücksgriff.» Da sie mit Städten nicht viel anfangen kann, hat ihr auch Wien nicht besonders gut gefallen. Das Umland aber dafür umso mehr. «Ich fuhr oft Velo und ging spazieren – zum Beispiel der Donau entlang. Das Umland ist unglaublich schön. Insbesondere die Heurigen ­haben es mir angetan.» Die viele Freizeit war aber auch eine Herausforderung. «Ich hatte viel Zeit, aber wenig soziale Kontakte.» Jelenas Kolleginnen und Kollegen ­ im Rudolfiner­haus waren alle nicht in ihrem Alter und hatten ein eigenes Netzwerk. Zum Glück kamen ab und zu Freunde aus der Schweiz zu Besuch, und sie hatte Zeit, ihre Bachelor-­Arbeit in Ruhe zu beenden. «Während des Praktikums habe ich an Selbstständigkeit dazugelernt.» ­Davon könne sie bei ihrer jetzigen Tätig­keit als Ausbildungsbeauftragte im bruggwald51, Wohnen und Pflegen im Alter, profitieren und den Lernenden weiter­geben.


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In die südamerikanische

Kultur abgetaucht

Nina Rudnicki

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in Semester lang studierte der Arboner Sandro ­Montinaro in der chilenischen Metro­pole Santiago de Chile. Das Leben in der pulsierenden Grossstadt hat den angehenden Wirtschaftsinge­ nieur inspiriert. Nun hofft er, auch nach dem Studium internationale Erfahrungen machen zu können. «Das Austauschsemester in Chile hat mir die Augen geöffnet», sagt S ­ andro Montinaro. «Ich habe viele Personen aus verschiedenen Ländern kennen­ gelernt und konnte dadurch den Schweizer Tunnelblick etwas ablegen.» Ausserdem sei er offener und unkomplizierter geworden. Fünf Monate hat der 26-jährige Student in Wirtschaftsingenieurswesen an der Fachhochschule St.Gallen im vergangenen Jahr an der Universidad del Desarrollo in Santiago de Chile studiert, die eine Partneruniversität der FHS ist. Seit Ende Dezember ist Sandro ­Montinaro zurück und besucht hier aktuell das letzte Semester seines Bachelor-Studiums. Er könne sich gut vorstellen, nach seinem Studium bei ­einem internationalen Unternehmen zu arbeiten. «Dank meines Ausland­ semesters spreche ich nebst Deutsch und Italienisch nun auch sehr gut

Spanisch und Englisch», sagt Sandro Montinaro. Fliessend Englisch sprechen zu lernen, war der Grund, weshalb sich ­Sandro Montinaro für ein Ausland­ semester entschied. Zunächst hoffte er auf einen Platz an einer Partneruniversität der FHS St.Gallen in den USA, in Australien oder England. «Dort waren allerdings alle Plätze bereits an FHS-Studierende mit Schwerpunkt International Management vergeben, da diese Vorrang haben», sagt er. In seinem Studiengang sei es hingegen freiwillig, ob man ein Semester im Ausland studieren wolle.

z­ unächst dafür, in ein Hostel zu ziehen. Die Universität in ­Santiago stellte ihm einen Buddy, eine Art «Götti», zur Seite. Mit Hilfe dieses chile­ nischen Studenten fand er bereits nach zwei Wochen ein Zimmer in einer Vierer-WG. «Dadurch konnte ich in die Kultur des Landes eintauchen und habe das Studentenleben der Einheimischen kennengelernt», sagt er und fügt an: «Am besten gefallen hat mir die Vielfalt der Riesenmetropole, die Möglichkeiten waren schier unbeschränkt. Chile ist ein beeindruckendes Land mit einer lebendigen Tradi­tion und Kultur sowie herzlichen Menschen.»

Zwischenstopp im Hostel Sandro Montinaro liess sich durch die Mitarbeitenden des Interna­tional Office der FHS beraten. Sie ­schlugen ihm Santiago de Chile vor, weil es dort eine Partneruniversität gibt, die Vorlesungen und Kurse für Wirtschaftsingenieurwesen in Englisch anbietet. «Ich wollte schon immer einmal nach Südamerika und war daher sofort einverstanden», sagt der ­Arboner. Nach diesem Entscheid galt es für ­Sandro Montinaro, Fächer der beiden Universitäten abzugleichen, das Visum zu beantragen und eine Unter­kunft in Santiago zu organisieren. Da er den Wohnungs­ bildern im Internet nicht traute und «die Katze nicht im Sack kaufen» wollte, e­ ntschied er sich

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FHS-Student Sandro Montinaro war für ein ­Austauschsemester in Chile (Foto: Milena Bieri)


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USA

EU

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Das International Office der FHS St.Gallen fördert die ­Mobilität der Studierenden und Mitarbeitenden auf allen Ebenen. Es baut auf der ganzen Welt Hochschulpartnerschaften auf und koordiniert die Umsetzung der Internationalisierungsstrategie der Hochschule sowie der einzelnen Fachbereiche. Zu den Aufgaben gehören:

Curriculum

• Internationale Perspektive in Modulinhalte einbringen, z. B. inter­nationaler Fachdiskurs • Beratung und Unterstützung beim Bereitstellen von englischen Studienangeboten, z. B. im Studiengang International Management • Beratung in Intercultural Development Inventory für Studierende • Beratung und Unterstützung beim Durchführen von Summer Schools, E-Learning-Projekten etc. • Gastdozierende vermitteln und betreuen

Switzerland

Mobilität

• Zuständig für alles rund um das Swiss-European Mobility Programme (SEMP) • FHS-Studierende (Outgoings) bei einem Auslandsemester /-aufenthalt unterstützen • Internationale Studierende (Incomings) an der FHS unterstützen und betreuen • FHS-Dozierende und Mitarbeitende (Faculty Outgoings) bei einem Unterrichtseinsatz oder Forschungsaufenthalt unterstützen • Internationale Dozierende und Mitarbeitende (Faculty Incomings) unterstützen und betreuen

China

Netzwerk

• Partnerschaften prüfen und aufgleisen • Internationale Netzwerke pflegen • Delegationen empfangen und betreuen • Mitarbeit in internationalen Verbänden /Gremien

Hochschulkultur

• Interne Weiterbildungen anbieten, z. B. Grund­ lagen interkultureller Kommunikation für Lehrpersonen • Internationale Aspekte einbringen sowie Kommissionen und Fachstellen dafür sensibilisieren • Internationale Tagungen und Veranstaltungen organisieren • Dozierende und Mitarbeitende bei einem Sabbatical beraten und unterstützen

interaktive Weltkarte: www.fhsg.ch/substanz

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Mit einem Notfallplan

nach Berlin

Nina Rudnicki

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arin Baumann hat ein Se­ mester lang an der Alice ­Solomon Hochschule in Ber­ lin studiert. Diese Zeit in der Stadt habe sie verändert, sie sei offener geworden, sagt die Absolventin des Studiengangs Soziale Arbeit. Zu dem Aufenthalt motiviert hatte sie ihr Mentor an der FHS – denn vor einem Austausch hatte die 47-Jährige zunächst Respekt. «Ich gehe nach Berlin.» Als Karin Baumann diesen Entschluss ihren erwachsenen Söhnen und ihrem Ehemann

FHS-Absolventin Karin Baumann verbrachte ein Austauschsemester in Berlin. (Foto: pd)

mitteilt, reagieren diese erstaunt. «Sie konnten es zuerst nicht glauben, denn ich habe noch nie in meinem Leben alleine gewohnt», sagt die 47-Jährige. Nun will sie aber genau das wagen: ein Semester im Austausch an der Alice Solomon Hochschule in Berlin studieren. Im März 2018 ist es soweit. Die FHS-Studentin der Sozialen Arbeit besteigt den Zug nach Berlin und fährt dort vom Hauptbahnhof in ihre Wohnung in das Stadtviertel Neukölln weiter. Im Gepäck hat sie einen Notfallplan, den sie zusammen mit einer Dozentin der Fachhochschule St.Gallen ausgearbeitet hatte. Dieser enthält Vorgehensweisen, was sie beispielsweise tun soll, wenn sie sich einsam fühlen würde. «Ich hatte Panik und Existenzängste, wenn ich an das Austauschsemester dachte», sagt Karin Baumann. «Den Notfallplan habe ich dann aber nie gebraucht.» An der Alice Solomon Hochschule in Berlin belegt Karin Baumann Kurse mit dem Schwerpunkt Kulturarbeit. «Ich habe bewusst Kurse gewählt, die es an der FHS nicht gibt, die sich aber dennoch anrechnen lassen», sagt sie. Unter anderem lernt sie verschiedene Theaterformen kennen, wie zum Beispiel interkulturelles Theater mit Seniorinnen und Senioren aus verschiedenen Ländern. An der Alice Solomon Hochschule trifft sie neue Freundinnen und interessante Personen aus verschiedenen Ländern.

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Auch vertritt sie die FHS am International Day an der Alice Solomon Hochschule, an dem sich die verschiedenen Partnerhochschulen präsentieren können. «Durch die Zeit in Berlin und generell durch mein Studium der Sozialen Arbeit habe ich mich verändert. Ich bin viel offener geworden», sagt Karin Baumann. «Ausserdem denke ich kritischer und hinterfrage politische und gesellschaftliche Zusammenhänge stärker als früher.»

Vorteil bei der Jobsuche Für ein Studium der Sozialen Arbeit entschied sich Karin Baumann nach einem Gespräch mit dem mittlerweile verstorbenen FHS-Professor Ruedi von Fischer. Er wurde ihr Mentor und motivierte sie, sich für das Auslandsemester in Berlin anzumelden. «Ohne ihn hätte ich mich niemals an der Fachhochschule St.Gallen angemeldet», sagt sie. Bislang hatte Karin Baumann als Medizinische Praxisassistentin gearbeitet und war für die Buchhaltung in der gemeinsamen Autogarage mit ihrem Mann in Leimbach zuständig. Nach ihrem Aufenthalt in Berlin bekam sie zunächst ein Praktikum und danach eine Festanstellung bei der Pro Senectute Thurgau. Karin Baumann sagt: «Ausschlaggebend für die Jobzusage waren auch die Auslanderfahrungen, die ich in Berlin gesammelt habe.»


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Erst studieren, dann reisen:

Ein Jahr im Heidiland

Claudia Züger

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m Juni endet sein Austauschjahr. Der Spanier Juan Mateo ­Najera studiert für zwei Semester an der Fachhochschule St.Gallen. Das Schönste an der Schweiz seien die Alpen, die er bis jetzt aber noch nicht erklommen hat. Juan Mateo Najera: Ein auffallend melodischer Name im Land von Müller und Meier. Und er passt. – Der 21-Jährige spielt Saxofon und singt leidenschaftlich. Obwohl sein Gesang schon mal besser geklungen habe, wie er sagt. Seine Mitbewohnerinnen berichten sichtlich amüsiert, seine Anwesenheit in der 4-köpfigen Wohngemeinschaft (siehe Seite 22) sei unüberhörbar: Er pfeife unentwegt. Juan kam im September 2018 zum ersten Mal in die Schweiz. Er habe Gutes über Land und Leute gehört und sich deshalb für ein Austauschjahr hier entschieden. Wenn im Juni das zweite Semester an der FHS St.Gallen endet, reist er zurück in seine Heimat im Norden Spaniens. Er lebt mit seiner Familie in der Kleinstadt ­Laguardia mit 1474 Einwohnern in der baskischen Provinz Álava. Warum er gerade nach St.Gallen gekommen sei? Seine Antwort ist pragmatisch: Die Gallussstadt sei in seinem Studiengang «Administration and Economics» an der ­Heimuniversität

die einzige Option gewesen. Aber er ist glücklich damit: Sein Aufenthalt sei sogar besser als erwartet.

Positive Überraschungen Er wurde in Spanien vorgewarnt, Herr und Frau Schweizer seien reserviert und verschlossen. Das kann er nicht bestätigen. Sogar offen nimmt er sein Umfeld wahr. Ausserdem möge er Fondue, erwähnt er zwei Mal – selbst verwundert und ein klein wenig stolz. Auch der Schweizer Winter konnte der guten Laune des Südländers nichts anhaben. Er ist sich aber bewusst, dass er aussergewöhnlich mild war. Ein Jahr zuvor hätte ihm seine Wetter-App manchmal Tempe­ raturen von minus 15 Grad angezeigt, berichtet er ungläubig. Schlimmer als Minustemperaturen findet er nur noch die Preise hierzulande: «Unglaublich teuer!» Einen weiteren Unterschied zur Heimat hat er im Rahmen des Praxisprojekts an der FHS in der Feedbackkultur ausgemacht. Er beschreibt sie als direkt und unverblümt. «Nicht unhöflich, einfach ungewohnt», präzisiert der Spanier diplomatisch. Früh übt sich: Zukünftig würde sich Juan am liebsten haupt­ beruflich in der spanischen Politik engagieren. «Yes, I love politics!», verkündet er beinahe feierlich. Vorher aber möchte er noch die Schweiz bereisen, da ihm die Land-

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schaft besonders gefalle. Leider habe er noch wenig Gelegenheit gehabt, sie zu erkunden. Seine Ferien verbrachte er bisher in der Heimat. Begeistert berichtet er aber von einem Ausflug mit der FHS nach Lugano. Er besuchte den Weihnachtsmarkt, tauchte ins Nachtleben ein und verliebte sich in die Stadt. «Hätte ich Geld, würde ich mir sofort ein Haus am Luganersee kaufen! Momentan steht das aber nicht zur Diskussion», sagt er mit e­ inem Lächeln. Wer weiss, vielleicht eines Tages, wenn sich Juan Mateo Najera in der spanischen Politik ­einen Namen gemacht hat.

Wertvolle Auslanderfahrungen im Rucksack: Juan Mateo Najera. (Foto: Bodo Rüedi)


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Schon bei den alten Römern gab es Minestrone, als Vegetarismus zum Sparprogramm gehörte. Bestand die Suppe damals nur aus Linsen, Kohl, Bohnen ...

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... und Karotten, wurde sie Mitte des 16. Jahrhunderts nach der EinfĂźhrung von Tomaten und Kartoffeln aus Amerika um diese erweitert.

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Vier gewinnt:

Vier Menschen, vier Wände Claudia Züger

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ie Tücken des Zusammenle­ bens sind ohnehin zahlreich. Wenn Unbekannte aus ver­ schiedenen Kulturen plötzlich zu Mitbewohnern werden, scheint der Haussegen strapaziert. Ob dem so ist? – Ein Besuch in einer unge­ wöhnlichen Wohngemeinschaft. «5th floor» steht auf dem Klingelschild. Gemeint ist die Wohnung im 5. Stock eines Mehrfamilienhauses an der St.Galler Rorschacherstrasse. Die vier Wände werden Semester für Semester an Austauschstudierende der Fachhochschule St.Gallen aus der ganzen Welt vermietet. Dieses Semester steht die anonyme Beschriftung für eine Gemeinschaft von vier Menschen aus vier unterschiedlichen Nationen, die sich nicht kannten, bis sie anfangs Februar 2019 ein Bad teilten: Rawisara (Pimm) Udomsri aus Thailand, Jiwan (Juana) Woo aus Südkorea, Juan Mateo Najera aus Spanien und Miki Kinoshita aus Japan. Über knarrende Stufen eines engen, steilen Treppenhauses erreicht man ihr temporäres Zuhause. Auf den ersten Blick wirken die Räume kühl und unpersönlich. Die Zimmer sind an den Türen von eins bis vier nummeriert, ein Feuerlöscher springt einem als einziger Farbtupfer ins Auge.

Das kleine Wohnzimmer ist dunkel und spartanisch möbliert: ein kleines Zweier-Sofa, eine Decke, ein Couchtisch, ein leeres Gestell, ein in die Jahre gekommener Fernseher. Staubsauger und Putzutensilien stehen zum Einsatz bereit. Nach persönlichen Gegenständen sucht man vergebens.

Leben in allen Winkeln Das offensichtliche Herz der Wohnung und der Mittelpunkt des Geschehens ist die Küche. Sie ist nicht aufgeräumt, aber sehr einladend. Hier spürt man den Puls des WG-Lebens in jedem Winkel des kleinen Raumes. Ein überproportional grosser Tisch ist noch bedeckt mit den Überbleibseln des Frühstücks und einem iPad. Alle anderen Ablagen und Möbel sind ebenfalls mit Lebensmitteln verstellt. In der Küche wird gekocht, gelernt, genetflixed, diskutiert und Bier getrunken. Und ab und zu auch gefeiert. Die Nachbarn hätten sich aber noch nie über Lärm beklagt, berichtet der Hausherr mit einem Augenzwinkern. Ein eindrücklich grosser Sack Thai Jasmine Reis, zwei Reiskocher auf engem Raum, «crispy fish with chilli» aus Thailand und eine Flasche Oyster Sauce lassen erahnen, dass hier keine «Migros-Kinder» wohnen. Ob sich die kulturellen Unterschiede auch im Alltag bemerkbar machen? Die vier Austauschstudierenden zö-

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gern sehr lange, bevor sie antworten. Fast so, als wäre die Frage unklar. Oder unsinnig? Schliesslich antwortet Juan: «Sehr viel weniger als erwartet.» Am ehesten erkenne man die unterschiedlichen Wurzeln bei den Essgewohnheiten. Hier bestätigen sich Klischees, die überholt scheinen: Der Spanier isst spät und vorzugsweise Schinken, die drei Frauen essen oft und gerne Reis. Keine unüberwindbaren Differenzen also. Es ist offensichtlich, dass die vier ein starkes Team sind. Sie wirken vertraut, ihr Lachen steckt an. Vom anfänglich kühlen Eindruck des fünften Stockwerks ist nichts mehr zu spüren.

Regel #1: Keine Regeln Auch wenn sie die gemeinsame Zeit als Gruppe schätzen, planen die Mitbewohner dafür keine festen Zeitfenster ein. Ihr Zusammenleben ist pragmatisch, spontan und unkompliziert: Will man Gesellschaft, setzt man sich in die Küche. Ist niemand da, klopft man an eine Zimmertüre. Will man allein sein, öffnet man die Türe nicht. Ob da die Privatsphäre nicht etwas auf der Strecke bleibt? Verständnisloses Kopfschütteln. Gerade weil sie das Zusammensein mit verschiedenen Menschen schätzten, hätten sie sich für ein WG-Zimmer entschieden. Ihre Wahl haben die vier Musketiere bisher nicht bereut: kein Knatsch um den


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Abwasch, kein Kampf um das letzte Joghurt. Dafür seien sie sehr dankbar, zumal andere Austauschstudierende von weniger romantischen Erlebnissen berichten. Nach Regeln, Plänen und Einkaufslisten sucht man vergeblich. Alle beteiligen sich am Haushalt, die Kosten für kleinere gemeinsame Besorgungen wie Öl, Abfallsäcke und Putzmittel werden aufgeteilt. Dafür legen sie Geld in einen abgegriffenen Papierumschlag, den sie in einer Küchenschublade aufbewahren. Müssen Entscheide gefällt werden, findet die Gruppe meist schnell einen Konsens. Die Frage nach einem speziellen Entscheidungsverfahren ist offensichtlich überflüssig.

Von Fremden zu Freunden Alle vier haben zuvor bereits WG-Erfahrungen gesammelt. Nicht nur positive. Es spiele dabei keine Rolle, ob man mit Menschen aus unterschiedlichen oder gleichen Kulturen zusammenwohne. Vielleicht liegt das Geheimnis des guten Haussegens auf dem fünften Stock gerade darin, dass sich die Mitbewohner weder kannten noch auserwählt haben, bevor sie Freunde wurden.

Die vier Incoming-Studierenden Rawisara Udomsri, Jiwan Woo, Juan Mateo Najera und Miki Kinoshita (v.l.n.r.) geniessen ihr unkompliziertes Zusammenleben. (Foto: Bodo Rüedi)

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Digitale Reise

durch drei Länder Nathalie Schoch

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m zweitletzten Semester können Studierende der Sozialen Arbeit ein internationales E-­ Project durchführen. Maike Schröder absol­ vierte ein solches Online-­ Projekt und sammelte dabei wert­ volle Erfahrungen. Es war Maike Schröders Traum, bei einem internationalen Projekt in englischer Sprache dabei zu sein. Die Chance bot sich, als sich die FHS-Studierenden der Sozialen Arbeit im Herbstsemester 2018 im Rahmen eines Moduls für ein E-Project entscheiden konnten. Maike S ­ chröder wählte dieses und begab sich damit auf eine spannende Online-Reise. Zusammen mit einer Kommilitonin sowie je zwei Studierenden aus der NHL in ­Leeuwarden und der Universität in Tirana. Ihr Auftrag war es, ein soziales Problem auszuwählen und gemeinsam die landesspezifischen ­Herausforderungen zu erarbeiten. Die Projektgruppe entschied sich für das Thema «Poverty among youngsters» und nannte sich «The Lucky Ones». Die erste Hürde folgte sogleich: Der Vergleich sozialpolitischer und sozialarbeiterischer Herangehensweisen in den beteiligten Ländern. Genau darum geht es beim E-Project, dass die Studierenden gesellschaft­ liche Diskurse ergründen und institu­

tionelle Antworten auf die entsprechenden Herausforderungen suchen. Der Austausch erfolgt ausschliesslich über die Online-Medien, also über Videokonferenzen, Skype und Whats­ App. Erarbeitet wird ein Bericht sowie eine audio-visuelle Produktion. Pro Land gibt es einen Coach. Anfangs war dieses Projektverfahren eine Kooperation zwischen der NHL in Holland und der GMIT in Irland. Durch das TISSA-Netzwerk kam Ruedi von Fischer, damals Dozent der Sozialen Arbeit an der FHS, mit den beiden Universitäten ins Gespräch. Daraus entstand die Zusammenarbeit mit der Schweiz und die Aufnahme des Online-Projekts. Über dasselbe Netzwerk kam auch Albanien ins Spiel. «Durch diese internationalen Projekte erhalten die Studierenden die Möglichkeit, die Selbstverständlichkeiten im eigenen professionellen Umfeld zu reflektieren sowie neue Ansätze in der Sozialen Arbeit zu diskutieren», sagt Catrina Maag-Capraro vom International Of-

fice der ­Sozialen Arbeit. Ihre Aufgabe ist es, die E-Projects aufzugleisen. Das heisst, mittels Videokonferenzen die Themen zu sammeln sowie als Coach die FHS-Studierenden zu begleiten und zu unterstützen. Dazu gehört auch die Unterstützung bei der Konfliktlösung innerhalb der Gruppen, die Berichte und Videos zu bewerten und das Projektverfahren mit den Partnerländern zu optimieren.

Wenn aus Armut Reichtum wird Während ihrer digitalen Reise durch die drei Länder kamen «The Lucky Ones» an Orte, die ihnen bisher verborgen blieben. Sie erfuhren Dinge, die sie nachdenklich stimmten, ihnen aber auch Mut machten. «Ich lernte zum Beispiel, dass Holland viel mehr gegen die Armut unternimmt als die Schweiz, und dass Albanien auf externe Hilfe angewiesen ist», sagt Maike. Sie habe obendrein erfahren, wie die Soziale Arbeit in anderen Ländern funktioniere und habe neue

«ES WIRD UNSERE ZUKUNFT SEIN, DASS SICH STUDIERENDE ONLINE UND INTERNATIONAL VERNETZEN.»

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Holodnik ist die kalte Rohkost-Variante der russischen « Borscht ». Und die Ukraine und Belarus streiten sich darum, wer das Rezept erfunden haben soll. Gehackte Randen und Gurke, 10 Eier, Kefir, Wasser, Zwiebeln und Dill – die perfekte Erfrischung für den Sommer!

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Fachkenntnisse gewonnen. Durch die Interviews mit namhaften Institutionen habe sie zudem wichtige Kontakte knüpfen können. Die grösste Herausforderung lag laut Maike im Zeitmanagement. «Wir steckten alle in unterschiedlichen Phasen unseres Studiums. Das erforderte Rücksicht, manchmal auch Geduld und umso mehr Disziplin, dranzubleiben.» Hinzu kamen sprachliche Barrieren. Doch die Projektgruppe zog ein positives Fazit: «I thought it was very special, how well the collaboration went, because we all have a different background and also different cultures», sagt die Studentin aus Holland. Und die albanische Studentin fand: «It was a great and unforgettable experience for me to participate in this project and also for Albania as a small country to be able to activate students in international projects of this kind.» Catrina Maag ist sich sicher, mit E-Projects den Nerv der Zeit zu treffen: «Die Technik ist eine grosse Herausforderung, zugleich aber eine Chance. Denn es wird unsere Zukunft sein, dass sich Studierende online und international vernetzen.» Letztlich wurde aus der Armut Reichtum: «The Lucky Ones» konnten ihren Rucksack mit wertvollen Erfahrungen füllen und hatten in der Tat Glück, Teil dieses Projekts gewesen zu sein und neue Freundschaften gewonnen zu haben.

GEMEINSAMES PROJEKT MIT DER UKRAINE Bei einem anderen internationalen Projekt arbeitet die FHS St.Gallen mit der Universität Chernihiv in der Ukraine zusammen. Dabei handelt es sich um ein weltweites Intensivprogramm zum Thema «Soziale Arbeit als Seismograph für So­zialen Wandel und Soziale Bedürfnisse». Finanziert wird das Programm von der Schweizer Agentur für Austausch und Mobilität Movetia. Unter oben genanntem übergreifendem Thema bearbeiten Wissenschaftler, Do­ zierende, Professionelle und Studierende beider Hochschulen in Gruppen unter­ schiedliche Themenfelder. Die Zusammenarbeit startete im Oktober 2018 mit ei­ ner viertägigen Expertenkonferenz mit Fokus auf dem Projektmanagement. Im Januar 2019 fuhren zwölf Studierende der FHS St.Gallen in Begleitung der Do­ zenten Steve Stiehler und Stephan Schlenker für eine einwöchige Studienreise in die Ukraine. Während verschiedener Arbeitssitzungen erarbeiteten sie gemein­ sam mit ukrainischen Studierenden und Dozierenden unterschiedliche Themen des Sozialen Wandels und deren mögliche Anbindung an die Soziale Arbeit. Dazu gehörten: Familie, Jugend, Identität, Armut, Working Poor und Migration. Auf Einladung unserer ukrainischen Partnern arbeiteten auch zwei Dozierende und Wissenschaftler sowie vier Studierende aus Gomel in Weissrussland mit. Damit wurde aus einem binationalen ein trinationales Projekt. Die Studierenden setzen ihre Arbeit bis im Juli 2019 fort. Als Höhepunkt zum Abschluss findet am 4./5. Juli eine internationale Konferenz an der FHS St.Gal­ len statt, gefolgt von der Summer School für alle beteiligten Studierenden. Ziel der Konferenz ist es, einen multiperspektivischen Ansatz zum Sozialen Wandel aufzuzeigen und die Rolle der Sozialen Arbeit dabei zu veranschaulichen. Rund 60 Wissenschaftler, Dozierende, Professionelle und Studierende aus Chernihiv, Gomel, St.Gallen sowie anderer europäischer Städte werden erwartet. Initiiert wurde das Movetia-Projekt von Ruedi von Fischer und dem International Office Soziale Arbeit der FHS St.Gallen. Ruedi von Fischer ist im November 2018 unerwartet verstorben. Die Konferenz ist deshalb ihm und seinem unermüd­ lichen Einsatz für die Internationalisierung der Lehre und internationale Koope­ rationen gewidmet. Seine Verdienste werden am 4. Juli mit einem fest­lichen Akt gewürdigt. Mehr Infos und Anmeldung: www.fhsg.ch/ukraine. (vg/ssc)

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Slowenien lernt vom

Fachbereich Gesundheit Basil Höneisen

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nternationalität im Studium und der Forschung? Was bei den Studiengängen der Wirt­ schaft selbstverständlich ist, wird auch für andere Fachbereiche im­ mer wichtiger. Zum Beispiel für die ­Pflege. Kürzlich hat der Fach­ bereich Gesundheit das Modul «Clinical Assessment» an einer slo­ wenischen Universität eingeführt – ein ­Beispiel, das in eine klare Richtung zeigt. Jesenice, Slowenien. Die «Angela Boškin Faculty of Health Care» ist eine private Hochschule mit staatlich anerkannten Lehrgängen. Das Modul «Clinical Assessment», die angewandte körperliche Untersuchung, ist heute Teil ihres Pflege-­Studiengangs. «Wir haben unser Wissen nach ­Slowenien transferiert», erklärt Birgit V ­ osseler, Fachbereichsleiterin Gesundheit der FHS St.Gallen. Das anwendungsorientierte Fach ist ein FHS-Konzept, das die Leitung der ­Angela Boškin bei einem Besuch an der FHS überzeugte. «Im Modul geht es darum, die wichtigsten Merkmale von Organsystemen zu beschreiben, Symptome häufiger Erkrankungen zu erkennen, zu inter­pretieren und zu dokumentieren. Ausserdem werden Studie-

rende befähigt, Patientinnen und Patienten mit bestimmten Symptomen zu unter­suchen und zu ­bestimmen, wie ­dringend ­weitere Massnahmen sind», sagt ­Vosseler. Dabei wird auf einen möglichst nahen Praxisalltag geachtet: Die Arbeitsräume sehen aus wie Spitalzimmer, die Studierenden schlüpfen in die Rolle als Pflegefachperson oder Patient.

Konferenz sorgt für Erstkontakt «Der Kontakt ist an einer internationalen Konferenz entstanden», sagt Birgit Vosseler. Brigitta Skela Savic, die Ausbildungsverantwortliche aus Slowenien, ist vor zwei Jahren nach St.Gallen gekommen, um zu erfahren, wie die FHS lehrt und forscht. «Es ging um die grundsätzliche Frage, was eigentlich das Akademische in der Pflege ist.» Für die Entscheidungsfindung brauche es analytisches Fallverstehen in Verbindung mit angewandter Praxis. Genau das würden die Studierenden im Clinical Assessment lernen, sagt Vosseler. Daraufhin präsentierte die Professorin das Modul an der jährlichen Scientific Conference in Jesenise.

Gelerntes in die Praxis bringen Martin Ruprecht, FHS-Dozent, entwickelte im nächsten Schritt ein Implementierungsmodell, wie die ­Theorie

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in die Praxis übergeleitet werden kann, also: Wie bringen die Studierenden das Gelernte in die Praxis? Der Transfer gelingt, das Projekt ist ein Erfolg.

Internationales wird verstärkt Doch der Transfer des Clinical Assessments ist nicht das Einzige, was auf die voranschreitende Internationalisierung des Fachbereichs Gesundheit hindeutet. Das dazugehörige Institut für angewandte Pflegewissenschaft IPW-FHS pflegt ein intensives Netzwerk mit der Universität Wien. Daraus resultierte unter anderem ein gemeinschaftliches Doktoratsprogramm. Weiter bestehen bereits Kontakte nach Finnland mit dem Ziel, gemeinsame Forschungsprogramme zu starten. Ausserdem können die hiesigen Pflege-Studierenden von Austauschwochen in Berlin und Hamburg profitieren. Eine weitere internationale Kooperation entsteht derzeit in Israel mit der «Haifa University». Im Fokus stehen gemeinsame Lehr- und Forschungsprojekte. Der Fachbereich Gesundheit streckt die Fühler je länger je weiter aus – mit klaren Zielen, sagt Vosseler: «Wir wollen Studierenden sowie Dozierenden den internationalen Austausch ermöglichen und neue Forschungsprojekte starten, um uns gegenseitig zu bereichern und die professionelle Pflege voranzutreiben».


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Bier, BMW und Bytes in Bayern

Michèle Huber / Jenny Dal-Zotto

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edes Jahr finden an der Fach­ hochschule St.Gallen über 15 Stu­dienreisen statt. So bega­ ben sich Studierende zum Beispiel zum Thema Agilität nach München. Dort sollen sie an der FHS St.Gal­ len erlernte Inhalte in einem inter­ nationalen Umfeld erleben. Laut Michael Czarniecki, Dozent an der Fachhochschule St.Gallen und Exkursionsleiter, hat die Studienreise das Ziel, die erlernten Inhalte in bayrischen Unternehmen hautnah mitzuerleben. «Damit bleiben sie lange in Erinnerung», so Czarniecki. Übergeordnetes Thema war die Agilität, und besucht wurden die internationalen Unternehmen Hofbräu München, BMW-Group und Microsoft.

Babys mit Bier ernähren Die erste Etappe unserer Bildungsreise in München ist die Hofbräu München. Bei der Vorstellung der Geschichte des Unternehmens erfahren wir, dass früher das Bier dem Wasser vorgezogen wurde. Dies, weil ihm

beim Brauen die Keime entzogen werden. Trotzdem überrascht es Estelle Gfrerer, Studentin der FHS, dass sogar die Babys nach der Stillzeit mit Bier ernährt wurden. Danach geht es auf die Reise zur Verarbeitung des kühlen Blonden. Dabei lernen wir die verschiedenen Hopfen- und Malzarten kennen, die den Geschmack des Bieres beeinflussen. Beim Fachvortrag von Christian Hackl, Geschäftsführer der TUM Tech, zum Thema «Umwandlung der Kundenbedürfnisse in Produkte» erhalten wir einen Einblick in die Lebens­mittel- und Bierbranche. Mit einem gefüllten Rucksack an Informationen lassen wir den Abend im Hofbräuhaus München ausklingen.

Auf einer grünen Wiese gestartet Auf unserer nächsten Etappe dürfen wir ein weiteres international erfolgreiches Unternehmen, die BMW Group, kennenlernen. Im Forschungsund Inno­ vationszentrum befinden sich alle Teilnehmenden, die die Inno­ vationen von BMW beeinflussen, unter einem Dach. Auf der Führung erhalten wir viele Einblicke, die Externen im Normalfall verwehrt bleiben.

Gestärkt mit Brezen, werden unsere bisherigen Denk- und Arbeitsweisen beim Fachvortrag von Martin Hauschild, Leiter Mobilitätstechnologien bei BMW, zum Thema «Zukunft der Mobilität» auf den Kopf gestellt. Hauschild betont, dass bei Innovationen das volle Potenzial nur genutzt werden könne, wenn von vornherein auf einer grünen Wiese gestartet werde. So wäre man beispielsweise nie von der Kerze zur Glühbirne gelangt, wenn man lediglich versucht hätte, die Kerze weiterzuentwickeln. Hauschild weist weiter darauf hin, dass bei der Gestaltung des Autos auf international unterschiedliche Bedürfnisse Rücksicht genommen werden müsse. Zum Abschluss der Besichtigung stellt uns ein Werkstudent die Einstiegsmöglichkeiten für Studierende bei BMW vor.

Growth Mindset vs. Fixed Mindset Auf unserer letzten Etappe dürfen wir die Unternehmenskultur von Micro­ soft erleben. In der Eingangshalle von Microsoft bestaunen wir nebst der X-Box-Einrichtung den digitalen Kronleuchter. Dieser zeigt unter anderem das Wetter und die Uhrzeit

>> Michèle Huber und Jenny Dal-Zotto sind Bachelorstudentinnen der Betriebsökonomie mit der Vertiefung Marketing und Kommunikation. Die Exkursion nach München fand im Rahmen eines Interdisziplinären Kontextstudium-Moduls statt.

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v­ erschiedener Städte. Kay Mantzel, Experience Lead bei Microsoft, berichtet uns von der «neuen» Arbeitswelt bei Microsoft. Vor einigen Jahren haben sie sich vom fixen Mindset zu einem Growth Mindset verändert. Die neue Einstellung unterstreiche, dass Intelligenz nicht vorbestimmt, sondern erlernbar sei. Die Mitarbeitenden werden ermutigt, Herausfor­ derungen anzunehmen, bei welchen auch Fehler passieren dürfen. Nur so kann das Scheitern zum Erfolg führen. Mantzel unterstreicht, dass die Flexibilität bei Microsoft im Vordergrund stehe. So ist der Unternehmensstandort nicht mehr der typische Arbeitsplatz, sondern der Ort der Kommunikation. Auch bei Microsoft gibt es zum Schluss ein «Get Together» mit anderen Praktikanten und Trainees, die begeistert über ihren Einstieg bei Micro­soft berichten. Der letzte Besuch war besonders eindrücklich: Diese «neue» Arbeitswelt von Microsoft, die flexiblen Arbeitsmöglichkeiten, unterscheiden sich klar von jenen Erfahrungen, welche wir, die Autorinnen dieses Textes, bisher bei Unternehmen gemacht haben. Die Räume bei Microsoft entsprechen dem, wie wir uns unseren künftigen Arbeitsort am liebsten vorstellen. WEITERE BERICHTE ZU STUDIENREISEN: www.fhsg.ch/substanz

Auf ihrer Besichtigung bei Hofbräu München lernen die Studierenden die verschiedenen Hopfen- und Malzarten kennen, die den Geschmack des Bieres beeinflussen. (Foto: Michèle Huber)

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Vor Jahren dachte man bei « asiatischer Suppe » an die bunt verpackten Nudelsuppen. Mittlerweile ist die echte Udon-Suppe ...

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... in westlichen Städten hip. Der Nudelteig enthält fast kein Wasser und ist so widerspenstig, dass man ihn gemäss Rezept mit den Füssen kneten soll.

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Dort, wo die Schweiz «Luxembourg City» heisst

Basil Höneisen

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b in den USA, in C ­ hile oder Japan: Die FHS St.Gallen ist interessiert an Partner­ schaften mit internationalen Hoch­ schulen. Für die Akquise reisen FHS-Repräsentanten im Auftrag des International Office regel­ mässig in andere Länder. Kürzlich waren Sigmar Willi und Thomas Metzger in Ostasien. Im Interview erzählen sie von interkulturellen Herausforderungen, und wie sich eine kleine Fachhochschule in der grossen Welt behauptet. Sigmar Willi und Thomas Metzger, kennt man die FHS in Asien? Sigmar Willi: Punktuell schon, aufgrund von Partnerschaften mit einzelnen Hochschulen. Also dort, wo wir regelmässig vor Ort sind und persönliche Kontakte pflegen. Aber je nach Breitengrad wissen viele nicht einmal, wo die Schweiz liegt. Kürzlich besuchten wir eine malaysische Universität, die ein riesiges Plakat einer Weltkarte in ihrem International Office aufgehängt hat. Die Schweiz ist dort als «Luxembourg City» angeschrieben. Erfahrungsgemäss können wir nur vor Ort auf uns aufmerksam machen und Missverständnisse klären.

Man würde doch meinen, der Schweiz mit ihrem hohen Bildungs­ standard eile dieser Ruf voraus. Willi: Das hängt sehr von den einzelnen Ländern und ihren Regionen ab. Die grossen Schweizer Universitäten sind teils bekannt. Was wir allerdings oft erleben ist, dass insbesondere Studierende aus dem Angelsächsischen Raum eher Paris, Barcelona oder London im Kopf haben, wenn sie schon nach Europa reisen. Und wenn doch Schweiz, dann höchstens nach «Zurich» oder «Geneva». St.Gallen ist viel unbekannter. Aber das ist nicht tragisch für uns.

Inwiefern? Willi: Weil die FHS grundsätzlich nicht die Strategie verfolgt, möglichst international zu werden. Wir konzentrieren uns auf die Bedürfnisse der Ostschweiz.

Wo liegt darin der Mehrwert? Thomas Metzger: Für uns stehen Ostschweizer Firmen im Fokus, die international tätig sind. Mit solchen Firmen gleisen wir beispielsweise Praxisprojekte auf, über die international gemischte Studierendenteams aufgrund realer Problemstellungen des Unternehmens im Ausland konkrete Lösungsvorschläge erarbeiten. Diese Projekte sind aus Sicht der FHS ein grosser Mehrwert. Unsere Partnerhochschulen kennen solche, konse-

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quent auf Anwendung orientierte Module nicht und sind jeweils sehr daran interessiert, ihren eigenen Studierenden den Zugang dazu zu ermöglichen. So konnten wir schon viele namhafte ausländische Hochschulen für eine Partnerschaft mit uns motivieren.

Dann geht es bei internationalen Partnerschaften primär um Austausch-Studierende? Metzger: Grosse Hochschulen und Universitäten zielen in ihren Verträgen auf mehr ab, internationale Programme zum Beispiel. Die FHS strebt momentan vor allem den Studierenden-Austausch an. Solche Verträge erlauben es uns, FHS-Studierende zu Partnerhochschulen zu senden und im Gegenzug deren Studierende bei uns aufzunehmen. Aufgrund der Partnerschaft fallen für die Studierenden lediglich Kosten für Essen und Wohnen an, aber keine zusätzlichen Semestergebühren. Damit entsteht für die Studierenden und die beteiligten Hochschulen eine Win-Win-Situation. Darüber hinaus pflegen wir immer wieder einen Austausch von Dozierenden. Vereinzelt sind auch gemeinsame Publikationen für Forschungsprojekte entstanden.

Solche Partner müssen erst ein­ mal gefunden werden. Waren Sie in Malaysia erfolgreich? Willi: Ja. Eine aktuell noch bestehende Partnerschaft mit einer taiwa-


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nesischen Universität ist unbefriedigend, weshalb wir nach einer anderen Hochschule in Taiwan Ausschau hielten und Kontakte knüpften. Mit Erfolg.

Indem Sie einfach ein Meeting vereinbart und einmal vor­beigeschaut haben? Willi: Wenn es so einfach wäre! Wir waren an einer grossen Konferenz, bei der sich Länder und Hochschulen mit Standplätzen präsentieren. Da versucht man, ins Gespräch zu kommen und Verträge auszuhandeln.

«Hi guys, nice suits!» – So würde ich wohl versuchen, in ein solches Gespräch zu kommen. Metzger: In Asien lässt sich das Eis leider nicht mit einem lockeren Spruch brechen. Es braucht einiges an interkulturellem Verständnis, um in anderen Kulturkreisen erfolgreich zu sein. Grundsätzlich gilt es gerade im asiatischen Raum wahres Interesse zu zeigen. Asiaten sind extrem höflich und eher distanziert. Es wirkt kontraproduktiv, mit unserer westlich geprägten direkten Art «mit der Tür ins Haus zu fallen». Es gilt vor allem zuerst einmal zuzuhören. Aber auch Gate-Openers können helfen.

Gate-Openers? Metzger: Genau, das können gewisse kulturelle Gepflogenheiten sein, aber auch Formalitäten wie Akkreditie-

rungen. AACSB zum Beispiel ist für Hochschulen mit Wirtschaftsfakultäten eines der wichtigsten Zertifikate. An grössere oder wirklich gute internationale Universitäten kommt man viel einfacher heran, wenn diese Akkreditierung gezeigt werden kann. Gerade auch deshalb sind wir momentan daran, diese Akkreditierung für die FHS zu erreichen.

Prof. Sigmar Willi Gründer und Entwickler des Inter­ national Office der FHS St.Gallen

Inwiefern war Ihre letzte Reise sonst noch lohnenswert? Willi: Wir konnten uns vor Ort über die Qualität unserer neuen Partnerschule in Kuala Lumpur überzeugen, führten drei sehr spannende Gespräche mit potenziellen taiwanesischen Partnerhochschulen und mehrere Status-quo-Meetings mit bereits bestehenden Partnern. Ausserdem mussten wir bei der konservativen japanischen Universität Rikkyo Vertrauen schaffen, um das Senden des allerersten Incomings zu uns an die FHS nicht zu gefährden.

Ist es schwierig, an gewisse Incomings zu gelangen? Willi: Sehr! Die Schweiz ist im weltweiten Vergleich sehr teuer, Englisch nicht unsere Landessprache und St.Gallen kennt niemand. Ausserdem müssen wir Studierenden, die sich an 30 000-Studenten-Areale gewohnt sind, die Stadt St.Gallen als unseren Campus verkaufen.

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Prof. Thomas Metzger Leiter des Studienbereichs Lehre im Fachbereich Wirtschaft der FHS St.Gallen Die FHS St.Gallen pflegt aktuell 110 Verträge mit Partnerhochschu­ len auf der ganzen Welt. Jedes Jahr wird 32 hiesigen Studierenden aus dem Fachbereich Wirtschaft ermöglicht, ein Austauschsemes­ ter zu absolvieren. Im Gegenzug können bis zu 50 Incomings das Wirtschaftsstudium an der FHS besuchen. Die ausländischen Stu­ dierenden werden in den eng­ lischsprachigen Modulen auf die FHS-Klassen verteilt, um eine ra­ sche Integration zu fördern. (hob)


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Zum grossen Finale nach Pittsburgh

Andrea Sterchi

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elches Potenzial hat das neue Produkt? Wel­ che Bedürfnisse h­ aben die Kunden? Vier Monate lote­ ten zwei Studierenden-Teams der FHS St.Gallen und der Robert Morris University im Auftrag zwei­ er Schweizer Unternehmen inten­ siv den US-Markt aus. Die Reise in die USA bildete den krönenden Abschluss der JUSP-Praxisprojekte. Der Auftrag ist klar: Die im Rheintal ansässige Firma Leica Geosystems AG will wissen, welches Potenzial ihre Produktlösung aus Ortungs- und Positionierungsinstrumenten, Software und Services auf dem US-Markt hat. Die St.Galler Regloplas AG anderseits will die US-amerikanische Druckguss­ industrie und die Markttrends besser verstehen. Für die Studierenden der Fachhochschule St.Gallen bedeutet das Marktforschung über zwei Kontinente und zwei Zeitzonen hinweg. Und das in einem interkulturellen Team zusammen mit Studierenden der Robert Morris University (RMU) in Pittsburgh, USA. Anfang Januar haben sich die Teams zum ersten Mal persönlich zur Kickoff-Week in St.Gallen getroffen. In dieser besuchten sie zusammen mit ihren

Coaches die beiden Unternehmen mit dem Ziel, möglichst viele Informationen rund um die Fragestellung der Kunden mitzunehmen, den «Letter of Scope» zu finalisieren und am Forschungsdesign zu arbeiten. Danach arbeiteten die Teams – zu ihnen gehören immer je drei Studierende beider Hochschulen – in ihren jeweiligen Heimatländern weiter. Dabei tauschten sich die Studierenden vorwiegend über Online-Tools aus. Im April reisten die Schweizer schliesslich nach Pittsburgh zur Final Week, mit der Präsentation vor den extra angereisten Kunden als Höhepunkt.

Konkreter und bezahlter Auftrag Das JUSP-Praxisprojekt (Joint USA Swiss Program) ist eines von drei inter­nationalen Praxisprojekten der Wissenstransferstelle WTT-FHS. Ausgangspunkt ist ein konkreter und bezahlter Auftrag eines Unternehmens oder einer öffentlichen Institution. Sie beauftragen Bachelor-Studierende in

Betriebsökonomie und Wirtschafts­ informatik im letzten Semester mit einer Marktforschung oder einer Managementkonzeption, um etwa Chancen und Trends auf den Teilmärkten der USA für sie auszuloten. Betreut werden die Teams von Coaches der FHS St.Gallen und der RMU sowie einem Intercultural Mentor.

Erwartungen übertroffen Gleich zwei Teams reisten in die Staaten. Zur Schweizer Delegation gehörten neben den sechs Studierenden die Projektcoaches Franziska Weis und Wilfried Lux vom Institut für Unternehmensführung IFU-FHS und Program Director Martina Bechter. «Die Studierenden haben im Projekt Aus­ serordentliches geleistet und meine Erwartungen mehr als übertroffen», lobt Martina Bechter. Sie hätten sehr strukturiert gearbeitet. Das Projekt sei intensiv, trotzdem gelinge es den Studierenden immer wieder, sie zu überraschen. «Einerseits mit ihrem

«FÜR DIE STUDIERENDEN BEDEUTET DIES MARKTFORSCHUNG ÜBER ZWEI KONTINENTE UND ZWEI ZEITZONEN»

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«Mulligatawny»: Eine Suppe, die zu Zeiten von «British India» eine Idee des exotischen Landes repräsentierte und aus der man folglich eine ganze Menge britische Kolonialgeschichte herausschmeckt.

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­ rbeitswelten beider Länder», sagt A Martina Bechter.

«DAS COACH-TANDEM BIETET EINE OPTIMALE BEGLEITUNG IN DEN ARBEITSWELTEN BEIDER LÄNDER.»

f­ achlichen und methodischen Engagement und ihrem interkulturellen Interesse, andererseits mit ihrer Fähigkeit zum Trouble-Shooting , wenn etwas einmal nicht so läuft, wie es sollte.»

Harte Arbeit und viel Spass Zehn Tage verbrachten die Studierenden in den USA. Ziel war, die Praxisprojekte abzuschliessen. So waren die Tage gefüllt mit Team Meetings, Progress Meetings mit den Coaches, und Meetings mit ihrem Intercult­ ural Mentor Christa Uehlinger. Daneben blieb auch Zeit für verschiedene Aktivitäten und gesellige Anlässe, um Land und Leute besser kennenzulernen. «So luden uns etwa die RMU-­Coaches Jill Maher und ­Daria ­Crawley zu sich nach Hause ein. Oder die Teams besuchten auf dem RMU Campus eine Yoga Session und ein Lacrosse Game», erzählt Martina Bechter. Die FHS-Studierenden durften sogar bei der School of Business Cele­bration of Excellence teilnehmen.

Beim Cultural Day ging es neben Spass wieder um den Fokus. «Wir waren auf einer Golf Driving Range. Für viele war es eine neue Erfahrung, die Zielfokussierung, die wir im Projekt immer erwarten, für einmal locker mit Golfschläger und Golfball auszuprobieren», sagt Martina Bechter.

Die RMU als engagierte Partnerin Voll des Lobes ist sie über die Zusammenarbeit mit der RMU. «Sie ist eine engagierte und vertrauenswürdige Partnerin und tut viel, damit ihre Master-Studierenden trotz des intensiven Studienalltags am Programm teilnehmen können.» Die amerikanischen Studierenden erlebte sie als interessiert, kreativ und fachlich kompetent. Sie hätten gerne die Rolle der Gast­geber für die Kollegen aus der Schweiz übernommen. «Und dank des internationalen Tandems aus einem Schweizer und einem amerikanischen Coach profitierten die Teams von einer optimalen Begleitung in den

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Das Finale mit den Kunden Gut vorbereitet gingen die Studierenden ins Finale – die Präsentation der Ergebnisse vor den Kunden. Diese waren extra aus der Schweiz angereist und waren von der Arbeit der Studierenden sehr angetan. So zeigte sich die Regloplas AG beeindruckt von der professionellen Kooperation und den Ergebnissen. Und die Leica Geo­systems AG lobte die Ergebnisse, welche die Erwartungen deutlich übertroffen hätten und für künftige Projekt direkt anwendbar seien. Auch Martina Bechter zieht nach der Reise in die USA eine positive Bilanz. «Das Praxisprojekt ist eine hervorragende Chance für alle. Für die Studierenden, weil sie ein reales Consulting-Projekt umsetzen können. Zudem erleben sie interkulturelles Arbeiten und Lernen über zwei Kontinente hautnah.» Die Dozierenden profitierten von der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen einer anderen Hochschule und könnten Netzwerke pflegen. «Und die Auftraggeber erhalten wichtige Daten und Informationen für ihre Strategie.» MEHR ZUM PROJEKTABSCHLUSS IN PITTSBURGH: www.fhsg.ch/substanz


Brennpunkt – substanz goes international

«DIE WELT IST ZU EINEM DORF GEWORDEN» Die Wissenstransferstelle WTT-FHS betreut jedes Jahr rund zehn internationale Praxisprojekte. Es gibt drei Programme: CPIM-International (Consulting Project International Management), JUSP (Joint USA Swiss Program) und JCSP (Joint Chinese Swiss Program). Prof. Peter Müller ist Leiter der WTT-FHS. Im Interview erzählt er, warum es diese Praxisprogramme braucht und wieso internationale Kompetenzen heute so wichtig sind. Herr Müller, wieso braucht es internationale Praxisprojekte? Peter Müller: Alles wird internationaler. Mit der Technologisierung wird diese Kurve immer steiler. Die Welt ist zu einem Dorf geworden. Die Distanzen schrump-

fen, egal ob man in Buchs oder San Francisco sitzt. Heute sind wir über die Technik miteinander verbunden. Das schafft neue Möglichkeiten, zum Beispiel im Online-Business. Deshalb sind alle Schweizer Unternehmen auf irgendeine Art und Weise mit internationalen Herausforderungen konfrontiert. Und dafür brauchen sie und ihre Mitarbeitenden internationale Kompetenzen. Diese erwerben unsere Studierenden in den Praxisprojekten live. Aber eine Schweizer KMU, die nicht im Ausland tätig ist, braucht doch diese Kompetenz nicht. Auch nicht der Mitarbeiter, der nicht zum Arbeiten ins Ausland will. Müller: Eben doch. Das KMU mag nicht international tätig sein, aber es kauft Produktionsteile oder Rohstoffe im Ausland. In manchen Branchen gibt es einen Fachkräftemangel. Da ist ein Unternehmen auf ausländische Mitarbeiter angewiesen. Diese arbeiten dann mit Schweizern zusammen. Ohne dass man den anderen und seine Kultur versteht, funktioniert das nicht. Seit wann gibt es die internationalen Praxisprojekte? Und wieso gerade mit den USA und China? Müller: Das erste US-Praxisprojekt fand 2003 statt, 2008 das erste chinesische.

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Damals kam dem US-Markt eine wichtige Bedeutung als Wachstumsmarkt zu. Das Gleiche galt später für China, ein gewaltiger, boomender Markt. Unsere Praxisprojekte sind reale Consulting-Projekte für die Unternehmen, keine Studytrips. Das heisst? Müller: Wir wollen in die Tiefe gehen. Die Organisation des Unternehmens spüren. Nur dann sehen wir die tatsächlichen Her­ausforderungen und können kundenspezifisch Marktforschung betreiben und Vertriebskonzepte entwickeln. Ein einfacher Besuch bleibt an der Oberfläche, das ist nicht nachhaltig. Auch aus Unternehmersicht. Welche Unternehmen geben ein internationales Praxisprojekt in Auftrag? Sind das eher grosse Player? Müller: Keineswegs. Natürlich gehören Unternehmen dazu, die beispielsweise über ihre Tochterfirma in den USA oder China wachsen wollen. Kleinere KMU wollen eher sondieren, welche Chancen diese Märkte bieten. Andere wiederum wollen schlicht mehr über die Märkte wissen. Auch kommen unsere Kunden aus ganz unterschiedlichen Branchen. (sxa) www.fhsg.ch/wtt


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Interkulturelle Kompetenz –

braucht man das?

Essay* Eine asiatische Austauschstudentin antwortet auf Fragen im Unterricht kaum. In der Prüfung schreibt sie lediglich ein, zwei Sätze pro Aufgabe und fällt durch. Der Dozent hat schon länger den Eindruck, dass asiatische Studierende kaum etwas k ­ önnen. In der multikulturellen Projektarbeit ärgern sich die Schweizer Studierenden mehr und mehr, weil sich ihre Teamkolleginnen und -kollegen aus Spanien kaum an Termine und vereinbarte Zeiten halten. Kommen Ihnen solche Situationen bekannt vor? Was ist geschehen? Die Antwort ist überraschend einfach und gleich­ zeitig komplex. Einfach, weil verschiedene Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen aufeinander­ treffen und sich alle «so wie immer» verhalten. Komplex, weil Kultur vielschichtig und kaum fassbar ist, uns jedoch massgeblich beeinflusst.

nehmung, unsere Kommunikation und unsere Denkweise. Das gilt für alle Menschen dieser Erde, nur eben je nach Sozialisierung anders. Kultur vermittelt Bedeutung, gibt Sicher­ heit und Orientierung. Sie definiert unsere Komfortzone, innerhalb derer wir gemäss unserer Normalvorstellung handeln. Alles, was ausserhalb dieser Komfortzone liegt, wird als «fremd» und eher störend wahrgenommen. Jeder Mensch ist kulturell geprägt und bringt seine Art und Weise in eine Interaktion mit ein. Unbewusst wird angenommen, dass der andere gleich tickt. Das trifft aber in interkulturellen Situationen nicht zu. Daher kommt es meist zu Missverständ­ nissen. Arbeiten wir mit kulturell anders geprägten Personen zusammen, sind wir in unserer Komfortzone gefordert.

Kultur definiert Komfortzone

Kultur beeinflusst Wahrnehmung

Gehen wir der Sache auf den Grund und betrachten wir zunächst Kultur und ihre Auswirkung auf eine Inter­ aktion genauer. Kultur umfasst Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen einer Gruppe von Menschen, zum Beispiel einer Nation, einer Religion oder einer Altersgruppe. Diese beeinflussen unser Verhalten, unsere Wahr-

In den genannten Beispielen agieren alle aus ihrer eigenen kulturellen Prägung heraus, obwohl sie sich in einer kulturellen Überschneidungssituation befinden. Das ist menschlich. Für die asiatische Austauschstudentin ist es herausfordernd, direkt angesprochen zu werden. Um sich auszudrücken, braucht sie weniger Worte und zieht

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den Kontext mit ein. Der Dozent hingegen ist es gewohnt, dass Antworten begründet werden. Er verlässt sich auf das Wort. Daher nimmt er wahr, dass asiatische Studierende weniger können würden. Für die Schweizer Studierenden ist Pünktlichkeit wesentlich. Stossen sie auf ein anderes Zeitverständnis, beginnen sie sich zu ärgern. In Spanien aber wird mit Zeit flexi­ bler umgegangen.

Interkulturalität als Normalfall Was diese Personen erleben, passiert tagtäglich überall auf dieser Welt und in allen Tätigkeitsgebieten. Wir leben in einer multikulturellen interdependenten, globalen und zunehmend digi­talisierten Welt, in der Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung miteinander im Austausch sind. Interkulturalität ist nicht mehr das Besondere, sondern der Normalfall. Obwohl Interkulturalität an Beachtung gewonnen hat, ist die bewusste Beschäftigung damit noch keine Selbstverständlichkeit. Wer jedoch im beschriebenen Umfeld kulturübergreifend wirksam arbeiten möchte, benötigt interkulturelle Kompetenz. Sie ist die Basis für das effektive und angemessene Handeln, wenn sich kulturell unterschiedliche Menschen zielführend begegnen wollen.


Brennpunkt – substanz goes international

Der Ruf nach interkultureller Kompetenz ist überall zu hören. Unbestritten ist, dass diese Fähigkeit in der heutigen globalen Welt eine unabdingbare Schlüsselkompetenz darstellt. Was interkulturelle Kompetenz jedoch ­genau umfasst, darüber bestehen verschiedene Auffassungen. Ein erster Grundkonsens hat sich in den USA entwickelt. Danach besteht interkulturelle Kompetenz aus kognitiven, affektiven und verhaltensorientierten Fähigkeiten und Eigenschaften. Diese unterstützen eine wirksame, kultur­ übergreifende Interaktion und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander.

Wertschätzung und Respekt Interkulturelle Kompetenz lässt sich also kurz umschreiben als die Fähigkeit, mit Menschen anderer kultu­ reller Prägungen wertschätzend, achtsam und reflektiert interagieren und kommunizieren zu können. Das bezieht die persönliche Einstellung mit ein, das heisst, dem anderen offen, neugierig und mit positiver Absicht zu begegnen. Dazu gehört aber auch das eigene Verhalten, in dem man sich auf den anderen respektvoll, wertschätzend und empathisch einlässt, was Fähigkeiten wie Aktiv-Zuhören, Beobachten und Präsentsein erfordert. Schliesslich braucht es ebenso das Wissen über die eigene Kultur,

aber auch Kenntnisse anderer Kul­ turen und Lebensweisen.

Eigenes Verhalten reflektieren Das ist nichts Naturgegebenes. Interkulturelle Kompetenz erfordert ein geschärftes Bewusstsein der eigenen Kultur, die Fähigkeit, das Andere wahrzunehmen, sowie den Willen, die eigenen Verhaltensweisen und interkulturellen Erfahrungen zu reflektieren. Das bedingt, die eigene kulturelle Komfortzone zu erweitern und mit Unsicherheit umzugehen. Blosses Wissen, das Erlernen einer Sprache oder internationale Erfahrungen alleine genügen daher nicht. Sie können die Entwicklung interkultureller Kompetenz fördern, führen aber nicht zwangsläufig dazu, interkulturell kompetent zu sein. Die Aneignung interkultureller Kompetenz geschieht nicht von heute auf morgen, sondern ist ein lebenslanger Lernprozess, der je nach Erfahrungen auch mal durch Rückschritte gekennzeichnet sein kann.

>> *Dr. Christa Uehlinger ist Dozentin für interkulturelles Management und inter­ kulturelle Kommunikation. Die promovie­ rte Juristin arbeitete über zehn Jahre in global t­ätigen Unternehmen. Heute ist sie als Coach und Beraterin tätig und spezia­ lisiert auf die Entwicklung interkultureller Ex­zellenz.

­ issverständnisse vermieden und M fruchtbarere Formen der Zusammenarbeit gefunden werden können. Braucht man demnach interkulturelle Kompetenz? Absolut, überall und je länger, je mehr.

Kulturbewusster agieren Wären also die asiatische Studentin, der Dozent, die Schweizer sowie die spanischen Studierenden in ihrer interkulturellen Kompetenz gestärkt und wären sie bewusster mit diesen Situationen umgegangen, ­hätten

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MEHR ZU KULTURELLER KOMPETENZ: www.fhsg.ch/substanz


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«Die Japaner

denken sehr mutig» Marion Loher

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eit 2016 reist Sabina Misoch, Leiterin des Interdisziplinä­ ren Kompetenzzentrums Al­ ter der FHS St.Gallen, zweimal im Jahr zu Forschungszwecken nach Japan. Die Lösungen, die die Japa­ ner für die Probleme der Überalte­ rung gefunden haben, sind auch für die Schweiz interessant – ob­ wohl nicht alles 1:1 übertragen werden kann. Ein Beispiel für ein internationales Forschungsprojekt der FHS St.Gallen. Bei der Überalterung ist Japan der Schweiz weit voraus. Schon heute ist rund ein Drittel der Japanerinnen und Japaner 64 Jahre alt und älter. «Die japanische Gesellschaft ist bereits jetzt an einem Punkt, an dem wir erst in den Jahren 2050/2060 sein werden», sagt Sabina Misoch. Die Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter IKOA-FHS steht seit gut zweieinhalb Jahren in regem Austausch mit japanischen Forschungskolleginnen und -kollegen. «Für uns ist es interessant zu sehen, welche Lösungen die japanische Gesellschaft für diese Herausforderung gefunden hat, zumal es einige Parallelen zur Situation hier in der Schweiz gibt.» Beide Länder sind hoch entwickelte Indus-

trienationen, denen sowohl die Fachkräfte als auch die informellen Pflegenden je länger desto mehr fehlen – und das bei hoher und zunehmender Lebenserwartung der Menschen.

Auf Mails reagieren Japaner nicht Im Herbst 2016 reiste Sabina ­Misoch, die auch das aktuell grösste nationale Forschungsprojekt «AGE-NT – Alter(n) in der Gesellschaft» leitet, zum ersten Mal für einen Forschungsaufenthalt nach Japan. Mittlerweile war sie sechs Mal dort, der siebte Besuch fand auf Einladung der Schweizer Botschaft in Tokyo in diesem Mai statt. Ziel dieser Aufenthalte ist jeweils der Austausch mit japanischen Wissenschaftlern und Unternehmern sowie der Aufbau von Kooperationen mit Forschungs- und Industriepartnern. «Auf meiner ersten Reise habe ich eine Japanerin kennengelernt, die damals noch im ­Ministerium ­arbeitete.

Sie hat mir viele Türen geöffnet. Dank ihr konnte ich zahlreiche wichtige Kontakte knüpfen, die bis heute bestehen», erzählt Sabina Misoch. Persönliche Empfehlungen seien in Japan sehr wichtig. «Auf Mails reagieren ­Japaner praktisch nie.» Über eine solche Empfehlung kam es auch zum Treffen mit Takanori Shibata. Der 49-jährige Ingenieur ­ hat vor über einem Jahrzehnt den Therapie-­Roboter PARO entwickelt, der aussieht wie eine junge Sattel­ robbe und heute weltweit in der Altenpflege zum Einsatz kommt. In ­Japan wird Takanori Shibata verehrt. Sabina ­Misoch hat diese Verehrung aus nächster Nähe miterlebt. «Wir besuchten gemeinsam eine Ausstellung in Tokyo, in der verschiedene neueste Technologien zu sehen sind. Unter anderem ist dort auch PARO ausgestellt», erzählt sie. «Als die Mitarbeiterinnen der Ausstellung Takanori Shibata sahen, flippten sie

«DIE JAPANISCHE GESELLSCHAFT IST BEREITS JETZT AN EINEM PUNKT, AN DEM WIR ERST IN DEN JAHREN 2050/2060 SEIN WERDEN.»

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Brennpunkt – substanz goes international

Im Taxi erzählt der Fahrer von « Harira », der markokkanischen Suppe aus Linsen, Kichererbsen, Zwiebeln, Lammfleisch und Gewürzen. Während des Ramadans das Einzige, was er als Kind essen durfte. Er fährt den Fahrgast spontan in sein Lieblingsrestaurant « Du Maroc ».

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Brennpunkt – substanz goes international

­ einahe aus und liessen ihn nicht b mehr aus den Augen.» Das Team der Altersforscherin arbeitet aktuell mit der flauschigen Roboter-Robbe in den ­Living Labs des IKOA-FHS. Die ­Living Labs sind ein «lebendiges Labor», also Haushalte, Appartements und Zimmer in Heimen, in denen das IKOA-FHS technische Assistenzsysteme im Lebensalltag von Seniorinnen und Senioren langfristig testet. Der Therapie-Roboter wird neu bei Einsamkeits- und Depressions­ symptomen bei in Heim lebenden Seniorinnen und Senioren eingesetzt und nicht wie bislang ausschliesslich für Menschen mit Demenz. «Hier zeigen sich bislang gute Erfolge, und es wäre natürlich toll, wenn PARO neben anderen Therapien auch dafür eingesetzt werden könnte, die Lebensqualität von einsamen und depressiven Senio­rinnen und Senioren nachhaltig zu verbessern», sagt ­ Sabina Misoch.

Mit dem Roboter laufen lernen Auf ihren Japan-Reisen sichtet die Altersforscherin auch immer die neuesten technologischen Assistenz- und Robotik-Lösungen, die für die ältere japanische Bevölkerung bereits angewendet werden oder sich noch in Entwicklung befinden. Hierfür eignet sich die Robotik-Woche, die jedes Jahr auf einem der grössten ­Messegelände

«ZURZEIT GIBT ES WEDER IN DER SCHWEIZ NOCH IN JAPAN EIN GEEIGNETES FÖRDERGEFÄSS.»

von Tokyo stattfindet. An der Messe ­werden jeweils die neuesten Roboter präsentiert. Ein Produkt hatte es ­Sabina Misoch bei ihrem letzten Besuch besonders angetan: ein Exo-­ Skelett, auch Laufroboter genannt. «Dieses Exo-Skelett wird an den Beinen und/oder an der Taille fest­ gemacht und kann sowohl im therapeutischen als auch im pflegerischen Bereich angewendet werden», sagt sie. Zum einen könne es Menschen, die im Rollstuhl sitzen, helfen, das Gehen wieder zu trainieren. Zum anderen sieht Sabina Misoch das Skelett im pflegerischen Bereich als Hilfe für die Fachpersonen beim Heben der Patientinnen und Patienten. An der Messe wurden aber auch Roboter oder roboterähnliche Objekte gezeigt, mit denen die Wissenschaftlerin wenig anfangen konnte. «Meistens waren diese Dinge zu verspielt, zu niedlich und für uns sehr befremdlich, aber anscheinend haben die Japanerinnen und Japaner Freude ­

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an diesem verspielten, für uns eher ­kitschigen Design», sagt sie und erzählt von einem Roboter-Arm, der die traditionelle japanische Teezere­ monie übernimmt. «Das war zwar schön zum Anschauen, aber nicht wirklich brauchbar für Seniorinnen und Senioren.»

Die Sprache und das Geld Für Sabina Misoch ist die Zusammenarbeit mit den japanischen Forschungskolleginnen und -kollegen sehr inspirierend. «Die Japaner denken sehr mutig, wenn es um die technologische Entwicklung geht.» Obwohl einiges nicht auf die Schweiz adaptiert werden könne, gebe es doch immer wieder spannende Inputs und interessante Projekte. Eine Herausforderung ist die Sprache. «Die meisten Japaner haben grosse Hemmungen, Englisch zu sprechen, und so haben wir uns auch schon mit GoogleTranslate beholfen, was zu ­


Brennpunkt – substanz goes international

manch komischer Situation führte.» ­Einmal beispielsweise habe der elektronische Übersetzer «Sie müssen eine Melone kaufen» rausgespuckt. «Das kann doch nicht sein», hat sie sich gedacht, «wir sprechen ja über Robotik.» Sabina Misoch hat sich mittlerweile selbst geholfen und eine Mitarbeiterin eingestellt, die Japanisch spricht. Bislang ist aus der Zusammenarbeit mit den japanischen Forschern noch kein gemeinsames Projekt ent­ standen. Die Fördergelder fehlen, was ­Sabina Misoch sehr bedauert. «Zurzeit gibt es weder in der Schweiz noch in Japan ein geeignetes Fördergefäss, das die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Japan finanziell unterstützt.» Die Hoffnung hat die Altersforscherin aber noch nicht aufgegeben. Denn sie weiss, dass die Japaner und ihr technologischer Fortschritt auch für die Schweiz sehr gewinnbringend sein können.

AUF DER INSEL DER HUNDERTJÄHRIGEN Ein Höhepunkt der bisherigen For­ schungsreisen nach Japan war für ­Sabina Misoch der Besuch des Dorfes Ogimi auf der Insel Okinawa, wo welt­ weit die meisten Hundertjährigen woh­ nen. Dabei hatte die Altersforscherin die Möglichkeit, sich mit zwei Hoch­ altrigen – einer 100-Jährigen und ­einer 93-Jährigen – zu unterhalten, um mehr über das Geheimnis eines langen Le­ bens zu erfahren. «Mich interessierte vor allem, wie die beiden Frauen sozial eingebun­ den sind, woher sie ihre Energie neh­ men und was ihr Lebenssinn ist», sagt ­Sabina Misoch. Beeindruckt habe sie vor allem, wie gut die beiden Hoch­ betagten körperlich und psychisch «zwäg» seien und mit wie viel ­Energie

sie ihr Leben meisterten. «Noch heute kocht die 93-Jährige für die ganze Fa­ milie, wenn grosse Feiern stattfinden.» Ihre Energiequellen seien denn auch der Kontakt mit den Menschen, das Karaoke-Singen, viel Kaffee zu trinken und anderen zu helfen. Die 100-Jährige sagte dazu, ihr seien die Gespräche mit den Verstorbenen sowie ihr Gemüseund Früchtegarten wichtig, aber vor allem das Leben im Hier und Jetzt zu geniessen. «Vereinsamen können die Menschen hier nicht, da der Zusam­ menhalt im Ort sehr gross ist und jeder für jeden schaut», sagt Sabina Misoch. Die alten Menschen seien gut integriert und ein unverzichtbarer Teil der Ge­ meinschaft. (lom)

Lesen Sie mehr zur Japan-Reise im Blog www.alter-fhs.ch

WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/alter

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Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»

«Es gibt keine Formel

für ein moralisch gutes Leben» Marion Loher/Lea Müller

it den Klimastreiks sind Fragen rund um ein nach­haltiges Leben stark in den Mittelpunkt gerückt. Im Inter­ view spricht Mathias Lindenau, Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS, über die Nachhaltigkeit solcher Bewe­ gungen, die Diskussionsmüdigkeit der Menschen und die künftigen ­ethischen Herausforderungen.

bewusstsein für die Konflikte und Herausforderungen zu entwickeln, die diskutiert werden müssen. Und zweitens zu reflektieren, was daraus für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft resultiert. Denn selbstverständlich müssen den Worten auch Taten folgen. Hier stellen sich Fragen nach der Selbstbescheidung des Menschen: Unter welchen Umständen wäre ich denn bereit, auf etwas zu verzichten? Würde ich es freiwillig tun oder nur unter Zwang? Nur wenn alle darauf verzichten oder wäre ich auch bereit, den ersten Schritt zu machen?

Herr Lindenau, was bedeutet es, nachhaltig zu leben?

Wie sensibilisiert sind die Menschen auf ethische Fragen?

Mathias Lindenau: Das kommt darauf an, wie man Nachhaltigkeit definiert. Wenn beispielsweise in der Wirtschaft von nachhaltiger Unternehmensführung die Rede ist, meint man eher den langfristigen Unternehmenserfolg. In der Ethik hingegen bedeutet nachhaltige Entwicklung die Suche nach Leitbildern einer anzustrebenden Lebensform und Gesellschaftsordnung, von denen wiederum auch unser individueller und kollektiver Umgang mit der Natur abhängt. Das wieder­um bedeutet erstens ein Problem­

Lindenau: Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten. Generell scheint es von der persönlichen Betroffenheit abzuhängen, inwieweit sich jemand für ein Thema interessiert oder nicht. Aber gerade die aktuelle FridayForFuture-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie ethische Themen plötzlich für alle relevant werden können. Denn diese Bewegung zwingt uns alle dazu, über den Klimawandel nachzudenken. Ältere Menschen können eher damit rechnen, relativ unbeschadet da rauszukommen. Die nach-

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folgenden Generationen hingegen können das nicht, zumindest sprechen die wissenschaftlichen Ergebnisse eine eindeutige Sprache. Die Jungen sind für dieses Thema sensibilisierter, dem gegenüber sich aber auch die älteren Generationen irgendwie verhalten müssen.

Gibt es ein moralisch gutes Leben? Lindenau: In der Ethik gibt es dazu höchst unterschiedliche Auffassungen. Auch hier ist wieder die Frage, was man unter einem moralisch guten Leben verstehen will. Wenn darunter der autonome Lebensentwurf eines Menschen verstanden wird, dann glaube ich nicht, dass es eine allgemeingültige moralische Formel für ein gutes respektive gelungenes Leben gibt.

Weil das von Person zu Person unterschiedlich ist? Lindenau: Genau, unsere Lebensentwürfe sind höchst unterschiedlich und das gilt es zunächst einmal zu respektieren. Wir müssen in unserem individuellen Entwurf aber auch die legitimen Interessen und Rechte anderer Menschen berücksichtigen und uns

>> Prof. Dr. Mathias Lindenau ist Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS. In Kürze erscheint die Buch­ publikation Band 5 der Vadian Lectures zum Thema «Menschenrechte und Menschenwürde. Vier thematische Einblicke».

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Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»

fragen, was wir ihnen als Menschen schulden. Und dann wird schnell offensichtlich, dass ein gelungenes Leben eben auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist. Wer es anstrebt, kann sich aus einer ethischen Sicht deshalb nicht der Forderung entziehen, sich moralisch anständig zu verhalten. Simpel, aber sehr hilfreich wäre es, sich in Bezug auf solche Fragen einfach einmal in die Lage des jeweils anderen zu versetzen. Wie wollen wir mit Schwächeren in unserer Gesellschaft umgehen? Wie mit denen, die erfolgreich und stark sind? Wozu wollen wir sie verpflichten und wozu verpflichten wir uns in Bezug auf das Gemeinwohl?

Fragen über Fragen. Lindenau: Oft wird über den Umgang mit solchen Herausforderungen gar nicht mehr gerungen. Entweder, weil wir das Gefühl haben, diese Fragen sowieso nicht lösen zu können, oder wir betrachten sie mit einem ideologischen Tunnelblick. Unsere Probleme sind aber derart komplex, dass wir die Diskursbereitschaft unbedingt brauchen. Wenn ich mir die momentane politische Diskurskultur anschaue, ist diese Bereitschaft nicht da – auch in der Politik und der ­Gesellschaft ist sie zu wenig vorhanden. Die Menschen müssen wieder mehr aufgerufen werden, mitzudenken und zu diskutieren.

Mathias Lindenau im Gespräch in der Cafeteria «Gleis 8» im Fachhochschulzentrum. (Foto: Bodo Rüedi)

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FHO Fa chhoch schule Ostsch weiz

Vadian Lectures «Schöne neue Welt? Zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Herausforderungen» Die Vadian Lectures sind eine öffentliche Vortragsreihe.

«Wie viel Künstlichkeit verträgt der Mensch?» Silke Schicktanz, Donnerstag, 31. Oktober 2019

«Digitalisierung: Zwischen Technikgläubigkeit und apokalyptischen Befürchtungen» Armin Grunwald, Donnerstag, 5. Dezember 2019

Jeweils um 18 Uhr, Kantonsratssaal, Klosterhof 3, 9000 St.Gallen. Türöffnung um 17.30 Uhr. Details und Anmeldung: www.fhsg.ch/vadianlectures.

Mit Unterstützung von:

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Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»

Etwas, das die Jungen mit den Klimastreiks eindrücklich tun. Lindenau: Genau, sie fordern uns mit ihrem Ansinnen heraus und wir müssen uns dazu verhalten. Wir können dafür oder dagegen sein, müssen aller­ dings die eigene Meinung auch revidieren, wenn der eigene Standpunkt mit überzeugenden Gegenargumenten entkräftet werden kann.

Mit welchen Fragen zu gesell­ schaftlichen Themen befasst sich das Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit hauptsächlich? Lindenau: Wir organisieren zum einen Veranstaltungen für die Öffentlichkeit – wie etwa die Vadian Lectures – und bieten damit eine Plattform für den Diskurs an. Zum anderen wollen wir uns künftig verstärkt mit den Fragen der politischen Ethik in Bezug auf die sozialen Fragen und die Demokratie auseinandersetzen. Die Demokratie scheint nicht mehr das unumstrittene politische Modell zu sein. Davon bleiben auch stabile Systeme wie jenes der Schweiz nicht unberührt, da sich beispielsweise Fragen nach der Bedeutung der Mehrheitswahl oder den Schwächen der direkten Demokratie stellen.

Welche Rolle spielt die Ethik grundsätzlich in der Hochschul­ bildung und speziell an der FHS St.Gallen?

Lindenau: Sie ist unverzichtbar, denn sie kann die Studierenden befähigen, sich kritisch mit sich selbst und der Gesellschaft zu beschäftigen. Diese reflexive Grundkompetenz haben wir heute nötiger denn je. An der FHS St.Gallen absolvieren alle neuen Studierenden ein interdisziplinäres Kontextstudium in den Bereichen Politik sowie Ethik. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass sich die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen durch das gesamte Studium ­aller Fachbereiche zieht.

Sie beraten auch Organisationen. Wie wichtig ist die Ethik in einer verantwortungsvollen Führung? Lindenau: Auch hier ist die Ethik unabdingbar. Das beginnt schon beim Selbstverständnis der Führungsperson: Verstehe ich mich als Teil eines Teams? Welche Wertschätzung erfahren meine Mitarbeitenden? Suche ich nach gemeinsam getragenen Entscheiden? Eine gute Führungs­person würde sich zunächst der Macht ­ihrer Führungsposition bewusst werden, sich für ihre Mitarbeitenden en­ gagieren, aber auch Konflikte nicht scheuen und eine Atmosphäre schaffen, die von gegenseitigem Respekt getragen ist. So kann eine Arbeits­ situation entstehen, in der Führungsperson und Mitarbeitende sich akzep­ tieren und um die bestmöglichen Entscheidungen ringen.

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Die Vadian Lectures haben einen festen Platz in der FHS-Agenda. Thema dieses Jahres ist: «Schöne neue Welt? Zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Herausforderungen». Wie viel Technologie verträgt der Mensch? Lindenau: Wir müssen genau hinschauen und entscheiden, was wir wollen und was nicht. Weder Hysterie noch naive Technikgläubigkeit bringen uns weiter. Wenn beispielsweise sogenannte Exo-Skelette entwickelt werden, die es bis anhin querschnittgelähmten Menschen ermöglichen, ein paar Schritte zu tun, ist das super. Wenn aber algorithmisches Entscheiden zum Nonplusultra in allen Bereichen unseres Lebens stilisiert wird, kann das gefährlich sein.

Was braucht unsere Gesellschaft, um zukünftige ethische Her­ ausforderungen zu meistern? Lindenau: Das Wichtigste wäre, wir alle – unabhängig von politischen Standpunkten und Weltanschau­ ungen – würden die Bereitschaft ent­wickeln, uns irritieren zu lassen, ­eigene Positionen und die von anderen zu reflektieren und uns wertschätzend in die Diskussionen zu begeben, um Probleme zu lösen und nicht, um recht zu behalten. WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/zen


Erkenntnis – New Work

«Digital Human Work» – eine Utopie?

Alexandra Cloots/Sebastian Wörwag

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ie Digitalisierung verän­ dert unsere Arbeitswelt in grundlegender Weise. Für die einen ist sie ein Segen, für die anderen stellt sich die sorgen­ volle Frage, ob künstliche Intelli­ genz bald einmal die menschliche Intel­ligenz überflügeln wird. Ein Diskurs über Ziele und Wirkun­ gen der Digitalen Transformation ist notwendig. Nichts wird die Arbeit in Zukunft stärker beeinflussen als die Digitalisierung. Das war die zentrale Erkenntnis unserer Studie aus dem Jahr 2017. Die digitale Transformation geht einher mit einer Erwartung höherer (­digitaler) Automatisierung der Arbeitsinhalte. Trotz aller Technikeuphorie in der privaten Nutzung digitaler Medien wurde deutlich, dass es auch Sorgen rund um die zunehmende Digitalisierung der Arbeit gibt. In einer bei rund 1500 Beschäftigten durchgeführten Studie im Herbst 2018 wurde nämlich klar, dass 27% einen Ersatz menschlicher

Intelligenz durch Rechenleistung befürchten, mehr als jeder Dritte eine Abnahme von Menschlichkeit bei der Arbeit erwartet und mehr als jeder Zweite sich auf mehr Leistungsdruck aufgrund der Digitalisierung einstellt.

Bewusst humane Position Vor diesem Hintergrund stellt sich deshalb die Frage, wann die Digitale Transformation im Sinne der Gesellschaft und der Menschen «gelungen» sein wird. Nach unserer Meinung, muss der Faktor Mensch wichtigstes Element der Digitalisierung bleiben. Zum Beispiel sollte im Verhältnis zwischen Mensch und Maschine eine bewusst humane Position angestrebt werden, bei welcher die Technik dem Menschen als Hilfsmittel und Instrument zur Verfügung steht und nicht umgekehrt. Zudem soll die Digitalisierung einen Beitrag leisten, dass Menschen in ihrer Arbeit weiterhin oder vermehrt noch Sinnvolles vollbringen, moralisch verantwortungsvoll und selbstwirksam handeln, anerkennungsreiche soziale Beziehungen pflegen und ihre Teilhabe an wirtschaftlichen,

­ ulturellen oder sozialen Prozessen k steigern können. Doch wo stehen wir heute? Sind wir – die Betriebe und ihre Mitarbeitenden – tatsächlich gut auf die Digitale Transformation vorbereitet? Rund zwei Drittel der Teilnehmenden unserer Studie 2018 bestätigen dies, wobei es klar die Jüngeren sind, die sich hier im Vorteil wähnen. Auch zwischen den Branchen und Arbeits­feldern bestehen starke Unterschiede. Interessant ist, dass der Vorbereitungsstand der Arbeitskollegen grossmehrheitlich schlechter eingestuft wird, was auf ein gewisses Mass an Selbstüberschätzung schliessen lässt. Es braucht also noch Qualifikation bei den sogenannt digitalen Kompetenzen. Diese sind nach Meinung der Studienteilnehmenden a) Flexibilität in der Reaktion auf Veränderungen, b) elektronische Kenntnisse, c) Kompetenzen der Informationsbeschaffung und d) Problemlösungsfähigkeiten. ­Weitere Faktoren, welche die Befähigung zur Digitalen Transformation begünstigen, sind die Zugehörigkeit zu einer jüngeren Generation, Neugierde sowie Experimentierfreudigkeit mit technologischen Entwicklungen und eine

>> Prof. Dr. Sebastian Wörwag ist Rektor der FHS St.Gallen. In seiner Forschungsarbeit beschäftigt er sich mit Veränderun­ gen der Arbeitswelt. Prof. Dr. Alexandra Cloots ist Co-Leiterin des HR-Panels New Work an der FHS St.Gallen.

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Erkenntnis – New Work

unterstützende Führungs- und Arbeitskultur.

Noch kein Massenphänomen Die Digitalisierung ist, und das ist ein weiterer Befund aus unserer Studie, noch kein Massenphänomen. Gerade einmal 27 % der Beschäftigten sind der Digitalisierung gegenüber neugierig aufgeschlossen. Das sind Pioniere, bzw. Promotoren, die die Digitale Transformation unterstützen. Ihnen stehen aber 14 % digitale Skeptiker gegenüber. Diese müssen umsichtig in die Digitale Transformation eingebunden werden, um einen «digital divide» zu vermeiden. Es gibt noch viel zu tun, um eine gelingende Digitale Transformation der Arbeit zu erreichen. Das fängt schon bei einer gut begründeten Digitalisierungsstrategie an. Unsere Studie zeigt, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten die Digitalisierungsstrategie ihrer Institution oder Organisation kennen. Bei der anderen Hälfte finden keine bewussten Diskurse über Ziele und Wirkungen sowie Einführung der Digitalisierung statt. Inwieweit eine «Human Digital Transformation» heute gelingt, zeigt sich an ihren Wirkungen. Bei 60 % der Beschäftigten wird eine Veränderung der Organisationskultur in Richtung mehr Effizienzdenken wahrgenommen. Fast jeder Zweite nimmt eine

Zunahme von Regeln, Prozessen und Technik wahr. Nur 12 % beobachten, dass sich die digitalisierte Organisationskultur in Richtung mehr Menschlichkeit entwickelt. So erstaunt es auch nicht, dass bei einem Drittel der Beschäftigten die Digitalisierung im Arbeitsumfeld Sorgen auslöst, während sie nur von gut jedem Fünften positiv aufgenommen wird. Die Studie zeigt, dass Personalabtei­ lungen im Rahmen der Digitalen Transformation stärker Verantwortung übernehmen müssen. Dazu müssen sie aber, trotz Eigenzuschreibung von hoher Kreativitäts- und Innovationsfähigkeit, noch besser auf die Digitalisierung vorbereitet werden. Im besten Fall können sie mit eigenen Methoden die Digitalisierungsstrategie unterstützen, die herkömmlichen HRM-Instrumente auf den Kontext der neuen Arbeitswelt ausrichten und die Mitarbeitenden mit massgeschneiderten Trainings und Weiterbildungen zur Entwicklung von digitalen Kompetenzen begleiten. Ob die Digitale Transformation einst als eine Verbesserung der Arbeitswelt wahrgenommen wird, liegt nicht an der Technik, sondern an uns Menschen. Wir «bestellen», was «geliefert» werden soll. Diese Verantwortung sollten wir umsichtig übernehmen. WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/hrpanel

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BUCHPUBLIKATION NEW WORK Der im Herbst erscheinende Sammelband «Digital ­ Human Work– eine Utopie?» von Prof. Dr. Sebastian Wörwag und Prof. Dr. Alexandra Cloots umfasst die vom HR-Panel New Work im Jahr 2018 durchgeführte S­ tudie zum Thema Digitalisierung der Arbeitswelt sowie Gastbeiträge aus Wissenschaft und Praxis. Ziel des Buches ist, eine Orien­ tierung und Denkanstösse im Hinblick auf die Gestaltung der Digitalen Transformation zu ge­ ben. Hierbei wird bewusst ein Zukunftsbild einer humanen di­ gitalen Transformation der Ar­ beitswelt entworfen, in welcher der Mensch in seiner Selbstwirk­ samkeit im Zentrum steht. Ver­ schiedene Branchenanalysen so­ wie Betrachtungs­perspektiven zeigen unterschiedliche Stra­ tegien der Digitalisierung auf. Der Sammelband kann unter newwork@fhsg.ch vorbestellt werden.


Herausforderung Logistik: Die FHS-Absolventinnen Saskia Selkmann und Sarah Rietmann im A-Lager der Ulrich AG. (Foto: Anna-Tina Eberhard)

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Erkenntnis – Blickwechsel

Mit der Bestellliste

zwischen hundert Schubladen Ursula Ammann

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arah Rietmann und Saskia Selkmann studieren Sozia­ le Arbeit an der FHS St.Gal­ len. Für eine Woche haben sie den Fachbereich gewechselt und Betriebsluft geschnuppert bei der Ulrich AG, einem St.Galler Unter­ nehmen, das Instrumente für die Chirurgie herstellt und vertreibt.

Schwere, blaue Regale stehen in Reih und Glied im Raum. Sie sind bestückt mit Hunderten Schubladen, worin sich – fein säuberlich verpackt und nummeriert – Tausende Instrumente befinden, mit denen Abertausende Fachleute der Medizin arbeiten werden. Hier im A-Lager der Ulrich AG kennen sich Sarah Rietmann und ­Saskia Selkmann nun fast ein bisschen aus. Eine ihrer Aufgaben war es, mit der Bestellliste in der Hand die richtigen Produkte herauszu­suchen. Kein einfaches Unterfangen, wie Saskia Selkmann findet: «Als Nummernanalphabetin ohne logistisches Geschick ist mir das eher schwergefallen», lacht die 27-Jährige. Sarah Rietmann hat die riesige Menge und Vielfalt an Produkten überrascht. Die Ulrich AG vertreibt rund 30 000 chirurgische und spezialchirurgische Instrumente, etwa 10 000 stammen aus der Eigenproduktion: darunter alle

Variationen von Klemmen, Wund­ nähern oder Scheren.

Blickwechsel erweitert Horizont Beim St.Galler Unternehmen, das dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, haben die FHS-Studentinnen eine Woche lang Betriebsluft geschnuppert. Sarah Rietmann und Saskia Selkmann studieren Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Sozialpädagogik. Im Rahmen des Moduls «Blickwechsel», das vom Career Center der FHS St.Gallen angeboten wird, erhielten sie einen Einblick in ein anderes Fachgebiet. «Der Blickwechsel ist eine Horizonterweiterung», sagt Sarah ­Rietmann, die noch bis vor Kurzem in einer Tagesschule tätig war, bevor sie sich dazu entschloss, statt Teilzeit Vollzeit zu studieren. Beeindruckt haben sie die klaren Strukturen bei der Ulrich AG. «Wenn Fragen auftauchen, weiss man genau, wer Ansprechpartner ist», sagt die 23-Jährige. Aus dem sozialen Bereich kennt sie das weniger. Das eine Metier mit dem anderen zu vergleichen, findet sie spannend.

Reparieren statt wegwerfen Auch Saskia Selkmann hat neue Erkenntnisse gewonnen: Dies, obwohl, oder gerade, weil sie schon früher mit chirurgischen Instrumenten in Berührung gekommen ist. «Im ­Spital, in dem

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ich einst gearbeitet habe, herrschte beim Operationsbesteck eher eine Wegwerfmentalität. Zum Beispiel landete eine stumpfe Schere schnell im Müll.» Es sei für sie ein Aha-Erlebnis gewesen, dass die U ­ lrich AG nicht nur Produkte herstelle, sondern sie im Auftrag der Kunden auch repariere. Der Gedanke an qualitativ hochwertige Produkte mit einem langen Lebenszyklus gefällt den Studentinnen. Ebenso, dass das Unternehmen Instrumente, die alt aber noch gut sind, an Spitäler in Entwicklungsländern spendet. Noch etwas hat ­Sarah ­Rietmann und Saskia Selkmann imponiert: Die beiden zeigen auf eine Knochenstanze. Daran forsche das Unternehmen derzeit, um die Technologie zu verbessern und die Ärzte darin zu unterstützen, im Operationssaal das Bestmögliche zu leisten. Diese nachhaltige und soziale Betriebsphilosophie habe den Ausschlag gegeben, sich für die Ulrich AG zu entscheiden. Für die Firma, die bereits seit Längerem die Zusammenarbeit mit der FHS St.Gallen pflegt, ist es der zweite Blickwechsel. «Für unsere rund 30 Mitarbeitenden bedeutet das eine willkommene Abwechslung und eine Auflockerung», sagt Martin ­Koller, CEO. «Und mithelfen können die Studierenden in jedem Fall.» ­ Sarah ­ Rietmann und Saskia Selkmann wird die Woche als lehrreiches Erlebnis in Erinnerung bleiben.


Erkenntnis – Vereinbarkeitsstrukturen in Unternehmen

Mit einem Simulator

zur Work-Life-Balance Stefan Paulus/Adrian Stämpfli

I

n einem interdisziplinären For­ schungsprojekt hat die Fach­ hochschule St.Gallen einen Ver­ einbarkeitssimulator für Un­ ternehmen entwickelt. Die Open­ Source-Software erfasst die Lebenslagen und Wünsche von Arbeitnehmerinnen und Arbeit­ nehmern an ihre zukünftige Work-Life-Balance. Basierend auf den Simulationen können Arbeit­ geber Massnahmen einleiten und neue Arbeitsorganisationsmodel­ le gestalten. Vereinbarkeit von Beruf und Familie findet für Angestellte oftmals im Spannungsfeld zwischen den Interessen des Arbeitgebers und den Interessen der Angehörigen statt. Auch die Gleichzeitigkeit von beruflichen und familiären Anforderungen fordert Angestellte heraus: Während einer wichtigen Arbeitsbesprechung braucht ein Kind dringend Betreuung oder während des familiären Abendessens gibt es plötzlich einen beruflichen Notfall.

Diese Situationen bringen Angestellte in Gewissens- und Rollenkonflikte. Bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie spielen daher betriebliche Massnahmen eine wichtige Rolle. Je nach Lebenslage und Verpflichtungen benötigen Angestellte dementsprechend individuell gestaltete Arbeitsorganisationsmodelle. Das fordert Unternehmen heraus: Wollen sie als attraktive Arbeitgeber gelten, müssen sie auch ihre Arbeitsorganisation den jeweiligen Anforderungen der Mitarbeitenden anpassen.

Dialog zwischen Vätern und ihren Chefs anstossen Gefragt sind Konzepte für eine lebenslagen- und generationenspezifische Work-Life-Balance, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Phasen des Berufslebens durch passgenaue Arbeitsorganisationsmodelle gemeistert werden können – all dies leistet der Vereinbarkeitssimulator. Entwickelt wurde die öffentlich zugängliche OpenSource-Web-Applikation in einem interdisziplinären Projekt des Instituts für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS sowie des Instituts für Modellbildung

und Simulation IMS-FHS. Der Simulator erfasst die spezifischen Lebenslagen von Vätern mit Sorgearbeitspflichten und deren Wünsche an ihre zukünftige Work-Life-Balance und erlaubt es, individuelle Massnahmen zu entwickeln. Ziel des Simulators ist es, einen Dialog zwischen der Unternehmensführung und den Vätern inklusive ihrer Angehörigen anzustossen und Entscheidungs- und Umsetzungshilfe bei der Einleitung entsprechender Massnahmen zu leisten.

Unzufriedenheit und Belastung mindern Im Gegensatz zur Best Practice von Work-Life-Balance werden Mitarbeitende hier nicht als Human Resource behandelt, sondern als Einzelpersonen mit ihren je spezifischen Lebenslagen. Neu ist auch, dass ein Entscheidungsprozessmodell realisiert wird, wie zum Beispiel ein Vater mit seinem Arbeitgeber und seiner Familie zu einem Arbeitsorganisationsmodell gelangt, das von allen getragen wird. Dieses Prozessmodell beinhaltet, dass Mitarbeitende vor einem Mitarbeitergespräch den Simulator konsultieren.

>> Stefan Paulus ist Dozent im Fachbereich Soziale Arbeit und Co-Leiter des Themenschwerpunkts Arbeit und Integration am Institut für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS. Adrian Stämpfli ist Projektleiter am Institut für Modellbildung und ­S imulation IMS-FHS.

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Erkenntnis – Vereinbarkeitsstrukturen in Unternehmen

Wie funktioniert der Vereinbarkeitssimulator? Standbild aus dem Erklärfilm unter www.fhsg.ch/vereinbarkeitssimulator

Dieser erfasst in einem ersten Schritt den Zustand der aktuellen Lebenslage (Einkommen, Zeithandeln, Arbeitsbelastungen, Soziale Ressourcen etc.) und den Soll-Zustand der Lebenslage (Veränderungswünsche). Eine Auswertung verdeutlicht bestehende Unzufriedenheiten und Belastungen. Basierend darauf, hilft der Simulator in einem zweiten Schritt dabei, ein auf den individuellen Fall angepasstes Arbeitsorganisationsmodell zu entwickeln: Der Simulator schlägt passende Massnahmen vor und verdeutlicht, welche Unzufriedenheiten und Belastungsfaktoren damit vermindert werden könnten. Die Nutzerinnen und Nutzer ihrerseits bewerten und konkretisieren die Massnahmen zu einem Plan. Dieser Plan dient dazu, mit Familie und Organisation in einen Austausch

zu gelangen und Entscheidungen zu legitimieren. Mit periodischer Anwendung kommt es zu einer Lernschleife. Die Nutzerinnen und Nutzer können erkennen, wie sich Lebenslagen verändern. Und die Organisation kann lernen, welche Massnahmen funktionieren. Das heisst, die Organisation lernt von den Bedürfnissen der Mitarbeitenden.

Für andere Zielgruppen weiterentwickeln Im neuen Projekt «Vereinbarkeitssimulator 2.0», welches wiederum vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung unterstützt ist, wird der erfolgreiche Prototyp des Vereinbarkeitssimulators weiterentwickelt. Aufgrund der Erfahrungen aus dem ersten Projekt soll der «Vereinbarkeitssimulator 2.0»

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für weitere Zielgruppen mit Sorgearbeitspflichten wie arbeitstätige Mütter, Alleinerziehende oder pflegende Angehörige nutzbar werden. Gleichzeitig werden branchenspezifische Anpassungen in Betracht gezogen, damit alle Unternehmen mit ihren Mitarbeitenden gemeinsam lebenslagenspezifische Vereinbarkeitsmodelle entwickeln können. Um den Wirkungsgrad des Vereinbarkeitssimulators 2.0 weiter zu erhöhen und seine Verstetigung zu erreichen, wird er im «HR-Panel New Work» der FHS St.Gallen angesiedelt. In diesem Rahmen entstehen auch ein Implementierungskonzept sowie ein konstantes Beratungs- und Dienstleistungsangebot. WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/vereinbarkeitssimulator


Erkenntnis – Internationale Chronoferenzen

Spurensuche nach

Community in Nordamerika Stefan Köngeter/Christian Reutlinger

V

iele soziale Fragestellun­ gen – verbunden mit dem Aufwachsen, Alt-Werden bis hin zur sozialen Integration – scheinen im Sozialraum lösbar. Nicht verwunderlich also, dass so­ zialräumliche beziehungsweise ge­ meinwesenorientierte Ansätze in deutschsprachigen Ländern der­ zeit einen Boom erleben. Immer wieder werden ihre nordamerika­ nischen Wurzeln betont. Diese sind jedoch verzweigter als gedacht. Die Erinnerung an die eigenen Wurzeln dient in der Sozialen Arbeit eher dem unausgesprochenen Ziel der Selbstvergewisserung sowie der Gewährung des fachlichen Anschlusses. Die dadurch sichtbar werdenden historischen Entwicklungslinien scheinen verdächtig durchgehend und eindeutig. Community-Ansätze setzen nicht an der Korrektur der Einzelpersonen an, sondern nehmen, viel progressiver, die Bearbeitung der Ursachen des gesellschaftlich verursach-

ten Leidens in den Blick. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama beispielsweise, seines Zeichens Gemeinwesenarbeiter, orientierte sich in seiner Arbeit an dem US-amerikanischen Bürgerrechtler und «community organizer» Saul Alinsky (19091972) und erschien dadurch noch fortschrittlicher. Jedoch kaum jemand betrachtet die sogenannten «Chronoferenzen», wie der Historiker Achim Landwehr das komplexe Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart und die daraus hervorgehenden Vieldeutigkeiten bezeichnet.

Re-Boom von Community Befeuert von der Idee der Chronoferenzen begaben sich die Autoren auf Spurensuche in ein digitales Archiv, in dem die Veröffentlichungen der nordamerikanischen Konferenzen für Soziale Arbeit (damals noch Charities and Correction) gesammelt werden: Es zeigt sich, dass beide Begriffe «community» und «neighborhood» – ins Deutsche nur unzureichend mit Gemeinwesen, Gemeinschaft, Nachbarschaft, Quartiere, etc. übersetzt – in den USA und Canada eine lange und wechselhafte Karriere hinter sich

haben. In den 1910er-Jahren erlebte die Diskussion einen eindrücklichen Höhepunkt (vgl. Infografik). Wer hat zu diesem Boom beigetragen? Wer hat welche Interessen verfolgt? Warum fand dieser Boom gerade zu jenen Zeitpunkten statt?

Überraschende Vieldeutigkeiten Landläufig wird angenommen, dass die Diskussion um «community» und «neighborhood» vor allem von progressiven Kräften innerhalb der Sozialen Arbeit geprägt wurde. Durchgehend wird die sogenannte Settlement-Bewegung als Ursprung von Community-Ansätzen erwähnt, die durch die Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams berühmt wurde. Deren Hauptgedanke bestand darin, dass sich die bürgerliche Schicht nicht länger in ihren eigenen Quartieren abschotten, sondern gezielt in die Slums der damaligen Grossstädte ziehen sollte, um das Leben der exkludierten Teile der Gesellschaft besser zu verstehen. Der vertiefte Blick in die Diskussion zu jener Zeit zeigt jedoch ein überraschendes Bild: Zahlreiche im damaligen Feld der Sozialen Arbeit vertretene soziale Bewegungen,

>> Prof. Dr. Stefan Köngeter und Prof. Dr. Christian Reutlinger sind Co-Leiter des Instituts für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS.

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Erkenntnis – Internationale Chronoferenzen

Community

1400

Trendkurve zur Anzahl des Begriffs Community

1200

Anzahl der Nennungen des Begriffs Community

600

IN VANCOUVER UND TORONTO

1000 800

400 200

18 7 18 4 7 18 8 8 18 2 8 18 7 9 18 1 9 18 5 9 19 9 0 19 3 0 19 7 1 19 1 1 19 5 1 19 9 2 19 3 2 19 7 3 19 1 3 19 5 39 19 4 19 3 4 19 7 5 19 1 5 19 5 5 19 9 6 19 3 6 19 7 7 19 1 75

0

Die beiden Kurven geben an, wie häufig der Begriff Community in den Publikationen der Beiträge auf den National Conferences of Charities and Correction auftaucht.

aber heute als eher konservativ kategorisierte Vertreterinnen und Vertreter, die die Korrektur des Individuums und seiner Familien ins Zentrum rückten, diskutierten die Bedeutung von «communities» und «neighborhoods» und regten soziale Reformen an. Umgekehrt konnten wir feststellen, dass auch die Settlement-Leute selbst eher heterogen waren und durchaus auch konservative, christliche, zuweilen auch rassistische Positionen vertreten haben. Wichtig waren also nicht einzelne soziale Bewegungen, sondern gerade die Vielstimmigkeit und der gemeinsame Bezug auf «communities» und «neighborhoods», der zu einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs stattfand: Migration spielte hier genauso eine Rolle wie die Zunahme von Klassenkonflikten, die zunehmende Urbanisierung und die Skandalisierung der Nebenfolgen einer ungezügelten Industrialisierung.

Was lernen wir aus alldem für unsere heutige Situation? Gerade wenn wir uns auf internationale und historische Kontexte beziehen, lohnt sich ein genauerer Blick in die Vielfältigkeit und Komplexität der Entwicklungsprozesse und der Prozesse der Übersetzung von Wissen zwischen verschiedenen nationalen und regionalen Kontexten. Die Ergebnisse zeigen auch, dass solche Konjunkturen von Diskursen vielfältige «Wurzeln» haben, die wir nicht alleine auf einen bestimmten Akteur, zum Beispiel eine soziale Bewegung, zurückführen können. Das mag zwar nicht so sehr der Selbstvergewisserung dienen. Jedoch kann die Erkenntnis auf lange Frist helfen, thematische Konjunkturen wie derzeit um Sozialraum besser einschätzen zu können. Dies ist gerade dann wichtig, wenn man sich selbst in einer solchen historischen Epoche befindet.

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Die gemeinsame Spurensuche be­ gann eher zufällig am Strand von Vancouver. Ein Ort, der nicht unbe­ dingt darauf schliessen lässt, dass hier wissenschaftliche Neugier zu einem historischen Projekt führen würde. Christian R­ eutlinger befand sich in Vancouver auf Spurensuche nach nordamerikanischen Ansät­ zen der Sozialgeographie, S­ tefan Köngeter in T­oronto nach der transatlantischen Geschichte der Sozialen Arbeit am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vielleicht sind es solche «dritten Räume», wie ein Strand, die frei von wissenschaft­ lichen Zwängen sind, die Über­ legungen jenseits der bereits be­ tretenen Pfade wissenschaftlicher Forschung möglich machen. Das vorläufige Ergebnis dieser Spu­ rensuche in historischen Diskur­ sen um Sozialraum und Gemein­ schaft mündet in ein «Studienbuch Geschichte der Gemeinwesen­ arbeit», welches Stefan Köngeter und Christian Reutlinger dieses Jahr beim Verlag SpringerVS ver­ öffentlichen.


Erkenntnis – stationäre Kurzzeitpflege

Nach dem Spital lieber

daheim statt im Heim Heidrun Gattinger/ Myrta Kohler

D

ie Spitalaufenthalte wer­ den immer kürzer. Für viele ältere gebrechliche Men­ ­ schen besteht kaum Zeit, sich zu erholen und entsprechend selbst­ ständig nach Hause zurückzu­ kehren. Eine Alternative wäre die statio­näre Kurzzeitpflege. Mit der Einführung der leistungsbezogenen Fallpauschalen vor gut sieben Jahren wurden in der Schweiz Anreize geschaffen, die Aufenthaltsdauer in der stationären Akutversorgung möglichst kurzzuhalten. Diese verkürzten Aufenthalte führen vor­ allem bei älteren gebrechlichen Menschen dazu, dass sie nicht mehr genügend Zeit haben, sich zu erholen, um entsprechend selbstständig nach Hause zurückzukehren. Werden diese Menschen aus dem Spital entlassen, bevor ihre Funktionalität wiederhergestellt ist, steigt das Risiko für eine Verschlechterung der körperlichen Gesundheit und des psychosozialen Wohlbefindens. Dies kann zu einer verminderten Lebensqualität, zu wiederholten Spitalbesuchen und einer

vermeidbaren Institutionalisierung führen.

Möglicher Zwischenschritt Eine Übergangslösung kann nebst der stationären, geriatrischen Rehabilitation die stationäre Kurzzeitpflege sein. Zwar gibt es noch die Akut- und Übergangspflege. Aufgrund der unzureichenden Finanzierung (hoher Selbstbehalt) und der relativ kurzen Aufenthaltsdauer von 14 Tagen wird diese in Langzeiteinrichtungen nur wenig angeboten respektive genutzt. Für die Heime im Kanton St.Gallen besteht keine Pflicht, Akut- und Übergangspflege anzubieten. Von den ­aktuell 119 Betagten- und Pflegeheimen und den zwei Sterbehospizen im Kanton bieten gemäss Curaviva, dem Dachverband Schweizer Heime und sozialer Institutionen, 15 Einrichtungen die Akut- und Übergangspflege an.

Ziel: die eigenen vier Wände Die Betroffenen nehmen denn auch häufiger das Angebot der Kurzzeitpflege in Anspruch. Dabei handelt es sich um einen temporären Aufenthalt

eines Pflegebedürftigen in einer stationären Pflegeeinrichtung mit dem Ziel, wieder in die eigenen vier Wände zurückzukehren. In der Regel wird die Kurzzeitpflege über die Pflegefinanzierung abgerechnet. Gesamtschweizerisch gibt es vier Kurzzeitplätze in Alters- oder Pflegeheimen pro 1000 Personen im Alter über 80 Jahre. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Kurzzeitpflege beträgt 29,5 Tage.

Situation in St.Gallen analysiert Im Rahmen eines Forschungsprojekts soll ein Programm zur Förderung der Selbstständigkeit während der Zeit der stationären Kurzzeitpflege entwickelt und getestet werden. Dies mit den Zielen, ältere Menschen in guter Selbstständigkeit nach Hause zu entlassen, Rehospitalisationen und Heimeintritte zu vermindern sowie die unbefriedigende finanzielle Situation der Kurzzeitpflege zu analysieren. Damit dies erreicht werden kann, wurde in einem ersten Schritt die Situation der Kurzzeitpflege im Kanton St.Gallen analysiert und von zwei Seiten beleuchtet: zum einen von den Zuweisern, den Akutspitälern, zum anderen von den ­Anbietern, den ­Alters- und

>> Heidrun Gattinger und Myrta Kohler teilen sich die Leitung der Fachstelle Rehabilitation und Gesundheitsförderung am Institut für Angewandte Pflegewissenschaft IPW-FHS.

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Erkenntnis – stationäre Kurzzeitpflege

Pflegeheimen. Die mündliche Befragung der verantwortlichen Personen in den Spitälern sowie in den Altersund Pflegeheimen ergab einen Überblick über die Gründe, Häufigkeit und Dauer der Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege sowie über das Alter und die Selbstständigkeit der Kurzzeitbewohnenden. Dabei nannten die Verantwortlichen des Entlassungsmanagements in den Spitälern konkrete Beispiele für den Pflegebedarf der Personen, für die eine Kurzzeitpflege gedacht ist: Kommt es bei der Entlassung aus dem Spital zu länger anhaltenden Veränderungen oder Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens, bestehen allgemeine Selbstpflegedefizite. Hier müssen Techniken, Handlungs- und Bewegungsabläufe neu oder wiedererlernt werden – beispielsweise das Gehen mit einem Rollator.

Fazit: kaum Angebote Zusammenfassend geht aus den Aussagen der Verantwortlichen der ­Alters- und Pflegeheime hervor, dass kaum spezifische Angebote und Konzepte für die Kurzzeitpflege zur Verfügung stehen. Dennoch ist das Bewusstsein vorhanden, dass es ein spezielles Pflegekonzept und entsprechend ausgebildetes Personal in einem Altersund Pflegeheim braucht. Bevor jedoch ein solches Konzept entwickelt

und etabliert werden kann, muss die Finanzierungsfrage geklärt werden. ­Dabei sollten alle Möglichkeiten berücksichtigt werden: sowohl die Form der Abrechnung über die Krankenkassen als auch die Übernahme der Kosten durch den Staat sowie durch die Betroffenen selbst.

Bedarf ist vorhanden Bei den Betroffenen besteht ein Bedarf an pflegerischer Versorgung, die über die für die Akut- und Übergangspflege vorgesehenen 14 Tage hinausgeht. Eine Datenerhebung in fünf Heimen zeigte, dass im Jahr 2017 die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Kurzzeitbewohnenden zwischen 26 und 36 Tagen lag. Ausserdem lässt die eingeschätzte Pflegestufe, die auf der zwölfteiligen Skala zwischen 5 und 8 liegt, die Annahme zu, dass professionelle Pflege indiziert ist. Damit besteht auch ein Unterschied zu einem Kur- und Wellnessaufenthalt, der durch einen niedrigen Pflege­bedarf charakterisiert wird, sowie zu einer Rehabilitation, bei der ein hohes Mass an medizinisch-therapeu­tischer Versorgung nötig ist. Basierend auf dieser Untersuchung wird nun ein Konzept entwickelt, das spezifisch auf pflegebedürftige Menschen ausgerichtet ist, die nach einem Spitalaufenthalt wieder nach Hause möchten, aber noch zu wenig selbstständig sind.

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NEUE FACHSTELLE Die Zunahme an Menschen mit chronischen Erkrankungen ist eine grosse Herausforderung für das Gesundheitssystem. In der Schweiz verursacht die Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen aktuell 80 Prozent der direkten Gesundheitskosten – Zahl steigend. Vor diesem Hinter­ grund wächst die Bedeutung von Rehabilitation und Gesundheits­ förderung. Betroffene mit einer chronischen Krankheit und deren Angehörige müssen mit Kompe­ tenzen befähigt werden, wie sie trotz Einschränkungen den Alltag bewältigen können. Hierfür hat die FHS St.Gallen die Fachstelle «Re­ habilitation und Gesundheitsför­ derung» gegründet, die sich die­ ser Herausforderung stellt. Ziel ist es, eine der führenden Schweizer Fachstellen für Rehabilitation und Gesundheitsförderung mit interna­ tionaler Ausstrahlung zu werden – mit Fachkompetenz, innovati­ ven Angeboten und einem be­ deutungsvollen Partnernetzwerk. (hob)


Erkenntnis – Sprachassistenten

« Hilfe, Alexa,

ich bin in Not  » Matthias Baldauf

B

eratungsgespräche sind ein zentrales Element in sozialen Berufen. Welche Rolle hier­ bei zukünftig digitale sprachbasier­ te Assistenten spielen könnten und welche Potenziale sowie Risiken bestehen, diskutierte ein interdis­ ziplinäres Team der FHS St. Gal­ len mit rund 40 Fachexperten und Fachexpertinnen der Sozia­ len ­Arbeit.

Sprachbasierte Assistenten wie Siri von Apple oder Alexa von Amazon haben in den vergangenen Jahren stark an Popularität gewonnen. Sie sind heute aufgrund ihrer Verfügbarkeit auf Smartphones und « smarten » Lautsprechern allgegenwärtig. ­Neben alltäglichen Fragen nach Wetter und Kalendereinträgen unterstützen Sprachassistenten zunehmend auch im Auto oder im Wohnzimmer. Im Rahmen der Bodenseetagung 2018, die unter dem Motto « Soziale Arbeit 4.0 » stand und am 28. November 2018 an der FHS St.Gallen stattfand, ging ein interdisziplinäres Team der FHS St.Gallen der Frage nach, welche Rolle S ­ prachassistenten zukünftig

im beruflichen Alltag von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern spielen werden. Matthias ­Baldauf, Dozent für Wirtschaftsinformatik am Institut für Informations- und Prozessmanagement IPM-FHS, Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin in der Institution Betula in Romanshorn, und Stefan Ribler, Dozent für Soziale Arbeit an der FHS St.Gallen und Leiter des Betula, diskutierten dabei in Fokusgruppen mit Expert­innen und Experten der Sozialarbeit über Anforderungen, Potenziale und Risiken von Sprachassistenten im professionellen Einsatz.

Anforderungen aus der Praxis Eine der am häufigsten genannten Anforderungen an einen sinnvollen sprachbasierten Dienst ist Fachwissen. Im Gegensatz zu den heute verfügbaren Systemen sollte dieser entsprechendes Hintergrundwissen für den professionellen Einsatz bieten. Ein Beispiel ist eine Anwendung, die bei Mobbing unter Kindern und Teenagern mit Ratschlägen unter­stützen und beispielsweise auch ortsabhängig Informationen zu Beratungsstellen liefern kann. Eine weitere Anforderung ist die ­Fähigkeit des Sprachassistenten, die

emotionale Verfassung eines Sprechers zu erkennen. Die Teilnehmenden wiesen dabei auf das in sozialen Berufen benötigte «Feingefühl» hin, das im Umgang mit Menschen in Notsituationen erforderlich ist. Entsprechend sollte auch ein Sprachassistent, der in der Sozialarbeit eingesetzt wird, auf Emotionen seines Gesprächspartners eingehen und situationsabhängig reagieren können.

Barrieren und Risiken Diverse Fachexperten betonten den Umgang mit privaten und sensi­blen Daten der Kundinnen und Kunden. Die Übertragung derer Aussagen an externe Rechenzentren zur Analyse bei Amazon, Google und Co lehnten sie klar ab. Die Teilnehmenden kritisierten «den Verlust über die sen­siblen Informationen» und befürchteten «eine umfassende Datensammlung der Big Player». Während der Gruppendiskussionen wurde der Bedarf an alternativen Sprachassistenten, welche die Privatsphäre ihrer Nutzenden bewahren, offensichtlich – gleichzeitig bezweifelten mehrere Teilnehmende, dass ihre Institu­tionen die Ressourcen haben, verfügbare ­«sichere» Sprachplattformen selbst zu betreiben.

>> Matthias Baldauf ist Dozent für Wirtschaftsinformatik am Institut für Informations- und Prozessmanagement IPM-FHS.

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Erkenntnis – Sprachassistenten

IM DIGITALEN GESPRÄCH Die Fokusgruppen begannen je­ weils mit einer Demonstration ­eines «Amazon Echo» durch zwei Moderatoren. Die Fachleute wur­ den eingeladen, selbst mit dem Gerät zu interagieren und diesem Fragen zu stellen. Im Anschluss stiessen die Moderatoren eine Gruppendiskussion zu erwarte­ ten Auswirkungen auf die So­ziale Arbeit und das Berufsbild von So­ zialarbeitern sowie zu möglichen Anwendungen und ­ Risiken an. Jede Fokusgruppe dauerte zwi­ schen 35 und 60 Minuten und hatte zwischen fünf und zwölf Teilnehmende. Insgesamt nahmen 41 Fach­expertinnen und Fachex­ perten an den Fokusgruppen teil.­­

Die Expertinnen und Experten befürchteten auch Auswirkungen auf die sozialen Interaktionen ihrer Klien­ t­innen und Klienten. Sie wiesen darauf hin, dass manche von ihnen, die aufgrund ihrer Lebenssituation – zum Beispiel Sucht oder Gewalterfahrungen – bereits durch soziale Isolation gefährdet sind, aufgrund

des ­Angebots von virtuellen Assistenten zusätzlich Gefahr laufen, soziale Kontakte zu vernachlässigen. Der laufende Umgang mit professionellen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern wäre zudem wichtig, um beispielsweise rele­vante Entwicklungsschritte in der Behandlung erkennen zu ­können.

Anwendungsideen der Experten Ein in den Fokusgruppen wiederkehrendes Anwendungsszenario war das Zusammenspiel eines Sprachassistenten und eines menschlichen Sozialarbeiters bei der Betreuung von Klientinnen und Klienten. Manche Experten vermuteten, dass ein virtueller Assistent ein niederschwelliges Beratungsangebot etwa für Patientinnen und Patienten darstellen kann, die mit oftmals selbst als peinlich wahrgenommenen Problemen wie ­Alkohol- oder Spielsucht konfrontiert sind. Der Sprachdienst sollte an einem passenden Moment der Konversation an ­einen Sozialarbeiter «aus Fleisch und Blut» übergeben. Grundsätzlich erhofften sich die Fach­ experten von speziellen Sprachdiensten eine verbesserte Teilnahme und Autonomie ihrer, teilweise körperlich eingeschränkten, Klientinnen und Klienten. Sie erwähnten dabei nicht nur die Abfrage von ­Wettervorhersagen und Öffnungszeiten, sondern stellten

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sich umfangreichere Dialoge vor. Zum Beispiel könnte ein entsprechender Assistent beim Ausfüllen von komplexen Antragsformularen unterstützen. Eine andere Idee war eine Trainingsmöglichkeit für Bewerbungsgespräche mithilfe eines spezialisierten Sprachassistenten für Arbeitslose.

Nutzenstiftende Erweiterung Bezüglich ihrer eigenen Aufgaben waren sich die Teilnehmenden e­ inig, dass Unterstützung bei zeitauf­ wändigen Dokumentationsaufga­ben hilfreich wäre. Sie wünschten sich Sprach­ assistenten, die ähnlich eines Sekretärs beispielsweise Terminvereinba­ rungen treffen oder im Dialogstil Aufzeichnungen über die Fortschritte von Klientinnen und Klienten anfer­ tigen. Die so bei organisatorischen Aufgaben eingesparte Zeit könnte somit direkt für die Klien­tinnen und Klienten genutzt werden. Die Fokusgruppen ermöglichten ­einen ersten spannenden Einblick, wie eine durch Sprachassistenten digitalisierte Soziale Arbeit aussehen kann bzw. gestaltet werden muss. Ziel darf nicht eine «Automatisierung» und «Entmenschlichung» sein, sondern eine nutzenstiftende Erweiterung bestehender Angebote, um Betreuung, Teilhabe und Inklusion von Klientinnen und Klienten weiter zu verbessern.


Karin Müller ist Innovationsmanagerin bei der Voigt AG in Romanshorn. Ihre Devise: «Gut planen, loslegen und umsetzen». (Foto: Bodo Rüedi)

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Persönlich – Zu Besuch bei Karin Müller

Im Laufschritt

den Innovationen entgegen Lea Müller

S

ie hat als Pharma-Assistentin angefangen und treibt heute Innovationen im Pharmagross­ handel voran. FHS-Alumna Karin Müller ist eine Macherin. Eine, die weiss, wie der Spagat zwischen Effi­ zienzdenken und Freiräumen gelin­ gen kann. Ihr privates Glück findet sie auf dem Rücken ihres Pferdes – und ist bereit, dafür auch auf einiges zu verzichten. Die Türe öffnet sich schwungvoll, ­Karin Müller kommt zielstrebig auf die Besucher in der grossen Empfangshalle der Voigt AG in Romanshorn zu. Ihr Händedruck ist warm und fest. Seit genau 20 Jahren arbeitet sie für das Familienunternehmen in 4. Generation, das in der Pharmabranche tätig ist. Aktuell in der Funktion der Leiterin Innovationsmanagement.

Wechsel zwischen zwei Rollen In ihrem Büro erzählt die 48-Jährige, dass sie in diesem Raum vor drei Jahren ganz neu angefangen hat: «Im noch leeren Büro hatte ich nicht mehr und nicht weniger als eine A4-Seite mit meinem Funktionsbeschrieb.» ­Karin Müller konnte das Innovationsmanagement der Voigt AG auf

der grünen Wiese aufbauen. Und die Bauten auf dieser grünen Wiese wachsen immer höher. Einige Projekte sind noch nicht spruchreif, einige bereits umgesetzt. So zum Beispiel die Erweiterung der Logistikdienstleistungen des Unternehmens. Die Voigt AG beliefert als Partnerin des Fachhandels bis zu drei Mal täglich Apotheken und Drogerien. Einige Kunden planen aufgrund des zunehmenden E-Commerce eigene Onlineshops. Hier springt die Voigt AG mit ihrer neuen Dienstleistung ein: Sie liefert auf Wunsch der Kunden auch direkt zu deren Endkunden aus – und zwar schneller und günstiger, als wenn die Ware zuerst einen Zwischenstopp bei den Shopbetreibern macht. Zwei Rollen hat Karin Müller sich selbst gegeben: Innovatorin und Förderin. Als Innovatorin entwickelt sie selbst Ideen, setzt sich intensiv mit dem Markt und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander und liefert Entscheidungsgrundlagen für Innovationen. Die FHS-Alumna ist viel unterwegs, tauscht sich mit Personen

innerhalb und ausserhalb der B ­ ranche aus. «So bin ich nahe am Puls.» Sie betont, dass sie nicht die einzige Innovatorin im Unternehmen sei. «Die Rolle ist für alle Mitarbeitenden gedacht. Es ist mir wichtig, das Innovationsmanagement im Unternehmen zu verankern.» So hat sie zum Beispiel das interne, eingeschlafene Ideenmanagement wieder auf Trab gebracht. Im ersten Jahr reichten Mitarbeitende 22 Ideen ein; vier davon wurden bereits umgesetzt. Der Rolle der Förderin misst K ­ arin Müller noch etwas mehr Bedeutung bei: «Viele Ideen in der Pipeline zu haben, bringt noch nicht viel. Man muss sie nachhaltig zum Fliegen bringen.» Dafür sei die Innovations­fähigkeit des Unternehmens sowie ein funktionierendes Projektport­foliomanagement zentral. Ziel bei Letzterem sei es, aus Unternehmenssicht an «den richtigen Projekten» zu arbeiten. Das heisst auf diejenigen Projekte zu fokussieren, die den grössten Beitrag zur Erreichung der Unternehmensziele leisten. Im Januar 2019 hat ­Karin Müller zusätzlich die Funktion der

«VIELE IDEEN IN DER PIPELINE ZU HABEN, BRINGT NOCH NICHT VIEL. MAN MUSS SIE NACHHALTIG ZUM FLIEGEN BRINGEN.» 61

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Persönlich – Zu Besuch bei Karin Müller

­ rojektportfolio-Managerin bei der P Voigt AG übernommen.

Über den Tellerrand geschaut Karin Müller ist eine Macherin. Eine, der man ein Stichwort «zuwerfen» kann und sie macht etwas daraus. Ihre Devise: «Gut planen, loslegen und umsetzen.» Sie spricht konzentriert und wählt ihre Worte mit Bedacht. Die grüne Wiese des Innovationsmanagements in der Voigt AG sei anfangs eine Herausforderung gewesen, gesteht sie. Damals hatte sie nach 17 Jahren die Gesamtleitung Einkauf abgegeben und wechselte vom operativen, dynamischen Tagesgeschäft mit einem grossen Team zu Aufgaben strategischer Natur und einer Funktion, in welcher sie nicht in einem festen Team arbeitet. «Für mich war klar: Ohne Erfahrung im Innovationsmanagement kommt das nicht gut.» Sie entschied sich, eine Weiterbildung an der FHS St.Gallen zu machen: den Master in Corporate Innovation Management. Durch die Weiterbildung habe sie Gelegenheit erhalten, über den Tellerrand hinaus zu schauen, Ideen «challengen» zu lassen und von den Erfahrungen der Studierenden und Dozierenden zu profitieren. Ein Blick in das CRM-System der FHS zeigt: Karin Müller hat schon eine lange Liste an Weiterbildungslehrgängen und Seminaren absolviert. Darauf

angesprochen, lacht sie. «Ich bin ein sehr neugieriger und wissbegieriger Mensch.» Von ihren Chefs sei sie immer bestärkt worden, erzählt sie. Als gelernte Pharma-Assistentin begann sie nach der Lehre in der ­Hongler Apotheke in St.Gallen zu arbeiten. Peter Hongler sei ein strenger, aber sehr innovativer Apotheker gewesen. Er förderte seine Mitarbeitenden und ermutigte sie, sich weiterzubilden und in Projekten mitzuwirken. Nach acht Jahren wechselte Karin Müller zur ­Voigt AG als Abteilungsleiterin Medical. Schon nach circa eineinhalb Jahren ging es auf der Karriereleiter einen grossen Sprung nach oben. Sie übernahm die Gesamtleitung Einkauf und machte parallel eine Weiterbildung zur Marketingplanerin mit eidgenössischem Fachausweis. Später ermutigte sie der Geschäftsleiter der Voigt AG, Jakob Küng, den Executive Master of Business Administration (EMBA) an der FHS St.Gallen zu absolvieren.

Drei Stunden pro Tag im Stall Karin Müller ist eine Frau, die beruflich im Laufschritt unterwegs ist. Privat mag sie durchaus auch Trab und Galopp: Das Reiten ist ihre grosse Leidenschaft. Pro Tag verbringt sie im Schnitt drei Stunden mit ihrem Pferd Viani, einem Trakehner-Wallach. Fast jeden Abend reitet sie mit ihm aus oder arbeitet dressurmässig

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in der Reithalle. Gibt es weitere Hobbys? Karin Müller lacht und schüttelt den Kopf. Neben Lebenspartner, Pferd und zwei Hunden bleibe kaum noch Zeit für ihre Freunde, geschweige denn für andere Hobbys. Aber so sei sie: «Wenn ich etwas mache, dann nicht nur ein Bisschen, sondern richtig.» Auch wenn das für die

FHS ALUMNI Die Ehemaligen-Organisation der FHS St.Gallen ist ein wachsen­ des Netzwerk von 3 000 aktiven Mitgliedern sowie Studierenden-­ Mitgliedern. Ehemalige und aktu­ elle Studierende bleiben unterein­ ander und mit der Hochschule verbunden. Kontakte pflegen und neue knüpfen, innerhalb des eige­ nen Fachbereichs sowie interdiszi­ plinär: Socializing ist bei AlumniVeranstaltungen sowie beim grös­sten und öffentlichen Anlass, dem Networking-Tag, möglich. Auf den Social-Media-Plattformen Xing, LinkedIn, Facebook und In­ stagram finden sich unter «FHS Alumni» spannende News rund um das Ehemaligen-Netzwerk. www.fhsalumni.ch


Persönlich – Zu Besuch bei Karin Müller

Alumni-Events

«WENN ICH IM SATTEL SITZE, IST MEIN FOKUS GANZ AUF DEM HIER UND JETZT.» Hefenhoferin bedeutet, auf Ferien im Ausland zu verzichten. Ihre Passion für das Reiten entdeckte Karin Müller in jungen Jahren, als ihre Familie neben einen Pferdehof zog. «Ich habe den grössten Teil meiner Kindheit im Stall verbracht.» Als Erwachsene wurde sie selbst Pferdebesitzerin. Viani ist seit 15 Jahren Teil ihres Lebens. An die erste Begegnung erinnert sie sich genau. Der Trakehner hatte einen schwierigen Start ins Leben und war entsprechend schwierig zu reiten. Als eine Profireiterin ihn vorführte, warf er diese schnell wieder ab. «Ich bin von Natur aus nicht die mutigste Reiterin», gesteht Karin Müller. Aber sie habe keine Sekunde lang gezögert, auf Viani zu steigen. «Wir hatten von Anfang an eine spezielle Verbindung.» Mit viel Geduld erarbeitete sie sich eine Vertrauensbasis mit Viani. Geholfen hat sicher, dass sie eine berechenbare, nicht impulsive Person ist. Das eingeschüchterte Pferd fasste wieder Vertrauen in Menschen und ist heute ein «treuer Freund». Beim

­ eiten kann die InnovationsmanaR gerin nach einem langen Tag im Büro abschalten. Über Ideen denke sie dann aber nicht nach, betont sie. «Wenn ich im Sattel sitze, ist mein Fokus ganz auf dem Hier und Jetzt.»

Juni Pétanque – das charmante Kugelspiel aus Südfrankreich Mittwoch, 5. Juni 2019, 18 Uhr St.Gallen

September Networking-Tag 2019 «Schöne Neue Welt – eine Gebrauchsanweisung» Freitag, 6. September 2019, 13 Uhr St.Gallen

Es gibt immer eine Lösung Mit den Berufs- und Lebensjahren hat Karin Müller Gelassenheit im Umgang mit Herausforderungen gewonnen. Im Innovationsmanagement auch Zuversicht: «Es gibt immer eine Lösung. Man muss nur die richtigen Methoden anwenden und vor allem die richtigen Menschen einbeziehen.» Die Zuschreibung, perfektionistisch zu sein, höre sie nicht mehr so oft, erzählt sie schmunzelnd. «Ich gebe mich nicht so schnell zufrieden und hinterfrage die Dinge kritisch. Aber ich habe auch gelernt, eine Fünf gerade stehen zu lassen.» Der Innovationsmanagerin gelingt der Spagat zwischen dem Effizienzdenken in einem dynamischen Umfeld und den Freiräumen, die für Innovationen nötig sind.

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Oktober «TAGBLATT – wo die Reise hingeht» mit Einblick in den Redaktionsalltag Dienstag, 29. Oktober 2019, 18 Uhr St.Gallen

November Workshop: Warum die einen kluge Entscheidungen treffen (und die anderen nicht) Freitag, 8. November 2019, 17.30 Uhr St.Gallen Aktuelle und laufend weitere Alumni-Events: www.fhsalumni.ch/ veranstaltungen


Ausblick – Veranstaltungskalender

Juni 5. St.Galler Forum für Finanzmanagement und Controlling Freitag, 14. Juni 2019, 8.30 bis 17.00 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/forum-finanzencontrolling

Juli Lesung: Häusliche Gewalt gegen Männer – (wie) geht das? Mittwoch, 3. Juli 2019, 18.00 bis 19.30 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/maenner Symposium «Social Work as a Seismograph for Social Change», in memory of Ruedi von Fischer 4. bis 5. Juli 2019, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/ukraine

August ProOst 2019 ­Karrierechancen und Lebensqualität in der Ostschweiz Freitag, 16. August 2019, 14.00 bis 17.15 Uhr, Congress Center Einstein, St.Gallen www.proost.ch

OBA 2019: ­Update für Personal­ verantwortliche: «Digitales Lernen in Unternehmen – zwischen Wunsch und Realität» Donnerstag, 29. August 2019, 14.00 bis 16.00 Uhr, Olma Messen, St.Gallen www.fhsg.ch/hr-update OBA Ostschweizer Bildungs-Ausstellung Donnerstag, 29. August 2019 bis Sonntag, 1. September 2019, Olma Messen, St.Gallen www.fhsg.ch/oba

September eBusiness Challenge «#SanktGallen2030» Dienstag, 3. September 2019, 8.30 bis 19.30 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhs-ebc.ch Networking-Tag 2019 «Schöne neue Welt – eine Gebrauchsanweisung» Freitag, 6. September 2019, 13.00 bis 18.00 Uhr, Olma Hallen, St.Gallen www.networkingtag.ch

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WTT Young Leader Award Montag, 16. September 2019, 17.00 bis 22.00 Uhr, Tonhalle, St.Gallen www.fhsg.ch/yla Mini Rock – das kleinste Ostschweizer Openair Donnerstag, 19. September 2019, 17.00 bis 21.00 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/mini-rock Bodensee-Dorfgespräche: Verdichtet bauen im Dorf und Ortsbild Donnerstag, 19. September 2019, 10.00 bis 17.00 Uhr, Muolen www.fhsg.ch/bodenseedorfgespraeche

Oktober 9. Ostschweizer Gemeindetagung: «Global vernetzt – lokal entwurzelt?» Freitag, 25. Oktober 2019, 13.30 bis 18.30 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/gemeindetagung Vadian Lectures: «Wie viel Künstlichkeit verträgt der Mensch?» Donnerstag, 31. Oktober 2019, 18.00 bis 20.00 Uhr, Kantonsratssaal, St.Gallen www.fhsg.ch/vadianlectures


Ausblick – Veranstaltungskalender

November Kulturzyklus Kontrast 5. bis 9. November 2019, jeweils 19.30 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/kontrast Vorabendprogramm Demenz-­ Kongress: «Letzte Lieder und die Welt steht still» Dienstag, 12. November 2019, 19.30 Uhr, Olma Hallen, St.Gallen www.demenzkongress.ch St.Galler Demenz-Kongress Mittwoch, 13. November 2019, 9.00 bis 16.40 Uhr, Olma Hallen, St.Gallen www.demenzkongress.ch

Blockchain for Business (B4B) Dienstag, 19. November 2019, 13.00 bis 17.30 Uhr, Restaurant Lagerhaus, St.Gallen www.blockchain4business.ch

Impressum Herausgeberin FHS St.Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften, St.Gallen. ­Redaktion

Mastermesse Zürich Mittwoch, 20. November 2019, 12.00 bis 20.00 Uhr, StageOne Zürich-Oerlikon www.mastermesse.ch

Lea Müller (Redaktions- und Projekt­leitung), Andrea Sterchi (stv. Leitung), Basil Höneisen, Christian Jauslin, Claudia Züger. Weitere Autorinnen und ­Autoren dieser Ausgabe Ursula Ammann, Matthias Baldauf, Alexandra Cloots, Jenny DalZotto, Heidrun Gattinger, Ludwig Hasler, Celina Heiniger, Michèle Huber, Myrta Kohler, Stefan Köngeter, Marion Loher, Stefan Paulus, Christian ­Reutlinger, Nina Rudnicki, Nathalie Schoch, Adrian Stämpfli, Christa Uehlinger, Se-

Weitere Veranstaltungen Mehr über unser öffentliches Programm: www.fhsg.ch/veranstaltungen

bastian Wörwag. Bildkonzept «substanz goes inter­ national» Marco Kamber, Amsterdam. Fotografie Milena Bieri, FHS St.Gallen; Anna-Tina Eberhard, St.Gallen; Bodo Rüedi, St.Gallen; Katja Stuppia, Lachen. Grafik/Layout Milena Bieri, FHS St.Gallen. Illustration Kolumne Philip Meuli, St.Gallen. Korrektorat/Vorstufe/Druck SchmidFehr AG, Goldach. Englisch-Übersetzung unter www.fhsg.ch/substanz; Zieltext, Zollikon ­Inserate

FHS-Infoabend Mittwoch, 13. November 2019, 18.00 bis 19.30 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.fhsg.ch/infotag

MetroComm AG, 9001 St.Gallen, +41 71 272 80 57 Auflage 7500 Exemplare. Erscheint zweimal jährlich. Nächste Ausgabe November 2019, ISSN-­ Nummer: 2297-4806 Abonnemente Jahres-Beitrag CHF 30 für die Print-Ausgabe, substanz@fhsg.ch, www.fhsg.ch/substanz Kontakt FHS St.Gallen, Redaktion Substanz, Rosenbergstrasse 59, Postfach,

Lange Nacht der Karriere Donnerstag, 14. November 2019, 17.00 bis 22.00 Uhr, Fachhochschulzentrum, St.Gallen www.lndk.ch

9001 St.Gallen, +41 71 226 16 04, substanz@fhsg.ch ­Anmerkung Die Beiträge in «substanz» entsprechen dem Leitfaden für die sprachliche Gleich­ stellung der FHS St.Gallen. Wird aus Platzgründen nur die männliche Form verwendet, ist die weibliche Form immer mit eingeschlossen.

PERFO RMAN CE

neutral Drucksache No. 01-19-591261 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

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Schlusspunkt – Kolumne

Das Biotop ist wichtig,

nicht der Stammbaum! damit sie unsere Kultur verändern. Machten sie aber. Mit ihrer La-vita-­èbella-Mentalität unterwanderten sie den traditionell helvetischen Geröllhalden-Charme. Heute leben wir in den Städten praktisch mediterran, alltagskulturell sind wir italianisiert, mit Pizza, Prosecco, Espresso, Alessi, ­Armani, Eros Ramazotti… Und wie fühlen wir uns dabei? Prima.

Ludwig Hasler, Publizist und Philosoph Internationalisiert sind wir Schweizer, seit es uns gibt. St.Gallen gründete ein Mönch aus Irland. Uhren und Banken, die CH-Klassiker, erfan­den Hugenotten aus Frankreich, nicht Urner und Schwyzer. Unsere Maschinenindustrie verdanken wir dem Engländer Charles Brown und dem Deutschen Walter Boveri. Den Nestlé­-Konzern gründete der Frankfurter Henri Nestlé. Den America’s Cup holte unser Alinghi-Team mit einer Multikulti-­ Truppe aus fünfzehn Nationali­täten. Unschlagbar sind wir nur in der Kunst des Aneignens. Manchmal schaffen wir es sogar gegen unseren eigenen Widerstand. Paradefall Italianità. Italiener liessen wir einreisen, damit sie uns die Arbeit machen, sicher nicht,

Damit ist auch klar, was wir mit Fremden tun müssen. Möglichst nichts. Assimilieren? Lasst die Fremden fremd, die andern anders sein. Biodiversität braucht das kleine Land. Je mehr Artenvielfalt, umso überlebensfähiger. Das Biotop muss funktionieren, nicht der Stammbaum. Auf Artenschutz pochen bringt nichts. Wir brauchen Leute anderer Art, Leute, die was haben oder können, das wir nicht schon haben und können, jedenfalls nicht so oder nicht genug. Dazu drei Vorschläge: Erstens sind wir CH-Aborigines tendenziell sensible Warmduscher geworden, unter freundlicher Anleitung des Bundesamtes für Gesundheit stets darauf bedacht, uns ja nicht zu verausgaben, weder körperlich noch seelisch, Hauptsache, die Work-Life-Balance stimmt. Also hüten wir uns davor, für eine Sache richtig zu brennen, uns zu quälen. Deshalb brauchen wir zum Beispiel Balkankids, die haben mehr H ­ unger,

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mehr Biss, sind rücksichtsloser gegen sich, sie glaubten noch nie, auf dem Gipfel angekommen zu sein, sie schiessen für uns nicht nur im Fussball die Tore. Zweitens sind wir Inländer für die Zukunft prekär ausgebildet, nämlich auf dem Fremdsprachentrip, im weiten Bogen um Mathematik und ähnliche Hardcore-Fächer herum. Mathematik und Informatik schreiben jedoch die Partitur der aktuellen Welt. Wer sich da nicht auskennt, wird zum Analphabeten des 21. Jahrhunderts. Ergo brauchen wir Leute auf der Höhe der neuen Weltsprache. Inder, Kambodschanerinnen. Drittens sind wir Originalschweizer «im Prinzip muff» (sagte Hugo Loetscher, der Schriftsteller), sozu­ sagen vorsätzlich schlechter Laune. Als voralpine Kleinbauern haben wir zur Weltspitze aufgeschlossen. Darauf sind wir stolz, nur ist es uns selbst nicht ganz geheuer. Nicht grad die ideale Kondition für kreative Schübe. Darum brauchen wir unbeschwertere Gemüter um uns, krass Begabte, die sich alles zumuten, sogar das ­Scheitern. Her mit Draufgängern, Problem­ knackern, Talenten. Und bloss nicht integrieren.



substanz FHS St.Gallen – Nr. 1/2019

Brennpunkt

substanz goes international Von St.Gallen in die Welt hinaus und wieder zurück

Blick in den Suppentopf Die Suppe als Sinnbild für die Internationalisierung Raus aus der Komfortzone Brauchen wir mehr kulturelle Kompetenz? Zwischen Neugier und Skepsis Die Digitalisierung ist noch kein Massenphänomen Das moralisch gute Leben Die Suche nach einer Formel


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Articles inside

Nach dem Spital lieber daheim statt im Heim

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Hilfe Alexa, ich bin in Not

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Impressum

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Mit einem Simulator zur Work-Life-Balance

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pages 52-53

Mit der Bestellliste zwischen 100 Schubladen

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Digital Human Work» – eine Utopie?

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pages 48-49

Die Japaner denken sehr mutig

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pages 40-47

Wo die Schweiz «Luxembourg City» heisst

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pages 32-33

Die Welt ist zu einem Dorf geworden

1min
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Zum grossen Finale nach Pittsburgh

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pages 34-36

Interkulturelle Kompetenz – braucht man das?

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Slowenien lernt vom Fachbereich Gesundheit

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Mit einem Plan im Gepäck

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Digitale Reise durch drei Länder

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Internationalität ist eine Frage der Kultur

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Bier, BMW und Bytes in Bayern

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In fremde Kulturen abgetaucht

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Vier Menschen, vier Wände

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pages 22-23

Das International Office der FHS St.Gallen

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pages 16-17
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