6 minute read
Internationalität ist eine Frage der Kultur
Lea Müller/Andrea Sterchi
Die Arbeitswelt wird immer globaler. Wie international muss deshalb eine regionale Fachhochschule wie die FHS St.Gallen sein? Und welche Kompetenzen brauchen die Studierenden? Ein Gespräch mit Rektor Sebastian Wörwag über die Vorteile und Herausforderungen der Internationalisierung.
Advertisement
Herr Wörwag, haben Sie im Ausland studiert? Sebastian Wörwag: Nein, Auslandsemester waren damals an der HSG noch nicht üblich. Allerdings war ich vor und nach dem Studium für Praxiseinsätze im Ausland. Heute würde ich mit Sicherheit ein internationales Austauschsemester machen.
Wohin würden Sie gehen? Wörwag: Ich würde in Paris an der Sorbonne Philosophie studieren. Das wäre eine gute Ergänzung zu meinem Betriebsökonomiestudium gewesen. Und es passt zu den Themen, die mich heute beschäftigen. Deshalb besuche ich, wann immer es mein Job zulässt, eine Summer School.
Wie international muss eine Fachhochschule heute sein?
Wörwag: In einer zunehmend globalisierten Welt, in der die Berufsbiografien und Berufskontexte internationaler werden, ist es für junge Menschen wichtig, dass sie einen Bezug zur Welt haben und sie in ihrer Vielfalt, Farbigkeit aber auch Widersprüchlichkeit kennenlernen. Einerseits brauchen sie ein Verständnis für interkulturelle Differenzen, damit sie Fremdheit als etwas Positives verstehen. Andererseits sollen sie in ihrem eigenen Verständnis so etwas wie Weltläufigkeit entwickeln. Dafür reicht ein Auslandsemester nicht aus. Es geht darum, einen weltoffenen Blick zu bekommen.
Wann ist eine Hochschule international? Wörwag: Wenn sie am Standort, wo sie ihre hochschulischen Leistungen erbringt, eine internationale Kultur pflegt. Das betrifft die Studierenden, die Lehrinhalte und den Lehrkörper. Sie muss weltoffen sein, indem sie sich nicht nur mit Themen vor ihrer Haustüre beschäftigt. Und der Mensch, wann ist er international? Wörwag: Auch auf der individuellen Ebene braucht es eine Weltläufigkeit und ein Verständnis unterschiedlicher Kulturen und Kontexte. Dazu gehört eine Informiertheit über das aktuelle Weltgeschehen, das uns auch hier in der Schweiz betrifft, sowie die Fähigkeit, mit ausländischen Bezügen offen und kompetent umzugehen. Das ist eine Form von Fremdsprachigkeit, die aber über die reine Sprachkompetenz hinausgeht.
Inwiefern? Wörwag: Indem ich einem fremden Land gegenüber offen, neugierig und interessiert bin und mich mit dessen kulturellen Wurzeln beschäftige. Nur so bin ich in der Lage, einen Bezug zu den hiesigen Verhältnissen herzustellen. Dieses Eingebettetsein in einen internationalen Kontext und sich darin souverän zu bewegen, das hat mit internationaler Kompetenz zu tun.
«WIR SIND WELTOFFEN, WENN WIR UNS NICHT NUR MIT THEMEN VOR DER EIGENEN HAUSTÜRE BESCHÄFTIGEN.»
Die FHS bildet Fachkräfte für die regionale Praxis aus. Ist da eine Internationalisierung nicht ein Widerspruch? Wörwag: Nein, gerade in der sehr exportorientierten Ostschweiz, in welcher seit jeher schon internationale Kontakte gepflegt wurden – man denke nur an die Hochblüte der Textilindustrie –, ist internationale Kompetenz wichtig. Wenn für jemanden die Welt am Grenzübergang in Konstanz aufhört, dann ist er wenig befähigt für die Praxis.
Wie hat sich die Internationalität an der FHS St.Gallen in Ihrer Zeit als Rektor verändert? Wörwag: Am Anfang gab es wenige internationale Verträge. Diese entstanden erst mit dem Aufbau unseres International Offices ab 2004. Heute haben wir ein breites Netzwerk mit über hundert Partnerhochschulen und einem lebendigen Studierenden- und Faculty-Austausch. Ersichtlich wird das immer wieder in unserer Cafeteria Gleis8, wo man regelmässig Englisch hört. Das hat die Vielfalt an der FHS bereichert. Trotzdem haben wir noch ein Stück des Weges vor uns.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf? Wörwag: Steigern können wir uns bei den Ausbildungen in interkulturellen Kompetenzen. Auch in der Internationalität unserer Forschungsergebnisse, indem wir Themen aufgreifen, bei denen wir Schweizer Forschungsfragen mit internationalen verknüpfen – wie wir das im Rahmen von EUForschungen bereits tun. Letztlich erweitern wir unsere Kultur auch mit einer Themenorientierung, die sich nicht nur an nationalen und regionalen Themen ausrichtet, sondern auch allgemeine und damit internationale gesellschaftliche Herausforderungen adressiert.
Was bringt die Internationalisierung der FHS St.Gallen? Wörwag: Erstens ist es für ein kleines Land wichtig, sich in der internationalen Gemeinschaft selbstbewusst zu verorten. Um uns eine Form der Eigenständigkeit zu bewahren, müssen wir uns gegenüber der Welt öffnen. Zweitens: Die Wirtschaft in der Ostschweiz ist stark exportorientiert. Und drittens sitzen wir mitten in Europas grösstem Hochschularten-übergreifenden Wissenschaftsverbund, der Internationalen Bodensee Hochschule IBH. Sie bietet unglaubliche Chancen für ein grenzüberschreitendes Bildungs- und Forschungssystem.
Welche Art von Internationalisierung braucht die FHS? Wörwag: Eine Art Zwiebelmodell. Als engere Schicht ist es wichtig, Kooperationen mit den angrenzenden Ländern Baden Württemberg, Bayern, VorarlProf. Dr. Sebastian Wörwag Rektor FHS St.Gallen
Sebastian Wörwag ist seit 2003 Rektor der Fachhochschule St.Gallen. Er studierte und promovierte an der Universität St.Gallen, danach machte er sich mit einem Management-Buy-Out in den 1990er-Jahren mit den KS Kaderschulen selbstständig. 2001 gründete er die Humanlogix AG für webbasierte Führungsassessments sowie Talentmanagement und führt diese bis heute als Verwaltungsratspräsident. Zudem ist er Vorstandsmitglied der Internationalen Bodenseehochschule und der Vereinigung Wirtschaft St.Gallen-Bodensee.
berg sowie dem Fürstentum Liechtenstein aktiv zu pflegen. Obwohl wir dem gleichen Kulturraum angehören, gibt es doch länderspezifische Unterschiede, von denen alle lernen können. Zudem bin ich überzeugt, dass der Bildungs- und Forschungsbereich einen Beitrag leisten kann, das auch in Europa zunehmende territoriale
Grenzzaun-Denken zu überwinden. Das zeigt die Arbeit in der IBH. Wissen und Wissenskooperationen kümmern sich nicht um Grenzen. Der Wissenschafts- und Bildungsraum kann hier grenzüberschreitende Fragestellungen aufgreifen und auch Länder vergleichen.
Und weiter? Wörwag: Eine weitere Zwiebelschicht ist, sich mit vergleichbaren Hochschulen im europäischen Raum zu Forschungs- und Lehrkooperationen enger zusammenzuschliessen. Miteinander können ähnliche Fragestellungen besser beantwortet werden – sei es in der Forschung oder bei der gemeinsamen Lehrentwicklung. Es braucht Kooperationen, die Anschlussmöglichkeiten im Ausland bieten.
Braucht die FHS auch eine Internationalität über unseren Kulturraum hinaus? Wörwag: Ja, das ist die dritte Zwiebelschicht. Hier geht es um andere Kulturen, andere Wirtschafts- und Praxisräume mit spannenden Ansätzen. Nehmen wir zum Beispiel die Pflegewissenschaften im Angelsächsischen Raum mit ihrem evidenzbasierten Ansatz, oder die Entwicklung von technischen Assistenzsystemen zwischen Japan und der Schweiz. Beidseitig stellen wir fest, dass wir voneinander lernen können. Spannend ist auch, unterschiedliche Herangehensweisen an soziale Herausforderungen in einem breiteren kulturellen Raum zu betrachten.
Und welche Internationalität bietet die FHS ihren Studierenden? Wörwag: Wir müssen unsere Studierenden, etwa in der Wirtschaft, auf die Kulturräume vorbereiten, in denen sie vielleicht einmal arbeiten. Oder darauf, dass sie mit Kollegen aus Südamerika bis China zusammenarbeiten, wie wir das in unseren internationalen Praxisprojekten tun. Hier gibt es viele kulturelle Lerneffekte. Gerade das Transkulturelle, die unterschiedliche Wahrnehmung davon, was ein Problem ist, oder wie Teamwork aussieht, sind sehr unterschiedlich.
Welche Herausforderungen muss die FHS bei der Internationalisierung meistern? Wörwag: Einerseits sind wir in einem Transitionsprozess. Noch ist der Mensch weniger mobil, als er es gerne wäre. Wir fahren zwar gerne ins Ausland in die Ferien, nehmen aber immer unsere Perspektive mit. Der offene Blick auf das Fremde bedingt eine geistige Mobilität. Ich beobachte auch bei jungen Menschen eine gewisse Zurückhaltung zu einer physischen und mentalen Mobilität. Andererseits ist die Internationalisierung in einem Partnernetzwerk ein Vertrauensgeschäft. Besteht einmal gegenseitiges Vertrauen, können wir eine gute Visitenkarte der Schweiz im Ausland abgeben. Das nützt der Gesamtgesellschaft.
Gibt es auch politische Herausforderungen? Stichwort Europäische Hochschulinitiative? Wörwag: Mit der Europäischen Hochschulinitiative bewegt sich in Europa eine Exzellenz-Initiative, die von der EU stark gefördert wird. Hier darf die Schweiz nicht abseits stehen, will sie bei der Forschungs- und Lehrentwicklung in Europa dabei sein. Die IBH wäre, als Verbund, qualifiziert, eine europäische Universität zu sein. Sie bringt alles mit.
Und wieso ist sie das nicht? Wörwag: Das hängt am Nichteintretens-Entscheid des Bundes zum Erasmus+ Programm, das die Europäische Hochschulinitiative finanziert. Die Schweiz ist kein Vollmitglied und somit mit einem Ausschluss konfrontiert. Wir müssen den Diskurs führen, wie wir mit unserem Hochschulbildungssystem an der Europäischen Universitätsinitiative beteiligt sein wollen. Wollen wir das, braucht es in der Regelung der internationalen Zusammenarbeit ein Bekenntnis zu diesen europäischen Universitätsverbünden. Sonst schlagen wir ein Fenster zu, das über Generationen zubleibt.
In den Niederlanden nennt man Erbsensuppe mit Wurst «Snert». Am besten soll sie in besonders eisigen Wintern schmecken: Nämlich auf zugefrorenen Kanälen, wenn die Amsterdamer an einigen Ecken kleine wärmende Suppen-Stände aufbauen.