AUF DER SUCHE NACH DEM NEUEN KLANG

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Aus dem Französischen übersetzt von Ulrike Kolb


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Frédéric Chaslin

Auf der Suche nach dem neuen Klang Zeitgenössische Musik seit Johann Sebastian Bach

Mit einem Vorwort von Dominique Meyer

B öh l au Ve r l ag Wi e n · Köl n · We i m ar


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Titel der französischen Originalausgabe: La Musique dans tous les sens. Editions France-Empire Monde 2009. © Frédéric Chaslin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78614-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Umschlagabbildung: www.pickfotografie.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : CPI Moravia


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Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präludium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERSTER SATZ: Was ist Musik ?   1. Funktionen und Finalität von Musik .. . . . . . . . . . . . . . . . . .   2. Die Alchemie und das Numinose oder Elemente und Prinzipien der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3. Von Pythagoras zur Stringtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ZWEITER SATZ: Die Sprache der Musik   4. Musik und Semiologie . . .   5. Akustische Körper . . . . .   6. Musik, Sprache der Seele  ? .   7. Das Phänomen Beethoven .

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DRITTER SATZ: Musik und Moderne   8. Anatomie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9. Vom Klischee zur Couch. Kleine Zusatzbetrachtung zur Moderne .. 10. Das Gesetz der Reihen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Kleine Geschichte der Moderne à la française . . . . . . . . . . . . . 12. Die Kritik und das Authentische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIERTER SATZ: Die Begierde nach Musik 13. »Le bon plaisir« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 14. Der Mensch und seine Begierde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5


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Inhalt

15. Der vergessene Liebhaber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 FÜNFTER SATZ: Neue Wege der Musik 16. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies 17. Tout néo, tout beau … . . . . . . . . . . . . 18. Eine Musik ohne Stimmung  ? . . . . . . . . 19. Welche Musik für morgen  ? . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis .. Liste der Abbildungen Glossar . . . . . . . . Anmerkungen . . . . .

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meinen Eltern, Jeanne und Maurice


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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich erinnere mich noch gut an jenen Wintermorgen vor mehr als 40 Jahren, der den Verlauf meines weiteren Lebens entscheidend beeinflussen sollte. Kommt es doch häufig vor, dass Jugendliche während der Ferien, wenn sie von ihren schulischen Verpflichtungen befreit sind, plötzlich von einer großen Langeweile heimgesucht werden. Genau das war an jenem Tag bei mir der Fall. Ich befand mich allein im Haus meines Onkels und meiner Tante. Draußen war es grau, dicker Nebel lag über unserem Tal und ließ jegliche Hoffnung auf ein Abenteuer im Gebirge dahinschmelzen. Der Tag versprach triste und eintönig zu werden. Ziellos wanderte mein Blick über die holzgetäfelten Wände des Chalets, als mir plötzlich ein Stapel Schallplatten ins Auge fiel, der unter ein paar alten Zeitungen hervorlugte. Vielleicht würde ich ja dort etwas finden, das mich von meiner trostlosen Stimmung befreien konnte. Doch welch eine Enttäuschung – meine Entdeckung enthielt nur klassische Musik  ! Nach einem kurzen Moment des Zögerns fand ich jedoch, dass es vielleicht einen Versuch wert sei, diesem unbekannten Gebiet ein gewisses Interesse entgegenzubringen. Aber wie sollte ich die richtige Platte auswählen  ? Schwierig, sich für etwas zu entscheiden, wenn man von alldem nichts versteht  ! Oder im Gegenteil ganz einfach  : Man brauchte es nur dem Zufall zu überlassen. Was ich damals tat. Einige Sekunden später kreiste die Scheibe auf dem altertümlichen Abspielgerät. Sanft senkte sich der Saphir in die Vinylrille. Ich las die Plattenhülle  : Johann Sebastian Bach, »Sonaten und Partiten für Violine solo«, Henryk Szeryng. Bereits nach wenigen Augenblicken meinte ich, allein auf dieser Welt zu sein. Versenkt in die Musik von Bach. Wie hypnotisiert lauschte ich diesen neuen Klängen, wieder und wieder. Sobald die Musik aufhörte zu spielen, hatte ich den Eindruck, es fehle mir etwas und eine Art von Sehnsucht überkam mich. Seit diesem Tag hat mich die Musik nie mehr verlassen. Sie ist zu meiner treuen Begleiterin geworden. Sie kann jederzeit auftauchen, in den unterschiedlichsten Situationen in meine Gedanken eindringen, auf einem Spaziergang, in der Straßenbahn oder sogar mitten in einer Haushaltsdebatte. Ich habe mich oft gefragt, wie ein Werk, dass gemeinhin als anspruchsvoll oder gar als streng bezeichnet wird, innerhalb weniger Minuten so starke Emotionen in mir zu wecken vermochte, dass mein weiteres Leben durch dieses Erlebnis unwiderruflich geprägt wurde. Welches Wunder hatte bewirkt, dass diese komplexe Musik, die zweifellos zum Höchsten zählt, was das menschliche Genie hervorge9


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Vorwort zur deutschen Ausgabe

bracht hat, einen jungen Burschen, der überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen war, dieses Höchste in sich aufzunehmen, so tief berühren konnte  ? Sicher hat jeder von uns tief in seinem Innersten eine Saite, die nur darauf wartet, zum Schwingen gebracht zu werden. Doch durch welches Wunder kann dies geschehen  ? Zu dieser Initialfrage sind auf meiner Reise durch die Welt der Musik zahlreiche weitere Fragen hinzugekommen. Aber leider lässt die Hektik unserer heutigen Welt wenig Raum zum Nachdenken und die meisten dieser Fragen sind für mich ohne Antwort geblieben. *** Die Welt der großen Interpreten klassischer Musik ist eine Welt für sich. Kaum einige Hundert Künstler machen sie aus. Und höchstens ein paar Dutzend stehen hinter dem Dirigentenpult. Die meisten von ihnen führen ein rastloses Leben  : eine Woche Wien, die folgende in Berlin, dann Paris, anschließend vielleicht in New York, London oder San Francisco. Und der Sommer spielt sich in Salzburg ab, in Bayreuth, Glyndebourne, Aix en Provence oder Luzern. Wenn weder Konzert- noch Opernverpflichtungen ihren Kalender füllen und sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, dann nützen sie diese Zeit praktisch immer, um neue Werke einzustudieren. Zahllose Stunden der Konzentration sind nötig, bis eine Partitur vollständig verinnerlicht ist. Erst recht, wenn es sich um eine Oper handelt. Das ist Fleißarbeit, entsagend, einsam. Meilenweit entfernt vom Glanz der Konzertsäle und Opernhäuser. Auch der Dirigent sieht sich mit den oben erwähnten fundamentalen Fragen konfrontiert. Auch ihm fehlt die Zeit, die ihm vielleicht die Antworten liefern würde. Übrigens fühlen sich nicht alle Vertreter seines Fachs zwangsläufig dazu berufen, die Früchte ihrer Erfahrung, ihres Wissens und ihres Nachdenkens zu Papier zu bringen. Das einzige Sprachrohr des Dirigenten ist oftmals die Musik selbst. Seine Rolle sieht er darin, Musik zu machen. Und nicht unbedingt, seine Gedanken über die Musik zu offenbaren. Ausnahmen wie etwa Pierre Boulez und Nikolaus Harnoncourt sind eher eine Seltenheit. Weniger selten sind sie, wenn sie gleichzeitig den Beruf des Komponisten ausüben wie beispielsweise – noch einmal – Boulez, Berio, Stockhausen oder Xenakis, denen wir absolut spannende Schriften zu verdanken haben. In dieser Welt der bedeutenden Dirigenten ist Frédéric Chaslin eine ganz besondere Persönlichkeit. Diejenigen unter den regelmäßigen Besuchern der Wiener Staatsoper, die miterlebt haben, wie er mehr als hundert Mal in den Orchestergraben hinabstieg, um ein äußerst abwechslungsreiches Repertoire (17 Werke 10


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Vorwort zur deutschen Ausgabe

zwischen 1997 und 2011) zu dirigieren, haben das Bild eines begabten und kompetenten Kapellmeisters gewonnen, der imstande ist, Orchester und Sänger zu Höhenflügen anzuspornen. Nur wenige wissen, dass sich hinter der Person des Dirigenten auch ein glänzender Pianist und Komponist sowie ein – im wahren Sinne des Wortes – Geistesmensch verbirgt. Warum berührt uns die Musik  ? Warum ruft sie solch starke Emotionen in uns hervor  ? Wie funktioniert das musikalische Zeichen  ? Wie verhalten sich Musik und Metaphysik zueinander  ? Welche Bedeutung hat die Musikgeschichte  ? Und in welchem Verhältnis steht diese zum Begriff des Fortschritts und der Modernität  ? Welchen Stellenwert hat die zeitgenössische Musik  ? Welches sind die möglichen Wege zukünftiger musikalischer Schöpfung  ? Auf all diese Fragen versucht Frédéric Chaslin eine Antwort zu finden und schöpft zu diesem Zweck aus so unterschiedlichen Quellen wie der Semiotik, der Psychoanalyse, den Neurowissenschaften, ja er greift sogar auf ältere Lehren zurück wie etwa die Alchimie oder die Kabbala, er beruft sich auf Umberto Eco und Sigmund Freud, Euklid und Platon, Carl Gustav Jung und Roland Barthes, Pierre Boulez und Jean Philippe Rameau, um nur einige seiner geistigen Väter zu nennen. Das vorliegende Buch ist keine einfache Lektüre. Es verlangt vom Leser Aufmerksamkeit und Konzentration. Es wirft zahlreiche Fragen auf und schlägt mögliche Antworten vor. Dominique Meyer, im Juni 2011

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Vorwort

(Angelegt als »Dialog der Taubstummen«, in dem die Akteure des vorliegenden Dramas und ihre Motive vorgestellt werden. Ort und Zeit der Handlung  : Foyer eines Pariser Konzertsaals, während der Pause). –– Guten Abend  ! Ich glaube wir kennen uns. Sie sind der Komponist, nicht wahr  ? –– Ah, so einfach ist das nicht  ! Komponist … Ich konzeptualisiere Ereignisse, die dazu bestimmt sind, die Erfahrung akustischer Objekte über die Intersubjektivität Autor/Hörer zu stimulieren. –– Ach so … ja, natürlich. Wo hab ich nur meinen Kopf  ? Und Ihre musikalische Berufung spürten Sie wohl schon in frühester Jugend  ? –– Auch da schematisieren Sie aufgrund von rückwärtsgewandten Konzepten. Es gibt keine Berufung, keine Musik. Es gibt nur eine Evolution der Annäherung an akustische Phänomene, auf die ich einen Strukturalismus anzuwenden versuche, der sich sowohl durch Rigorosität als auch durch anhaltende Zukunftsoffenheit auszeichnet. –– Ah, verstehe. Ich für meinen Teil bin jedoch nur Musikliebhaber, damit meine ich, dass Musik mir Freude bereitet … –– Da muss ich Sie unterbrechen  ! Sie sind kein Musikliebhaber, Sie sind der Hauptakteur, ja sogar die zentrale Figur des Theaters, welches wir, GeometerAkustiker, um nicht zu sagen Akusmatiker, um Sie herum konstruieren, indem wir zwar die Grenzen Ihrer Sinnesorgane respektieren, aber auch die fabelhaften potenziellen Möglichkeiten zur auditiven Wahrnehmung der Dinge berücksichtigen, die wir Ihnen im Übermaß darbieten. Was das Pläsir betrifft, so muss ich Sie bitten, wir sind doch Erwachsene, und keine Tiere mehr. Ich hoffe sehr, dass Sie den Begriff des Genießens überwunden haben, in vollem Bewusstsein der Notwendigkeit, Ihr Ich vom Einfluss des Es zu befreien. –– Hmm, offen gesagt ist die Musik nicht mein Beruf, sondern ein edler Zeitvertreib, und … –– Halt  ! Stop  ! Genug des Dilettantismus und der Kindereien. Denn was wollen Sie schließlich damit sagen  ? Dass Ihre Sinne, Ihre Ohren, und ich schließe daraus, auch Ihre Augen, Ihr ganzes Denken nichts anderes sind als Teilzeitkünstler  ? Dass sie nur Teilzeitarbeit verrichten  ? Dass Sie mit halbgeschlosse13


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Vorwort

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nen Augen durch die Straßen gehen, um nicht zu viel zu sehen, mit Stöpseln in den Nasenlöchern und Ohren, um nur ja nicht zu viel zu riechen oder zu hören, kurz, dass Sie Ihr Pferd schonen, um länger auf dem Pfade der Seichtheit und der Mittelmäßigkeit dahinwandeln zu können  ? Schon gut, schon gut  ! Ich sage ja nur, dass SIE ein Spezialist sind und ich bloß … Sie sind bloß ein Narr  ! Sie benutzen Ihr Gehirn genauso wenig wie Ihre Ohren, verzeihen Sie, dass ich so deutlich werde. Nur zu  ! Nichts für ungut  ! Das heißt – lassen Sie uns ein kleines Experiment veranstalten  : Sie sagen mir jetzt genau, was Sie gerade hören, hier und jetzt. Beschreiben Sie mir ALLES, worüber Ihre Ohren Sie informieren. Nun gut, zunächst sind da Ihre Beleidigungen, ganz zu schweigen von den Speicheltropfen … Ausgezeichnet, und weiter … Dann höre ich den Lärm der Menschenmenge, die sich genau wie wir in der Pause um die Getränkebar drängt. Genau  ! Suchen Sie weiter  ! Nun, da war gerade das dumpfe Vibrieren einer vorbeifahrenden Metro, das sich – von rechts nach links – wie ein Ring um den Basso Continuo des Melomanenchors legt  ; da ist das Klingen der Champagnergläser, mal näher, mal weiter weg … Räumlich dargestellt, mein Lieber, räumlich  ! Richtig … Und dann vereinzelte Wortfetzen, die durch das akustische Gerüst vordringen … Die Textur, bitte … Ja, natürlich. Und weiter der Aufschrei einer beleibten Dame, deren Dekolleté gerade mit Weißwein getauft wurde, das Knallen eines Champagnerkorkens. Sämtliche Paradigmen der idealen Pariser Abendgesellschaft. Ausgezeichnet  ! Demnach haben Sie mit ein bisschen Anstrengung fast alles gehört. Mussten Sie dafür ein Spezialist sein  ? Gewiss nicht, aber Sie, als Mann der Künste, nehmen sicher mehr wahr als ich. Dummes Zeug  ! Ich höre nur besser hin, und vor allem analysiere ich, und ich sortiere, aber mit den gleichen Ohren wie Sie. Los, sagen Sie mir mit geschlossenen Augen, wie viele Personen sich in diesem Saal befinden  ? Nun … Ungefähr sechzig, siebzig  ? Genau. Und wie viele Frequenzschichten  ? 14


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Vorwort

–– Wie bitte  ? –– Wie viele Abstufungen von Tieftönen  ? Und welche Instrumente gehören jeweils dazu  ? –– Nun, ich würde sagen, das sind die Männerstimmen, da ist so ein tiefes Brummen, das müssen die Baritone sein. Und dann eine Lage hellerer Stimmen, alles potentielle Tenöre. –– Stimmt genau. Sie sind gar nicht so schlecht. –– Dann die Frauenstimmen, ebenfalls zwei Lagen. Und dazu noch die nasalen und kreischenden Frequenzen, zwischen den beiden ersten Gruppen. Kritiker, vielleicht  ? –– Jetzt werden Sie nicht vulgär  ! Wie dem auch sei, Ihre sonstige Analyse ist ausgezeichnet. Jetzt zum Tempo … –– Nun gut, mir scheint, je höher die Stimmen sind, desto größer ist das Tempo. Gestatten Sie mir einen chauvinistischen Kommentar  ? –– Auf keinen Fall  ! Und die räumliche Anordnung  ? Kommen Sie, lassen Sie uns um dieses Foyer herumgehen, und Sie beschreiben mir genau, welche akustischen Veränderungen Ihnen auffallen. –– Na ja … Es ist ja wohl klar, dass ich mit dem linken Ohr den Widerhall der Geräusche aus dem Saal höre, die von der Wand, an der wir entlangschreiten, reflektiert werden, während ich mit dem rechten Ohr den Klang direkt wahrnehme … –– Den Klang  ? Akustische Ereignisse, mein Freund  ! –– Ganz wie Sie wollen. Und weiter, da ich mich nicht mehr in der Mitte des Raumes befinde, sondern mich durch die Menge bewege, höre ich viel mehr … »Solisten« heraus, verstehen Sie  ? –– Ich übersetze  : Die Spatialisierung ermöglicht es Ihnen, auf quasi zufällige Weise individuelle Frequenzaggregate auszuwählen. –– Übrigens sind wir gerade an einem charmanten Aggregat vorbeigegangen, finden Sie nicht  ? –– Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Habe ich Ihnen nicht gerade demonstriert, dass es gar nicht notwendig ist, ein Spezialist zu sein, um zu wissen, wie man richtig hinhört, dass es genügt, seine Ohren zu öffnen und die Aufmerksamkeit zu bündeln. Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als sich wieder diesem primären Hedonismus zuzuwenden. Absolut unerträglich  ! –– Ja, eben  ! Lassen Sie uns genau darüber sprechen. Ich habe mich also auf Ihr kleines Spielchen eingelassen  : Ich bin mitgekommen, ich habe gesehen, ich habe gehört. Hier die Menschenmenge, und vor einigen Minuten Ihre Komposition. Glauben Sie ja nicht, ich hätte vor mich hingedöst. Ich habe zuge15


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Vorwort

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hört, ich habe versucht zu verstehen, zu sortieren, etwas zu empfangen, ein kleines Signal, etwas Einfaches, das mich berührt, das mich bewegt, das ein Gefühl in mir erweckt … Kurz und gut, ich glaube, dass alles, was Sie zum Ausdruck bringen, nur Chaos ist, Angst, Schrecken, Hässlichkeit … Wie können Sie ein Werk, das in der allerstrengsten strukturalistischen Logik konzipiert wurde, einzig mit Ihren Gefühlen heruntermachen  ? Glauben sie etwa, dass ich beim Komponieren an Ihr elendes Innenleben denke  ? Oder gar an mein eigenes  ? Innenleben, Herz, Geist, Seele. Das ist alles dasselbe für mich. Sie glauben wohl nur an den reinen Geist, stimmt’s  ? Und wie  ! Ich schreibe – einzig mit meinen Neuronen bewaffnet – in der Absicht, einzig Ihre Neuronen damit zu erreichen. Aber, mein Lieber, verstehen Sie denn nicht, dass eben gerade unsere lieben Neuronen niemals alleine sind  ? Kommen Sie, lassen Sie uns die Rollen tauschen  : Sie sind seit einigen Momenten leicht gerötet. Was geht in Ihnen vor  ? Ach, mein Freund, diese Unterhaltung kommt mir einigermaßen zu den Ohren heraus … Und noch etwas für den reinen Geist. Der Lärm dieser Menge, woran lässt er Sie denken  ? Phhh, ich wäre heilfroh, wenn alle endlich wieder auf ihren Plätzen säßen und Ruhe gäben. Auf die Dauer wird es hier echt bedrückend. Sie meinen so ein leichtes Unwohlsein in der Magengegend  ? Das lässt sich in der Tat nicht abstreiten. Erstaunlich, finden Sie nicht, welche Reaktionen durch ein Phänomen »reiner« akustischer Erfahrung ausgelöst werden können  ? Und diese Stimme, die gerade lauthals verkündet hat  : „Dieses zeitgenössische Stück hat mir sehr gut gefallen“  ! Ja, das freut einen immer zu hören. Und plötzlich verschwindet der Krampf im Magen, die Brust schwillt an, Sie sind nicht mehr rot und gereizt, ihre Kiefern- und Lachmuskeln entspannen sich. Sind Sie Arzt  ? Ganz genau  ! Also, eine subjektive Information, nebenbei aufgeschnappt, ein rein hirngesteuertes Werk betreffend, löst bei seinem Hörer mindestens eine Emotion aus. Dazu kommt das Rückgängigmachen der vorangegangenen negativen Emotion sowie das Auftreten vierer spontaner Gesichtssymptome. Nicht schlecht für einen reinen Geist  ! Nun, sehen Sie mein Herr, genau das passiert, wenn ich, der einfache Musikfreund, auf die Art und Weise zuhöre, 16


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Vorwort

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die Sie mir gerade beigebracht haben, und die ich so empfinde, wie Sie es jetzt getan haben. Und da Sie fühlen, ich fühle, wir fühlen, muss es sich doch wohl oder übel um eine Emotion handeln  : Überraschung, Freude, Angst, Wut. Hmm … Der Affekt ist in der Analyse nicht vorgesehen. Aber sie löst ihn aus, wenn durch sie gefühlsmäßige Motive offenbart werden. Bei mir jedoch löst Ihre Musik nur negative Empfindungen aus. Na klar  ! Sie sind ja auch nur ein plumper Genießer und gehen ins Konzert so wie andere ins Bordell  ! Ganz wie Sie meinen  ! Gehen wir also davon aus, dass Mozart, Beethoven, Debussy so richtige Huren gewesen seien. Und die Konzertsäle seien, bis Schönberg, nur Freudenhäuser gewesen. Die neue Musik hat neue Dringlichkeiten geschaffen, neue Notwendigkeiten. Ihnen als Arzt würde ich sagen  : eine neue Histologie des akustischen Gewebes. Für Sie, mein Lieber, weil Sie Ihre kleine Revolution ganz für sich alleine verfügt haben. Denn für wen komponieren Sie schlussendlich  ? Doch für das Publikum, oder etwa nicht  ? Für denjenigen, der in der Lage ist, mich zu verstehen. Für mich alleine, wenn’s sein muss. Wenn nur noch einer übrigbleibt … Sehen Sie, das ist genau das, was ich empfinde, wenn ich Ihrer Musik zuhöre. Ich bleibe von Ihrem Werk ausgeschlossen, ich fühle mich nicht aufgefordert einzutreten. Ich bin nicht mit eingerechnet worden, ich, der Andere, ich bin nicht einer Ihrer Parameter. Oh, verzeihen Sie  ! Ich soll also Maßgeschneidertes produzieren. Und welche Größe darf es sein für den Herrn  ? Trägt er rechts oder links  ? Sie flüchten sich in Sarkasmus, wenn ich Sie mit einem Narzissmus konfrontiere, einem Egozentrismus, der nicht so recht zum eigentlichen Kunstbegriff passen will. Künstler – nicht narzisstisch, nicht egozentrisch  ? Seit wann denn das, bitte schön  ? Donnerwetter  ! Jetzt sind Sie derjenige, der nicht mehr zuhört. Ich habe gesagt  : die Kunst. Nicht der Künstler. Ist Wagners Musik antisemitisch  ? Natürlich nicht. Sehen Sie, Ihre Musik hingegen kommuniziert nichts Positives für mich. Und verstehen Sie diesen Begriff bitte in seiner medizinischen Bedeutung, weil Ihre Musik vollständig um Ihr eigenes System herum konzipiert ist, das seinerseits nur eine Erweiterung ihres Wunsches ist, zu dominieren. Und das spüre ich ganz stark und auf unerträgliche Weise. Ihr Werk sagt mir noch 17


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Vorwort

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nicht einmal etwas über Sie selbst, sondern nur über die Art, wie Sie versuchen, mich in Ihre mentalen Konstruktionen einzusperren, wie in ein Labyrinth. Reine Spinnerei  ! Unsinniges Gerede  ! Ich versuche höchstens, Ihnen neue klangliche Horizonte zu öffnen. Mit welchen Schlüsseln bitte schön  ? Sie haben sämtliche Codes über den Haufen geschmissen  ! Dafür habe ich andere neu erfunden. Die kann ich aber nicht entschlüsseln. Sie haben keinerlei Bedeutung für mich. Hören Sie hin, wieder und wieder  ! Lernen Sie  ! Das habe ich immer getan. Und es hat immer funktioniert, bis zu Ihrer kleinen … Revolution. Tja, was soll ich Ihnen da sagen  ? Vielleicht Ihre Kinder, Ihre Enkel, eines Tages … Sie lassen mich also im Stich  ? Ich überlasse Sie Ihrem traurigen Schicksal, ganz genau, und ohne die geringsten Gewissensbisse. Ich befürchte, dass Sie derjenige sind, der im Stich gelassen wird, und nicht ich. Schließlich bleibt mir ja noch die ganze klassische Musik. Ihnen dagegen nur eine Handvoll Fans, von denen die Hälfte Opportunisten sind … Ja ja, leben Sie ruhig in der Vergangenheit, solange es Ihnen gefällt, wandeln Sie durch das hübsche Museum Ihres Konservatoriums. Aber vergessen Sie nicht, dass die Musik auf den Geist abfärbt  : Hören Sie ruhig Bach, aber bitte, tragen Sie auch einen Gehrock und eine gepuderte Perücke, damit die Fassade das Innere verrät. Und warum sollten Sie sich nicht die Mühe machen, auf mich zuzugehen, beim Komponieren ein wenig an mich zu denken  ? Weil das nicht meine Aufgabe ist, und auch nicht die der Musik. Machen Sie sich die Mühe, mich zu verstehen, und Sie werden gewachsen daraus hervorgehen. Aber es geht nicht darum, zu verstehen, wir sprechen von Kunst, nicht von Wissenschaft oder Philosophie. Es geht darum, zu fühlen. Ich kann Ihnen nicht näherkommen, wenn ich so viel Feindseligkeit gegen mich spüre, in Ihrer Musik. Diese Unterhaltung hat keinen Sinn. Sie werden mich entschuldigen, aber ich möchte den Anfang der Missa Solemnis nicht verpassen. Ich auch nicht. – Ach, sehen Sie hier  ! Ist das nicht eigenartig, das Programm 18


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Vorwort

enthält eine Abbildung der Partitur. Beethoven hat sie mit diesen Worten überschrieben  : »Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen  !« Eigentlich brauchte er doch gar nicht … Monsieur  ? (Derweil hat der Komponist seinen Platz wieder eingenommen, ohne den letzten Satz des Zudringlings vernommen zu haben.)

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Präludium

Weit liegt die Zeit zurück, da Goethe behauptete, die breite Öffentlichkeit sei der Ansicht, dass es sich mit Büchern genauso verhalte wie mit Eiern – je frischer sie konsumiert würden, umso besser seien sie  ; dass der Durchschnittsbürger deshalb immer nur das Neueste wähle. Und genau nach dieser Maxime lebte auch das damalige musikliebende Publikum. Heute findet die ewige Dichotomie zwischen Wissen und Erkenntnis ihr modernes Pendant in jenem schrecklichen Dualismus Unterhaltung und Kultur. Das wiederum wirft die – in den Ohren von Goethes Zeitgenossen freilich abwegig klingende – Frage auf, welche Musik für welches Publikum bestimmt sei. Verstehen wir uns richtig  : Mit Publikum meine ich nicht die globale Masse, die der Ökonom gemeinhin als »Markt« bezeichnet und in Anteile aufteilt, sondern ich spreche vom klassischen Musikpublikum, von jener Hörerschaft, die bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein empfänglich für jegliche Art von Musikdarbietungen war, zu Uraufführungen strömte, ja sich gerade um diese riss oder aber, wie es auch heute bei Retrospektiven berühmter Filme geschieht, darauf brannte, die großen Erfolge der Vergangenheit noch einmal zu hören. Für dieses Publikum existierten die Begriffe klassische, romantische oder gar zeitgenössische Musik ganz einfach nicht. Es gab die Musik, die man unbedingt hören wollte und die in den meisten Fällen neu komponiert, also »zeitgenössisch« war  ; zeitgenössischer jedenfalls als die »moderne« Musik von heute, die oftmals mehrere Jahrzehnte alt ist und Komponisten einschließt, die schon lange tot sind. Dieses Publikum hatte – trotz geringerer Lebenserwartung – paradoxerweise mehr Zeit, die es zwar weniger, aber dafür besser zu nutzen wusste. Stellen wir uns zum Beispiel einen italienischen Musikliebhaber vor, der sich am 9. Februar 1893 in die Mailänder Scala begibt, um der Uraufführung von Falstaff beizuwohnen. Nach vollbrachtem und in menschlichem Rhythmus vonstattengegangenem Tagwerk legt er den Weg zu Fuß oder in einer Kalesche zurück. Er geht in die Oper, um einen kulturellen Akt auszuführen, weil Verdi der größte lebende Opernkomponist dieses ausgehenden Jahrhunderts ist, weil dieses Werk seinen Anteil an Novitäten mit sich bringen wird, denen unser Freund begierig entgegen fiebert, alles in allem jedoch in der Gewissheit, dass es der Komponist, wie jedes Mal, fertigbringen wird, gleichzeitig sein Staunen und sein Entzücken zu wecken. 21


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Präludium

Begeben wir uns nun ins Paris des Jahres 2003 und folgen seinem französischen Kollegen, der am Ende eines langen und vollgepackten Arbeitstages in letzter Minute – natürlich völlig gestresst – ins Auto springt, ohne den ganzen Tag auch nur eine Minute Zeit zum Verschnaufen gehabt zu haben. Wenn nun also unser Freund – selbstverständlich mit Verspätung – im Theater oder Konzertsaal eintrifft und seine Motivation nicht mehr das Engagement zugunsten der modernen Kunst ist, sondern das simple Bedürfnis nach einem angenehmen musikalischen Erlebnis, der Wunsch, einen Moment der Muße zu konsumieren, wer wollte ihm diese Einstellung verdenken  ? Wenn er keine Lust hat, sich zur Uraufführung eines zeitgenössischen Werks zu begeben, von dem er von vornherein weiß, dass die »schiefen Töne« nur die Anspannung verstärken, die sich im Laufe des Tages aufgebaut hat, wer würde es wagen, ihn als Hohlkopf zu bezeichnen  ? Und wenn auf der anderen Seite die Schöpfer der sogenannten »ernsten Musik« – scheint doch der Begriff »große Musik« heute eher politically incorrect zu sein – nicht bereit sind, zu freundlichen Organisatoren des Prêt-à-consommer unserer heutigen Spaßgesellschaft zu werden, wenn diese Komponisten danach streben, sich in die Kontinuität des vor mehr als fünf Jahrhunderten begonnenen Werks einzureihen, eines Werks der Erbauung und der Transzendenz, der Suche nach dem Wesentlichen, nach dem Absoluten, der vollkommenen Sprache, wer würde ihnen einen Strick daraus drehen wollen  ? Denn die Sprache der Musik, zumal der modernen Kunst überhaupt, entwickelt sich nicht mehr – wie die menschliche gesprochene Sprache – anhand der Veränderungen, die durch den Alltagsgebrauch bestätigt oder durch politische Maßnahmen (auf )oktroyiert werden, sondern durch das Zutun des Komponisten selbst, der zum wichtigsten Benutzer dieser Sprache geworden ist. Darin besteht der wahre Sinn der im 20. Jahrhundert durch die künstlerische Avantgarde initiierten Revolution. Wie man sieht, sind wir hier mit einer alten Zweierbeziehung konfrontiert, jener zwischen Hörer und Komponist, die sich freilich nicht mehr durch dieselben existentiellen Notwendigkeiten auszeichnet. Hat doch jeder für sich eine Entwicklung hinter sich gebracht, die, mehr noch als in der Dichotomie »Vergnügen versus Kultur«, für den einen in eine Kultur des Vergnügens mündete und für den anderen in eine Kultur der Kultur. Heißt das etwa, dass der Bruch unvermeidlich und irreversibel ist  ? Das vorliegende Buch wäre nicht zustande gekommen, wenn ich davon überzeugt wäre. Vieles ist anders geworden seit Falstaff. Das Publikum von damals, hauptsächlich dem wohlhabenden Bürgertum entstammend, hat sich ausgeweitet, und die Möglichkeit, in den Genuss von Musik zu gelangen, steht heute praktisch jedem 22


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Präludium

offen. Darüber hinaus hat sich eine regelrechte Spaß- und Konsumindustrie entwickelt, um der Nachfrage dieser neuen »hungrigen Ohren« gerecht zu werden, eine Industrie der Bequemlichkeit, eine Kultur der Rendite, zu oft leider auch ein Kult der Mittelmäßigkeit. Freilich handelt es sich dabei um eine Industrie, die es – jedenfalls besser als unsere »Mönch-Komponisten« – fertiggebracht hat, die beiden großen, der Musik innewohnenden Stärken auszunutzen und auszubauen, nämlich erstens ihre semiotische und zweitens ihre emotionale Kraft. Denn die Musik bedeutet, beziehungsweise  : deutet auf Etwas. Ohne dieses Etwas würden wir keine Musik hören. Und sie spricht zu unserem Körper. Durch ihn dringt sie bis in die intimsten Bereiche unserer Psyche vor. Die Seele  ? Die Gefühle  ? Die Emotionen  ? Wenn also die zeitgenössische Musik in ihrem Bemühen, ihre Zeichen zu kommunizieren, kläglich scheitert, wenn die überwältigende Mehrheit des gebildeten Publikums die Musik heute nicht mehr als äußerst angenehme Quelle intellektueller Erbauung wahrzunehmen vermag, so ist das nicht die Schuld der Moderne an sich. Die Zeit zurückzudrehen und wie Mozart zu schreiben – oder zumindest es zu versuchen –, um den Hörer zu »erfreuen«, ist ebenso müßig, wie die Rückkehr von Kaleschen und gepuderten Perücken herbeizusehnen. Wie ich im weiteren Verlauf meines Textes zu demonstrieren versuchen werde, ist das Moderne wesenhaft verknüpft mit der Kunst, denn diese ist ein Spiegel der Welt, welche sich ihrerseits in einem ständigen Prozess der Erneuerung befindet. Die Welt, in der wir leben, wird immer komplexer  ; folglich kann die Kunst, die ihre Konzentration und Widersprüche reflektiert, nicht anders als selbst immer komplexer werden. Eine einfache, verständliche Kunst zu erwarten, hieße gegen den Strom seiner Zeit zu leben. Dahingegen ist es unerlässlich, eine sensible Kunst zu fordern, und damit meine ich eine Kunst, die sich den Sinnen, aber auch der Sensitivität des Hörers darbietet, sowie – radikaler ausgedrückt – eine Kunst, die den Anderen wahrnimmt. Aus diesem Grund darf sich der Vorwurf nicht gegen die moderne Musik im Allgemeinen richten, sondern lediglich gegen gewisse Strömungen, die diese zu einer bestimmten Zeit verkörpert haben, und auch das nur zum Teil  ; allerdings ist es diesen Strömungen zuzuschreiben, dass die ästhetischen Alternativen dauerhaft hinter Schloss und Riegel gebracht, die Kompositionsmodi durch einen komplizierten theoretischen Diskurs, ja zuweilen sogar durch Beleidigung und Drohung eingefroren wurden. Letztendlich haben sie die Moderne auf zweierlei Arten getötet  : Zum einen, indem sie zu einer offiziellen Avantgarde avancierten, die, einmal institutionalisiert und in ihren eigenen Diktaten erstarrt, die Vorstellung einer gesunden Subversion heraufbeschwörte – lebenswichtig, um den Kurs 23


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Präludium

auf die Moderne zu halten. Zum anderen, indem sie »modern« mit Fortschritt gleichsetzten, einem eher »ingenieuristischen« als künstlerischen Begriff, wie wir später noch sehen werden. Die Musik ist in Gefahr, das bestätigt sich jeden Tag aufs Neue. Erstes Anzeichen ist der Untergang der Plattenindustrie, für den es zwei offenkundige Ursachen gibt  : erstens die Ausbeutung des klassischen Repertoires, zweitens das Unvermögen der modernen Musik, sich in der Öffentlichkeit als logische Fortführung desselben zu behaupten. Jeder Freund klassischer Musik besitzt normalerweise eine oder zwei Versionen seiner Lieblingswerke, und nur die eifrigsten unter ihnen oder echte Sammler nehmen das musikalische Abenteuer so ernst, dass sie grundsätzlich so viele Einspielungen und so viele Aufführungen wie möglich miteinander vergleichen. Der Trend geht jedoch dahin, dass diejenigen immer zahlreicher werden, die, anstatt beispielsweise ins Kino zu gehen, lieber in der guten Stube hocken und den Film von ihrem Sofa aus genießen. Die hohe Qualität moderner Stereoanlagen und Heimkinos sorgt dafür, dass auch Konzert- und Operngeher das musikalische Ereignis in zunehmendem Maß in den eigenen vier Wänden konsumieren. Weil der zeitgenössische Musikbetrieb nicht imstande ist, die weiter oben angedeutete Kontinuität aufrechtzuerhalten, wendet sich das gebildete Musikpublikum leichter verdaulichen Zerstreuungen zu und assoziiert diese dann mit modernen Musikkreationen. Die jüngsten »Musicals«, deren Zweck doch in erster Linie ein kommerzieller ist, werden von vielen als durchaus würdige Nachfolger der Opern Verdis und Wagners betrachtet. Für diesen Typ Ohren, der infolge der wachsenden Hörfaulheit immer stärker verkalkt, hält die Musikindustrie ein breitgefächertes Angebot von zunehmend minimalistischer und reduzierter Musik bereit. Wie konnte es nur so weit kommen  ? Die Musik ist so alt ist wie die Menschheit selbst. Deshalb habe ich beschlossen, dem Phänomen ihres Entstehens und ihrer Existenz auf den Grund zu gehen. Ich werde versuchen, ihr Wesen anhand der Ursprungstraditionen menschlicher Geistesgeschichte sowie anhand von Begriffen wie Sprache, Semiotik, Modernität oder Begierde zu enträtseln. Zu diesem Zweck werde ich regelmäßig auf einen zuvor formulierten Gedankengang oder Begriff zurückkommen, um ihn sodann zu vertiefen, zu erweitern oder sogar zu verändern. Das vorliegende Werk bietet eine gewisse Anzahl von Dualismen, die ich in jedem der fünf Teile wieder aufgreifen und je nach Thema abwandeln werde. Im Grunde lässt sich der Aufbau dieses Buches mit dem einer Symphonie vergleichen, in der die Themen – in ständig abgewandelter und weitergesponnener Form – von einem Satz zum nächsten wandern. 24


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Inhalt

Ich werde mich bemühen – soweit dies ein Künstler, für den die absolute Objektivität gar nicht möglich ist, überhaupt vermag –, eine vermittelnde Position zwischen Publikum und Komponist einzunehmen, um erstens den Musikfreund daran zu erinnern, dass man Musik, genauso wie alle anderen Dinge im Leben auch, im Laufe des Lebens erlernt, dass dieser Lernvorgang in der Aneignung von immer zahlreicher, immer komplexer werdenden Zeichen besteht, dank derer sich unschätzbare akustische Glückseligkeiten offenbaren  ; und um zweitens den Komponisten daran zu erinnern, dass es seine Aufgabe ist, dem Hörer diese Zeichen auf exoterische1 Weise darzubieten und sich, freilich unter Vermeidung jeglicher Rückwärtsgewandtheit, – klar zu machen, dass die Musik ein Emotionsträger ist, dass sie Körper und Geist gleichermaßen erreichen soll. Wenn der Entfremdung zwischen Publikum und Komponist endlich Einhalt geboten werden könnte, so gäbe es keine nutzlosen Klassifizierungen mehr, gäbe es nicht mehr die »klassische Musik« und die »zeitgenössische Musik«. Wir kehrten endlich, alle zusammen, zurück in die Welt der Musik.

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E R S T E R S AT Z : Was i st M u s i k  ?


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1. Funktionen und Finalität von Musik

»Mensch  ! Fürchte nichts  ! Die Natur kennt das große Geheimnis – und lächelt.« Victor Hugo, Strahlen und Schatten

Seiner Forschungsarbeit über die Möglichkeit einer Zusammenführung von Quantenmechanik und allgemeiner Relativitätstheorie stellt der Physiker Stephen Hawking eine verblüffende Frage voran, die eher durch ihren poetischen als durch ihren philosophischen Gehalt besticht  : »Warum macht sich das Universum die Mühe zu existieren  ?«2 In Analogie zu Hawking könnte man hinsichtlich der Suche nach dem Sinn und Zweck von Musik die Frage aufwerfen  : »Warum hat sich der Mensch die Mühe gemacht, die Musik zu erfinden  ?«, die man wiederum dem Komponisten in abgewandelter Form stellen könnte  : »Was ist es, das Sie in der Musik der Transzendenz zuführt, das Sie antreibt  ?« Freilich muss zwischen dieser als Finalität bezeichneten Eigenschaft der Musik und den ihr zugewiesenen Funktionen sorgfältig unterschieden werden. Zunächst jedoch möchte ich daran erinnern, dass die Musik naturgegeben ist. Damit meine ich, dass sie dem Menschen ein natürliches, angeborenes Bedürfnis ist und dass, selbst wenn der Nachbar von gegenüber behauptet, seine Katze höre gerne Mozart, die Musik sowohl von ihrer Essenz als auch von ihren Mitteln her per Definition die Darstellung – des menschlichen Gestus und des menschlichen Dramas anhand von Tönen ist. Die Musik wurde dem Menschen von der Natur mitgegeben. Mit anderen Worten  : der Mensch hat sie »erfunden« und entwickelt, so wie er sein Bewusstsein und seine kognitiven Fähigkeiten »erfunden« und entwickelt hat – aus der Notwendigkeit heraus, die eigene Kraft zur Entelechie anzunehmen, um dieses schöne, in Vergessenheit geratene Wort zu verwenden, das die Eigenschaft bezeichnet, sein Ziel in sich selbst zu tragen. Im gleichen Maß wie Mensch und Natur aufs engste miteinander verbunden sind und der Mensch aus der Natur entstanden ist, gehören auch Musik und Mensch wesenhaft zusammen. Musik tritt überall dort in Erscheinung, wo sich menschliche Gemeinschaften gebildet haben – so sicher und so natürlich, wie das Blatt im Frühling aus der Knospe hervorbricht. 29


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Erster Satz: Was ist Musik?

Es ist durchaus vorstellbar, dass die ersten differenzierten, vom Menschen erzeugten Töne nicht nur aus einer experimentierfreudigen Neugierde heraus entstanden sind, sondern auch aus einer gewissen Ergriffenheit – und in der Folge wohl auch Freude – darüber, das eigene Innere vibrieren zu spüren sowie aus den verschiedenen »Freudenzuständen« heraus, die durch die jeweilige Tonmodulation hervorgerufen wurden. Zählen Freude und Ergriffenheit, wie wir später sehen werden, zu den Instrumenten der menschlichen Homöostase, sprich, des menschlichen »Wohl-Seins«, dessen Einfluss auf die lebenswichtigen Funktionen heute hinlänglich bekannt sein dürfte, so kann man durchaus die Hypothese wagen, der Wunsch nach Erzeugung eines modulierten Klangs sei eine unmittelbare Folge des menschlichen Selbsterhaltungstriebs. Die Entwicklung der Menschheit ist einzig und allein dem Erneuerungsgeist und der Kühnheit einiger weniger zu verdanken, die sich stets gegen die große Masse durchzusetzen vermochten. Da aber bekanntlich die Fähigkeit, neu erworbene Kunstfertigkeiten an andere Menschen weiterzugeben genauso selten anzutreffen ist wie das sagenumwobene Einhorn, dürften die ersten »professionellen Musiker« nicht gerade zahlreich gewesen sein. Auch kann man davon ausgehen, dass, wenn unsere Urahnen die ersten differenzierten Töne bloß als leichte Abwandlung der ihren »Wortschatz« ausmachenden Brüll- und Grunzgeräusche empfunden hätten, diese den Rahmen der praktischen Alltagskommunikation niemals verlassen hätten. Zudem scheint es, dass »Gesang« und Sprache, je nach ihrer ethno-linguistischen Zugehörigkeit und in jeweils unterschiedlichen Proportionen, stark miteinander verflochten waren, wie die besonders ausgeprägte Musikalität gewisser Sprachen im Vergleich zu anderen beweist. Nehmen wir beispielsweise die französische Sprache, die im hinteren Rachenraum gesprochen wird  : Sie ist viel weniger »musikalisch« als etwa das Italienische oder Georgische, die beide über eine Vielzahl von Lauten verfügen, die wir zum Teil gar nicht wahrnehmen. Ebenso ist auch die zeitliche bzw. rhythmische Gliederung nicht bei allen Sprachen gleich  : Es gibt solche, bei denen etwa – im Gegensatz zur relativen Gleichförmigkeit des Französischen – bestimmte Silben besonders stark hervorgehoben werden oder ein einziger Satz unterschiedliche Sprechgeschwindigkeiten aufweisen kann. Das Italienische, um noch einmal das Beispiel zu bemühen, wird mit ständigem rubato gesprochen. Die Silben werden durch die Betonungen beschleunigt, so dass der Satzfluss an manchen Stellen wie »angehalten« erscheint. Werfen diese rhythmischen und melodischen Unterschiede einerseits ein Licht auf die »musikalische« Ausgeprägtheit einer Sprache, so vermögen sie andererseits Auskunft darüber zu geben, welchen Stellenwert die Musik in der Kultur des jeweiligen Landes einnimmt. Die Tatsache, dass die 30


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Funktionen und Finalität von Musik

französische Sprache weder besonders modulationsreich ist noch über einen ausgeprägten Rhythmus verfügt, mag eine Erklärung dafür sein, dass der Franzose der Tonkunst generell weniger zugeneigt ist als beispielsweise der Literatur. Aus den ältesten überlieferten Tondokumenten können wir schließen, dass der Übergang zwischen Sprache und »Gesang« in früheren Zeiten fließend war  ; außerdem ist anzunehmen, dass das Phänomen umso ausgeprägter war, je weiter man das Rad der Geschichte zurückdreht, dass »Musik« und Sprache so miteinander verschmolzen waren, dass sie praktisch nicht voneinander zu unterscheiden waren. Fest steht jedoch, dass es einen Zeitpunkt gegeben haben muss, an dem der differenzierte, gesungene Ton plötzlich – wie es scheint – dazu diente, etwas Anderes, Bedeutungsvolleres zu übermitteln. War dieses »Andere« vielleicht der Auslöser für die Entstehung der ersten gesungenen Melodie  ? Hatte das »Andere« auf einmal so viel Raum im Seelenleben unserer Urahnen eingenommen, dass es schließlich hervorbrechen musste, wie das Verbum der Schöpfungsgeschichte  ? Dieses unsagbare »Andere« ist es, das ich als »Finalität« bezeichnen möchte. Es verkörpert in Übereinstimmung mit dem althergebrachten Prinzip Ursache und Ziel in einem. Durch das »Andere« wurde die Musik geboren, durch das »Andere« entwickelte sie sich weiter und breitete sich aus. Und es ist dieses »Andere«, das den Komponisten motiviert und lenkt, egal ob dieser sich durch etwas Höheres bestimmt fühlt oder nicht. Ich möchte sogar behaupten, dass es sich dabei um den tiefsten menschlichsten Impuls des kompositorischen Akts handelt, um die Kraft, die die menschliche Geste und das menschliche Drama am authentischsten zum Ausdruck zu bringen vermag. Finalität auf der einen, Funktionalität auf der anderen Seite. Während sich erstere in vier Hauptkategorien unterteilen lässt, sind die Aspekte der letzteren so mannigfaltig, dass wir uns an dieser Stelle auf einige wenige Beispiele beschränken werden. Die Finalität der Musik 1. Durch Töne eine Beziehung zur eigenen Natur aufbauen (Den Klang durch den eigenen Körper erfahren). 2. Eine Beziehung zur Natur aufbauen (Erfahrung des Klangs im Raum, aber auch mittels natürlicher Instrumente). 31


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Erster Satz: Was ist Musik?

3. Eine Beziehung zum Anderen aufbauen (zwischen Musizierendem und Hörer, zwischen zwei oder mehreren Musizierenden). 4. Eine transzendente Erfahrung herbeiführen (mystische Kommunikationserfahrung mit dem göttlichen Prinzip). Die Funktionalität der Musik Kultische Funktion Militärische Funktion Erzieherische Funktion Unterhaltende Funktion Therapeutische Funktion Hintergrundgestaltende Funktion Anhand dieses einfachen Schemas offenbart sich ein wesentliches Merkmal der Finalität  : Sie schafft einen Raum, ein Territorium, welches sich durch die auf vier verschiedenen Erfahrungsebenen hergestellten Beziehungen definiert. Was die Funktionalität der Musik betrifft, so besteht ihre hauptsächliche Eigenschaft darin, dass sie die – im Hinblick auf die Kunst – eigentlich abwegige Frage beantwortet  : »Wozu dient Musik  ?«, deren Absurdität nur noch durch eine zweite, sich aus der ersten ergebende Frage übertroffen wird  : »Wozu dient diese Musik  ?«  : zum Marschieren, zur Entspannung, zur Gestaltung von Geräuschkulissen … Versucht sie jedoch, der Finalität zu »dienen«, so wird sie, vom praktischen, funktionellen Standpunkt aus gesehen, absolut nutzlos. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Anfänge der Musik auf vereinzelte, im Alleingang durchgeführte Experimente zurückzuführen sind. Deshalb können wir vernünftigerweise davon ausgehen, dass es sich dabei zunächst nicht um einen zweckgebundenen Vorgang handelte, sondern um die Entdeckung einer engen Beziehung zwischen der inneren Natur des Menschen und der äußeren, ihn umgebenden Natur. Als dann später der Prozess der metaphysisch oder ontologisch geprägten Herausbildung der Musik einmal in Gang gesetzt war, sollte es auch nicht mehr lange dauern, bis die ersten Schlauköpfe den Nutzen entdeckten, der sich aus ihrer im wahrsten Sinne des Wortes bezaubernden Wirkung ziehen ließ  : Bereits im sechsten vorchristlichen Jahrhundert schrieb man der Musik magische und heilsame Kräfte zu. Von der Magie bis zur Religion war es dann nicht mehr 32


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Funktionen und Finalität von Musik

weit, und so entstand jene Musik, die religiösen Zwecken zu dienen hatte, dicht gefolgt – wie nicht anders zu erwarten – von derjenigen, die zu kriegerischen Handlungen antreiben sollte. Ich sage bewusst religiösen Zwecken dienende Musik, und nicht religiöse Musik, denn diese Nuance ist von einiger Bedeutung. An dieser Stelle empfiehlt sich jedoch zunächst ein kurzer Exkurs zu den drei philosophischen Größen, die unser westliches Denken am stärksten geprägt haben, Pythagoras, Platon und Aristoteles. Ihre Auffassungen über die Rolle der Musik waren grundverschieden. Doch lassen wir Platon selbst zu Wort kommen  : »So ist also […] die Erziehung durch Musik darum die vorzüglichste, weil Rhythmus und Harmonie machtvoll in das Innerste der Seele dringen und am stärksten sie erfassen und Anstand bringen und anständig machen, wenn jemand darin richtig erzogen wird  ; hingegen wird die Seele hässlich, sobald das Gegenteil der Fall ist. Und weil hinwiederum der, welcher hierin erzogen ist, wie es sein soll, das Übersehene und von der Kunst oder der Natur nicht schön Ausgeführte am schärfsten wahrnimmt und mit gerechtem Widerwillen vor diesem das Schöne lobt und mit Freuden es in seine Seele aufnimmt und daran sich nährt und schön und gut wird, dagegen das Hässliche mit Recht tadelt und hasst schon, wenn er jung ist, ehe er noch Vernunft zu fassen imstande ist, wenn aber diese kommt, sie willkommen heißt, indem er sie wegen seiner Verwandtschaft mit ihr am ehesten erkennt«. »Aus diesem Grund muss darauf geachtet werden, welche Art von Musik im Staat geduldet wird. Schlechte Musik dringt allmählich in die Seele ein und verändert, ohne dass man sich dessen zunächst gewahr wird, ihre Orientierung. Und was ist schlechte Musik  ? Diejenige, durch die der Charakter gewalttätig wird, oder sehnsuchtsvoll und traurig, oder lasziv.«3

Platons Plädoyer für die Verwendung von Musik zu erzieherischen Zwecken ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert  : Zunächst ist er der Ansicht, die Musik bereite beim jungen Menschen den Boden für die Heranbildung der Vernunft  ; Platon spricht also der Musik »geometrische« Tugenden zu, wirke doch die Ordnung der Töne – mittels Rhythmus und Harmonie – positiv auf die Seele des Kindes ein, wobei diese wiederum das Urteilsvermögen und, in der Folge, die Vernunft beeinflusse. Allerdings gebe es, so Platon, ebenso Musikstile, die einen schädlichen Einfluss auf die Menschenseele ausüben. In unserer heutigen, ganz auf Konsens ausgerichteten Zeit mag eine solche Aussage schrecklich politically incorrect klingen, aber der Gedanke, dass ein bestimmter Musikstil eine – nicht zu leugnende – therapeutische Wirkung zu erzielen und unsere Psyche in eine be33


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Erster Satz: Was ist Musik?

stimmte Richtung zu lenken vermag, macht die Möglichkeit einer gegenteiligen, schädlichen Wirkung absolut plausibel. Die nihilistischen Botschaften, die heute in manchen Konzerten verkündet werden oder die Verherrlichung von Tod und Hass durch gewisse Pop-Künstler illustrieren die Überzeugung des griechischen Philosophen aufs Trefflichste, indem sie beweisen, wie sich die »obskure Seite« der Musik entfalten kann. Es wäre weit gefehlt zu behaupten, Platons berühmtester Schüler, Aristoteles, habe die Ansicht seines Lehrers geteilt. Urteilen wir selbst  : »Deshalb haben unsere Väter die Musik in die Erziehung integriert. Nicht, dass sie einer Notdurft oder der Alltagsbewältigung dienen würde  ; nicht, dass sie ebenso viel Bedeutung besäße wie die Schrift, welche dem Geldgeschäft dient, der Haushaltung, den Wissenschaften und den meisten Staatsgeschäften  ; oder wie die Malerei, welche uns in die Lage versetzt, das Werk der Künstler besser zu beurteilen  ; oder wie die Körperertüchtigung, welche nützlich ist für Gesundheit und Körperkräfte  ; die Musik bietet nichts von alledem. Aber wenigstens dient sie dem angenehmen Zeitvertreib.«4

Selbst wenn Aristoteles an anderer Stelle durchaus von der heilenden, harmonisierenden Kraft der Musik überzeugt ist, so spricht er ihr doch interessanterweise jegliche Notwendigkeit und folglich jegliche Finalität ab. Er lässt sie lediglich als edles »Mußen« gelten, als mehr nicht. Aber ein angenehmer Zeitvertreib – ist das nicht die Funktion, auf die auch unsere Epoche die Tonkunst reduzieren möchte  ? Und der dritte im Bunde, Pythagoras, auf den wir später noch näher eingehen werden, versucht in seinem Streben nach Transzendenz die Verbindung zwischen Musik und Kosmos zu ergründen. Was für den eigentlichen Erfinder des Begriffs »Kosmos«, wie übrigens auch des Begriffs »Philosoph«, nur allzu natürlich erscheinen mag. Andere wiederum, wie etwa die Dichter Sophokles, Euripides und Aischylos, betrachteten die Musik als bloßen Bestandteil einer vollständig gesungenen und von Instrumenten begleiteten Bühnenkunst, wodurch sie ihr auch nicht mehr als eine unterhaltende und untermalende Funktion zuwiesen. Allerdings sei – als kleiner Trost – ergänzend bemerkt, dass die Musik des antiken griechischen Theaters monophon und folglich in ihrer Ausdruckskraft äußerst limitiert war. Später, im Mittelalter, das im Übrigen gar nicht so finster war wie gemeinhin angenommen und weit weniger narzisstisch als die Renaissance, erfolgte die Weitergabe des Lehrwissens durch die septem artes liberales, die sieben freien Künste. Diese gliederten sich in das Trivium, zusammengesetzt aus den Fächern der 34


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Funktionen und Finalität von Musik

Sprache – Grammatik, Rhetorik, Dialektik – und das Quadrivium, bestehend aus den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Unter diesen kam der Musik, neben Astronomie, Geometrie und Arithmetik, eine zentrale Rolle beim Erwerb von Kenntnis zu. Ein Musikstil zum Zweck der Erbauung existierte übrigens bereits in Form des Minnegesangs sowie der Musik der Troubadoure, die freilich klar abgegrenzt waren von den musikalischen Praktiken der Klöster. Unsere moderne Welt hat von dem Konzept, die Musik als erzieherisches Mittel heranzuziehen, Abstand genommen. Ist doch der Gedanke, dass sie die Fähigkeit oder die Macht besitzen könne, den Charakter oder die Moral eines Menschen zu beeinflussen, und dass eine Musik mit tugendfördernder Wirkung erlaubt und solche, die zu Untaten anstachele, verbannt werden müsse, mit unserer heutigen Art zu denken und zu funktionieren nicht mehr in Einklang zu bringen. An ihre Stelle ist – durch geschicktes Umdeuten der ehemals pädagogischen Fähigkeiten – die Musik mit »therapeutischer« Wirkung gerückt, oder anders ausgedrückt  : die Musiktherapie. Und diese ist, sowohl von ihrer Zielsetzung als auch von ihren Methoden her, den Ideen Platons gar nicht so unähnlich. Die verwerflichste Abwandlung funktionaler oder funktionalisierter Musik ist freilich jene, die den Bestrebungen des alles beherrschenden Konsumgeists entspringt, nämlich die musikalische Hintergrundberieselung. Sie wird nicht bewusst wahrgenommen und ist dazu bestimmt, unser Kaufverhalten im Supermarkt positiv zu beeinflussen, uns im letzten Untergeschoss der Tiefgarage ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln oder uns das Warten in einer Bahnhofshalle zu versüßen. Und was die musikalische Beschallung in den heutigen Diskotheken betrifft, die ebenso manipulatorisch und »richtungsbestimmend« ist wie die Musik, die zu militärischen Zwecken verwendet wird, so ist sie oftmals reduziert auf ein bloßes rhythmisches Pulsieren, das die Melodien und Lyrics zur reinen Nebensache verkommen lässt. Eine künstlerische Intention ist nicht mehr auszumachen. Gerade ist das Wort »Kunst« gefallen und es ist an der Zeit, die Frage zu stellen, was genau dieser Begriff eigentlich bedeutet. Jahrhundertelang begnügen sich die Menschen damit, Kirchen zu bauen, bis eines Tages auf einmal überall gleichzeitig Kathedralen aus dem Boden zu schießen beginnen. Die Menschen haben plötzlich das Verlangen, mehr als nur Ornamente auf ihren Kirchenportalen anzubringen oder ihre Schriften zu verzieren, und siehe da, es entsteht die große Malerei, die sich von Flandern aus über ganz Europa ausbreitet. Und eines Tages ist das Bewusstsein für eine höhere Ebene da, für neue Möglichkeiten, neue Notwendigkeiten. Im gleichen Maß, wie der Mensch sich über sein eigenes Mensch35


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Erster Satz: Was ist Musik?

sein immer stärker bewusst wird, verkörpert die Kunst das Bewusstsein dieses neuen Zustands sowie die Vorgehensweise, die menschliche Geste darzustellen und wahrzunehmen. Ob die malerische oder die musikalische, die dichterische oder die choreografische Geste – sie alle sind Darstellungen des menschlichen Dramas. Kunst bedeutet aber auch die Fähigkeit, das Wesen des Subjekts im Objekt zu sublimieren und so dem Subjekt mithilfe des Objekts zur Ewigkeit zu verhelfen. Und zwar nicht nur dem Dargestellten selbst, sondern auch dem, der das Werk geschaffen hat sowie allen, die es rezipieren. Auf diese Weise gewährleistet der Künstler das Überleben sowohl seines Werks als auch dasjenige des dargestellten Subjekts und seiner selbst. Ohne es zu wissen, hat der Mensch angefangen, Kunst zu machen. So wie Molières Monsieur Jourdain jahrelang Prosa sprach, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er bediente sich einfach jener unerschöpflichen fabrique – um den von Gilles Deleuze geprägten Begriff für das Unbewusste zu verwenden –, bis zu jenem Moment, in dem die künstlerische Geste aus eben diesem Unbewussten hervorbrach, um sich ihrer selbst bewusst zu werden und einen Namen anzunehmen, während sie sich gleichzeitig daran machte, gestalterische Mittel und Techniken zu entwickeln. Die Musik als Kunst, die sich selbst als solche definiert, die losgelöst ist von jeder Funktion, befreit von jeglicher Rechenschaftspflicht dem Auftraggeber gegenüber. Oder anders ausgedrückt  : Das Konzept des Künstlers, der vollkommen frei und nur sich selbst gegenüber verantwortlich ist, frei, etwas anderes auszudrücken als die reine Evidenz des Wahrgenommenen, kam erst mit Beginn der Frühen Neuzeit, oder Frühmoderne auf, das heißt ungefähr mit Guillaume de Machaut und der Ars nova. Von diesem Zeitpunkt an erfuhr der Begriff der »Moderne« eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Aktualisierung. Fassen wir also zusammen  : Die Musik wurde aus einem tiefen menschlichen Bedürfnis heraus geboren, bei dem es sich im Keim bereits um die Finalität, die Transzendenz, die Gewissheit handelte, dass sie imstande sei, dem Menschen ein mächtiges und wunderbares Geheimnis anzuvertrauen. Diese Eigenschaft sollte freilich schon bald durch das Phänomen der Funktionalität ergänzt werden, als sich nämlich anhand des musikalischen Geschehens herausstellte, dass die Musik – wie alle anderen Künste auch – die Macht eines Zeichens besaß. Von diesem Moment an und für lange Zeit drängte das Zeichen die Finalität in den Hintergrund. Der Musiker wurde zum bloßen Instrument der Funktion. Eine Beobachtung, die Roland Barthes sehr treffend so formuliert hat  : »Die Funktion macht sich den Sinn zu eigen  : Sobald es Gesellschaft gibt, wird jeder Brauch in ein Zeichen dieses Brauchs umgewandelt.«5 36


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Funktionen und Finalität von Musik

Anders ausgedrückt  : Im Moment ihres Entstehens strebt die Musik zunächst nach einem erhabenen Ziel  ; aber weil es Gesellschaft gibt, wird dieser Reichtum vereinnahmt, verfälscht, zweckentfremdet, gebraucht, funktionalisiert. Musik wird zum Zeichen einer Sache, die nicht mehr transzendent ist, sondern praktisch, militärisch, rituell … Viele Jahrhunderte später, mit dem Auftreten der eigentlichen Figur des Künstlers, kommt es dann wieder zu einer Versöhnung zwischen Musik und Finalität. Der Künstler befreit sich nicht selbst, er befreit das Vehikel, durch das er sich ausdrückt. Allerdings sollten wir, nachdem der Unterschied zwischen Funktionalität und Finalität der Musik – hoffentlich – zur Genüge dargelegt worden ist, daran erinnern, dass letztere, je nachdem aus welcher Perspektive sie betrachtet wird, einen anderen Sinngehalt hat  : Für den Komponisten wird die Frage nach der Finalität seines Werks nicht dieselbe sein wie für den Interpreten oder den Rezipienten. Es sind nicht dieselben Motive, die einen dazu antreiben, ein Musikwerk zu komponieren, ein Instrument zu spielen oder in ein Konzert zu gehen. Aber das, was wir aus der musikalischen Erfahrung schöpfen, das, was wir Finalität genannt haben, bleibt einzigartig. Und darin zeigt sich, dass Musik eine Sprache ist. Vermutlich ist der Antagonismus zwischen dieser Einzigartigkeit und der Vielfältigkeit der Motive die Ursache für das anhaltende Missverständnis zwischen musikliebendem Publikum und moderner Musik. Fragen wir uns deshalb zunächst, welcher Natur die verschiedenen Motive überhaupt sein können und welche Kategorien von Hörern und Komponisten es gibt. (Die Interpreten ihrerseits bilden keine eigene Kategorie, da sie beiden Gruppen zuzuordnen sind.) Die verschiedenen Hörertypen 1. Der »Musikbanause«. Es gibt keine Musik, die er bewusst als solche wahrnimmt. Für ihn stellt sie lediglich einen nicht näher definierten Bestandteil der allgemeinen Geräuschkulisse dar. Er ist keiner bestimmten gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen. War es nicht Théophile Gautier, der ganz richtig erkannte, dass »die Musik das liebste, aber auch das unangenehmste aller Geräusche ist«  ? 2. Der »Passivhörer«. Er hört alles wild durcheinander, Hauptsache, es passt zur gerade herrschenden Stimmung und Laune. Für ihn entspringt die Lust auf das Hören von Musik dem gleichen Bedürfnis wie das Auf- oder Zudrehen des Heizkörpers in einem Raum. Er ist der fleischlich-emotionale Typus. 37


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Erster Satz: Was ist Musik?

3. Der »Aktivhörer«. Für ihn steht das Herz an vorderster Stelle, das Emotionale. Er tendiert auf ganz natürliche Weise eher zur klassischen Musik, zum traditionellen Jazz, zu der Musik, die ihm ein gesteigertes Hörvergnügen bereitet. Er ist dem gefühlsbetonten Typus zuzurechnen. 4. Der Aktivhörer, der dem Intellekt die höchste Priorität einräumt. Er hört Musik, um seine analytischen und konzeptuellen Fähigkeiten zu schulen, er sucht das zerebrale Abenteuer. Er ist Militant und legt oftmals einen undifferenzierten Eifer an den Tag. Er gehört zum kognitiven Typus. 5. Der Hörer, der seine »beiden Gehirnhälften« aktiviert hat. Für ihn ist das aktive und analytische Hören eines Musikstückes ein reiner Genuss und weckt echte Emotionen. Er klatscht nicht gleich bei jedem Werk, nur weil es modern ist, und Werke, die von Dilettantismus und Gefallsucht zeugen, finden keine Gnade vor seinem Ohr. In eine Spaß- und Konsumgesellschaft hineingeboren, geht er dennoch ins Konzert, so wie er auch ins Restaurant geht, um zu staunen und zu lernen, und um seinem Hedonismus zu frönen. Er gehört zum Typus RARE SPEZIES … Die verschiedenen Komponistentypen 1. Der Komponist, der dem Anderen gegenüber taub ist. Für ihn ist der schöpferische Akt Selbstzweck, jegliche Betrachtung die Aus- bzw. Aufführung betreffend wird außer Acht gelassen. Er hat keine andere Rechtfertigung und Bestimmung für sein Werk als das Werk selbst. Aus dieser Herangehensweise können alle möglichen Erzeugnisse resultieren, vom dilettantischsten bis hin zum elaboriertesten. Was jedoch nicht automatisch bedeutet, dass das Werk zum Scheitern verurteilt ist, sondern einfach, dass es nicht in erster Linie konzipiert wurde, um zu »funktionieren«. 2. Der Komponist, der vom Anderen besessen ist. Großzügig und nicht berechnend legt er nur Wert darauf, es dem Anderen recht zu machen, Freude zu bereiten. Er vermag seine, musikalische Sprache an jede Situation anzupassen. Was ihn jedoch sympathisch macht, ist sein fehlender persönlicher Ehrgeiz. Er vergleicht seine eigene Nützlichkeit mit der von Schokolade. 3. Der Komponist, der von sich selbst besessen ist. Sein Werk ist das Abbild seiner selbst, sein Banner, die Waffe seiner gesellschaftlichen Anerkennung und persönlichen Erfüllung. Er kultiviert den Opportunismus, den Weg des geringsten Widerstandes, alles, was ihm zum Erfolg verhelfen wird. Er ist berechnend und schleimig. 38


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Funktionen und Finalität von Musik

4. Der Komponist als Pädagoge. Er betrachtet sein Werk als Mission, als einen humanistischen Akt, selbst wenn er daneben noch andere Beweggründe haben mag. Sein Verhältnis zum Anderen ist großzügig und intensiv. Er ringt ständig um Aufmerksamkeit. Er stellt die musikalische Sprache – im wahrsten Sinn des Wortes – auf den Kopf, solange er damit erreicht, dass der Hörer ebenfalls auf den Kopf gestellt wird, im übertragenen Sinn. Da er sich der Grenzen bewusst ist, die man bei der Reform einer Kunst überschreiten kann, wird er die Notwendigkeit, die musikalische Sprache ständig weiterzuentwickeln, mit Herz und Verstand verteidigen, vorausgesetzt natürlich, der Rezipient spricht auf seine Bestrebungen an, – schließlich ist die Kunst ja nichts anderes als ein Kommunikationsmodus. Der Komponist-Pädagoge macht auf natürliche Art Schule, selbst wenn es manchmal gegen seinen Willen geschieht. 5. Das Genie. Zu diesem Typus gibt es nicht viel zu sagen. Der geniebegabte Komponist ist offenkundig, strahlend und universell. Wie wir gesehen haben, zeichnen sich die oben beschriebenen Hörertypen durch die Beziehung aus, die sie zu ihrer Umgebung herstellen, während der Komponist, gleich welcher Kategorie er zugeordnet wird, eine Verbindung zwischen sich und dem Anderen aufbaut. Die Frage, die ich eingangs aufgeworfen habe – nämlich welche Musik für welches Publikum bestimmt sei –, kann ganz einfach und schematisch anhand eines gekreuzten Bündels von Beziehungslinien zwischen den oben genannten Klassifizierungen dargestellt werden. Klassifizierungen, die zugegebenermaßen subjektiv und unvollständig sind, die aber dennoch als »allgemein konstatierte« Modelle gelten dürfen und die, wenn man sie miteinander in Beziehung setzt, ein bestimmtes Anziehungs- respektive Abstoßungsniveau widerspiegeln. Die offenkundige Kommunikationskrise in der zeitgenössischen Musik ist in zweifacher Hinsicht innerhalb dieses Schemas zu verorten. Einerseits wird die Betonung auf die Form der musikalischen Botschaft gelegt, d. h. man legt einen bis zum Äußersten getriebenen Strukturalismus an den Tag, um das musikalische Objekt auf dem Weg der Analyse abzuleiten und so zur »konzeptuellen« Musik zu gelangen, anstatt es mittels der Synthese zu induzieren, was früher ganz einfach »Inspiration« genannt wurde  ; darüber hinaus werden sämtliche musikalischen Codes und Konventionen über Bord geworfen, womit der »moderne« Komponist – bestenfalls – auf Kategorie 1 oder 4 beschränkt bleibt. Andererseits sorgen ein gewisser Hang zur Anspruchslosigkeit und das überreiche Angebot an »leichter« Musik dafür, dass die allgemeine Hörträgheit zunimmt. Folglich stehen immer weniger Alternativen zur Wahl und die Hörer, die den Kategorien 2 und 3 zuzurechnen sind, werden immer zahlreicher. 39


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Erster Satz: Was ist Musik?

Hier mag sogleich der Einwand erhoben werden, dass Hedonismus schon immer die Antriebsfeder musikalischen Hörgenusses gewesen sei und dass vielmehr der Wunsch des Künstlers nach dem »idealen« und hochbegabten Hörertypus als Beweis für dessen naiven Idealismus gelten müsse. Meine Antwort darauf lautet, dass es seit jeher eines Mindestmaßes an intellektueller Anstrengung bedurft hat, um sich mit ernster, elaborierter Musik auseinanderzusetzen, um sie zu verstehen, zu spüren, zu erleben und zu genießen. Dass heute – nicht weniger als gestern – ein minimaler intellektueller Aufwand notwendig ist, um sich Wagners Ring anzunähern. Was sich jedoch seit den Umwälzungen der Avantgarde verändert hat, ist die Tatsache, dass die große Mehrheit der Musikliebhaber, die sich mit ernster Musik befassen und demnach genau wissen, welche Anstrengungen nötig sind, um diese neue musikalische Sprache zu schätzen, en masse darauf verzichtet hat, sich der Mühe eines vielgestaltigen, ausdauernden und zuversichtlichen Hörens zu unterziehen. Und dies immer aus demselben Grund  : Sie merken nicht, dass das, was sie heute hören, die Kontinuität dessen ist, was sie gestern gehört haben. Sie erkennen diese Musik nicht, sie haben die Anhaltspunkte verloren, sie finden sich zwischen all den neuen Zeichen nicht mehr zurecht. Sogar die glänzendsten Fürsprecher zeitgenössischer Musik sind ihrer Standardempfehlung, man müsse allem Neuen nur genügend Zeit lassen, bis es sich seinen Platz im Alltäglichen erobert habe, überdrüssig geworden. Mit dem Argument, dass Beethoven oder Strawinsky anfangs auch nicht verstanden worden seien, verlangten sie von uns zehn oder zwanzig Jahre Geduld. Doch dieser Diskurs ist heute über ein halbes Jahrhundert alt, und die zeitgenössische Musik hat es immer noch genauso schwer, sich durchzusetzen. So stehen wir also am Eingang eines Labyrinths und müssen uns nur dazu durchringen, einzutreten und die Suche zu beginnen. Die Suche nach dem Sinn der Begriffe Musik, musikalische Sprache, Zeichen, Code, Genuss, Inspiration, Stil, Modernität … Zu diesem Zweck dürfen wir, wie es sich für ein Labyrinth gehört, die Begegnung mit seltsamen, nach Archaismus riechenden Dingen nicht scheuen, denn auf der Reise zu den Ursprüngen der Musik führt kein Weg an den menschlichen Archetypen vorbei. 40


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2. Die Alchemie und das Numinose oder Elemente und Prinzipien der Musik

»Das Hauptanliegen meiner Arbeit liegt nicht in der Behandlung von Neurosen, sondern in der Annäherung an das Numinose … Das ist die eigentliche Therapie.« Carl Gustav Jung

Der allgemeine Sprachgebrauch bringt es mit sich, dass wir ständig von neuen Wortschöpfungen überflutet werden, die umso schneller Eingang in unsere Alltagssprache und Wörterbücher finden, wenn ihre Herkunft eine einfache ist. Seltener sind freilich die Wörter, die von eifrigen Denkern ausgeklügelt wurden, um die Lexika mit den Begriffen anzufüllen, deren Fehlen uns von einer Annäherung an die Ewigkeit abhält. Wie zum Beispiel dem »Numinosen«. Der Begriff des Numinosen wurde durch den deutschen Religionswissenschaftler Rudolf Otto6 geprägt und in der Folge vor allem von C. G. Jung in der Tiefenpsychologie verwendet. »Numinos« bezeichnet alles, was unserem Geist erlaubt, durch einen unserer Sinne – im Allgemeinen Auge oder Ohr – das Unvorstellbare unseres Menschseins angesichts des Universums, angesichts seiner Unendlichkeit und Ewigkeit zu erfassen7. Mit anderen Worten ist das Numinose die »Erfahrung des Großen«. Dabei handelt es sich mitnichten um Erkenntnis, sondern vielmehr um eine Kraft, die Erkenntnisgewinn herbeizuführen vermag. Das Numinose zeigt demjenigen unter uns, der sich für groß halten mag, seine wahre Dimension. Es weist dem Suchenden barmherzig die Richtung, den einzuschlagenden Weg. Vor allem, und hierin liegt wohl seine wertvollste Eigenschaft, bringt es den Schwall von Emotionen und parasitären Gedanken in uns zum Schweigen, um die Verbindung zu unserem wesentlichen Sein herzustellen. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, denn wir sind alle dem Numinosen schon einmal begegnet. Das erste Mal wahrscheinlich, ausgestreckt auf einer Wiese liegend, weit weg vom Licht und Lärm der Stadt, beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels  ; oder auf einem Felsen am Meer hockend, das ewige Spiel der Wellen beobachtend. Und natürlich und vor allem beim Betrachten von Werken, die von menschlicher Hand geschaffen wurden in der Absicht, das 41


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Erster Satz: Was ist Musik?

Numinose heraufzubeschwören. Dabei denke ich etwa an die steinerne Pracht der Pyramiden und gewisser Kathedralen. Sowie an die Musik, bei der sich das Große, das Absolute, das Heilige in Gestalt von Emotionen und körperlichen Empfindungen offenbart. Die Musik besitzt also die einzigartige Kraft, uns gänzlich mit dem Numinosen zu verbinden, – uns mehr sein zu lassen als einen bloßen Betrachter von außen. Es ist wahrscheinlich, dass wir in dem Moment zu »Menschen« geworden sind und uns »auf den Weg gemacht« haben, als wir zum ersten Mal dem Numinosen begegneten und durch dieses Erlebnis zu der Überzeugung gelangten, dass es etwas geben müsse, das höher ist als wir selbst. Etwas, das unser Selbstbild beherrschte  ; etwas, das uns dazu angeregt hat, Höheres erreichen zu wollen, über uns selbst hinauszuwachsen. Umgekehrt könnte man sich das adamische, sprich das vormenschliche Zeitalter oder, allgemeiner gesprochen, das tierische Bewusstsein als vollkommen übereinstimmend mit dem Numinosen vorstellen. Wer beweist uns denn, dass der Vogel, der in seiner Baumkrone vom ewigen Widerhall seines eigenen Gesangs über den Wäldern berauscht ist, nicht sein Leben lang das Numinose erlebt – im Gegensatz zu uns Menschen, die diesen Zustand als einen intellektuellen Zustand erfahren, der immer erst »im Nachhinein« erreicht wird  ? Und wer beweist uns, dass Adams berühmter Fall nicht der Moment ist, da der Mensch, der nur an den schnöden Dingen zur Sicherung seines Überlebens sowie am Eigentum des Nachbarn interessiert ist, begann, sich vom Numinosen abzuwenden, das Interesse daran zu verlieren  ? Wenn Sie sich in stiller Betrachtung der Milchstraße verlieren, denken Sie – angesichts des Unendlichen – an das Gute oder an das Böse  ? Und umgekehrt, wenn Ihr Geist von irgendetwas geplagt wird, wenn Sie die Frage nach dem Guten oder dem Bösen quält, hat dann Ihr Bewusstsein Verbindung mit dem Großen aufgenommen  ? Und ist nicht der Fall Adams die Erkenntnis des Guten und des Bösen  ? Das Übel, mögen gewisse Leute sagen, ist das Vergessen … Das Vergessen der richtigen Proportion, ohne jeden Zweifel, das Vergessen der Größe. Diejenigen waren schon immer in der Minderzahl, die sich beim Anblick des Sternengewölbes gelobten, ihr Leben in den Griff zu bekommen und ihre Ziele fortan nur noch nach dieser Größe auszurichten. Dieser Größe, die uns ihrerseits niemals aus den Augen verliert … So gelangt die Finalität der Musik, die, wie weiter oben dargelegt, danach strebt, Komponist und Hörer gleichermaßen zu verherrlichen, insbesondere im Numinosen zum Ausdruck. Das Numinose ist ein symbolischer Modus, und als 42


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Die Alchemie und das Numinose oder Elemente und Prinzipien der Musik

solcher übermittelt er uns eine Botschaft, von der wir freilich nur einen Teil subjektiv zu entschlüsseln vermögen. Gleichzeitig bekommen wir jedoch eine Ahnung von der Unermesslichkeit aller möglichen Botschaften. Und genau so ist die Musik auch. Mir lag daran, den Begriff zu erläutern, weil ich ihn im Folgenden wieder verwenden werde und weil C. G. Jung in ihm ausdrücklich den Schlüssel zu seiner Arbeit sah  ; derselbe Jung, der die ehrenwerte Alchemie zu Rate zog, weil er sich der Tiefe ihrer Wurzeln im Gebäude unserer gemeinsamen Kultur und Psyche bewusst war  ; jenem Gebäude, welches er so hübsch als das »Kollektive Unbewusste« bezeichnete. Auf keinen Fall geht es hier darum, die Geschichte der Alchemie oder ihre Bestrebungen auf ein paar Zeilen zu komprimieren. Ich werde lediglich anhand einer Reihe von Tatsachen daran erinnern, dass diese doch immerhin die Vorläuferin der Chemie ist8, dass ihr Ziel nicht die Herstellung von Gold oder Zaubertränken war, um Reichtum und ewige Jugend zu erlangen, dass sogar ehrwürdige Figuren aus Wissenschaft und Philosophie sich für ihre Methoden interessierten9, Zeugen ihrer Resultate waren10 oder die tiefen Spuren ihrer Botschaft in unserer Kultur verfolgten, um sich ihrerseits auf die Suche zu begeben nach unserem wesentlichen Sein11. Das Stimulierende an der Alchemie ist die Tatsache, dass sie uns dazu zwingt, anders zu denken, unser konzeptuelles Denken zu reformieren, ein tiefes Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir selbst eng mit der Welt verbunden sind, dass aber auch jedes Element dieser Welt wiederum mit allen anderen Elementen verbunden ist. Die Schlüssel zum alchemistischen Denken sind die Analogie – nach dem Leitspruch »wie oben, so auch unten« – und die universelle Medizin  : Alles, was existiert, strebt nach Perfektion, das Erz in seiner Mine ebenso wie der Mensch. Der Alchemist ist also der Mediziner des Geistes und der Materie und vervollkommnet das eine wie das andere, um Gold zu gewinnen – den Stein der Weisen. Im Grunde sind Alchemisten Künstler, denn ihr Denken ist durch Mythos, ihr Tun durch Intuition geprägt  ; ihre »Kunst« soll eine Projektion in ihren Zielen darstellen und eine Synthese in ihren Mitteln  ; genährt durch die Welt, soll sie der Welt dienlich sein. Was jedoch den Autor dieser Zeilen in den 15 Jahren, die er sich mit dieser ehrenwerten Vorläuferin der modernen Wissenschaften befasste, immer wieder bestärkt hat, das sind die »gesunden« Fundamente, auf denen die Alchemie gründet sowie vor allem die Tatsache, dass Begriffe, die noch vor nicht allzu langer Zeit als Hirngespinste belächelt worden waren, durch neueste Forschungsergebnisse bestätigt worden sind. 43


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Erster Satz: Was ist Musik?

Die Ursprünge der Alchemie führen gleichsam auf natürliche Weise hin zur modernen Chemie, und ihre fundamentalen Begriffe tauchen in den abenteuerlichsten und modernsten Wissenschaften auf. Das gilt etwa für das »universelle Lösungsmittel«, welches die Alchemisten zu allen Zeiten herzustellen versuchten und dessen Beschreibung – seit dem Mittelalter – eine verblüffende Ähnlichkeit aufweist mit derjenigen, die heute von den Anfang der 1990er-Jahre nachgewiesenen Neutrinos gegeben wird. Zwar arbeiten die Alchemisten mit wissenschaftlicher Strenge hinsichtlich ihrer Methoden, aber sie drücken sich gleichzeitig in einer extrem poetischen, allegorischen Sprache aus, was eine Annäherung von Text und realen Geschehnissen nicht gerade erleichtert. Im Rahmen dieser Abhandlung ist die Alchemie von besonders großem Interesse, offenbart sie doch weit mehr als nur eine Analogie zur Musik. Dasselbe kann auch über ihre Ursprünge gesagt werden, denn sie geht – selbstverständlich – auf Pythagoras zurück, der ein begeisterter Anhänger der Kunst des Hermes war, dessen Arkana er sich im Laufe seiner langen Lehrjahre in Ägypten aneignen konnte und der aber auch als der Erfinder der nach ihm benannten Tonleiter in die Geschichte eingegangen ist. Auch in späteren Epochen wurde diese Tradition, diese ewige Suche nach den Prinzipien und Ursachen fortgeführt. Fassen wir zum Abschluss dieser Einführung zusammen  : Musik und Alchemie entspringen derselben Gussform, beruhen auf derselben Formatierung des Geistes und beide sind in ihrer theoretischen und praktischen Vorgehensweise eng verknüpft mit dem Verhältnis, das den Menschen an die Natur bindet. Ich werde mich im Folgenden damit begnügen, die Theorie der vier Elemente und der drei Prinzipien vorzustellen und diese dann in derselben Form anzuwenden, um die »naturierende Natur« der Musik zu vergegenwärtigen. Die vier Elemente Die Alchemie beruht, wie ich bereits sagte, auf dem Prinzip der Analogie nicht nur zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos12– also einer vertikalen Analogie –, sondern auch zwischen allem, was eine selbe Wirklichkeitsebene bildet, alles, was einer selben Skala zugehörig ist – folglich einer horizontalen Analogie. Traditionell wird diese Doppelanalogie durch ein Kreuz mit gleich langen Balken symbolisiert, ein wichtiges alchemistisches Zeichen, dem im Zusammenhang mit der Kunst des Hermes noch weitere Bedeutungen zukommen. Aus dieser doppelten Analogie lassen sich die vier Grundelemente ableiten  : Feuer, Luft, Wasser, Erde sowie die drei Prinzipien  : Sulfur, Merkur und Sal (Schwefel, Quecksilber und Salz). 44


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Die Alchemie und das Numinose oder Elemente und Prinzipien der Musik

Es sollte hier noch einmal betont werden, dass die Vier-Elemente-Lehre nicht dem Erfindungsgeist einer Handvoll fantasiebegabter Exzentriker mit konischer Mütze zu verdanken ist, sondern dass sie seit jeher, von den alten Griechen bis zu Isaac Newton, zu den Grundprinzipien von Wissenschaft und Philosophie gehörte. In der chinesischen Kultur wurde sogar das Holz noch als fünftes Grundelement dazugerechnet. Für Demokrit, den Schüler des Leukippos und Urheber der Atomlehre, oder auch Aristoteles, war dieses Vier-Elemente-Prinzip eine durchschlagende Evidenz13. Zur Erinnerung  : Die vier Elemente verkörpern spezifische Eigenschaften. So ist etwa das Feuer offenkundig in der Kerzenflamme vorhanden, aber auch in der belebenden Wärme der Bouillon oder des Badewassers. Die verschiedenen Aggregatzustände von H2O, nämlich Eis, Schnee, Wasser und Wasserdampf werden, vom alchemistischen Standpunkt aus gesehen, als simple Veränderung der Proportionen von ein und derselben Verbindung aufgefasst, wobei mit zunehmender Wärme der Substanz der Anteil des Feuers größer und derjenige der Erde kleiner wird. Mit dem »Geist des Alchemisten« begabt zu sein heißt, ein Element erkennen zu können, auch wenn es gar nicht vorhanden scheint. Die moderne Physik würde uns jetzt sagen, dass sich das Badewasser erhitzt dank der Übertragung von Energie, die zum Beispiel von einer Windturbine herrühren könnte, welche wiederum durch die Kraft des Windes in Bewegung versetzt wird. Und dass der Wind durch die Erwärmung von Luftmassen infolge von Sonnenstrahlung erzeugt wird. Indirekt wird uns also über unser Badewasser eine Energie weitergegeben, die von einem Stern herkommt, oder von noch weiter her, vom Big Bang … Nichts anderes will uns die Alchemie mitteilen, aber sie tut es auf allegorische Weise14. Das Analogieprinzip macht es möglich, diese Einteilung in vier Elemente und drei Prinzipien – auf alle großen Geistesdisziplinen zu übertragen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass diese auf einen gemeinsamen Traditions-Stamm zurückzuführen sind15. Die Musik bildet da keine Ausnahme, lässt sich die Kunst der Töne doch ebenfalls in vier »Elemente« gliedern  : Melodie, Harmonie, Rhythmus und Klangfarbe. Es mag willkürlich anmuten, auf diese Weise die Bestandteile von Musik mit den traditionellen Grundelementen in Beziehung zu setzen. Aber ich erinnere daran, dass ich meine Ausführungen aus der Perspektive des Alchemisten mache, und nicht aus der des Musikers. Für ihn stellt die Assoziation durch Ähnlichkeit oder durch Affinität das eigentliche Fundament seiner Arbeit dar. Um dies zu veranschaulichen, greife ich auf ein Losungswort der Hermetiker zurück  : solve et coagula, »löse und verbinde«. Der Alchemist strebt danach, die dichteste Materie so aufzubrechen, dass die einzelnen Elemente freigesetzt 45


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Erster Satz: Was ist Musik?

werden, und die flüchtigste Substanz so zu verdichten, dass sie besser verarbeitet werden kann. Was sich durch die berühmte Formel »Vergeistigung der Materie und Materialisierung des Geistes« zum Ausdruck bringen lässt. All dies auf die Musik übertragend, können wir nun – das scheint offensichtlich – das Element Luft mit dem »Element« Melodie, dem ursprünglichsten musikalischen Ausdrucksmittel, in Beziehung setzen, erfolgte doch die Weitergabe der allerersten Melodien durch die menschliche Stimme oder mittels rudimentärer Blasinstrumente, also durch eine körperliche Erfahrung mit Luft. Von „festerer“ Beschaffenheit hingegen ist die Harmonie, denn sie ist wie die vertikale Kondensierung der Melodie, die Koagulation der Melodie durch Anhäufung von Stimmen  ; sie ähnelt dem Wasser, dem Element der Verbindung und Mischung par excellence. Innerhalb der Akkorde vereint sie mehrere Melodien in der Senkrechten. Der Rhythmus wiederum lässt sich dem Element Erde zuordnen  : Geht es zum Beispiel darum, ein Erdbeben musikalisch heraufzubeschwören, so kommt – von Rameau bis Strawinsky – grundsätzlich das Schlagzeug zum Einsatz. Auf weniger anekdotische Weise müsste man sagen, dass es sich beim Verhältnis zwischen Rhythmus und Zuhörer sowie zwischen Rhythmus und Interpret um eine regelrechte Inbesitznahme handelt. Geht es uns allen doch so, dass wir beim Hören von sehr rhythmischer Musik unbewusst mit den Füßen wippen oder den Takt mitklopfen, selbst wenn uns das Stück ansonsten gar nicht gefällt. Den Rhythmus an sich heranzulassen heißt den Anker auswerfen, Bodenhaftung herstellen, tief im eigenen Inneren ein Pulsieren suchen, einen Halt, der uns notwendigerweise mit der Erde verbindet. Die Klangfarbe, auch Timbre genannt, ist das flüchtigste aller Elemente. Sie verleiht dem Ton seine Farbe und sein Temperament. Sie ist das Feuer. Veränderte man die Instrumentierung einer Partitur, so käme das einer Veränderung der Stärke des Feuers gleich. Das wusste Richard Wagner nur zu gut, als er sein Orchester mit einer nie gekannten Zahl von Blechbläsern ausstattete16. Um seine Musik zu beschreiben, nehmen die Exegeten gerne Bezug auf Vulcanus und seine Werke … Der Alchemist ist der Überzeugung, dass jedem Ding auf der Welt ein charakteristischer Anteil der vier Elemente eigen ist, durch den seine Beschaffenheit und seine Erscheinungsform festgelegt werden. Was bedeutet das auf die Musik bezogen  ? Weist auch sie Spuren – und seien sie auch noch so geringfügig – der vier Elemente auf  ? Manch einer mag der Ansicht sein, dass zum Beispiel einstimmiger Musik, einfachem A-capella-Gesang, keine Harmonie innewohnt, sprich  : das Element Wasser fehlt. Das ist falsch, denn jeder natürliche Ton er46


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zeugt, von seinem Grundton ausgehend, eine Vielzahl von Obertönen, die für ein ungeübtes Ohr nur schwer zu identifizieren sind, die aber dem Instrument, beziehungsweise der Stimme ihre Eigenart, ihr Timbre, sprich ihre Klangfarbe verleihen. Demnach ist das Element Harmonie fest mit jeder Art von Tonerzeugung verknüpft, so wie sich für den Alchemisten das Element Erde – wenn auch in extrem kleiner Menge – im Wasserdampf manifestiert, nämlich in Form des Beschlags auf dem Spiegel17. Und damit wären wir auch bereits am Ende der Analogien und am Anfang der Unterschiede angelangt. In der Natur reicht die einfache Gegenwart eines Elementes aus, um die Manifestation stattfinden zu lassen. In der Musik, deren Zweck darin besteht, gehört zu werden, müssen die Elemente freilich zuerst als solche wahrgenommen und erkannt werden, damit der Hörer das Gefühl hat, es handle sich bei dem Gehörten um Musik und nicht um ein chaotisches Durcheinander unterschiedlichster Laute. Und genau darin liegt die wesentliche Schwierigkeit, mit der die moderne Musik zu kämpfen hat  : Die extreme Komplexifizierung eines »Elementes« macht dieses unerreichbar für seine Wahrnehmung als solches. Nehmen wir zum Beispiel das Element Melodie  : Die melodischen Sprünge, die im 20. Jahrhundert auf geradezu karikaturhafte Weise zur Anwendung kamen – es sei denn, es handelte sich um eine bewusste Aufgabe des Begriffs der Melodie zu Gunsten eines Aufbrechens der musikalischen Linie, mit dem Ziel, Harmonie und Rhythmus derselben »heilbringenden« Auflösung zuzuführen –, haben den Hörer völlig desorientiert. War dieser doch daran gewöhnt, sich am Leitfaden der Melodie oder zumindest der »melodischen Linie« festhalten zu können, denn diese hatte sich als der denkbar beste Wegweiser innerhalb des musikalischen Diskurses erwiesen. Dasselbe gilt für die Harmonie  : Nichts unterscheidet – für das Laienohr – ein Cluster, das heißt ein aus zahlreichen Dissonanzen bestehendes harmonisches Aggregat, von dem Töne-Wirrwarr, der von einem Kind oder einem neugierigen Uneingeweihten in die Tasten eines Klaviers gehämmert wird. Das abendländische Ohr, das seit Jahrhunderten darauf trainiert ist, eine bestimmte Emotion anhand der Harmoniefarbe zu erkennen, empfindet die gekonnt erzeugten Gefüge zeitgenössischer Musik oftmals als Symbole von Chaos, Angst und Aggression. Und der Rhythmus  ? Um als solcher wahrgenommen zu werden, bedarf es einer gewissen Beständigkeit und Stabilität. Diese drückt sich aus, indem einerseits ein bestimmtes Tempo während einer Mindestzeitspanne hörbar eingehalten wird, und andererseits, indem es ein Minimum an rhythmischen Zellen gibt, die simultan oder sukzessiv wiederholt werden. Niemand hatte dies besser verinner47


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licht als Strawinsky, der eine regelrechte Revolution auslöste, indem er auf einmal das rhythmische Element und nicht mehr wie bisher die Melodie in den Vordergrund stellte. Dazu muss man sagen, dass sein Verhältnis zum Rhythmus ein geradezu „fleischliches“ war, denn er bestand darauf, seine musikalischen Einfälle immer sogleich auf den eigens zu diesem Zweck in seinem Haus aufgestellten Trommeln auszuprobieren. Könnten doch ohne den Körper, wie Ernest Ansermet den Freund und Kollegen zitiert, weder Rhythmus noch Musik entstehen. Diejenigen, die sich an die Analyse von Strawinskys rhythmischen Strukturen wagen, sollten sich dies zu Herzen nehmen, wenn das Unterfangen nicht zu einer öden Buchhaltungsübung geraten soll. Béla Bartók fand seine rhythmischen Figuren, indem er, ausgestattet mit Bleistift und Tonband, Tausende von ungarischen Volksweisen sammelte und erforschte. Auch Olivier Messiaen, dessen Rhythmen sich sowohl durch ihre Komplexität als auch durch ihre extreme Klarheit und Natürlichkeit auszeichnen, vermochte dieses strukturbildende Element aufs Trefflichste in seinen Kompositionen zu entwickeln. Ein zu komplizierter Rhythmus, dessen Tempo und Figuren ständigen Veränderungen unterworfen sind, wird vom Hörer nur noch als eine zufällige Aneinanderreihung akustischer Ereignisse empfunden. Dabei ist er doch zweifellos dasjenige Element, dem die stärkste gemeinschaftsbildende Eigenschaft zugeschrieben werden muss. Man braucht nur gewissen modernen Jazzformationen zuzuhören, die gleichzeitig die Techniken der zeitgenössischen Musik und »scharfe« Rhythmen anwenden, um sich davon zu überzeugen. Wird doch bei dieser Musik das Fehlen von Melodie und Harmonie durch einen ausgeprägten und erkennbaren Rhythmus kompensiert  ; auf diese Weise findet sie den Weg zum Hörer, sie »funktioniert«. Zwar vermag sie nicht immer zu gefallen, geschweige denn zu verzaubern, aber sie schafft es zumindest, mithilfe der Komponente, die am stärksten »geerdet« ist, in seinem Ohr »Anker zu werfen«. Von allen musikalischen Parametern ist die Klangfarbe das Element, das den Gestaltungsspielraum des Komponisten am meisten bereichert hat. Man kann sogar sagen, dass die unerhörten Instrumentierungsmöglichkeiten, die sich seit über 100 Jahren entwickelt haben, die größte Errungenschaft in der modernen Musik darstellen. Je komplexer das Geflecht verschiedenartigster Tonfarben, umso großartiger das Klangerzeugnis. Mag sein, dass Berlioz der erste war, der den Anstoß gab zu diesem schwindelerregenden Wettlauf – hin zur strahlenden Glückseligkeit der »kolorierten« Melodie. Interessant ist, dass manche Komponisten zu einer musikalischen Ausdrucksweise finden, bei der die Klangfarbe, die 48


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bis dahin lediglich als »Option« fungiert hat, auf einmal zur wichtigsten gestalterischen Komponente avanciert. Eine Komponente, die sich nicht so ohne weiteres verändern ließe, ohne dass die zentrale Idee des Künstlers verraten würde. So lässt sich fast das ganze musikalische Werk Johann Sebastian Bachs auf praktisch jedem beliebigen Instrument spielen. Je mehr man sich jedoch dem 21. Jahrhundert nähert, desto differenzierter werden die Möglichkeiten der Instrumentierung. Sie avanciert vom einfachen schmückenden Beiwerk, das sich ebenso leicht austauschen lässt wie eine Perücke, zum fundamentalen Element des musikalischen Diskurses. Das Timbre ist (um auf die folgenden Kapitel vorzugreifen), zu einem emotionalen »Zeichenträger«, zum Gefühlsbotschafter des Komponisten geworden. Zuvor musste allerdings eine entscheidende Entwicklung im Geigenbau stattfinden, es musste sich eine hoch differenzierte polyphone Sprache herausbilden, es mussten neue klangliche Erwägungen angestellt werden, bevor die Klangfarbe zum Hauptanliegen moderner Komponisten wurde. Betrachtet man jedoch das musikalische Schaffen des vergangenen halben Jahrhunderts unter dem Aspekt der Kommunikation, sprich  : der Weitergabe einer Botschaft an den Hörer, so kann ein Großteil dieser Produktion als Fehlschlag angesehen werden  ; ein Fehlschlag, der freilich dennoch als fabelhafter Katalog orchestraler Schöpfungen in die Geschichte eingehen wird, aus denen der Tonkünstler des 21. Jahrhunderts, versöhnt mit seiner Verantwortung dem Publikum gegenüber, eine Lehre ziehen wird. Die drei Prinzipien Halten wir noch einmal fest  : Die Alchemie geht davon aus, dass alles in der Welt aus den drei Grundprinzipien Schwefel, Quecksilber und Salz besteht. Im Gegensatz zu den vier Elementen, denen bestimmte Eigenschaften zugeordnet werden, mit denen sich eine in ihre Bestandteile zerlegte Materie beschreiben lässt, handelt es sich bei den drei Prinzipien um Funktionen. Sie sind für unseren logischen und materialistisch geprägten Verstand leichter zu begreifen  ; man braucht sie nur mit einem Ei zu vergleichen. Der Schwefel, fruchtbringendes Element, aktiv, feurig, ist vergleichbar mit dem Gelb des Eis. Er enthält den Samen, das Prinzip des Lebens, das bereit ist sich zu entfalten. Das Quecksilber, nährendes Element, passiv, kalt, empfangende »Gebärmutter«, in deren Innerem der Schwefel gedeihen kann, ist vergleichbar mit dem Eiweiß. 49


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Das Salz ist das Prinzip, das dem Ganzen sein spezifisches und sichtbares Erscheinungsbild verleiht. Es »schließt« und »formt«, ist also perfekt vergleichbar mit der Schale des Eis. Die assoziative Verbindung zur Musik entsteht gleichsam auf natürliche Weise  : Die Inspiration entspricht dem fruchtbringenden Prinzip. Der Stil entspricht der Umgebung, dem Milieu, welches die Inspiration empfängt. Die Form ist das Element, in dem sich die beiden ersten Prinzipien herauskristallisieren und in dem sie verschlossen werden. Die Inspiration

Die Inspiration wurde in dem Moment aus dem Wortschatz – und damit von der Liste künstlerischer Bestrebungen – gestrichen, als die Komponisten damit begannen, ihr Augenmerk auf eine neue Muse zu richten, nämlich die der Wissenschaft. Während sie sich für die Erschaffung ihrer Werke einer – im Grunde doch recht simplen – Geometrie oder Mathematik bedienten, war es nicht mehr opportun, sich auf eine alte verbrauchte Chimäre zu berufen, die den Künstlern der tonalen Epoche noch treu zu Diensten gestanden hatte. Was genau sich freilich hinter dem Wort Inspiration verbirgt, werden wir in einem späteren Kapitel noch genauer zu ergründen versuchen18, sieht es doch so aus, als ob der Begriff nicht wirklich aus der Mode gekommen wäre, sondern eher von seiner Bedeutsamkeit eingebüßt hätte. Bezeichnet doch Inspiration, wie wir zu gegebenem Zeitpunkt sehen werden, in erster Linie den esprit de synthèse, die Fähigkeit zur Synthese, die sich unter heutigen Komponisten seltsamerweise nur geringer Beachtung zu erfreuen scheint. In unserer Zeit greift man lieber zur Analyse, auch und vor allem während des Aktes der Entstehung. Die Kraft der Synthese wirkt übrigens genauso auf den Hörer, der ein Werk umso genialer finden wird, je »inspirierter« ihm dieses erscheint. Der Rezipient wird einem Werk dann Inspiriertheit bezeugen, wenn er während des Erlebens intuitiv drei Dinge empfindet  : zunächst Gleichgewicht, sprich ein allgemeines Gefühl der Harmonie, dann Emotion, deren Stärke mit jedem neuerlichen Hören zunimmt, und schließlich Transzendenz, das sichere Gefühl, dass dieses Werk eine fundamentale Botschaft vermittelt, die kein Wort zum Ausdruck zu bringen vermag. Der Eindruck, dass sich eine Tür zu einem Jenseits öffnet, das zwar nicht definierbar, aber fast greifbar ist. Und weil er diese drei Entitäten nicht zu finden vermag, wendet sich der heutige Freund ernster Musik vom zeitgenössischen Musikgeschehen ab. 50


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Das Gleichgewicht, die offenkundige Harmonie und die Form des Werks werden für ihn umso unzugänglicher, je weniger dieses mit Anhaltspunkten, Wiederholungen und hervorstechenden Merkmalen ausgestattet ist. Das wiederum führt uns hin zur musikalischen Semiotik, auf die wir später noch ausführlicher eingehen werden. Hingegen ist die Fähigkeit, Emotion zu erzeugen, eine einfache Sache des Know-hows, sprich der Gabe des Komponisten, sich seiner Werkzeuge zu bedienen. Sie kann sowohl durch die kluge Anwendung harmonischer Codes und Konventionen ausgelöst werden als auch durch eine Vermischung oder Verzerrung derselben Codes – beweisbar anhand eines Meisterwerks wie Le Sacre du printemps. Das Problem der Transzendenz stellt sich weitaus subtiler dar  ; an ihm misst sich die Fähigkeit des Komponisten, der Musik einen symbolischen Modus zu verleihen und diese nicht mehr als eine »einfache« Semiotik zu betrachten. Auch auf diesen Aspekt werden wir an anderer Stelle näher eingehen. Hier bleibt lediglich festzuhalten, dass mit Inspiration im Grunde nichts anderes gemeint ist als die Fähigkeit oder die Gabe des Komponisten, das Konzeptuelle, das Existentielle und das Wesentliche zu einem Ganzen, zu einer Synthese zusammenzufügen. Der Stil

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema der Modernität kann nicht in Angriff genommen werden, ohne dass man sich gleichzeitig der Frage des Stils zuwendet. Impliziert doch die Entwicklung der ersteren eine Veränderung des letzteren  : Durch das Mischen aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, mit der sie ihre Epoche prägt, hinterlässt die Modernität nach jedem ihrer Schübe eine tiefe Spur, genannt der Stil, in die sich dann die Bäche außergewöhnlicher Talente ergießen. Der Begriff des Stils gliedert sich in drei verschiedene Kategorien  : 1. Der individuelle Stil  : Er definiert sich durch dauerhafte, leicht erkennbare Faktoren, anhand derer sich das Werk eines bestimmten Künstlers studieren und interpretieren lässt. Bei der Analyse sind diese Faktoren rekurrent, im Laufe des Schaffensprozesses hingegen implizit. Mit anderen Worten, der Kritiker kann aus dem Vergleich eines neuen Werks mit früheren die verschiedenen Stilelemente ableiten, auf die der Künstler zurückgegriffen hat  ; und der Künstler selbst wird aus den markantesten, persönlichsten und wirkungsvollsten Elementen seiner aktuellen Schöpfung das zurückbehalten, was auch den Stil seines nächsten Werks ausmachen wird. 51


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2. Der lokale Stil ermöglicht eine regionale oder nationale Zuordnung  : italienische oder deutsche Musik, Tango, Bossanova etc. Der Stil bleibt so lange lokal geprägt, wie er sich entweder gar nicht – wie bei Folkloremusik – oder höchstens innerhalb der eigenen Grenzen weiterentwickelt. Die Tatsache, dass auch Musiker aus anderen Ländern auf den Lokalstil ihres jeweiligen Gastlandes zurückgreifen und diesen gegebenenfalls mit ihrer eigenen Kultur vermischen, führt unweigerlich zu einer Weiterentwicklung, bzw. Veränderung desselben und weist ihm so einen neuen Status zu  : Er fungiert dann nicht länger als geografischer Faktor, sondern wird zu einem chronologischen Bezugspunkt. 3. Der historische Stil erlaubt die Zuordnung von musikalischen Werken gemäß ihrer Entstehungsepoche  : polyphonischer Stil der Renaissance, galanter Stil des Spätbarock, klassischer, romantischer Stil, Jazz, zeitgenössische Musik etc. Sämtliche Erscheinungsformen von Kultur, das heißt  : das ganze Spektrum dessen, was der Mensch gestaltend hervorgebracht hat, findet sich in diesen drei Kategorien wieder. Innerhalb derer kann es freilich Nuancen geben, je nachdem, wie stark das Verhältnis ist, das der Künstler zu seinem »Medium« aufbaut. Ein Verhältnis, das letztlich nur darüber Auskunft gibt, wie groß seine Freiheit ist, sich auszudrücken. So gründet etwa der literarische Stil auf dem Verhältnis von res zu verbum, vom Stoff zur sprachlichen Form. Eine bessere Entfaltung der Kunst ergibt sich allerdings aus dem dialektischen Verhältnis Norm/Abweichung. In der Musik wird jede stilistische Abweichung von einer bekannten Norm sofort konstatiert, wohingegen das Heraushören der musikalischen Form eine Sache der Spezialisten ist. Das nicht geschulte Ohr nimmt sie lediglich als nebensächliches Element wahr. Während sich die Entwicklung einer Sprache durch die stetige Erweiterung des Wortschatzes vollzieht sowie durch die Akzeptanz des Neuhinzugekommenen durch die Masse der Sprachbenutzer, gründet die Entwicklung der Musik einzig auf individuellen Normabweichungen. Im Bereich der Sprache geschieht es so gut wie nie, dass plötzlich eine ganze Reihe neuer Zeichen eingeführt werden – und dazu noch durch einen einzigen Autor. Ein Phänomen, das in der Musikgeschichte durchaus keine Seltenheit darstellt – so geschehen etwa bei Debussy oder Mussorgski. Es empfiehlt sich, den drei genannten – auf den Künstler oder das künstlerische Werk bezogenen – Kategorien eine weitere hinzuzufügen, die sich wie eine Konsequenz aus der seit dem Barock wuchernden Stilvielfalt einerseits ergibt sowie aus der Versteinerung der sogenannten »klassischen Musik« innerhalb ihres eigenen Museums andererseits  : den Stil des Hörers, und zwar unabhängig davon, ob er sich berufsmäßig mit Musik befasst oder als Laie. 52


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Die Alchemie und das Numinose oder Elemente und Prinzipien der Musik

Der Ausschließlichkeitsanspruch, den der westliche Kulturkonsument hinsichtlich einer bestimmten Epoche, einer Gattung oder einer Tendenz gewöhnlich an den Tag legt, war für mich schon immer ein äußerst exotisches Kuriosum. Man legt sich auf einen bestimmten Stil fest, man beschließt, ihm bis an sein Lebensende treu zu bleiben und alles zu verachten, was nicht in diesen vorgesteckten Rahmen passt  ; und dies unter Berufung auf irgendwelche mysteriösen Gesetze der Affinität. Nach dieser Logik müsste man Picasso hassen, weil man Kandinsky liebt  ; sich verpflichtet fühlen, Julien Gracq zu zappen, bloß weil man Robbe-Grillet verehrt, oder David Lynch, weil man ein Fan von Bergmann ist und weiß der Teufel was sonst noch alles. Ein Dummkopf fragte mich eines Tages, ob es denn »heute noch angesagt sei, Brahms zu lieben«. So hat jede Kapelle ihre Zeloten, die, gleich eingefleischten Wein- oder Zigarrenliebhabern ins Schwärmen geraten, wenn es um ihr eigenes Suchtobjekt geht, aber gleichzeitig die Nase rümpfen, sobald etwas aus dem »Laden von gegenüber« stammt. Aber nun zum Stil im Hinblick auf die schöpferische Geste  ! Der künstlerische Stil ist, wie weiter oben im Zusammenhang mit den drei Prinzipien dargelegt, in erster Linie ein »umgebendes« Element  : Akademisch geprägte Komponisten begnügen sich übrigens oft damit, das von ihren Vorgängern vorgefertigte »Ambiente« einfach zu übernehmen und sich dann in einem gemachten Bett zu räkeln, ohne auch nur die geringste Anstrengung zu unternehmen, etwas Neues zu erfinden. Zugegeben, – die Epoche, oder besser  : die Epochen, in denen ein einheitlicher Stil vorherrschend war und in denen es genügte, sich die geltenden kompositorischen Techniken anzueignen und die ästhetischen Kanons zu verinnerlichen, bevor man seine eigenen Ideen entwickelte und in das Werk integrierte, waren weitaus bequemer als die heutige Zeit, in der es unerlässlich geworden ist, eine eigene Sprache zu kreieren und diese gemäß einer – im Vergleich zum früheren »Stil« – relativ kurzlebigen und folglich eingeschränkten Gültigkeitsskala auszubilden  : Wehe dem, der sich des Anachronismus’ schuldig macht, des »Déjà-vu«, oder besser des »Déjà-entendu« … Hinzu kommt, dass dem »alten Stil« ein entscheidender Vorteil anhaftete, der darin bestand, dass über die Anwesenheit des Genies keinerlei Zweifel herrschte. Der Künstler hatte keine Möglichkeit, sich hinter einer Möchtegern-Komplexität zu verschanzen, er musste die Rechnung bar bezahlen. Das Publikum urteilte nach unerbittlichen Qualitätsmaßstäben  : Entweder vermochte das Talent zu entzücken oder zu schockieren, aber sein Nichtvorhandensein drückte sich gnadenlos in Langeweile, sprich in Ablehnung aus. 53


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Erster Satz: Was ist Musik?

Es versteht sich von selbst, dass das Auseinanderbrechen der drei musikalischen »Großmächte« Melodie, Harmonie und Rhythmus zu einer Konfusion in der Wahrnehmung der verschiedenen Stile führte. Selbst einem geübten Hörer dürfte es mitunter schwerfallen, ein modernes Stück zeitlich oder räumlich einzuordnen, es sei denn, er ist Berufsmusiker, und/oder er weiß, um welches Werk es sich handelt. Ich habe schon Konzerte dirigiert, in denen zeitgenössische Werke von Komponisten aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen zur Uraufführung kamen, wo ich aber realisieren musste, dass diese Werke, in ihrem Bestreben nach perfekter moderner Orthodoxie, ganz vergessen hatten, etwas über denjenigen auszusagen, der sie geschaffen hatte  : Ich war außerstande, selbst anhand der Noten, zu sagen, welcher Zeit und welchem Kulturkreis sie zuzuordnen waren. Obwohl einem doch gerade bei dieser Frage der Stil normalerweise zu Hilfe kommt. Und genau darin zeigt sich das Paradoxe unserer Zeit  : Früher war der Künstler gezwungen, sich an einen bestimmten Stil zu halten. Er orientierte sich an einer Sprache mit eindeutig kodifizierten Regeln. Aber kraft seiner Persönlichkeit vermochte er dieser Sprache eine individuelle Prägung zu verleihen, so dass man jeden Komponisten an seinem persönlichen Stil erkennen konnte. Heute wird dem Künstler praktisch nichts mehr vorgeschrieben, abgesehen vom »Diktat« der Komplexität und dem Verbot jeglichen Verweises auf ein Element der tonalen Ära. Das Ergebnis ist eine für den Zuhörer durchweg nichtssagende Sprache, ein Nicht-Stil, der trotz allem die Signatur einer Epoche darstellt  ; einer Epoche, die sich freilich in die Länge zu ziehen, die sich immer um dieselben Klangwelten, dieselben Verfahren zu drehen scheint. Selbstverständlich ist hier die Rede von der »offiziellen« Avantgarde. Vergessen dürfen wir weder die – immer zahlreicheren – unabhängigen Komponisten noch, und vor allem nicht, die großen Schöpfer, die dem 20. Jahrhundert ihren unverwechselbaren Stempel aufgedrückt haben – der Chimäre des Zwölftonverfahrens und seiner Erben standhaft die Stirn bietend. Sie kamen auch ohne diese neue Sprache aus, all die Strauß, Prokofjews, Sibelius, Janáceks, Brittens, Dutilleux … Nichtsdestoweniger lässt sich neuerdings auch in Kreisen der Avantgarde ein Aufflammen des Interesses für gewisse Stilelemente, insbesondere aus dem Bereich der Rhythmik, nicht verleugnen. Dasselbe gilt für den – freilich stark geographisch konnotierten – Parameter der Klangfarbe, der allerdings seine Faszination dem »edlen Wilden« verdankt, einem Überbleibsel aus der Kolonialzeit, das seinen Fortbestand in der scheinbar unvermeidlichen Palette an Marimbas, Bongos und tibetanischen Gongs findet. 54


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Die Alchemie und das Numinose oder Elemente und Prinzipien der Musik

Es sieht so aus, als hätte sich die Mehrheit der »offiziellen« Komponisten, mit Ausnahme von Luciano Berio und Olivier Messiaen, von einer der wichtigsten »umgebungsbezogenen« Stilkomponenten losgesagt  : den Volks- oder Folkloremusiken. Wobei ich hier nicht auf die weiter oben erwähnte Einführung exotischer Effekte anspiele, sondern auf die rigoros strukturelle Einbeziehung von Elementen aus einem überlieferten Lebensumfeld mit dem Ziel, ein Werk von universeller Gültigkeit zu schaffen. Ich werde noch weitere Gelegenheiten haben, diesen äußerst wichtigen Aspekt der musikalischen Stilbildung zu behandeln. Für den Moment möchte ich nur so viel unterstreichen, dass, weil sich die Wirkung volkstümlicher Musik zum großen Teil durch ihre ausgeprägte Rhythmik erklärt, es nur allzu natürlich ist, dass gerade die Vertreter der russischen und ungarischen Avantgarde – Strawinsky, Bartók – das folkloristische Material ihrer Heimat in ihre Musiksprache eingebaut und dieser damit ihre Prägnanz verliehen haben. Eine Prägnanz, die eine Erklärung für ihren hohen Beliebtheitsgrad sein mag. Im Gegensatz dazu haben die Franzosen, deren traditionelle Volksmusik sich nicht gerade durch einen besonders ausgeprägten Rhythmus auszeichnet19, sei es auf rhythmische Figuren aus Spanien zurückgegriffen, wie etwa Ravel oder Debussy, sei es, wie Messiaen, eine eigene rhythmische Sprache entwickelt, die von der griechischen Metrik und dem Gesang der Vögel inspiriert war – eine Sprache, die es dieser ansonsten höchst komplexen Musik erlaubt, zu funktionieren, zu kommunizieren. Diejenigen wiederum, die sich, wie Pierre Boulez, der seriellen Methode zugewandt haben, um daraus ihre rhythmischen Strukturen abzuleiten – seine jüngeren Werke ausgenommen, in denen man, wie etwa zu Beginn seiner Répons, den fast rührend anmutenden Einfluss von Messiaen zu spüren glaubt –, haben aus freien Stücken, fast möchte man sagen  : heldenhaft, auf einen mächtigen Kommunikationsverstärker verzichtet. Jedenfalls konnten der Jazz und seine Derivate, um bei den Musikstilen zu bleiben, die unserer Generation nahe stehen, einem Komponisten wie Boulez rein gar nichts anhaben. Er hatte so wenig Ahnung von Jazzliteratur, dass er 1951 – muss hier allerdings zu seiner Verteidigung angefügt werden – über diese Musikgattung schrieb, sie habe »lediglich mit ihren armseligen Synkopen und dem unweigerlichen Viervierteltakt als beträchtliche Erneuerung durchgehen können.«20 Die Form

Sich mit der Form eines musikalischen Werks auseinanderzusetzen bedeutet, unmittelbar in die Dimension der Zeit vorzudringen. Denn sie ist das entschei55


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Erster Satz: Was ist Musik?

dende Element, welches, mehr als in jeder anderen Geistesdisziplin, das künstlerische Gebilde zusammenhält. Sie stellt sowohl den Keim als auch die Hülle des musikalischen Objekts dar. Der Grund dafür liegt in einer Besonderheit der musikalischen Form, nimmt diese doch in zwei verschiedenen Momenten Gestalt an, nämlich zunächst in der Phase der Entstehung des Werks und dann noch einmal zum Zeitpunkt seiner Aufführung. Demnach sind wir hier mit der konstruierten, bzw. komponierten und der erlebten Zeit konfrontiert. Oder anders ausgedrückt  : mit der Zeit des Komponisten und mit der Zeit des Hörers. Die konstruierte Zeit, das heißt diejenige, die der Komponist für seine Arbeit aufwendet, ist wie eine andere Dimension, in der sie anders zu verlaufen scheint als in der »realen Zeit«  ; jeder, der einer schöpferischen Tätigkeit nachgeht, hat dieses Phänomen sicher schon einmal erlebt. Wie oft geschieht es nicht, dass ein Komponist in dem Moment, wo sein Werk zum ersten Mal gespielt wird, seine eigenen Tempoangaben korrigiert  ? Woraus wir schließen müssen, dass der Zeitverlauf im Moment der Konzeption nicht derselbe ist wie im Moment der Projektion. Hinzu kommt, dass der Komponist, im Vergleich zum Maler oder Schriftsteller, mit einer zusätzlichen Einschränkung konfrontiert ist  : Er muss nicht nur einen »Text« ausarbeiten, den der jeweilige Rezipient in seinem eigenen Rhythmus zur Kenntnis nimmt, sondern er muss diesen Rhythmus außerdem auf eine absolute Weise berücksichtigen – es geht hier also nicht mehr um Lesefreiheit –, so dass die Form seines Werks maßgeblich bestimmt wird durch den Rhythmus und das Tempo, welches er sich vorgestellt und dementsprechend ausformuliert hat und das ich die konstruierte Zeit nenne. Freilich würde eine intensivere Beschäftigung mit dem Thema der konstruierten Zeit, oder, vom technischen Standpunkt aus gesehen, der musikalischen Form, den inhaltlichen Rahmen dieses Buches sprengen, dessen vorrangiges Ziel es doch ist, eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen. Im Gegensatz zur konstruierten Zeit besitzt die erlebte Zeit in Bezug auf den Hörer, egal ob Experte oder Laie, eine Reihe bemerkenswerter Gemeinsamkeiten, auch wenn sich aufgrund der Subjektivität des Hörerlebnisses eine gewisse Relativität nicht ausschließen lässt. Ein geübtes Ohr wird in dem Maße fähig sein, die Struktur, sprich die Form einer Partitur aus der tonalen Epoche zu rekonstruieren, wie das Gedächtnis die wahrgenommenen Ereignisse anzuhäufen und weiterzuleiten vermag. Hingegen werden Fachmann und Laie angesichts einer »modernen« Partitur gleichermaßen die Orientierung verlieren und gezwungen sein, sich anhand von Impressionen leiten zu lassen, und nicht mehr, wie bisher, mithilfe eines geistig 56


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rekonstituierten »Plans«. Kein geringerer als Pierre Boulez hat für diese Verwirrung des Hörers eine Erklärung parat  : »Nimmt das Ohr eine schnelle Abfolge komplexer Akkorde wahr […] oder einen isolierten, extrem kurzen komplexen Akkord, so ist es außerstande, und sei es nur intuitiv, die Beziehungen zu analysieren, die die Tonhöhen untereinander einhalten  ; es ist gesättigt von Komplexität und nimmt nur noch pauschal Geräusche wahr.«21 Wollte man gemein sein, könnte man jetzt einfach behaupten, dass zeitgenössische Musik, eben weil sie oftmals schnelle Abfolgen komplexer Akkorde aufweist, von den meisten bloß als Anhäufung unzusammenhängender Geräusche empfunden wird. Und dass sie ohnehin, wie es scheint, mehr fürs Auge als fürs Ohr gemacht ist. Diese Ansicht teile ich ganz und gar nicht, aber ich finde es erstaunlich, dass ausgerechnet Boulez implizit das ausdrückt, was der heutige Musikliebhaber der Moderne seit jeher zum Vorwurf gemacht hat. In Wahrheit ist es nicht ein Phänomen synaptischer Übersättigung, das den Freund ernster Musik zum Gegner moderner Musik werden lässt, sondern der doppelte Konflikt zwischen passivem und aktivem Hören einerseits sowie punktuellem und linearem Hören andererseits. Freilich kommt es auch bei Hörern »klassischer« Musik immer wieder vor, dass sie ein Werk »in Schüben« aufnehmen, indem sie sich von einem angenehmen Reiz zum nächsten leiten lassen, ohne die – musikalische – Linie, die diese »schönen« Stellen miteinander verbindet, wirklich zu verinnerlichen. Die meisten Menschen »genießen« Musik auf diese punktuelle Art, es sei denn, sie kennen das Werk in- und auswendig. Wussten doch die Komponisten der tonalen Epoche, die zusätzlich zu ihrem Talent auch noch mit einem gewissen Pragmatismus begabt waren, nur zu genau, wie die formgebenden Elemente dosiert und die prägnanten Stellen der Partitur im Bewusstsein des Hörers platziert werden mussten, um dessen Aufmerksamkeit nicht nur zu gewinnen, sondern auch dauerhaft zu fesseln. Hinzu kommt, dass in der klassischen Musik häufig auf das Stilelement der Wiederholung zurückgegriffen wurde, egal ob es sich dabei um eine einzelne Note, um ein Motiv oder um ganze Abschnitte handelte, in diesem Fall da capo genannt. Wiederholungen, ebenso wie andere hervorstechende Merkmale, hatten die Funktion, das Gedächtnis des Hörers zu stimulieren und das Werk in seinem Bewusstsein zu verankern, oder, fast möchte man sagen, einzubrennen.22 Die serielle Avantgarde hatte jegliche Form von Wiederholung, sei es von individuellen Noten, sei es von sogenannten »Zellen«, zunächst verbannt und so die Schwierigkeit einer neuen musikalischen Sprache um diejenige der beschränkten Merkfähigkeit des menschlichen Kurzzeitgedächtnisses erweitert. 57


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Erster Satz: Was ist Musik?

Das bedeutet, dass für die Annäherung an ein neues, mittels Reihentechnik komponiertes Werk das mehrfache Hören unerlässlich ist. Und dieses wiederholte Sich-Auseinandersetzen mit ein und demselben Stück ist das, was ich als »aktives Hören« bezeichne. Idealerweise sollte dieser Prozess aus einem ersten Anhören des Werks bestehen, im Verlaufe derer der musikalische Diskurs mit größtmöglicher Offenheit und nie nachlassender Aufmerksamkeit verfolgt wird. Am Schluss sollte die Entscheidung stehen, ob das Werk in uns den Wunsch geweckt hat, es ein zweites Mal anzuhören. Damit sollen die beim ersten Hören gewonnenen Eindrücke bestätigt, aber auch erste »Schlagschatten« des musikalischen Gebildes ausgemacht werden. Mit anderen Worten  : Die durch den Komponisten konstruierte Zeit soll rekonstituiert werden. Erinnern wir uns an die Warnung, die kein Geringerer als Claude Debussy einmal ausgesprochen hat  : »Sich einzubilden, man könne ein Kunstwerk auf eine erste Impression hin beurteilen, ist die seltsamste und gefährlichste aller Illusionen.«23 Mit keinem anderen kompositorischen Gestaltungselement, mit Ausnahme der Klangfarbe, ist so viel herumexperimentiert worden wie mit der musikalischen Form. Jedoch hat die wachsende Schwierigkeit für den Hörer, sich innerhalb des Werks „zurechtzufinden“, nicht zu der Akzeptanz – fast wäre man geneigt zu sagen  : zu der Apotheose – geführt, die der Klangfarbe vorbehalten sein sollte. Und sie ist es, die schon seit fast einem Jahrhundert die Rolle von Melodie, Harmonie und Rhythmus als unentbehrliche Eckpfeiler des musikalischen Gerüsts, sprich der erlebten Zeit, übernehmen soll  ; indem die außergewöhnlichsten Instrumente verwendet, traditionelle Instrumente auf neue Arten eingesetzt, Masseneffekte, diaphane Effekte hergestellt und maximal ausgeschöpft werden in der Absicht, die musikalische Form neu zu gestalten. Weil das die Form ist, die das Ohr des Hörers zu »erreichen« vermag. Bei der Lektüre dieser letzten Seiten mögen den Leser leise Zweifel beschlichen haben  : Sollten sich die Tonsetzer des 20. Jahrhunderts allen Ernstes dazu entschlossen haben, die traditionellen Gestaltungsmittel Melodie, Harmonie, Rhythmus, Inspiration und Stil über Bord zu werfen  ? Oder zumindest – wie im Fall der ersten drei Parameter – zu verzerren und zu zerstückeln und – wie im Fall der beiden letzten – einfach zu ignorieren  ? Sollten sie mit dieser Geste ihren Egoismus und ihre Verantwortungslosigkeit unter Beweis gestellt haben  ? Sollten sie das Entwicklungspotenzial der musikalischen Sprache innerhalb weniger Jahre so ausgeschöpft haben, wie man die Schätze eines Bodens ausschöpfen kann  ? So wie eine Generation von selbstherrlichen und gewissenlosen Spielern 58


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die ganze Welt plündern kann  ? Oder war es vielmehr der Wunsch nach etwas Universellerem, das plötzliche Bewusstsein dafür, dass der Sinn von Musik nicht allein darin bestehen kann, dem hedonistischen Ohr des Musikliebhabers zu schmeicheln, sondern dem menschlichen Geist neue Perspektiven zu öffnen  ? Indem sie die kompositorischen Grundprinzipien in zunehmendem Maß hinter sich ließ und sogar so weit ging, die »Stimmung«24 sprich  : die auf Pythagoras zurückgehende temperierte chromatische Leiter aufzugeben, schien die Moderne durch ihre immer umfangreicheren und komplizierteren Kompositionssysteme ihrer Intention Ausdruck verleihen zu wollen, ein universelles Band zwischen der Musik und der Gesamtheit der Schöpfung zu knüpfen. Um damit letztendlich auf das berühmte Diktum des Meisters von Samos zurückzukommen, wonach Musik alles und überall sei, einschließlich der Himmelssphären …

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»Zahlen beherrschen die Welt.« PYTHAGORAS »Gerade in der Musik scheint uns die Natur das physikalische Prinzip dieser frühesten rein mathematischen Begriffe zu lehren, auf denen alle Wissenschaften gründen  : damit meine ich die harmonischen, arithmetischen und geometrischen Proportionen …« J. Ph. Rameau

Möglicherweise beruht die gesamte menschliche Erkenntnis einzig auf dem Studium und der Kenntnis der Proportionen. Die Mathematik ebenso wie die aus ihr hervorgegangenen Disziplinen Geometrie, Physik und Astronomie sind nichts anderes als Proportionen. Die Philosophie hingegen könnte als die Wissenschaft bezeichnet werden, die das Verhältnis zwischen den verschiedenen Wahrnehmungs-, Denkungs- und Ausdrucksarten untersucht. Auch die Politik ist zweifellos eine Sache der Proportionen, des Verhältnisses zwischen Macht und Freiheit. Ebenso die Musik, sie besteht aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Proportionen zwischen den Parametern Tonhöhe, Tondauer, Dynamik und Klangfarbe. So ist es nicht verwunderlich, dass es ausgerechnet ein Mathematiker war, Pythagoras von Samos, der auf der Basis eines Proportionenspiels mit ganzen Zahlen die nach ihm benannte Tonleiter entwickelte. Von ihr wurden alle folgenden musikalischen Systeme, zumindest der abendländischen Kultur, abgeleitet. Auch J. S. Bach gründete seine »temperierte Tonleiter« auf dem pythagoreischen Prinzip der Proportionalität. Pythagoras war überzeugt davon, dass nicht nur die Musik, sondern jedes einzelne in der Natur vorkommende Phänomen von Zahlen beherrscht sei. So behauptete er, seine Tonleiter einzig von den Verhältnissen zwischen der Zahl 1, der Zahl 2 und der Zahl 3 ausgehend entwickelt zu haben, und nicht von der Instrumentenpraxis ausgehend, also nicht »mit dem Ohr«. Pythagoras räsonierte über die verschiedenen Längenmaße einer schwingenden Saite  ; indem er diese immer wieder neu unterteilte, kam er zu dem Ergebnis, dass sie zwar denselben 60


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Von Pythagoras zur Stringtheorie

Ton produzierte, aber um eine Oktave verschoben  : eine Saite von 1 Fuß Länge, die genau in der Mitte durchgeteilt wurde, erklang exakt eine Oktave höher als die ungeteilte Saite (Bsp. 3.1.)  :

1 Fuß ½ Fuß Eine schwingende Saite von 2 Fuß Länge produzierte ebenfalls denselben Ton, aber diesmal eine Oktave tiefer (Bsp. 3.2.)  :

1 Fuß 2 Fuß Die der Oktave zugrunde liegende Proportion 1  :2 lässt sich auf alle anderen Noten der pythagoreischen Tonfolge anwenden  : Die Frequenz jeder einzelnen Note multipliziert mit 2 ergibt dieselbe Note aber eine Oktave höher  ; die Frequenz geteilt durch 2 ergibt ebenfalls dieselbe Note, jedoch eine Oktave tiefer. Auf der Grundlage des Verhältnisses 1  : 3 konnte Pythagoras alle anderen Noten seiner Tonleiter erzeugen. Multipliziert man die Frequenz eines pythagoreischen C mit drei, so erhält man die Frequenz der Note G, allerdings eine Oktave höher (Bsp. 3.3.)  :

C G Multipliziert man die Frequenz des pythagoreischen G mit drei, so erhält man die Note D, eine Oktave höher (Bsp. 3.4.)  : 61


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Erster Satz: Was ist Musik?

G D Nimmt man die Frequenz des pythagoreischen D und multipliziert sie mit drei, so erhält man die Note A, eine Oktave höher (Bsp. 3.5.)  :

D A Und so weiter … Derjenige, der selbst ein Instrument spielt und Partituren lesen kann, wird in diesen Intervallen die sogenannte Quintenreihe erkannt haben  : C, G, D, A, E, H. Vom C = 1 ausgehend, reihte Pythagoras zwölf aufsteigende Quinten aneinander (Bsp. 3.6.)  :

Indem er, diesmal mit einer Serie von absteigenden Quinten, auf analoge Weise vorging, kam er auf eine Gesamtzahl von 25 Noten innerhalb einer Oktave (Bsp. 3.7.)  :

Anstatt der zwölf Töne unserer modernen Tonleiter (Bsp. 3.8.)  : 62


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Von Pythagoras zur Stringtheorie

Um die subtilen Intervallunterschiede der pythagoreischen Tonleiter mit ihren 25 Abstufungen wahrzunehmen, ist ein feineres als unser »klassisch« gebildetes Ohr vonnöten. Gebräuchlich ist sie zum Beispiel noch in der osmanisch-türkischen Musiktradition, um nur ein Beispiel zu nennen. Durch die Existenz solcher Mikro-Intervalle besitzt die traditionelle Musik des Orients einen Nuancenreichtum und eine Subtilität, an die unser westlicher Tonvorrat nicht heranreicht, zumindest innerhalb des monophonischen Stils, das heißt, wenn ein Musikstück nur eine einzige musikalische Linie aufweist, wie etwa im Fall eines Gesangs, der keine andere Begleitung hat als die rhythmische. Mit dem Aufkommen der Polyphonie stellten plötzlich all jene Intervalle, die kleiner als ein Halbton waren, ein Problem dar. Der italienische Musiktheoretiker und Komponist Giuseppe Zarlino (1517 – 1590) gab ihnen den Namen »coma«25. So entsprechen zum Beispiel das His und das C auf dem Klavier derselben Taste, bringen also demnach denselben Ton hervor. Auf der Geige hingegen kann der subtile Unterschied zwischen den beiden Noten hörbar gemacht werden.–Dabei handelt es sich um die wenigen Frequenzschwingungen – in Hertz (Hz) gemessen –, die das coma ausmachen. Zarlino versuchte, das Prinzip der »natürlichen« Intervalle mithilfe eines komplexen mathematischen Modells aufrechtzuerhalten, welches sich jedoch abermals als inkompatibel mit der Notwendigkeit erwies, mehrere Stimmen miteinander zu kombinieren. Erst der deutsche Musiker und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645 – 1706) sollte mit seinem Hauptwerk Musicalische Temperatur als der Erfinder der nach ihm benannten wohltemperierten Stimmung in die Musikgeschichte eingehen, die den Spielern eine größere Flexibilität in der Wahl der Tonart gestattete. Doch kehren wir zurück zu Pythagoras und seiner Entdeckung  : Die Realisation einer als vollkommen harmonisch empfundenen Tonleiter mittels »ganzer Zahlen«, die er als naturgegeben, als göttliches Prinzip betrachtete, veranlasste ihn zu dem Schluss, dass diese Harmonie, die mit der kompromisslosen Strenge der Zahlen übereinstimmte, auch auf alles andere anwendbar war, was den Menschen umgibt, auf die Natur in ihrer Gesamtheit. Auf der Basis dieser auf den gesamten Kosmos und insbesondere auf die Bewegung der Gestirne bezogenen »Weltanschauung« gewannen Pythagoras und seine Anhänger die Überzeugung, dass sich in dieser Bewegung die Harmonie der Welt widerspiegeln musste. In ihrer Vorstellung bildete die Erde den Mittelpunkt des Universums, den alle beweglichen Himmelskörper, sprich Sonne 63


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Erster Satz: Was ist Musik?

und Planeten, auf kreisförmigen Bahnen umrunden. Sie assoziierten jede dieser Umlaufbahnen mit einer schwingenden Saite, deren Klang sich in perfekter Harmonie mit den Klängen befinden musste, die von den anderen Gestirnen hervorgebracht wurden. Gemäß dem pythagoreischen Weltbild waren die sieben beweglichen Himmelskörper – Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn – sowie die Sphäre des Fixsternhimmels kraft ihrer Schwingungen imstande, eine vollständige und perfekt harmonische Tonleiter zu bilden, die sogenannte Sphärenmusik. Womit wir wieder auf die vom kosmogonischen Mythos ausgehende Alchemie zurückkommen, in der die sieben Planeten in Bezug zu den sieben Grundmetallen gesetzt werden. Am Ende von deren aufsteigender Skala steht das reine Gold26. Faszinierend an diesem Konzept ist die großartige, geradezu poetische und scheinbar außerhalb jeglichen gesunden Menschenverstands liegende Vorstellung, dass der gesamte Kosmos mit Musik angefüllt sei  ; dass im Grunde alle Dinge, die die Schöpfung hervorgebracht hat, in harmonischen Schwingungsverhältnissen zueinander stehen und wie eine einzige gigantische Symphonie erklingen. Und dies, weil sich das Prinzip der ganzzahligen Schwingungsverhältnisse der Saite auf die Umlaufbahnen der Planeten übertragen lässt. Verständlich, dass diese Theorie mit der Zeit Eingang finden sollte in das Repertoire völlig verrückter, aber dafür äußerst charmanter Ideen der menschlichen Geistesgeschichte. Und dann, gegen Mitte des 20. Jahrhunderts, machte sich schließlich eine Handvoll Physiker daran, eine Antwort auf die scheinbar unlösbare Frage zu suchen, wie man die zwei großen Theorien, die unser Universum beschreiben, miteinander in Verbindung bringen könne  : die allgemeine Relativitätstheorie für das unendlich Große und die Quantenphysik für das unendlich Kleine. Während sich die einen – nicht ohne einen gewissen Fatalismus – dem Konzept des von zwei theoretischen Systemen regierten Universums beugten, mochten sich andere mit dieser Lösung nicht zufrieden geben und erforschten kampfeslustig die Möglichkeit nach einer Vereinheitlichung der beiden Prinzipien. Im Laufe der vergangenen Jahre begann die Stringtheorie, auch Superstringtheorie genannt, von sich Redens zu machen und die wissenschaftliche Gemeinde allmählich von ihrer Gültigkeit als Erklärungsmodell für den Aufbau unseres Universums zu überzeugen. Wenngleich mit gewissen Vorbehalten, setzte sie doch die Annahme voraus, dass das Universum nicht mehr, wie Einstein es uns gelehrt hatte, vier Dimensionen besitzt – drei räumliche und eine zeitliche –, sondern je nach Theorie neun bis 25  ! Vor allem aber wurde durch die Stringhypothese dem Modell des Pythagoras wieder neues Leben eingehaucht, gemäß 64


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Von Pythagoras zur Stringtheorie

dem das gesamte Universum Musik sei, freilich diesmal auf der Skala des unendlich Kleinen. Deshalb konnten die Worte des Physikers Trinh Xuan Thuan, die das Vorwort bilden zu Brian Greenes27 faszinierendem Buch, in welchem ich die Anregung zu diesem Kapitel fand, den Ohren eines Musikers nur schmeicheln  : »Genau wie die Schwingungen einer Violinsaite verschiedene Töne und ihre jeweiligen Obertöne produziert, offenbaren sich die Töne und Obertöne der Superstrings in der Natur […] in Gestalt von Photonen, Protonen, Elektronen, Gravitonen […]. Diese Superstrings singen und schwingen um uns herum, und die ganze Welt ist nur noch eine gigantische Symphonie.« Greene beschränkt sich nicht darauf, uns das Prinzip der Strings näherzubringen, er leistet sich den Luxus, dem Leser auf geradezu spielerische Art, die Theorien der Relativität und der Quantenmechanik darzulegen, die unter seiner talentierten Feder scheinbar zu einer Selbstverständlichkeit werden – eine trügerische Illusion, in der Tat. Und mit Erstaunen stellt man fest, dass zwischen der alchemistischen Lehre der Materie und den neuesten Entdeckungen in der Teilchenphysik eine vollkommene Analogie besteht. Folglich können den vier Elementen, die die Eigenschaften verkörpern, gemäß derer sich die Materie zusammensetzen oder auseinandernehmen lässt, die vier Fundamentalkräfte gegenübergestellt werden  : Schwerkraft, elektromagnetische Kraft, starke und schwache Kernkraft. Das gleiche gilt für die drei Prinzipien, die man mit den drei Teilchenarten Elektron, Myon, Tau-Teilchen in Beziehung setzen kann. Das Prinzip der Einheit, oder Einheit des Prinzips, in der Antike allgemein durch einen Punkt im Inneren eines Kreises dargestellt, um die Entstehung des Kosmos aus dem absoluten Einen zu veranschaulichen, bei welchem es sich um nichts anderes handeln kann als um den »Mathematischen Punkt«, findet seine schönste Begründung in den Worten Greenes, der uns auffordert, eine ebenso radikale Schlussfolgerung zu ziehen wie die Denker der griechischen Antike  : »Wenn wir die Uhr noch weiter zurückdrehen, schrumpft der gesamte Kosmos auf die Größe einer Orange, einer Zitrone, einer Erbse, eines Sandkorns und auf noch winzigere Ausmaße. Wenn wir den ganzen Weg bis zurück zum “Anfang” extrapolieren, stellen wir fest, dass das Universum offenbar als Punkt begonnen hat […] in dem alle Materie und Energie zu unvorstellbarer Dichte und Temperatur zusammengepresst ist, […] aus dieser flüchtigen Mischung hervorgebrochen ist und die Keime ausgespieen hat, aus denen sich das Universum in der uns bekannten Form entwickelt hat.«28 Die Stringtheorie gewährt uns einen – freilich begrenzten – Einblick in Welten, in denen das Unermessliche herrscht. Die Größenskalen sind im Allgemei65


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nen Potenzen, deren Exponenten von + 33 bis – 33 reichen. Demnach hätte ein String, dessen Dimension in der Größenordnung von einem Millionstel Milliardstel Milliardstel Meter liegt, eine Spannung von mehreren Millionen Milliarden Milliarden Tonnen. In der Theorie sind Strings also messbar, berechenbar, manipulierbar. Aber völlig undenkbar in unserem Vorstellungsvermögen, das nichts anderes kennt als den Millimeter- und Grammbereich, um das unendlich Kleine zu vergegenwärtigen. Um ein String zu »sehen«, müsste man einen Teilchenbeschleuniger bauen, dessen Größe und Energie derjenigen des Universums selbst nahekäme. So war das einzige »Instrument«, das uns zur Verfügung stand, um die Welt der Strings zu konzeptualisieren und zu manipulieren, das Rechenspiel, der Einsatz von Zahlen. Um den Ursprung und den Aufbau des Universums zu erklären, hat unsere Geistesgeschichte zwei einander entgegengesetzte Modelle entwickelt. Auf der einen Seite steht die Idee, dass die Welt von Zahlen beherrscht wird und dass sowohl die kleinsten als auch die größten Bestandteile dieser Welt gemäß den Gesetzen eben dieser Zahlen in Schwingung treten. Auf der anderen Seite herrscht die Vorstellung, dass sämtliche Erscheinungen wie zum Beispiel die Materie, das Licht oder die Energie aus einer Schwingung entstanden seien. Daraus ergeben sich für uns drei wesentliche Konsequenzen  : 1. Die tiefe Verbundenheit des Menschen zum Phänomen des Klangs, sein natürliches Verlangen nach Musik sowie die Tatsache, dass überall, wo sich soziale Gemeinschaften bilden, Musik entsteht, erhält einen Sinn durch die Erkenntnis, dass sich der ganze menschliche Organismus aus schwingenden Strukturen zusammensetzt. 2. Die Analogien zwischen Tönen und Farben lächeln einem auf vertraute Weise entgegen, wenn man weiß, dass auch sie nichts anderes sind als Schwingungsmodi, die sich allein durch ihre Frequenzen voneinander unterscheiden. Was wiederum den Theorien von Olivier Messiaen über den Zusammenhang von Timbre, Harmonie und Farbe einen tieferen und wahrhaft metaphysischen Sinn verleiht. (Vgl. hierzu den Abschnitt über Messiaen im Kapitel »Kleine Geschichte der Moderne à la française«.) 3. Der vertikale Aufbau der Musik, das heißt die Harmonie und die Mehrstimmigkeit, konnte nur realisiert werden, indem die Frequenzskala nach einer strengen, auf Pythagoras zurückgehenden Zahlensymbolik geordnet wurde, die so angelegt war, dass diese Vertikalität überhaupt erst ermöglicht wurde  : sieben Noten in der diatonischen Tonleiter, zwölf chromatische Halbtöne, ein harmonisches System, welches auf dem vollkommenen Dreiklang beruht. Dieser wiederum ist eine Übereinanderschichtung von Grundton (1), Terzton (3) und Quint66


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Von Pythagoras zur Stringtheorie

ton (5). Dieselbe Rhythmizität spiegelt sich auch im Leben von uns Menschen wider, wie beispielsweise in den sieben Tagen der Woche, den zwölf Monaten des Jahres usw.  ; auch die Zahlen 3 und 5 sind in allen menschlichen Strukturen – physiologischen wie sozialen – allgegenwärtig vorhanden. Die Goldene Zahl Es existiert noch ein weiteres Gebiet, das seit jeher eine große Faszination auf den Menschen ausübt und das – gleich einer Matrix – der Zahl die Rolle des Demiurgen zukommen lässt, nämlich der »goldene Schnitt« oder die »goldene Zahl«. Der Begriff dürfte den meisten von uns zwar einigermaßen vertraut sein, doch bleibt das Prinzip, welches sich dahinter verbirgt, oftmals ein Rätsel. Gleichwohl ist die theoretische Aussage einfach und elegant, sind die Anwendungsmöglichkeiten, auch in der Musik, quasi unbegrenzt. Der Grund dafür liegt darin, dass die »goldene Zahl« oder »goldene Proportion« sowohl beim Aufstellen von Frequenzskalen, sprich  : Tonleitern, als auch bei der Herstellung von Instrumenten, namentlich beim Geigenbau, nachweislich als Konstruktionsprinzip diente. Die älteste erhalten gebliebene Beschreibung des Goldenen Schnitts stammt von Euklid, der im 3. Jahrhundert v. Chr. in seinem Werk Die Elemente eine als »Teilung im inneren und äußeren Verhältnis« überlieferte Definition desselben ausarbeitete und die ersten geometrischen Figuren daraus ableitete. Die eigentliche Bezeichnung »Goldene Zahl«29 beziehungsweise »Goldener Schnitt« geht jedoch auf den deutschen Philosophen Adolf Zeising (1810 – 1876) zurück. Auch der griechische Buchstabe φ –(Phi) , mit dem das Verhältnis des goldenen Schnitts bezeichnet wird, geht nicht, wie man leicht annehmen könnte, auf Euklid zurück. Vielmehr verdanken wir seine Verwendung dem englischen Kunstkritiker Theodore Cook, der ihn 1914 zu Ehren des griechischen Bildhauers Phidias (geb. um 500 v. Chr., gest. um 432 v. Chr.) vorschlug, um dessen Verdienste um die künstlerische Gestaltung des Athener Parthenons zu würdigen. Auf eine möglichst einfache Formel gebracht lautet das Prinzip  : Zwei Strecken stehen im Verhältnis des goldenen Schnitts, wenn sich die größere zur kleineren Strecke verhält wie die Summe aus beiden zur größeren. Dieses Verhältnis wird durch die Zahl φ (Phi) bezeichnet. Die folgende Abbildung soll die Proportion veranschaulichen. (Abb. 3.9.)

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Erster Satz: Was ist Musik?

In der Tat sieht man auf den ersten Blick, dass sich der kleinere Abschnitt der Seitenlänge des Rechtecks zum größeren so verhält wie der größere Abschnitt zur Gesamtstrecke. Literarisch ausgedrückt würde man sagen, dass die Teilung dieses Rechtecks gemäß dem Gesetz der harmonischen Proportionen erfolgt ist. Ein anderes Schema, das uns nicht nur die Eleganz und Schönheit der göttlichen Proportion aufs Trefflichste vergegenwärtigt, sondern uns vor allem vor Augen führt, mit welch harmonischer Bewegung sie sich entfaltet, um vom kleinsten Seitenabschnitt ausgehend den Aufbau des gesamten Universums – vom Atom bis zur Galaxie – zu reflektieren, ist die Spirale (Abb. 3.10.)  :

Die Skizze veranschaulicht sehr klar, wie sich das Gebilde der Spirale um zahlreiche unsichtbare Rechtecke herum windet, von denen sich jedes einzelne, vom kleinsten bis zum größten, in göttlicher Proportion zum vorangegangenen oder folgenden Rechteck befindet. Wir brauchen nur ihre Proportionen, ausgehend 68


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Von Pythagoras zur Stringtheorie

vom kleinsten, innersten Rechteck, mit denen des nächstgrößeren zu vergleichen und auf dieselbe Weise bis zum Ende der Figur fortzufahren. Dies zwingt unser Auge dazu, eine Drehbewegung zu vollziehen  ; es muss sich dem Verlauf der Spirale anpassen. Dass sich eine Figur von solch bestechender Harmonie, deren Entfaltung die Grazie einer Choreographie besitzt, in allen wesentlichen Strukturen der Natur offenbart, dass es eine Zahl ist, die im Herzen dieser Figur steht, – dies veranlasste den rumänischen Diplomaten und Universalgelehrten Matila Ghyka zu der Feststellung, die Zahl sei die Essenz der Form30. Die Gleichung, mit der man das berühmte φ erhält, soll hier nicht näher beleuchtet werden. Erinnern wir lediglich daran, dass sein Wert 1,6180… beträgt und die Stellen hinter dem Komma bis ins Unendliche weiter ausgerechnet werden können. Ähnlich verhält es sich übrigens mit der Kreiszahl π (Pi), mit dem Phi häufig verwechselt wird. Berühmtheit erlangte der Wert in jüngster Zeit durch einen äußerst erfolgreichen Roman, in dem Phi durch die sogenannte Fibonacci-Folge veranschaulicht wird. Für diejenigen, die sich nichts darunter vorstellen können, seien hier die ersten Zahlen der Folge veranschaulicht  : 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 … Demnach ergibt sich eine Zahl der Fibonacci-Reihe aus der Addition der beiden jeweils vorangegangenen Zahlen  : 3 resultiert aus 2 plus 1, 5 aus 3 plus 2, usw. Eine ihrer bemerkenswertesten Eigenschaften ist die Tatsache, dass, wenn man eine dieser Zahlen – von 5 an aufwärts – durch die vorherige dividiert, daraus eine Zahl resultiert, die sich Phi = 1,6180 immer mehr annähert. So ist 5 geteilt durch 3 gleich 1,6666, wohingegen 89 geteilt durch 55 uns bereits der 1,6181 annähert. Auch in diesem Phänomen offenbart sich also, wenngleich unsichtbar, das Prinzip der Spirale, die sich um die Zahlen windet … Und was soll das alles mit Musik zu tun haben  ? Nun, möglicherweise kann uns Gottfried Wilhelm Leibniz die Antwort auf diese Frage liefern, war er doch überzeugt davon, dass »die Musik eine verborgene arithmetische Übung der Seele ist, die dabei nicht weiß, dass sie mit Zahlen umgeht«. Und auch hier begegnen wir wieder der Allgegenwart von Phi, die sich sowohl im Aufbau der frühesten musikalischen Intervalle, namentlich der Tonleiter von Zarlino, als auch in unserer heutigen, temperierten Tonleiter manifestiert. Betrachten wir zum Beispiel einen C-Dur-Akkord, C, E, G – wichtigste Komponente unserer abendländischen Musikkultur. Dieser setzt sich aus einer großen und einer kleinen Terz zusammen. Anders ausgedrückt, aus vier Halbtonschritten plus drei Halbtonschritten. In Analogie zu unserem oben beschriebenen Rechteck wird die Quinte C-G in zwei Segmente unterteilt, von denen das eine 69


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Erster Satz: Was ist Musik?

größer ist als das andere. Und siehe da, abermals offenbart sich das Prinzip der göttlichen Proportion, auch wenn der Wert von Phi rein frequenztechnisch gesehen nur annähernd erreicht wird. Zur Veranschaulichung dieses Phänomens schlage ich demjenigen, der ein Klavier zu Hause stehen hat, vor, die vollständige Sequenz von Halbtönen des C-G-Intervalls auf der Tastatur anzuschlagen und jeder Note eine Zahl zuzuordnen. Demnach entspricht C der Zahl 1, Cis der Zahl 2 und so weiter bis G. Ohne allzu große Überraschung wird man feststellen, dass E und G den Zahlen 5 beziehungsweise 8 entsprechen. So führt uns die Notenskala des perfekten DurDreiklangs auf direktem Weg zur Fibonacci-Folge. Der Goldene Schnitt findet, wie wir bereits gesehen haben, auch im Instrumentenbau Anwendung. Stradivarius soll bei der Konstruktion seiner Geigen auf die Anwendung der göttlichen Proportion vertraut haben. Auch zahlreiche Komponisten ließen sich bei der Entstehung ihrer Werke vom Goldenen Schnitt inspirieren. Allen voran Béla Bartók, der ihn sogar als gestalterisches Grundprinzip angewendet haben soll, wie etwa im ersten Satz seiner Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, wie der ungarische Musikwissenschaftler Ernö Lendvai in seiner »Einführung in die Formen- und Harmoniewelt Bartóks« nachgewiesen hat. Dieser Satz besteht aus 89 Takten. Takt 56 – hier räumt Bartók der Musik den Vorrang ein gegenüber der reinen Mathematik – entspricht dem Goldenen Schnitt und markiert gleichzeitig den Höhepunkt des Satzes, dessen Spannungskurve vom Beginn des Stückes an stetig steigt31. Es versteht sich von selbst, dass die Frage, ob der Goldene Schnitt in den Werken der großen Komponisten Bach, Mozart, Beethoven eine Rolle spielt, mit wiederkehrender Regelmäßigkeit – und frei nach dem Motto »Man leiht nur den Reichen« – aufgeworfen wurde. Möglicherweise haben sie sich seine »göttlichen Gesetze« sogar ganz bewusst zunutze gemacht. Genauso kann es aber auch sein, dass ihnen das Zahlenverhältnis, das man in der Natur unendlich oft beobachten kann, von ihrem Genius eingehaucht wurde, auf ganz natürliche Weise. Wächst denn schließlich die Sonnenblume in dem Bewusstsein, dass ihre Kerne nach den Regeln des goldenen Schnitts angeordnet sind  ? Vielleicht hat uns die Lektüre dieses ersten Teils der Gewissheit nähergebracht, dass eine tiefe Verbindung besteht zwischen Musik und der Natur des Menschen – ganz gleich, ob es sich um seine physische oder seine geistige Natur handelt –, und dass das Phänomen Klang nicht von den Grundprinzipien der natürlichen Welt zu trennen ist. Eben weil sie unseren Körper und unseren Geist gleichermaßen berührt, vermag Musik, mehr noch als alle anderen Kunstformen, ja als alle geistigen und 70


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Von Pythagoras zur Stringtheorie

ästhetischen Hervorbringungen des Menschen überhaupt es können, unser Bewusstsein zu verändern. Wenngleich es nicht das »Rohmaterial« allein ist, dem diese Kraft und diese Präsenz zu verdanken sind. War es doch zunächst unerlässlich, dass sich, im Laufe der Zeitalter, – eine Artikulation der Töne herausbildete, dass eine Architektur der Formen entstand, dass sich eine Entwicklung der Stile vollzog. Es bedurfte, mit einem Wort, der Herausbildung einer Sprache.

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Z W E I T E R S AT Z : D i e S p ra c h e der M u s i k

Die Frage, ob Musik eine Sprache sei, mag zunächst naiv erscheinen, versteht sich doch die Antwort für die einen von selbst, während der Vergleich für die anderen lediglich eine Floskel darstellt. Fest steht, dass der Begriff »musikalische Sprache«, mag er auch noch so gang und gäbe sein, im Allgemeinen als Metapher verwendet wird und dass diejenigen, die ihn zur Charakterisierung eines Werks heranziehen, meistens genauso schnell bei der Hand sind mit Vergleichen aus Malerei oder Tanz. Seltener kommt es vor, dass Musikexperten vom »linguistischen System« eines Werks sprechen, was absolut nicht dasselbe ist. Aber grundsätzlich bedienen sich die einen wie die anderen des Wortes »Sprache«, um die verschiedenen Arten musikalischer Äußerungen zu beschreiben. Sämtliche Wörterbücher stimmen darin überein, dass sie Sprache als ein – sowohl verbales als auch non-verbales – vom Menschen geschaffenes Verständigungssystem definieren. Von musikalischer Sprache zu reden bedeutet also, dass wir grundsätzlich vom Bestreben des Komponisten ausgehen, etwas zum Ausdruck zu bringen, zu kommunizieren. Was die Wissenschaft der Wortsprache, also die Linguistik, betrifft, so handelt es sich um die Disziplin, die laut Ferdinand de Saussure »die Sprache an und für sich betrachtet zum einzigen wirklichen Gegenstand hat«. Folglich lässt sie sich auf jedes beliebige Werk anwenden, egal wie viel »Esoterik« diesem auch anhaften mag. Geht es einem Künstler nicht darum, das Innerste seines Nächsten zu berühren, zu ergreifen, ihn zu begeistern, sondern nur, seinen schöpferischen Prozess bis zum Geht-nicht-mehr zu »konzeptualisieren«, so wird einem der Begriff »Linguistik« grundsätzlich leichter über die Lippen kommen als das Wort »Sprache«. Was unseren Spezialisten, nebenbei bemerkt, – mit Sicherheit auch noch in seiner Eigenliebe bestätigen wird. Die Sprache ihrerseits definiert sich selbst als solche. Während ihre Erforschung quasi »in vitro« geschieht, losgelöst von jeglicher Emotionalität, von jeglicher Personalisierung und, vor allem, von jeglicher Subjektivität, muss die Musik, so sie denn wirklich eine Sprache ist, imstande sein, sich erst als solche zu definieren. Im Französischen etwa spricht man nicht von »langue musicale« [im Sinne etwa einer Fremdsprache], sondern von »langage musical«. Russisch zum Beispiel ist eine


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Sprache [une langue], die von einer klar definierten Volksgruppe gesprochen wird  ; würde sich diese Volksgruppe jedoch aus irgendeinem Grund ein anderes Kommunikationssystem aneignen – so wie etwa die Franken einst das Lateinische aufgaben – und ihre ursprüngliche Sprache damit dem Aussterben anheimfallen lassen, so bliebe diese dennoch in der Terminologie der Sprachhistoriker, die sich mit ihrem Fall befassen, eine Sprache [un langage]. Freilich wären ihr, wie bei einem Fossil, das »Fleisch« und die »Körpersäfte« der alltäglichen Anwendung, des Brauchs, abhandengekommen. Soll das etwa heißen, dass Musik letztendlich nichts anderes ist als eine – tote – Sprache, im Sinn von langage  ? Die Antwort auf diese Frage lautet selbstverständlich Nein, denn die universellen Eigenschaften der Musik, dank derer auch ein westlich geprägtes Ohr in der Lage ist, japanischem Gagaku zu lauschen sowie die Tatsache, dass jeder Mensch mit musikalischen Fähigkeiten zur Welt kommt und keine Vorbildung braucht, um sie in sich aufnehmen zu können, aber auch die außerordentliche Subjektivität ihres Ausdrucks, die es schafft, meinen Nachbarn beim Hören eines bestimmten Musikstücks völlig kalt zu lassen und mich dagegen vor Begeisterung in Ohnmacht fallen zu lassen, mit einem Wort  : ihre extreme Abstraktheit – all das lässt sich nicht mit der strikten Definition von Sprache im Sinn von langage in Einklang bringen. Vielmehr geht es in der Musik um ein »Jenseits der Sprache«  ; so wie es auch in der Literatur ein Jenseits der Sprache gibt. Maurice Blanchot, Roland Barthes und einige andere Literaturtheoretiker wurden nicht müde, zu behaupten, die Sprache strebe ihrer eigenen Destruktion entgegen, die moderne Literaturgeschichte sei eine Geschichte des Mordes, eine Geschichte der absence d’écriture  ; gleichzeitig dürfe dieses Fehlen jedoch nicht gleichgesetzt werden mit der Abwesenheit des Autors, des Buches, des Leseaktes, des Lesers  ; vielmehr spreche aus ihr der Wille, sich von allen kulturgeschichtlichen Modellen des Schreibens loszusagen. Parallel zu den dekonstruktivistischen Tendenzen in der Literatur kündigte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Preisgabe, ja der »Mord« der klassischen Musiksprache an, mit der Konsequenz, dass jegliche Kommunikation zwischen Komponist und Rezipient zerstört wurde. Ohne dass es freilich unmöglich gewesen wäre, zuzugeben, dass man sich nach wie vor im Bereich der Musik befinde. Die Vorlagen zur Erforschung und Analyse des Phänomens Musik sind, wie ich bereits dargelegt habe, vor allem im Bereich der musikalischen Strukturmerkmale zu finden. Mehr noch als die Sprachwissenschaft, die uns lediglich bei der Betrachtung von »Oberflächenereignissen« weiterbringen kann, wird uns die Semiologie, die Wissenschaft der Zeichen, dabei helfen, die Musik nicht nur in all ihren Erscheinungsformen, sondern auch – und vor allem – in ihrer Wesenhaftigkeit zu verstehen. 74


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4. Musik und Semiologie »Die Bedeutung eines Künstlers misst sich an der Menge neuer Zeichen, die er in die Sprache eingeführt hat …« Louis Aragon

Laut Igor Strawinsky ist »die Musik ihrem Wesen nach unfähig, irgendetwas auszudrücken, was es auch sein möge, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst«. Aus dem Munde eines so scharfen Verstandes erscheint dieses Statement, das offensichtlich in provokativer Absicht erfolgte, oder vielleicht auch, um die eigenen ästhetischen Prämissen zu begründen, wie vorgestanzt und wenig klar umrissen. Abgesehen davon, dass doch jeder Künstler grundsätzlich danach strebt, sich mittels seiner Kunst auszudrücken, leitet sich das Wort »ausdrücken« vom lateinischen Verb ex-primere ab, was soviel heißt wie »nach außen drücken«. Darüber hinaus werden dem Begriff laut Wörterbuch noch folgende Bedeutungen zugeordnet  : seine Gedanken und Eindrücke offenbaren sowie seine Gefühle durch künstlerisches Schaffen mitteilen. Ein Komponist tut also nichts anderes, als seine Gedanken und seine Eindrücke, seinen Seelenzustand »aus sich herauszudrücken«, zu manifestieren. Strawinsky hat demnach ganz einfach das falsche Wort gewählt, und wir werden uns davor hüten, so zu tun, als wüssten wir nicht genau, was er damit sagen wollte. Nämlich, dass die Musik unfähig ist, zwischen dem Gefühl des schöpfenden Schöpfers und dem des hörenden Hörers eine Kongruenz herzustellen32. Nehmen wir nur die sechste Symphonie von Tschaikowsky, genannt Pathétique, in der der Komponist »die ganze Qual und Ekstase der Liebe« zum Ausdruck bringen wollte. Dieses Bemühen gelang ihm freilich nur zum Teil, ebenso wie wir nicht in der Lage sein werden, die Gedanken kennenzulernen, die zum Entstehen dieses Werks geführt haben. Von Tschaikowskys Seelenzustand dringt nicht mehr als ein ungefähres Abbild bis zu uns vor, vorausgesetzt natürlich wir sind empfänglich für seine Musik  ; nicht die quälenden Gedanken des Komponisten werden zum emotional kompetenten Objekt, sondern das Werk selbst wird es. 75


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Wenn nun Strawinsky die Musik hinsichtlich ihrer Ausdruckskraft kritisiert, wirft er damit übrigens kein neues Thema auf  ; wird doch seit jeher derselbe Vorwurf gegen die Werkzeuge der verbalen Sprache vorgebracht. Bereits 1690 stellte der englische Philosoph John Locke in seinen Betrachtungen zur Unvollkommenheit der Sprache fest, die hauptsächliche Bestimmung derselben sei, dass »die Menschen einander ihre Gedanken oder Begriffe bekanntmachen, […] dass die Wörter diesem Ziel nicht dienen könnten, […] wenn ein Wort im Geiste desjenigen, der zuhört, nicht dieselbe Idee anregen würde wie bei demjenigen, der spricht.«33 Der Komponist verfügt über die berauschende Gabe, mentale Musikbilder zu vergegenständlichen, das heißt, zu realen Entitäten werden zu lassen, und zwar genau in jenem intimen Stadium, wo Subjekt und Objekt miteinander verschmelzen, wo der gehörte Klang für ihn selbst unmittelbarer und spontaner Ausdruck seines aktuellen Gefühls ist, selbst wenn er zu einem späteren Zeitpunkt Veränderungen daran vornehmen sollte. Nun aber stellt das konkrete Objekt an sich, ist es erst einmal zum Ausdruck gekommen, nichts anderes als eine Fülle beseelter Luft dar, die mit einem anderen Körper in Resonanz tritt und in diesem eine reine Empfindung auslöst. Wobei das eigentliche akustische Objekt auf dieser Ebene noch nicht existiert. Es wird erst von dem Moment an als solches wahrgenommen, da ein Zeichen in Aktion tritt, das heißt, wo sich eine Mediation zwischen Subjekt und Objekt vollzieht. Und in eben diesem Moment kann uns die Semiotik, oder die Wissenschaft der Zeichen, dabei helfen, den Bruch in der Intersubjektivität zwischen dem Komponisten, dessen Botschaft mit dem von ihm gewählten Code übereinstimmt, und dem Hörer, für den diese Kongruenz nicht mehr besteht, mithilfe unserer Fähigkeit zur Aneignung neuer Codes und neuer »Interpretanten« zu überwinden. Bevor wir uns ausführlicher mit diesem Thema befassen, schlage ich einen kurzen Abstecher in die Welt des Parfums vor, um zu zeigen, wie wichtig es ist, die Musik als ein semiotisches System oder Zeichensystem zu verstehen und welche Konsequenz sich daraus ergibt  ; dass nämlich der Hörer gezwungen ist, sich durch aufmerksamstes Zuhören neue Zeichen anzueignen, um so den Hörgenuss zu steigern. Drei Analogien haben mich dazu bewogen, auf das Beispiel des Duftwesens zurückzugreifen  : 1. Duft ist auch eine Zeichensprache. Stellen Sie sich vor, Sie riechen an einem Rosenparfum. Sogleich denken Sie an eine Rose, vorausgesetzt eine Begegnung mit dem Duft dieser Blume ist Ihnen bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorenthalten worden. Das Parfum ist also das Zeichen für eine ganz präzise Sache. 76


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Musik und Semiologie

2. Die Sprache des Parfums lässt sich praktisch nicht in Worte fassen, genauso wenig wie die Sprache der Musik. Das beweise allein schon der – von vornherein zum Scheitern verurteilte – Versuch, so Umberto Eco, »den Unterschied zwischen dem Duft des Eisenkrauts und dem des Rosmarins mit Worten zu beschreiben«.34 Und genauso würde es uns ergehen, wollten wir all die Gefühle in Worte fassen, die uns beim Hören eines Beethoven-Quartetts oder unseres Lieblings-Songs von den Beatles ergreifen. Und dennoch, tief im Inneren spüren wir, dass die Verschiedenartigkeit der beiden Musikstücke keinen Zweifel zulässt. Die Wörter, die die Merkmale des jeweiligen Stücks beschreiben könnten, liegen einem förmlich auf der Zunge  ; man meint, sie am eigenen Leib, in seinem tiefsten Inneren zu spüren. Wie eine Metasprache, eine Sprache aus einer anderen geistigen Dimension. 3. Sowohl beim Riechvorgang als auch beim Hören von Musik eignet man sich sogenannte »Interpretanten« an, das heißt jene Codes, die dazu notwendig sind, um beispielsweise vom Duft der Rose zum mentalen Konzept der Rose zu gelangen und von dort – mithilfe von Übung und Erziehung – zum Auftauchen des Wortes »Rose« in unserem Bewusstsein. Es versteht sich von selbst, dass die Welt der Gerüche für einen Parfumeur unendlich viel expressiver ist als für den normalen Sterblichen. Erinnern wir uns nur an die Passage in Süskinds Roman Das Parfum  : »Andererseits hätte die gängige Sprache schon bald nicht mehr ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz, altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrösel – und roch sie als so deutlich unterschiedene Gegenstände, wie andre Leute sie nicht mit Augen hätten unterscheiden können. Ähnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes weiße Getränk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zöglingen verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen hatte, wie viel Rahm man ihm belassen hatte und so fort.«35 Der olfaktorische Wortschatz des Romanhelden ist so reich, dass er an jene »perfekte Sprache« heranzureichen scheint, die nach den Worten des Heiligen Augustinus »nicht aus Worten gemacht sei, sondern aus den Dingen selbst, so dass die Welt wie ein Buch erscheint, das von Gottes Finger geschrieben wurde«.36 In der Tat, wie könnte man eine Sache besser kennenlernen – ihrer teilhaftig werden, ja selbst zu dieser Sache werden –, als durch ihren Geruch  ? Ist doch der Geruch eines Objekts allemal »vielsagender« als ein simpler Name. 77


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Mit der Musik verhält es sich genauso. Sie ist eine Metasprache, die uns von einem anderen Zustand erzählt, von einer anderen Dimension, von einer anderen Perspektive, nicht nur auf die Welt, sondern auch auf uns selbst. Während der Duft die Eigenschaft besitzt, uns die Intimität der Dinge zu offenbaren, vermag der Klang uns das tiefste Innere unseres eigenen Ichs zu enthüllen, vorausgesetzt freilich, wir sind bereit, uns die entsprechenden Zeichen und Codes anzueignen. Das ganze Problem der Entfremdung, der Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, welches das heutige Verhältnis zwischen Komponist und Publikum auszeichnet, beruht allein auf diesem Mangel an Codes und veranlasst den Hörer nur allzu schnell zu dem Urteil, moderne Werke seien kompliziert, was wörtlich so viel bedeutet wie  : in sich selbst zusammengefaltet. Weil zeitgenössische Musik nur eine geringe Anzahl von bekannten und anerkannten Interpretanten zu bieten hat, zwingt sie den Komponisten zu – oft mühsamen – schriftlichen oder mündlichen Erläuterungen, mit dem Effekt, dass diese den Hörer noch mehr entmutigen, als es das Werk selbst schon tut. Bevor wir uns der Frage zuwenden, auf welche Weise denn überhaupt neue Codes geschaffen werden können, schauen wir uns an, wie die Tonkünstler der Vergangenheit vorgegangen sind. Für einen Komponisten der tonalen Epoche bestand der kreative Prozess meist darin, sich in dem ihm zur Verfügung stehenden Vorrat an musikalischen Elementen, die alle im Laufe der Zeit als signifikant angenommen worden waren, zu »bedienen« und sich das gewünschte Material »herauszufischen«, um diesem dann mittels seiner Intuition, oder Inspiration – unterstützt durch die Regeln der Kompositionstechnik – seine Ausdruckskraft zu verleihen. Hielt er sich zudem an die Regeln der Harmonie- und Kontrapunktlehre, so war das sprachliche Gerüst des Werks, und damit das semiotische System, gesichert. Man könnte sogar die Hypothese wagen, dass sich das Genie eines Künstlers in den meisten Fällen an seiner Subversivität im Hinblick auf diese Regeln messen ließ. Auch wenn der allgemeine Rahmen eingehalten wurde, der durch dieses Regelwerk festgelegt war und aufgrund dessen sich das Genie überhaupt erst offenbaren konnte. Die freiwillige – fast wäre man versucht zu sagen  : heldenhafte – Abkehr der modernen Komponisten von diesen im Laufe der Zeit gewonnenen Orientierungspunkten hat den Hörer mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich seine eigenen Anhaltspunkte, seine eigenen Codes zu erschaffen, um in seinem Inneren das eingravieren [imprimer] zu können, was außerhalb seiner selbst gerade ausgedrückt [exprimé] wurde. 78


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Musik und Semiologie

Stellen wir uns vor, wir wachen eines Morgens auf und merken, dass in der Nacht sämtliche Verkehrszeichen gegen neue ausgetauscht worden sind. Natürlich ergeben diese für uns keinerlei Sinn, wenn wir nicht gerade zufällig das entsprechende Lehrbuch zur Hand haben. Und genau das ist die Situation, in der sich das Publikum, ja sogar viele Musiker selbst, angesichts der SerialismusRevolution und ihren Folgen wiederfanden. Vielleicht war sie sogar schon viel früher eingetreten. Hatte nicht Debussy, der von modernen Komponisten immer wieder gerne als Referenz herangezogen wird, von Strawinsky gesagt, dass ihn dieser beunruhige, »weil er das schreibt, was schon nicht mehr als Musik zu bezeichnen ist«  ? Das Problem ist jedoch nicht die Frage, was Musik ist und was nicht. Denn im Grunde kann jedes vom Menschen gestaltete akustische Objekt unter bestimmten Bedingungen, nämlich jenen, die die Grenzen zur Kunst markieren, als Musik bezeichnet werden37. Was zählt, sind einzig jene Anhaltspunkte oder Codes, die es einem ermöglichen, diese akustischen Objekte zu interpretieren, sinnlich wahrzunehmen, zu beurteilen und für gültig zu befinden. Man könnte sich sogar an eine ontologische Definition von Musik heranwagen  : Musik ist, was durch den Hörer für gültig erklärt wird. Um noch einmal unser Beispiel aus dem Straßenverkehr zu bemühen, so scheint es im Nachhinein, als hätten die Künstler der Moderne zwar enthusiastisch, jedoch völlig überstürzt gehandelt  : Einfach die Beschilderung auszuwechseln, ohne den Benutzern die Gelegenheit zu geben, sich damit vertraut zu machen, – das konnte nur die allergrößte Konfusion nach sich ziehen. Auf der anderen Seite sieht es so aus, als verharrten Letztere in einer verbissenen, an Trägheit grenzenden Boykotthaltung, so als hätten sie sich geschworen, nur noch zu Fuß zu gehen, anstatt den Versuch zu machen, die Bedeutung der neuen Zeichen zu entschlüsseln. Weil es nun aber das Zeichen ist, durch welches das »Miss-Hören« [malentendu] verursacht wurde, wage ich jetzt mithilfe eben dieses Zeichens einen Versöhnungsversuch, indem ich mich bemühe, in die esoterischen Schichten des Phänomens Klang vorzudringen (altgriechisch esôterikos = einem »inneren« Personenkreis vorbehalten). Mit anderen Worten  : in die Schichten des »Unausgesprochenen« [sous-entendu], dessen Codes gleichsam die Gene des exoterischen Klangphänomens sind (exôterikos = nach außen, d. h. zum Publikum gewandt). Wenn man sich mit dem Thema der Semiotik, der Lehre von den Zeichensystemen, näher befassen möchte, sollte man von zwei grundsätzlichen Annahmen ausgehen  : 79


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

1. Das Zeichen ist eine Entität, die für etwas anderes steht. 2. Das Zeichen ist eine Entität, die an einem Prozess der Bedeutungsbildung teilnimmt38. Womit bereits eine erste Frage aufgeworfen wäre  : Wenn die Musik aus Zeichen besteht, die für etwas anderes stehen, was ist dann dieses »Andere«  ? Die Antwort steckt in der Erläuterung der zweiten Prämisse. Das akustische Objekt muss etwas bedeuten, um als Zeichen anerkannt zu werden. Und das wiederum ist schwierig zu identifizieren, da die Musik von allen Kommunikationsarten die abstrakteste ist. Aus diesem Grund wird das »Andere« notwendigerweise auf der Ebene der subjektiven Wahrnehmung zu verorten sein, auf der Ebene des Gefühls und der durch das Gehörte ausgelösten Emotionen. Die meisten Menschen werden beim Betrachten eines Schildes, auf dem ein Pferd abgebildet ist, problemlos imstande sein, in ihrem Kopf den Bezug zwischen Zeichen und realem, konkretem Objekt herzustellen. Ein nach rechts zeigender Pfeil auf demselben Schild ist bereits weniger explizit. Dieses Symbol kann nur aus einem bestimmten Kontext heraus gedeutet werden und setzt zudem die Kenntnis der Codes voraus, die das Konzept des Pfeils definieren. Dahingegen würde es an Hirnakrobatik grenzen, einem Dur- oder Moll-Akkord, einem Intervall oder einem Rhythmus eine präzise oder gar universelle Bedeutung, also ein konkretes Zielobjekt, zuzuordnen. Trotz alledem werden die Hörer, die demselben Kulturkreis angehören und ihre musikalischen Affinitäten miteinander teilen, darin übereinstimmen, dass zum Beispiel eine Brahms-Symphonie in denselben Momenten bei allen mehr oder weniger dieselben Gefühle auslöst. Und wie es bei echten Wagner-Fans aussieht, brauchen wir ja wohl nicht näher zu beschreiben. Es scheint also, dass sich diese Übereinstimmung der Empfindungen mit der Bedeutungskraft der Zeichen deckt. Und ich behaupte, dass es sich bei den Dingen, an deren Stelle Zeichen gesetzt wurden, um die vom Hörer erlebten Emotionen und Gefühle handelt. Bevor wir unsere Forschungen auf diesem Gebiet vertiefen, sollte festgehalten werden, dass es in der Musik zweierlei Arten von Zeichen gibt  : Da sind einerseits all jene Zeichen, aus denen sich die geschriebene Partitur zusammensetzt, und andererseits diejenigen, die uns über die gehörte Musik vermittelt werden. Es gibt also das Zeichen im Zeichen, oder genauer gesagt  : das Zeichen hinter dem Zeichen. Die Zeichen der ersten Kategorie sind nicht von vornherein mit einer expressiven oder emotionalen Ladung ausgestattet. Sie liefern uns lediglich Angaben darüber, wie das Werk konzipiert wurde und wie es gespielt werden soll. Um auf 80


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Musik und Semiologie

unser anfängliches Argument hinsichtlich der Relevanz des Begriffs »musikalische Sprache« zurückzukommen, können wir davon ausgehen, dass es sich bei den vom Komponisten niedergeschriebenen Zeichen um jene Sprache handelt, die »nichts anderes ist als sie selbst«. Das geschriebene Zeichen wird – perfekt kodifiziert für ihn, nur für ihn allein – im Geist des Komponisten geboren. Seine Enthüllung geht schrittweise vonstatten. Sie vollzieht sich erst in dem Moment, in dem die Partitur zur Ausführung kommt. Selbst die populärsten Werke sind von dieser Regel nicht ausgeschlossen  : Unter der Vielzahl von Zeichen, aus denen sie sich zusammensetzen, gibt es eine ganze Menge, die vollkommen » esoterisch« sind und selbst den erfahrensten Musikern eine gründliche musikalische Analyse abverlangen, um verstanden und wahrgenommen zu werden. In Puccinis Oper Tosca gibt es ein Beispiel, das ich jedes Mal, wenn ich dieses Werk dirigiere, heranziehe, um meinen Sängern zu demonstrieren, auf welche Weise der Komponist den Schlüssel zu einer – im Grunde offensichtlichen – Melodie verborgen hat. Gemeint ist der Anfang des zweites Aktes, wenn Scarpia Tosca mit den Worten umwirbt  : »Ich kann aus der Gitarre keine Akkorde hervorzaubern, und aus den Blumen keine Horoskope« (Bsp. 4.1.)39  :

Unter dem Wort »accordi« hat Puccini einen Harfenakkord kaschiert, der, um einen Halbton tiefer versetzt, der Sequenz leerer Saiten auf der Gitarre entspricht. Was einem sofort einleuchtet, wenn man diese alleine anschlägt (Bsp. 4.2.)  :

Später dann, wenn Scarpia immer zudringlicher wird  : »Aber einer schönen Frau verkaufe ich mich nicht für Geld«, und am Schluss des Aktes, kurz vor seinem 81


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Ausruf  : »Tosca, endlich bist du mein«, werden die Noten des Akkords – leicht vertauscht – aufgerollt, um so eine neue Melodie zu ergeben (Bsp. 4.3.).

Ist man dem Ursprung der Melodie auf diese Weise auf die Spur gekommen, kann man das Spiel des Sängers mit einer zusätzlichen Prise Salz versehen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um ein »inneres«, ein geheimes Zeichen  : um ein Augenzwinkern des Komponisten an die Adresse des aufmerksamen Musikers. Zusammen mit den Noten, den Rhythmuswerten und den Interpretationsangaben bildet dieser Typ Zeichen, den man hier sogar eher als Synekdote40 bezeichnet sollte, die Gesamtheit der Zeichen, die es gestatten, ein Werk zu interpretieren. Sind diese einmal ausgeführt, ergeben sie das akustische Objekt, aus dem dann sofort ein neues Zeichen entsteht, diesmal jedoch auf den Hörer gerichtet, der seinerseits, je nachdem wie geschult und sensibel sein Ohr ist, auf dieses emotionsauslösende Objekt reagieren wird. Ein weiteres Beispiel, besser bekannt unter Musikern und besonders aufmerksamen Dirigenten, ist das Motiv von Isoldes Liebestod aus Wagners Tristan-Ouvertüre, auf das sich Richard Strauss in Salomé bezieht. Erinnern wir uns daran, dass ein junger, in Diensten des Herodes stehender Wachsoldat, Naraboth, leidenschaftlich in Salomé verliebt ist. Gleich zu Beginn von Strauss’ Werk verleiht er seiner hoffnungslosen Bewunderung für die Prinzessin Ausdruck, und schon erklingen besagte vier Noten in den tiefen Registern des Orchesters. Sie werden die Figur des jungen Soldaten nicht mehr loslassen, sich steigern, sich vermehren und den Unglücklichen, der sich schließlich aus Verzweiflung den Tod gibt, mit sich reißen. Im Fall von Tosca haben wir es mit einem Zeichen zu tun, dessen Ursprung – die Noten der Gitarre – durch reines Zuhören nicht erkennbar ist, es sei denn, man kennt die Partitur auswendig. Strauss’ Anleihe bei Wagner hingegen verleiht der Figur des Naraboth dadurch, dass sie sogleich erkennbar ist und zur Genüge wiederholt wird, eine besonders pathetische Aura, die sich leicht erklärt, wenn man die Herkunft des als Leitmotiv dienenden Zeichens kennt. Strauss war, wie wir später noch sehen werden, einer der geschicktesten Verwerter emotionsauslösender Zeichen. Er bediente sich ihrer in genauester Kenntnis der Sachlage. 82


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Musik und Semiologie

Es gibt musikalische Objekte, die aufgrund ihrer bemerkenswerten Prägnanz universell identifizierbar sind. Deshalb bietet es sich an, mit diesen zu beginnen, wenn man die Funktionsweise des musikalischen Zeichens besser verstehen möchte. Ich bin der Ansicht, dass von allen Zeichen das Crescendo dasjenige ist, welches sich am unmittelbarsten interpretieren lässt. Das Crescendo löst in uns ein Gefühl des Übergangs aus, der Zustandsveränderung, der Annäherung, der Erhebung, der Öffnung. Es manifestiert sich in einem Gefühl der Erregtheit, ja der Ekstase, welches jedoch ebenso rasch in Beklommenheit oder Niedergeschlagenheit umschlagen kann, wenn es sich länger hinzieht und ausweitet. Das Decrescendo, auch Diminuendo genannt, provoziert andere Gefühle, die der oben beschriebenen Reaktion auf das Crescendo nicht unbedingt entgegengesetzt sein müssen. Entfernen, Nachlassen, Schließen vermitteln weniger ein Gefühl des Verlusts als vielmehr einen Eindruck der Verflüchtigung, die unsere Aufmerksamkeit in wachsendem Maß gefangen nimmt, unser Zuhören fokussiert. Diese beiden Vortragszeichen entsprechen einem Spannungsauf- und Spannungsabbau, wobei letzterer in dem Moment eintritt, wo sich das Vario im Neutralzustand befindet. Dieselbe unmittelbare Ausdruckskraft ist den Tempobezeichnungen Accelerando und Ritardando eigen  ; ein Hörer, der wirklich in den Hörprozess einbezogen ist, wird durch eine Tempobeschleunigung mitgerissen werden, wohingegen eine Tempoverlangsamung ein gewisses Innehalten auslösen wird. Wenn diese musikalischen Objekte – oder präziser ausgedrückt  : Parameter – eine solche Macht über uns besitzen, dann bedeutet das, dass sie unmittelbar auf unsere Physiologie einwirken  : das Crescendo, indem es unser Ohr sättigt, das Accelerando, indem es mit unserem biologischen Rhythmus spielt, usw. … Wie oft kommt es nicht vor, dass sich während der Arbeit mein Herzschlag dem »Puls« der Musik, die ich gerade höre, anpasst und sich regelrecht in diesem verankert. Und ich einer Tempobeschleunigung erst dadurch gewahr werde, dass ich eine plötzliche Unruhe in mir verspüre und meine Pulsfrequenz steigt, obwohl meine Aufmerksamkeit bis dahin nicht auf diesen Parameter gerichtet war. Eine weitere Kategorie musikalischer Objekte mit einer starken evozierenden Kraft ist das Timbre. So gibt es zum Beispiel Instrumente, die mit einer derart ausgeprägten Persönlichkeit ausgestattet sind, dass man angehenden Komponisten immer davon abrät, übermäßigen Gebrauch von ihnen zu machen. Das gilt etwa für das Tam-Tam, für Gongs, Glockenspiele oder die Orgel sowie für gewisse extrem tiefe, von mehreren Kontrabässen gleichzeitig erzeugte Töne. 83


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Gleichzeitig ist zu bemerken, dass diese Instrumente kraft ihres Klangumfangs und ihrer »Gravität« [gravité] – im dreifachen Sinne des Wortes von Tief, Würde und Anziehungskraft – die Eigenschaft besitzen, das Numinose heraufzubeschwören, über das wir bereits an früherer Stelle gesprochen haben. Und dass zweifelsohne darin der Grund besteht für die enorme Wirkungskraft, die sie auf den Hörer ausüben. Die tiefen Töne erzeugen Vibrationen, vor allem bei einem Life-Hörerlebnis, die einem wortwörtlich »unter die Haut gehen«. Beabsichtigt man nun, die elaborierten musikalischen Objekte näher zu betrachten – also die Melodien, die klassischen Akkorde oder die Rhythmen – so begibt man sich in das Kulturgebiet, das dem Hörer zu eigen ist. Das heißt, dass das musikalische Zeichen mit einer größeren Anzahl von Codes ausgestattet sein muss, um gedeutet werden zu können. Von all diesen Objekten ist freilich der Rhythmus der expliziteste, sind wir Menschen doch selbst einem Rhythmus, unserem gleichmäßigen Herzschlag, unterworfen. Eine Abfolge von regelmäßig erklingenden Tönen vermittelt uns ein Gefühl der Stabilität, wie etwa der Anfang von Beethovens Violinkonzert op. 61. Diese vier leisen Paukenschläge genügen, um sogleich eine Stimmung des Friedens, aber auch einen Zustand innerer Sammlung zu erzeugen, vergleichbar mit dem eines ruhenden Menschen. Die traditionelle Volksmusik beruht seit jeher hauptsächlich auf ihren Rhythmen, die es gestatten, den jeweiligen kulturellen und ethnischen Hintergrund zu bestimmen. Wir sprechen stärker auf den einen oder anderen Typ volkstümlicher Musik an, wenn wir mit den entsprechenden kulturellen Codes vertraut sind. Der Rhythmus jedoch besitzt diese einzigartige Macht, dem Hörer – wie in einer Hypnosesitzung – Einlass in die Vertrautheit einer ihm unbekannten Welt zu gewähren. So wird jeder, der ein paar Takte Bossa Nova oder Tango hört, sofort das Gefühl haben, in der brasilianischen bzw. argentinischen Kultur heimisch zu sein, wenngleich er keines dieser Länder jemals besucht hat. Es versteht sich von selbst, dass der Hörer die geographischen Codes kennen muss, um den Bossanova mit Brasilien und den Tango mit Argentinien assoziieren zu können  ; aber ich erinnere mich noch deutlich daran, dass ich in meiner Jugend einige Schallplatten mit lateinamerikanischer Tanzmusik besaß und dass die brasilianischen Rhythmen mir unbändige Lebensfreude vermittelten, während die Tangoweisen eher eine feierliche Kraft ausstrahlten. Diese und viele andere Erfahrungen auch, die ich in einer Zeit machte, als ich noch herzlich wenig Codes kannte, haben mich schon früh davon überzeugt, dass Musik, noch ehe ich ihre Zeichen überhaupt deuten konnte, Emotionen und Gefühle zu trans84


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Musik und Semiologie

portieren vermag, die den menschlichen Körper als Ganzes miteinbeziehen. Weil sie – vor allem im Falle dieser Musik – aus der Geste eben dieses Körpers hervorgegangen sind und diese, ob es Strawinsky gefällt oder nicht, – zum Ausdruck bringen. Um die Funktion von Melodie und Harmonie als musikalische Zeichen zu untersuchen, werde ich mich an die von Rameau postulierte Reihenfolge halten. War er doch der Überzeugung, dass es »die Harmonie [ist], die allein die Leidenschaften anregt  ; die Melodie bezieht ihre Kraft nur aus dieser Quelle…«. Die Harmonie – dominanter, signifikanter als die Melodie  ? Die Harmonie – ein musikalisches Zeichen, welches sich schneller deuten lässt als die Melodie  ? Daran dürfte kaum ein Zweifel bestehen. Erinnern wir uns  : Die Harmonie, das sind – schematisch ausgedrückt – die Akkorde, die akustischen Objekte, die durch das gleichzeitige Aufeinandertreffen akustischer Linien entstehen. Im Gegensatz zur Melodie, welche die horizontale Dimension verkörpert, gehört die Harmonie zu den vertikalen Parametern der Musik. Das musikalische Zeichen, ich wiederhole es, ist eine Angelegenheit von Codes und Konventionen. Die tonale Musik hat eine bestimmte Anzahl dieser Codes etabliert. Sie entsprechen einer realen und spontanen Übereinstimmung zwischen den hervorgebrachten Tönen und der empfundenen Emotion. So wird der Dur-Akkord (Bsp. 4.8) gemeinhin mit positiven Gefühlen, mit Wohlbefinden assoziiert, während der Moll-Akkord (Bsp. 4.9.) meistens mit Melancholie, Traurigkeit usw. in Verbindung gebracht wird.

Gewisse Akkorde erzeugen eine Spannung und verlangen nach einer sogenannten Auflösung. Weil der Hörer von einem solchen – dissonanten – Akkord eine konventionelle Auflösung (Bsp. 4.10)erwartet, kann die Spannung sogar noch verstärkt werden, indem der Komponist eine unerwartete, unkonventionelle Auflösung (Bsp. 4.11) vorschlägt. Ein absoluter Meister im Erzeugen instrumentaler Überraschungseffekte war zum Beispiel Hector Berlioz.

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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Im Bereich der Melodie haben sich bestimmte Intervalle auf natürlichere Weise ergeben als andere. Die verminderte Quinte etwa, auch übermäßige Quarte oder Tritonus, wurde auf-grund ihrer enormen Anforderungen an den Interpreten, insbesondere an den Sänger oder die Sängerin, auch »Intervall des Teufels« genannt.

Diese wenigen rudimentären Beispiele sind lediglich ein Versuch, dem Leser eine Ahnung des Begriffs der Musiksemiologie zu vermitteln. Für eine Vertiefung der Kenntnisse auf diesem Gebiet verweise ich gerne auf die bahnbrechenden Arbeiten des kanadischen Musiksemiologen J.-J. Nattiez41. Das akustische Gewebe kann also als eine zweidimensionale Konstruktion betrachtet werden, als horizontale und vertikale Anordnung musikalischer Objekte. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen, dass wir es hier, vom Standpunkt des Hörers aus gesehen, mit einer Dichotomie von Objekt und Diskurs zu tun haben. Tatsächlich muss beim Hören eines musikalischen Werks zwischen zwei Arten der Wahrnehmung unterschieden werden, die jeweils von zwei unterschiedlichen Arten der Empfindung begleitet werden  : Zum einen gibt es die Wahrnehmung der harmonischen Objekte, die eine unmittelbare emotionale Wirkung ausüben, die mit unserem Körper spielen und – häufig komplexe – Gefühle in uns wecken  ; zum anderen gibt es die Wahrnehmung des musikalischen Diskurses, der seine Spezifität aus der Abhängigkeit der Musik vom zeitlichen Verlauf bezieht. Die Substanz des Diskurses als solche entspricht nicht so sehr der Aussage des Werks als vielmehr der Erwartung des Hörers. Dies wird in jedem Werk offensichtlich, das in der Absicht konzipiert wurde, zu funktionieren, zu kommunizieren. Die eingehende Analyse einer solchen Komposition offenbart die Tatsache, dass sich ihr Schöpfer dieser Erwartung sehr wohl im Voraus bewusst ist und den Diskurs entsprechend ausarbeitet. Ob mittels eines Überraschungseffekts oder einer unerwarteten Modulation, ob mit dieser oder jenen Auflösung – all das ist nur ein Spiel, das einzig auf der Erwartung des Empfängers gründet. 86


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Musik und Semiologie

Es versteht sich von selbst, dass die Melodie nicht das einzige Element des Diskurses ist, der die Gesamtheit der am akustischen Drama beteiligten Akteure in sich vereint. Aber sie ist der rote Faden, an dem sich der Hörer am leichtesten orientieren kann, um die Entwicklung des musikalischen Geschehens nachzuvollziehen. Nehmen wir ein Beispiel, dessen Abgedroschenheit uns die »Musikexperten« verzeihen mögen, dessen Berühmtheit jedoch die praktische Erläuterung erleichtert  : die ersten Takte aus Beethovens Klavierstück Für Elise. Hier kann man sagen, dass der Diskurs mit der gesamten Phrase assoziiert werden kann  :

Aber auch, dass das chromatische Ostinato, welches ich mit »A« bezeichne und das ein verlangsamter Triller ist, ein in sich abgeschlossenes Objekt darstellt. Zum einen nämlich aufgrund seiner bemerkenswerten Erscheinungsform, zum anderen weil es den Kopf der Phrase bildet und das ganze Stück hindurch wiederholt wird. Hätte Beethoven ein weniger markantes Element gewählt, wäre Für Elise gewiss nicht so berühmt geworden. Dieselbe Vorgehensweise finden wir auch in Mozarts Symphonie Nr. 40  :

In beiden Fällen sorgt dasselbe Ostinato auf Es-D für den außergewöhnlich bewegenden Charakter der musikalischen Phrase, so als ob die Musik zögern würde, sich in Bewegung zu setzen, als ob sie zwischen zwei Dimensionen hin- und hergerissen wäre. Freilich, im Fall von Mozart sorgt die rhythmische Gestaltung dafür, dass sich dieses Hinauszögern steigert, bis ein regelrechter Sturm losbricht – vergleichbar übrigens mit Cherubinos Arie »Non so più cosa son, cosa faccio« aus Figaros Hochzeit.

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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Mozart greift also in beiden Passagen auf dieselbe rhythmische Struktur zurück, die er viermal wiederholt  ; so dass man unweigerlich an die besorgten und ungeduldigen Worte Cherubinos denken muss, wenn man den Anfang der 40. Symphonie analysiert. Und nach genau diesem Schema funktioniert das musikalische Zeichen  : Es überträgt auf unseren Körper, gleich dem Tonarm eines Plattenspielers, die Schwingungen, Vibrationen, Frequenzen, deren »Modellierung« zwar im Geist des Komponisten stattfindet, die aber gleichwohl auf das tiefste Innere unserer Physis einwirken. Das musikalische Zeichen agiert, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, in unserem Gehirn wie eine Art Auslöser, der bewirkt, dass wir den Zustand unseres Körpers auf eine neue Art wahrnehmen. Diesen Vorgang bezeichnet Antonio Damasio als Gefühl. Allerdings, um auf unsere musikalischen Beispiele zurückzukommen, können diese nur als Zeichen bewertet werden und folglich den Hörer berühren, wenn der präzise Rahmen einer kodifizierten Sprache gegeben ist, und wenn diese Sprache reich ist an Konventionen, die es gestatten, dass selbst subtilste Umstürze der musikalischen Codes – in unserem Fall die chromatische Schwankung und der abgehackte Rhythmus bei Mozart – eine Spannung hervorrufen, und sei sie noch so gering, auf die wiederum eine Emotion antwortet, und sei sie noch so minimal. Freilich gibt es einen Bereich, in dem die Fähigkeit der Musik, emotionale Zeichen zu transportieren, besonders deutlich zu Tage tritt, nämlich bei Bühnenmusik und in noch stärkerem Maß, bei Filmmusik. An dieser Stelle möchte ich den Leser dazu auffordern, die »Seite zu wechseln« und das bisher Behandelte von der »anderen« Warte aus zu beobachten. Damit meine ich die Position des Komponisten, der mit den musikalischen Objekt-Zeichen »spielt« und verschiedene Kombinationen ausprobiert. Der sich einzig auf seine Intuition und seinen gefühlsmäßigen Instinkt verlässt, um sich das Ergebnis seiner Bild/Ton-Kombination »auszurechnen«. Es ist faszinierend zu sehen, in welchem Maß die Musik zur Steigerung der Intensität, Spannung oder Großartigkeit einer Szene auf der Bühne oder auf der Leinwand beizutragen vermag, weil ihre affektive Kraft imstande ist, die visuell hervorgerufenen Emotionen zu verstärken oder gar Impressionen heraufzubeschwören, die ohne Musik im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar wären. Es gibt drei Fallen, in die Komponisten beim Schreiben von Bühnen- oder Filmmusik immer wieder gerne tappen und die unbedingt vermieden werden sollten. Damit meine ich erstens den Pleonasmus, bei dem sich die Musik damit begnügt, dem Bild zu folgen, ohne jedoch ein neues Element, es sei denn viel88


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Musik und Semiologie

leicht eine gewisse Nachdrücklichkeit, beizusteuern  ; zweitens den »Contresens«, bei dem der Ton durch die Einführung eines der Aktion zuwiderlaufenden Zeichens als Störfaktor auf die visuelle Wahrnehmung einwirkt  ; was jedoch nicht ausschließt, dass eine solche Kombination, wenn sie bewusst und mit Verstand ausgeführt wird, auch eine kreative Spannung hervorrufen kann. In dem Fall hat man das Glück, ein künstlerisches Objekt zu erleben, welches für den Film oder das Theaterstück eine Bereicherung darstellt  ; und drittens schließlich die »parasitäre« Musik, die imstande ist, die Aufmerksamkeit des Zuschauers derart an sich zu reißen und abzulenken, dass Bild und Handlung in den Hintergrund gedrängt werden und in Vergessenheit geraten. Wer Lust hat, kann dieses Phänomen selbst ausprobieren, indem er mithilfe eines Videorecorders und einiger CDs dieselbe Filmsequenz mehrmals, aber mit jeweils anderer Musik abspielt. Man wird staunen, wie stark die visuelle Erfahrung durch die Musik beeinflusst wird – wobei als Ergebnis sowohl eine glückliche Kombination als auch ein totales Fiasko herauskommen kann. Die Abkehr von jeglichen Zeichen und Konventionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspricht – sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Musik – einer Suche nach dem Wahren, oder vielmehr nach einem anderen Wahren. Das traditionelle Zeichen, das seine Eindeutigkeit verloren hatte, wurde über Bord geworfen, weil es zu stark eingebunden war in das Bemühen, das »Natürliche« zu reproduzieren, was zwangsläufig zu einer Lüge führen muss. Und dieses Streben nach größtmöglicher Wahrheit war es, das die Fundamente der Kunst bersten lassen sollte. Mit dem Ergebnis, dass sich zwei völlig gegensätzliche Strömungen herausbildeten  : eine ultra-abstrakte »Sprache«, bar jeder möglichen Referenz, die ihre Wahrheit in sich tragen sollte einerseits, und eine ultra-figurative »Sprache«, bemüht um die absolute Imitation des Realen oder des Natürlichen andererseits. Dabei schien in Vergessenheit zu geraten, dass die klassische Kunst – eben weil sie nach Wiedergabe des Natürlichen strebte, ohne freilich den Anspruch zu erheben, jemals zur Vollkommenheit zu gelangen – eine ewige fiktionale Darstellung pflegte, weil allein sie in der Lage zu sein schien, den Genius, der sie konzipiert hatte, weiterleben zu lassen. Ich möchte dieses Kapitel über die musikalische Semiotik nicht abschließen, ohne noch ein ergänzendes Detail zum eigentlichen Konzept der Anwendung von Semiotik auf die Musik anzufügen. Das Zeichen wird, laut Umberto Eco42, kontrolliert von Codes und Konventionen, durch die es mit dem »Bezeichneten« verknüpft ist  ; man sollte also problemlos vom einen auf das andere schließen können, und umgekehrt. In der Musik haben wir zwar das Gefühl, etwas wahrzunehmen, das »bezeichnet«, jedoch ohne dass ein Gesetz, eine Regel oder Kon89


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

vention uns dabei helfen würde, den Gehalt des Bezeichneten zu identifizieren. Es scheint also, dass es sich bei der Musik eher um einen symbolischen Modus handelt, bei dem es zuerst, immer noch laut Eco, zur Erfindung und dann zum Wiedererkennen kommt, ohne dass eine interpretative Übereinkunft zwischen Sender und Empfänger stattgefunden hätte. Folglich ist der Inhalt des musikalischen Zeichens unpräzise genug, um unendlich viel Spielraum für Interpretationsmöglichkeiten einzuräumen – conditio des Symbols. Ich für meinen Teil würde sogar noch weiter gehen und behaupten – zu diesem Zweck komme ich noch einmal auf meine Gegenüberstellung von Funktionalität und Finalität der Musik zurück –, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien darin besteht, dass die funktionale Musik in verstärktem Maß auf Zeichen zurückgreift, mit dem Ziel, eben genau diese ihr zugewiesene Rolle bzw. Funktion, die den Einsatz präziser Werkzeuge erfordert, zu erfüllen. Wohingegen finalitätsorientierte Musik, oder anders ausgedrückt  : Transzendenz anstrebende Musik, auf Symbole zurückgreift, deren Verknüpfung mit dem »Bezeichneten« zwar weniger explizit, dafür aber imstande ist, Größe, Poesie und Tiefe zu entfalten, mit anderen Worten  : Kunst. Zur Illustration schlage ich vor, die Trompete als Beispiel heranzuziehen. Im Rahmen des militärischen Gebrauchs dient sie dazu, ganz bestimmte Dinge zu bezeichnen  : Suppe, Ruhepause, Versammlung. Im Kinofilm hingegen kündigt ihr Signal die Aufstellung der Kavallerie oder den Einmarsch der Gladiatoren an. Beim Erschallen der entsprechenden Melodien gibt es keine Zweifel, da herrscht Klarheit, Genauigkeit, Effizienz. Es handelt sich um ein Zeichen, die Musik hat eine klar definierte Funktion. Nehmen wir nun den Anfang von Mahlers fünfter Symphonie.Die Präsenz der Trompete zieht den Hörer unweigerlich in ihren Bann. Diese Prägnanz basiert auf dem – eher ungewöhnlichen – Einsatz des Instruments in den tiefen Registern. Wieder wird hier also mittels der Veränderung einer Konvention eine implizite Spannung hervorgerufen. Wobei wir aber noch nicht eindeutig bestimmen können, ob es sich um einen Trauermarsch, um eine langsam gespielte Militärfanfare oder gar um den Ausdruck eines heroischen Gefühls handelt. Interpretationsmöglichkeiten gibt es viele, denn wir sind hier mit dem symbolischen Modus konfrontiert. Bei dieser Musik handelt es sich um eine große Symphonie, wir befinden uns im Bereich der Finalität. Wir sind jetzt also in der Lage, das weiter oben Beschriebene zu bestätigen, nämlich die Feststellung, dass es in der Musik zwei verschiedene Arten von Zeichen gibt  : das geschriebene Zeichen der Partitur, aufgrund dessen der Interpret das für den Hörer bestimmte akustische Zeichen erzeugt. Wir wissen jetzt, dass 90


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Musik und Semiologie

– vorausgesetzt, es handelt sich um finalitätsorientierte Musik – nur die niedergeschriebenen Noten ein Zeichen darstellen, wohingegen der vom Musiker erzeugte Ton ein Symbol ist, weil offensichtlich eine Analogie besteht zwischen dem wahrgenommenen Ton und dem »Etwas«, das sich nicht in Worte fassen lässt  ; und gerade diese Unsagbarkeit ist es, die die Kondition des Symbols ausmacht. Dabei sollte man sich vor Augen halten, dass das Symbol zu seiner »fehlenden Hälfte« eine intime, in sich geschlossene Verbindung aufbaut, dass zwischen beiden eine Vollkommenheitsbeziehung besteht  ; wohingegen das geschriebene Zeichen, sobald es interpretiert wird, das Bezeichnete »befreit«, das dann seinerseits als ein reicheres Bezeichnendes betrachtet werden kann, dessen Beziehung zum »definitiven« Bezeichneten jedoch umso mehrdeutiger sein wird. So ist beispielsweise ein Schild, auf welchem das Meer abgebildet ist, ein Zeichen, das nicht das Meer selbst ist, sondern das lediglich die Vorstellung des Meeres in uns hervorruft. Bei seiner Betrachtung haben wir sogleich ein bestimmtes Bild oder eine Erinnerung »vor Augen«. Und dieses mentale Bild ist zwar differenzierter, reichhaltiger als das betrachtete Zeichen, dafür aber, aufgrund der geringeren Abstraktheit, weiter weg von seiner eigentlichen Bestimmung. Wenn ich zum Beispiel das Wort »Meer« sehe, taucht sofort das Bild eines Strands in der Normandie vor meinem geistigen Auge auf  ; halte ich mich jedoch gerade in Florida auf, so ist die Chance groß, dass die visuelle Wirklichkeit von meiner individuellen Vorstellung abweicht. Kommt es nun zur Ausführung eines musikalischen Werks, sieht sich der Interpret mit einer bestimmten Anzahl von Zeichen, sagen wir einem einfachen C-Dur Akkord, konfrontiert. Wenn er die Partitur liest, ohne sie zu spielen, wird dieser Akkord ein akustisches Bild in seinem Kopf auslösen, das dort im Laufe jahrelanger musikalischer Praxis herangewachsen ist. Dieses »Bild« ist mit dem Timbre eines ihm vertrauten Instruments ausgestattet und es »tönt« wie in einem Saal, dessen Akustik ihm wohlbekannt ist. Dieses höchst komplexe »mentale« Gebilde, das der Interpret nur für sich alleine geschaffen hat, ist jedoch umso entfernter vom real ausgeführten Klang, je mehr es durch die persönlichen, subjektiven Parameter des Interpreten ergänzt wird. Dieses Charakteristikum der Welt der Zeichen ist übrigens für die Arbeit des Ausführenden von Vorteil, vermag er doch auf diese Weise eine mentale »Blaupause« der von ihm gewünschten idealen Interpretation anzufertigen und diese an die Realität der Probe anzupassen. Ist der durch die Noten »bezeichnete« Ton erst einmal erzeugt, verlässt die so entstandene akustische Botschaft den Bereich der Zeichen und tritt in den symbolischen Modus ein  ; dies wird durch die simple Tatsache verdeutlicht, dass 91


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

zwischen Symbol und symbolisiertem Objekt nicht mehr jene Schichtenbildung vorkommt, die man in der Welt der Zeichen findet. Noch stärker verdeutlicht wird es jedoch dadurch, dass im Hinblick auf die Beschaffenheit dessen, was man beim Wahrnehmen der Töne empfindet, keine Eindeutigkeit mehr herrscht. Freilich kann man sich nun dieselbe Frage stellen bezüglich der Eigenart gewisser traditioneller Musiken, namentlich der indischen Ragas, die aufgrund ihrer extremen Kodifizierung ein viel »mentaleres« Zuhören erfordern als die eher gefühlsmäßige polyphone Musik unserer westlichen Welt. In diesem speziellen Fall haben wir es mit einer Ansammlung von Zeichen zu tun, bei denen sowohl der Komponist als auch der Interpret die Aufführungskonventionen genau kennen. Handelt es sich demnach um eine religiös-funktionale Musik  ? Um eine Musik, die auf Transzendenz ausgerichtet ist  ? Die Antwort betrifft die Ebene des Zeichens  : Worauf verweist dieses  ? Beim Raga bezieht sich jedes Zeichen auf ein ganz bestimmtes Symbol des Hinduismus, und dieses Symbol ist grundsätzlich ein Werkzeug zur Erlangung von Transzendenz. Also kann man sagen  : Diese traditionelle Musik agiert, analog zur abendländischen, bei der das schriftlich festgelegte Zeichen – die Note – ein Zeichen ist, das auf ein anderes Zeichen oder Symbol – den Ton – verweist, welches seinerseits, je nach Art seiner Beschaffenheit, funktional oder transzendent ist, wie ein Doppelzeichen, dessen zweite Komponente auf den symbolischen Modus einwirkt, und folglich auf den Bereich der Finalität. Freilich, und ohne zu weit auf das folgende Kapitel vorgreifen zu wollen, in dem von den Emotionen als dem letzten »Bezeichneten« des musikalischen Zeichens die Rede sein wird, können wir uns anhand der indischen Systeme eine perfekte Vorstellung machen von den Zusammenhängen zwischen Codes und Konventionen und den Gefühlen, die durch die Musik ausgelöst werden. Doch urteilen wir selbst anhand der folgenden Graphik, die wir dem französischen Musikwissenschaftler Alain Daniélou verdanken, einem der größten Kenner indischer Musik  :

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Musik und Semiologie

Name

Eigenschaft

Tivra

intensiv, stechend, schrill, grausam

Moderne Tonleiter bh

Kumudvati

weißer Lotus, Mondblume, Wollust

Manda

langsam, pervers, kalt, apathisch

h+

Chhandovati

Normalton

c

Dayavati

mitleidig, zärtlich, friedvoll

des-

Ranjani

angenehm, farbig, lasziv

des

Ratika

genussvoll, sinnlich

d

Raudri

brennend, schrecklich

es-

Krodha

wütend, rasend

es

Vajrika

donnernd, stählern, diamanten, streng

es+

Prasarini

verschwommen, eindringlich, schüchtern

e

Pritih

vergnüglich, liebevoll, köstlich

e+

Marjani

reinigend, schmückend, entschuldigend

f

Kshitih

verzeihend, zerstörbar, erdgebunden

fis-

Rakta

rot, leidenschaftlich, farbig, spielfreudig

fis

Sandipani

stimulierend, leidenschaftlich

fis+

Alapini

sprechend, konversierend

g

Madanti

erotisch, frühlinghaft, entgiftend

as-

Rohini

jungmädchenhaft, blitzend, entwickelnd

as+

Ramya

nächtlich, liebend, genussvoll, ruhig

a

Ugra

schrill, leidenschaftlich, grausam, mächtig

a+

Kshobini

ungelöst, aufgeregt

b

Wie wir gesehen haben, ist die Wirkung auf unseren Körper bei sämtlichen Eigenschaften der Musik, sei sie monophon oder polyphon, traditionell oder evolutionistisch, funktions- oder finalitätsgebunden, immer die gleiche, indem sie das Bewusstsein unseres gegenwärtigen Zustands auf minimale, aber dennoch wahrnehmbare Weise verändert. Der portugiesisch-amerikanische Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat mit seinen Forschungen entscheidende Impulse zum besseren Verständnis des menschlichen Gehirns geliefert. Wie ein Abenteuer mutet da die Anwendung seiner Erkenntnisse auf das Gebiet der Musik an. Damit meine ich den Versuch, den modernen Komponisten mit dem Körper, den Gefühlen, den Emotionen zu versöhnen … 93


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5. Akustische Körper

»Bis zum nackten Fleisch der Emotion vordringen …« Claude Debussy »Die Liebe ist nicht natürlich, und das Begehren selbst ist es nicht lange. Aber echte Gefühle sind Kunstwerke.« ALAIN, Propos sur le bonheur

Im Lauf der vergangenen 30 Jahre haben sowohl die Neurologie als auch die modernen Wissenschaften in ihrer Gesamtheit dem Menschen neue Perspektiven eröffnet, die gleichermaßen der philosophischen, metaphysischen wie im eigentlichen Sinn epistemologischen Thematik zugeordnet werden können. Aber weil die Neurologie aufgrund ihres Forschungsfeldes an das allerinnerste Wesen des Menschen rührt sowie an das Bild, das dieser sich von sich selbst macht, sind die Ergebnisse dieser Untersuchungen bis zum heutigen Tag ein außerordentlich heikles Thema, das vielen von uns Unbehagen bereitet. Es ist unmöglich, sich, wie der Hirnforscher Antonio Damasio, auf die Suche nach dem Ursprung des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Gefühle zu begeben, ohne dabei auf Wege voller Haken und Fußangeln zu geraten  : religiöse Tabus, aufklärerische Vorurteile -– allesamt Kinder der Angst, die ihrerseits eine Tochter der Ignoranz ist. Sogar innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft hielt sich während langer Zeit hartnäckiger Widerstand gegen diesen Forschungszweig, weil »Gefühle ungreifbar blieben […], privat und unzugänglich waren […], weil sie sich außerhalb der Grenzen der Wissenschaft befanden. […] Die Tür blieb verschlossen […], selbst jenen Neurowissenschaftlern, die die Fäden in den Händen hielten, im Namen der sogenannten unüberwindlichen Grenzen des Unternehmens«.43 Damasios Ausgangshypothese lautet, dass sich auf der einen Seite alles, was in unserem Gehirn vorgeht, ob es sich dabei um unsere differenziertesten Gedankengänge handelt, um unsere komplexesten Gefühle, unsere genialsten Einfälle oder unsere verrücktesten Träume und Visionen, absolut alles mithilfe der 94


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Akustische Körper

neuronalen Strukturen des Gehirns beobachten, erklären, »kartieren« lässt  ; und dass diese Hirnvorgänge auf der anderen Seite permanent mit unserem gesamten Körper vernetzt sind. Von diesen beiden Prämissen ausgehend beweist Damasio, dass unsere Emotionen und vor allem unsere Gefühle aus einer bestimmten Wahrnehmung des Körpers heraus entstehen. Der Körper erfährt eine Stimulation und wird durch »emotional kompetente Objekte« in eine neue Konfiguration gebracht. Die dadurch provozierten Gefühle und Emotionen lösen dank der chemischen und hormonalen Substanzen, die vom Gehirn ausgeschieden werden, ihrerseits neue Gedanken und körperliche Empfindungen aus. »Das Gefühl, im eigentlichen und eng gefassten Sinn des Wortes, ist die Idee des Körpers, der von einer bestimmten Art ist … Ihr Inhalt besteht in der Abbildung eines gegebenen Zustands des Körpers.« Hier haben wir es also mit einer alchemistischen Vision des Menschen in seiner Ganzheit zu tun, einer Vision, die uns auch wieder die Analogie »wie oben so auch unten« ins Gedächtnis ruft. Der »unten befindliche« materielle Körper wirkt sich, je nach seinem Befinden und seiner Stimmung, auf den »oben befindlichen« Geist aus. Dieser reagiert mit einem Gefühl, das seinerseits »wieder hinabsteigt« in die dichte Materie des Körpers, um dort mit dem somatischen System zu spielen und ihn, den Körper, neu zu konfigurieren. Damasio nimmt also die entgegengesetzte Position zu Descartes’ Geist-Körper-Dualismus ein. Indem er sich auf Spinoza als philosophische Referenz beruft, laut dem es im Menschen »nur eine und einzige Substanz« gibt, bemüht sich Damasio um eine Theorie der Einheit von Körper, Gehirn und Geist/Bewusstsein. Diese zieht eine wichtige praktische Konsequenz nach sich  : Wenn Geist und Intellekt imstande sind, die Funktionsweise von Emotionen nachzuvollziehen und zu verstehen, wie diese mit dem Körper in Zusammenhang stehen, so muss es ihnen umgekehrt auch möglich sein, durch die Kontrolle über den Körper den Kontakt mit den Emotionen wieder aufzunehmen und diese zu kanalisieren. Mit anderen Worten ist der leidende Geist, der kranke Geist durch das Wissen um die Verknüpfungen zwischen Körper und Geist in der Lage, die Kontrolle über sich selbst wiederzuerlangen. Woraus all die praktischen Anwendungen in der Behandlung zahlreicher psychischer Störungen resultieren44. Und wo bleibt bei alledem der liebe Gott  ? Und die Seele  ? Und die Musik  ? Auf diese sowie auf die Frage, wie sich eine gänzlich materialistische Theorie des menschlichen Geistes mit dem Prinzip der Kausalität und mit metaphysischen Bestrebungen in Einklang bringen lässt, werden wir an späterer Stelle zurückkommen. 95


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Für den Moment scheint insbesondere erwähnenswert, in welchem Maß uns diese Entdeckungen verdeutlichen, dass der Mensch, der ständig den fünf Primäremotionen45und ihren Variationen unterworfen ist, wie ein hochsensibler »Trommler« reagiert, auf den diese Emotionen niederprasseln  ; wobei die Trommelstöcke dieser außergewöhnlichen Musiker das verkörpern, was Damasio als »emotional kompetentes Objekt« bezeichnet, oder abgekürzt OEC [objet émotionellement compétent]. Ein Terminus, dem wir im Laufe dieses Kapitels noch öfter begegnen werden. Ein OEC kann ebenso ein bedrohlich aussehender Hund sein wie der Gedanke an eine geliebte Person oder an etwas Abstoßendes. Kurz, alles, was eine Emotion in uns auslöst. Dank Damasios Untersuchungen verstehen wir, dass jener gefährlich aussehende Hund, der plötzlich vor uns auftaucht, eine Emotion auslöst, die sich in einer Reihe von physischen Symptomen niederschlägt  : Unser Magen zieht sich zusammen, wir brechen in Schweiß aus, Beklommenheit breitet sich aus. Vor allem aber haben wir gelernt, und das ist weitaus wichtiger, dass – in umgekehrter Richtung – körperliche Empfindungen das Auftreten eines Gefühls oder einer Emotion nach sich ziehen, auch ohne dass sich ein bedrohliches oder wohlmeinendes OEC eingeschaltet hätte. So beweist uns Damasio, dass etwa ein Gefühl von Traurigkeit oder schlechter Laune seinen Ursprung in einer vorübergehenden Störung irgendeiner Körperfunktion haben kann, wie beispielsweise einer schlechten Verdauung oder leichten Gliederschmerzen. Die »Karte unseres Körpers« erfährt durch dieses Geschehen eine leichte Veränderung, die unser Geist interpretiert, indem er ein Gefühl auslöst, von dem wir jedoch nicht wissen, woher es kommt. Damasio demonstriert sogar, dass man einen Menschen durch einfache Stimulation der Gehirnzone, die zuständig ist für die »Kartierung« der jeweiligen Körperpartie, problemlos zum Weinen oder Lachen bringen kann. Setzt man sich vertieft mit Damasios Arbeiten auseinander, wird man sehr bald erkennen, dass das Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen Gefühlen, Stimuli oder OEC und Körperwahrnehmungen weitaus komplexer ist als bisher angenommen. Tendieren wir doch im Allgemeinen dazu, uns entweder Descartes und seinem Geist-Körper-Dualismus anzuschließen, oder jenen Theorien, die eher in Richtung »New Age« gehen, dem Geist die Allmacht über den Körper zuzusprechen und damit die Fähigkeit, körperliche Leiden zu heilen. Wer oder was steht demnach am Anfang einer psychosomatischen Veränderung  ? Der Körper, der Geist oder etwa unsere Umwelt, Ursprung so manchen emotionsauslösenden Objekts  ? Die stärksten emotionsauslösenden Objekte sind diejenigen, die Angst oder Wut hervorrufen, vor allem dort, wo die entsprechenden Emotionen einen Über96


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Akustische Körper

lebenstrieb repräsentieren. Die instinktiv aufkommende Furcht bei der Begegnung mit einem gefährlich wirkenden Tier oder auch nur die Erinnerung an die Begegnung mit einem solchen ist normal und »gesund«. Freilich sind die OECs, denen der Mensch mit besonders großem Eifer hinterherjagt, all jene, die Freude auszulösen vermögen. Ist doch unser ganzes Wesen, vom Gehirn über den Magen bis hin zum Herzen, ja sogar bis hin zu unserem Knochenmark, auf der ständigen Suche nach positiven Emotionen, aus dem einfachen Grund, dass diese unserem Organismus, nämlich unserem Körper und unserem Geist, dabei helfen, in Homöostase46zu leben, und dass diese Homöostase notwendig ist für ein langes, gesundes und glückliches Leben. Laut Spinoza strebt die Seele wie jeder Organismus danach, im Sein zu verharren  ; dieses Bemühen macht ihr wahres Wesen aus. Der Organismus ist immerfort um eine Vervollkommnung seiner Funktionsfähigkeit bemüht, was Spinoza mit dem Zustand der Freude gleichsetzt. Besser noch, die Hirnforschung beweist uns heute, dass positive Gefühle und Emotionen, Lustempfinden und Freude höheren Ebenen geistiger Aktivität entsprechen  : »Im Fall von Traurigkeit haben wir einen deutlichen Rückgang der Hirntätigkeit im präfrontalen Cortex festgestellt […], wohingegen die Aktivität bei Glücksempfinden zunahm. Diese Entdeckungen stimmen überein mit der Tatsache, dass der Prozess der Ideation bei Traurigkeit schwächer wird und bei Glücksempfinden zunimmt.«47 Unter allen positiven Emotionsträgern zählt die Musik zu den machtvollsten. Warum das so ist, werden wir in den Kapiteln untersuchen, die sich mit der Thematik des Begehrens befassen. Auf jeden Fall besteht kein Zweifel daran, dass die Tonkunst mit unserem Körper »spielt«, und dass daraus eine komplexe, unendlich nuancenreiche Partitur entsteht, die die »Angefressenen« oder die mystisch Veranlagten unter uns Melomanen praktisch in Ekstase versetzt, und dem »einfachen« Musikfreund einen intensiven Eindruck von Wohlbefinden vermittelt. Selbst das, was wir beim Hören von rein konzeptueller und höchst elaborierter Musik als intellektuelles Vergnügen empfinden, bleibt ein Vergnügen, sprich  : eine neuronale Kartierung bestimmter Körperregionen, die harmonisch auf das Wahrgenommene reagieren und jenes Gefühl von Freude aufkommen lassen, von dem wir glauben mögen, es sei rein zerebral begründet. Natürlich vermag Musik auch negative Gefühle wie Traurigkeit oder Angst zu verursachen, worauf wir zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher eingehen werden, doch wird sich der Hörer instinktiv eher solchen Werken zuwenden, die imstande sind, ihm die lebenswichtige Homöostase zu verschaffen. 97


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Allein schon der Begriff »emotional kompetentes Objekt«, angewendet auf die Musik, legt die Schlussfolgerung nahe, diese als gültiges semiologisches System zu betrachten, handelt es sich doch bei einem musikalischen Werk erstens um Objekte – in diesem Fall Töne –, die für etwas Anderes stehen, und zweitens um Objekte, die unserem Körper etwas »bezeichnen« und diesen zu den entsprechenden Reaktionen anregen. Da das Bezeichnete – sprich  : das Gefühl, welches beim Wahrnehmen besagter akustischer Objekte ausgelöst wird – das »etwas andere« verkörpert, was wiederum die Grunddefinition des Zeichens ist, schließt sich der Kreis  ; und wir kommen zum Schluss, dass Musik nichts anderes ist als eine Semiologie der Emotionen. Betrachten wir ein musikalisches Werk unter diesem Aspekt, so werden wir feststellen, dass es die fabelhafte Eigenschaft besitzt, »auf« unseren Resonanzkörpern gespielt werden zu können, die gleich einer großen Orgel mit zahlreichen Registern und Manualen die differenziertesten emotionalen Komplexe hervorzurufen imstande ist. Indem die Musik auf diese Weise die fünf Primäremotionen nuanciert, ermöglicht sie – auf der Basis dieser Grundfarben – Übergänge und Variationen, die für das Aufkommen von im wahrsten Sinne »unsagbaren« Gefühlen verantwortlich sind. Und dieses Unsagbare, Unausdrückbare, Unerklärbare ist das Charakteristikum, das dem Phänomen Musik am häufigsten beigemessen wird. Gewiss wird hier manch Musikliebhaber oder Musikexperte den Einwand erheben, dass Musik weit mehr ist als nur ein Zusammenspiel von Emotionen oder Gefühlen. Das ist richtig und lässt uns wieder auf die eingangs beschriebenen Hörerkategorien zurückkommen  : von der totalen Gleichgültigkeit über das intellektuelle Hören bis hin zum Ohnmachtsanfall – den menschlichen Reaktionen sind, je nach Temperament, beim Hören von Musik keinerlei Grenzen gesetzt. Und dennoch  : Gerade weil es sich um ein physikalisches Vibrationsphänomen handelt, sind es vor allem minimale Veränderungen in unserer körperlichen Wahrnehmung, die, manchmal sogar ohne dass wir es merken, durch die Musik ausgelöst werden. Auf jeden Fall sollte man sich der Tatsache bewusst sein, dass es einen emotionsfreien Zustand beim Menschen nicht gibt. Er kann sich seinen Gefühlen – und seien sie noch so schwach – nicht entziehen. Auf diesen Zustand wirkt die Musik systematisch verstärkend ein. Antonio Damasio antwortete auf meine Frage hin, ob Emotionen auch ein »Niveau Null« erreichen können, ob es eine Schwelle der Neutralität, der vollkommenen »Ruhe« gebe, ohne zu zögern  : »Absolut niemals.« 98


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Wenn einerseits Freude, das heißt ein positives Lebensgefühl, einhergeht mit einer erhöhten Hirnaktivität, so erstaunt es andererseits, dass Unbehagen, existentielle Ängste, Schmerz, ja sogar Selbstzerstörung in der Kunst seit jeher, oder besser  : seit Beginn der romantischen Ära, zu Tugenden erhoben wurden  ; und dass im Gegenzug Glück, Heiterkeit, Lebensfreude häufig als Beweise für Stümperei oder Dummheit galten. Unglück und Depression wurden wohl bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt mit Intelligenz und Klugheit. Weit davon entfernt, darin ein Dementi von Damasios Beobachtungen zu sehen, schließe ich daraus, dass die Künstler an ihrem Leiden ein – wenn auch masochistisches – Wohlgefallen gefunden hatten, das jedoch auf den Ideationsprozess ihres Gehirns genau denselben Einfluss hatte wie jeder andere positive Stimulus  ; freilich ein paradoxes Vergnügen, das sich aus einem ganz speziellen Vorrat an emotionsauslösenden Objekten speiste, angefangen bei Opium bis hin zur melancholischen Trance. Der Mensch befindet sich in einem ständigen emotional-rezeptiven Zustand. Ein Zustand, der sich gemäß den durch die äußere Umwelt ausgelösten Stimuli verändert. In der Masse dieser von außen auf den Menschen einwirkenden Reize ist die Musik einer der stärksten. Daraus ergeben sich zweierlei Konsequenzen  : 1. Ein heutiger Komponist – insofern er den Wunsch hat, gespielt, gehört und verstanden zu werden – kann nicht mehr die Tatsache ignorieren, dass Musik zwar eine differenzierte Sprache ist, die einer hohen und sublimen Region unserer Hirnanatomie entspringt, aber dass sie zweifellos auch eine Sprache der Emotionen und der Gefühle ist, die unmittelbar auf die ätherischsten Gefilde unseres Geistes einwirken und diese beherrschen. Daraus, dass die »oberen« Regionen auf die »unteren« einwirken und umgekehrt, ergibt sich die zweite Konsequenz  : 2. Für den Hörer hängt die Menge der Emotionen, die er aus der Aufnahme eines Musikstücks schöpft, von seiner Fähigkeit ab, auf eine größere Menge emotional-kompetenter Objekte zu reagieren. Weil es sich bei diesen um Zeichen handelt, sind sie als solche mit Codes ausgestattet, die ihrerseits ihren Ursprung in Konventionen haben. Im vorherigen Kapitel haben wir gesehen, dass es sowohl natürlich erworbene Codes gibt, als auch solche, die der Mensch sich aufgrund seiner Bindung an uralte gemeinsame Wurzeln aneignet sowie schließlich jene, die entstehen je nachdem, wie schnell oder langsam sich die »Sprache« herausbildet. Das bedeutet im Hinblick auf den letzteren Fall  : Je komplexer die Musik, umso größer ist die Zahl neuer Codes, die sich der Hörer aneignen muss. Auf die gleiche Art lassen sich auch die Symbole in zwei analoge Kategorien unterteilen  : die der bestehenden, welche der Komponist aus einer bereits konstituierten »Bibliothek« schöpft, und die der elaborierten Symbole, die er selbst entwirft. 99


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Wenn wir also Musik nur aus dem Radio oder der eigenen CD-Sammlung hören, ohne uns auch nur einmal auf neue, unbekannte Stücke oder sogar fremd anmutende, fremdländische Musikarten einzulassen, beschränken wir unser Repertoire emotional kompetenter Objekte (OEC). Das heißt  : Wir halten uns nicht nur selber davon ab, unser musikalisches Vergnügen mithilfe einer größeren Reaktivität, Flexibilität und Varietät zu steigern, sondern wir prägen – was viel schlimmer ist – unseren Geschmack und nageln ihn gewissermaßen auf eingefahrene Schemata fest. Daraus entwickelt sich eine Hörfaulheit, die jeglichen Versuch weiterer Erkundungen im Keim erstickt. Man könnte dieses Verhalten mit dem eines Kleinkindes vergleichen, dem man sämtliche Launen bezüglich seiner Essgewohnheiten durchgehen lässt – es bevorzugt die ewig selben zwei, drei Gerichte – und das aufgrund seiner verkümmerten Geschmacksnerven niemals Lust auf etwas Neues haben wird. Es wird sein Lebtag nichts anderes als Hamburger und Pommes frites essen wollen. Genauso verhält es sich mit der Musik. Wächst ein Kind in einer Umgebung auf, die nur wenig Raum übrig lässt für ästhetische Entdeckungen aller Art, so wird es auch in seinem späteren Leben von sich aus niemals etwas anderes konsumieren wollen als »musikalisches Fast-food«. Beschränkt der Musikliebhaber seinen Hörgenuss auf die Werke von Bach bis Debussy, so wird er niemals das Bedürfnis haben, sein Ohr anderen, moderneren Werken zu öffnen. Sollte er dann eines Tages tatsächlich mit einer Komposition konfrontiert werden, die sich aus ihm unbekannten Codes zusammensetzt, so wird er behaupten, nichts zu empfinden. Und trotzdem, eine vollkommen neutrale, »emotional inkompetente« Musik gibt es nicht. Denn auch die negativen Gefühle, das Unbehagen, die Beklemmung und sogar die Wut des Hörers, der keinen Zugang zur modernen Musik findet, werden durch eben diese emotional-kompetenten Objekte ausgelöst. Weil aber die Betroffenen nicht in der Lage sind, die musikalischen Zeichen zu deuten, ihnen einen Sinn zu entlocken, einen Sinn, der an Klarheit gewönne, wenn sie die Intention des Komponisten verstehen könnten, wird diese Musik schlimmstenfalls als abschreckend, bestenfalls als langweilig empfunden. Dabei handelt es sich bei alledem um ein und dasselbe Phänomen. Die negative Reaktion beispielsweise auf nicht-tonale Musik weist darauf hin, dass der Hörer das musikalische Zeichen nicht zu interpretieren vermag. Aus diesem Unvermögen entsteht ein inneres Ungleichgewicht, das seinerseits die negativen Emotionen und die daraus resultierenden Gefühle hervorruft. Die Komponisten sollten sich zu Herzen nehmen, was uns die Neurologie lehrt  : Ein Konzert- oder Opernbesucher, der über einen längeren Zeitraum hin100


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weg einer akustischen – oder auch visuellen – Umwelt ausgesetzt ist, in der er keinerlei Anhaltspunkte ausmachen kann, wird mit größter Wahrscheinlichkeit im Laufe des Geschehens negative Emotionen entwickeln. Ein Hörer hingegen, der sich langweilt, kann dies aus dreierlei Gründen tun  : Entweder er ist ein ausgezeichneter Kenner der Materie, der sich zwar angesprochen fühlt, dem das Gehörte jedoch nichts sagt. Was allerdings nicht heißen soll, dass dadurch die Qualität des Werks infrage gestellt wird. Diese kann sich ihm durchaus beim zweiten Anhören erschließen. Oder er ist ein Mitglied jener Hörergruppe, die wir zu Beginn des Buches als »Musikbanausen« bezeichnet haben, die jegliche Art von Klang lediglich als Teil des allgemeinen akustischen Hintergrunds betrachten. Oder aber es handelt sich um jemanden, der, wenngleich er mit den Codes der Partitur nichts anzufangen weiß, dennoch nicht mit Beklemmung auf diesen Mangel an Referenzen reagiert, sondern mit Indifferenz. Gerät doch nicht jeder, der in einem Labyrinth die Orientierung verloren hat, gleich in Panik. Natürlich wird man mir entgegenhalten, dass, wenn es schon musikalische Objekte gibt, die positive Emotionen auslösen, es konsequenterweise auch solche geben muss, die negative Gefühle heraufbeschwören, und dass die musikalische Vorbildung des Hörers keinerlei Einfluss darauf hat, ob dieser sich von einem Werk abgestoßen fühlt oder nicht  ; alles, was er tut, ist, die Botschaft des Komponisten zu empfangen, und sie ist das Negative. An diesem Einwand ist etwas Wahres dran, aber selbst wenn wir annehmen, der Komponist habe wirklich die Absicht gehabt, negative Emotionen zu übermitteln, sollte uns dies nicht davon abhalten, sein Universum zu erforschen und uns auf die Suche nach neuen auditiven Glückseligkeiten zu begeben. Dass den Musikern ebenso wie den bildenden Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts die Rolle des Sprachrohrs für ein allgemeines gesellschaftliches und politisches Unbehagen zukam, für einen Nihilismus, der seinen Ausdruck sowohl im Krieg fand – für das Kollektiv – als auch im Manifest – für das Individuum – , wird niemand bezweifeln. Auch nicht, dass ein Großteil der künstlerischen Hervorbringungen dieser Epoche, die im Übrigen so »schön«48gar nicht war, nichts anderes sein konnte als unheilverkündend und pessimistisch. Denn es ist die Rolle des Künstlers, die Welt zu reflektieren, in der er lebt. Selbst die – freilich viel später entstandenen – Werke eines Barraqué oder eines Zimmermann49, die beide am Ende eines von Verzweiflung und Enttäuschung gesäumten Wegs freiwillig aus dem Leben schieden, oder eines stets alles leugnenden Aragon50, oder eines Breton, für den »die einfachste surrealistische Handlung darin besteht, mit einem Revolver in den Fäusten auf die Straße zu 101


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gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen«51, sollten nicht gerade zu freudvollen Emotionen anregen. Aber der Geist des schöpferisch tätigen Künstlers nimmt, wie bereits im Kapitel über die Semiologie angedeutet, in dem Objekt Gestalt an, das für ihn, und zwar nur für ihn, das Zeichen ist, welches auf seine Gedanken verweist, auf seine Epoche, auf die Umstände, unter denen sein Werk entstanden ist. Wird das Objekt erst einmal in Umlauf gebracht, besitzt es für die menschliche Gemeinschaft zwar eine bestimmte Expressivität, stellt jedoch nur insofern ein Zeichen dar, als es auch als ein solches wahrgenommen werden kann. Die diversen literarischen Attacken eines Breton oder Aragon haben ihre Schlagkraft infolge der veränderten Aktualität eingebüßt  ; heute sind ihre Stücke dem überreichen Erbe von Äußerungen des Extremen und des Nihilismus zuzurechnen. Wobei dieser Begriff schon lange vor dem russischen Dichter Iwan Turgenew, der den nihilistischen Gedanken besser als irgendein anderer zu vermitteln wusste, als literarischer Terminus ins Leben gerufen worden war. Auch wenn das »kontextuelle Zeichen« auf diese Weise erschöpft ist, bleibt es immer noch das semantische Zeichen, die Zeichenkombination, die uns – besitzt sie auch nur ein Quäntchen Erhabenheit – zu berühren vermag, wo, wann und wie auch immer. So sollte Picassos berühmtes Bild Guernica, um ein Beispiel aus der Malerei zu nehmen, das in einem schrecklichen Moment der Geschichte entstanden ist, inmitten von Schreien und Blut, gemalt mit den Tränen und dem Schmerzensgeheul des Künstlers, beim Betrachter ein ganzes Spektrum von Emotionen hervorrufen, und zwar gemäß dem Vorrat an »Interpretanten«, den dieser im Laufe seines Lebens angesammelt hat. Der mit Shorts und Sandalen bekleidete Prado-Besucher wird seinen Rundgang schon bald wieder aufnehmen, zufrieden darüber, ein berühmtes Bild gesehen zu haben. Auch wenn er es sich vielleicht kleiner vorgestellt hat … Hingegen wird der ehemalige Spanienkämpfer Mühe haben, seinen Blick von dem Dargestellten loszureißen. Er wird sich vermutlich, übermannt von Emotionen, niedersetzen und einen Moment verweilen wollen. Weil nur er einen unmittelbaren Bezug zu dem vom Maler Erlebten hat, weil nur er allein in dasselbe Mysterium eingeweiht ist. Ich selbst, geboren in den 1960er-Jahren, also lange nach dem Ende dieses Bürgerkriegs, habe das Bild intensiv betrachtet und analysiert. Nachdem ich mich während langer Minuten auf die Formen und Linien konzentriert hatte, wurde ich plötzlich der Bewegung gewahr, die das Bild von rechts nach links durchläuft. Ich vermochte die davon ausgehende Gewalt förmlich zu sehen, ich wusste, 102


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warum die Köpfe der Figuren zurückgeworfen sind, warum die Augen des sich aufbäumenden Pferdes weit aufgerissenen sind, und warum die Deckenlampe, oben links von der Bildmitte, in meinem Kopf schrie – weil ich von ihrem Licht überrumpelt wurde, so wie die abgebildeten Menschen vom Tod. Als ich den Saal verließ, war ich erfüllt von dem köstlichen Gefühl einer ästhetischen Ekstase. Und das noch für lange Zeit. Denn das ist der Sinn und Zweck eines jeden Kunstwerks. Auch wenn ich nicht gelitten habe wie Picasso – und erst recht nicht wie die vom Bürgerkrieg betroffenen Menschen. Aber mir wurde die doppelte Erfahrung einer künstlerischen »Übertragung«52 und des menschlichen Mitgefühls zuteil. Freilich konnte diese Übertragung nur um den Preis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk zustande kommen. Die extrem negativ geprägten emotionsauslösenden Objekte dieses Bildes, transzendiert durch Picassos Genie, übermittelten meinem Geist eine paradoxale Botschaft, ein schmerzliches Vergnügen. Und man kann sich zu Recht die Frage stellen, ob dieses Vergnügen masochistischen Ursprungs ist, oder ob es nicht vielmehr daher rührt, dass der Mensch, – weil er eine tragische Natur ist, eher dazu geschaffen und ausgerüstet scheint, zu leiden als sich zu erfreuen – sich ganz bewusst so eingerichtet hat, dass er in der Kunst, in der Transzendenz eine Möglichkeit findet, seine negativen Emotionen auf quasi alchemistischem Weg in ein reines, starkes, sehr bitteres Vergnügen umzuwandeln. Das Beispiel von Picassos Guernica kann als Beweis dafür gelten, dass auch das Hören eines atonalen, dissonanten, »schrägen« Musikstücks die Gelegenheit birgt, eine ästhetische Bereicherung zu erfahren, auch wenn es sich um das Werk eines verzweifelten und pessimistischen Künstlers handelt. Ich möchte noch einmal betonen, dass es keine Musik gibt, die Trägerin von à priori negativen emotionsauslösenden Objekten ist  ; erst der Hörer wird diese mithilfe seiner Allgemeinbildung, seiner Sensibilität und seiner Neugierde auf ein höheres Niveau heben, auf dem er sie mit Genuss »betrachten« kann. Im Grunde genommen ist der Hörer derjenige, dem die Rolle zufällt, das ihm dargebotene Werk nicht nur zu deuten, sondern in gewisser Weise sogar umzukomponieren. Der Hirnforscher Damasio bietet uns eine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen  : »Das Gehirn kann direkt auf das Objekt einwirken, das es wahrnimmt. Dazu ist es fähig, indem es den Zustand des Objekts modifiziert oder indem es die Übertragung der von ihm ausgehenden Signale verändert. […] Gelegentlich ist es so, als nähme man einen Pinsel und frische Farbe und verändere das ganze Bild.« 103


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Hier noch ein weiteres Beispiel, anhand dessen sich der subjektive Charakter von Emotionsträgern und Musik im Allgemeinen exemplifizieren lässt. Wir alle reagieren, eingestandenermaßen oder nicht, mehr oder weniger stark auf unsere Nationalhymnen. Ob mit Stolz oder mit Abwehr, wie etwa bei jemandem, der sich in Konflikt mit der Gesellschaft befindet, die wenigsten werden bei ihrem Erklingen völlig kalt bleiben. Und das ist absolut normal, ist doch von allen Funktionsmusiken die Nationalhymne am wirkungsmächtigsten, weil sie unsere kulturelle und geographische, sprich ethnische Zugehörigkeit symbolisiert. Sie ist gewissermaßen das Abbild unserer sozialen Identität. Ein akustisches Abbild, das unmittelbare Auswirkungen auf unseren Körper und folglich unsere Emotionen hat. So spüren wir, sobald etwa bei einem großen Sieg unserer Nationalelf die ersten Takte der Hymne erschallen, wie unsere Brust anschwillt, ein Schauer über unseren Rücken läuft oder manchmal sogar eine verstohlene Träne rinnt53. Ertönt hingegen jene der gegnerischen Mannschaft, so sind es die Zuschauer und Sportler dieser Nation, die vom Syndrom der erhöhten Emotivität befallen werden, während wir kühl und gleichgültig bleiben. Und zwar nicht aus Feindseligkeit dem Gegner gegenüber, sondern weil uns diese Musik, die wir nicht kennen und zu der wir keinen Bezug haben, innerlich nicht berührt. Und darin liegt der Beweis, dass nämlich weder der einen noch der anderen Melodie etwas zu eigen ist, was »von Natur aus« schön oder aufwühlend wäre, was uns nahe ginge. Sondern vielmehr, dass eine der beiden Hymnen ein emotional-kompetentes Objekt in sich trägt, dass das Gemüt der betroffenen Fans in Wallung versetzt. Weil sie für diese Menschen ein Zeichen verkörpert, über dessen Deutungscodes nur sie verfügen und die in der Semiotik Interpretanten genannt werden. Man kann lange über die Frage meditieren, wie es möglich ist, dass nicht-musikalische Interpretanten wie etwa Patriotismus, Teamgeist, Liebe zum Sport, also eher soziale als ästhetische Codes, die Kraft besitzen, Musikwerken, die – seien wir ehrlich – nicht gerade durch ihre aufwühlenden Eigenschaften hervorstechen, eine derart eruptive Wirkung zu entlocken. Musikwerke, die in einem anderen Kontext schon lange den Fallgruben der Musikgeschichte zum Opfer gefallen wären. Oder anders ausgedrückt  : Das, was uns bei gewissen Musikstücken am stärksten berührt, ist nicht unbedingt … die Musik  ! Die gesamte Sparte der funktionellen Musik, gleich welcher Art, beruht prinzipiell auf diesem Phänomen. Zum Beispiel funktioniert Unterhaltungsmusik, indem sie die Codes von geteilter Freundschaft, Geselligkeit, Flirt, Verführung, 104


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Gruppenzugehörigkeit etc. anspricht. Während der harte Rhythmus und das saturierte Timbre der Punkmusik, ebenso wie der Irokesen-Haarschnitt und die Khakihosen, zu den Zeichen oder zur Semiotik der Punkbewegung gehören. Nicht die musikalische Qualität der Botschaft beziehungsweise der Partitur steht hier im Vordergrund, sondern eine ganz bestimmte Menge von Parametern, die vorhanden sein muss, damit alle Charakteristika einer Funktion erfüllt werden. Worauf es also bei funktioneller Musik ankommt, ist nicht mehr ihr ästhetischer Wert, sondern die Fähigkeit zur Aktivierung einer Reihe von Elementen, die notwendig sind, um die gewünschte Stimmung herzustellen  : peppiger Sound für die Disco, brausender Orgelklang für das Religiöse, Trommelwirbel und Trompetengeschmetter für den Aufmarsch. Ich erinnere mich noch an jene Dame, die mir erklärte, wie sehr der Klang der Kirchenorgel, vermischt mit dem des Glockengeläuts, ihr dabei helfe, sich geistig auf den Gottesdienst vorzubereiten. Dabei war sie absolut keine Musikliebhaberin und gab sogar zu, niemals Musik zu hören – das langweile sie. Aber ein Kirchgang ohne Orgel, das sei undenkbar  ! Ein besseres Beispiel für die Funktionalisierung von Musik kann man sich kaum vorstellen. Umgekehrt wird der Musikfreund, gläubig oder nicht, der eine Toccata von Bach hört, diese allein aufgrund ihrer musikalischen Qualitäten schätzen, ohne sogleich den Wunsch nach einem metaphysisch-religiösen Erlebnis zu hegen. Tatsache ist, dass der Klang der Orgel bei beiden Hörern Gefühle auslöst  : Diejenigen der frommen Dame entspringen Emotionen, die von einer Funktion bestimmt werden, das heißt von Klängen, die mit sozio-religiösen Konzepten verbunden sind, wohingegen die Gefühle unseres Bach hörenden Musikfreundes auf Emotionen beruhen, die durch aktives Wahrnehmen freigesetzt worden sind. Was wiederum auf die Finalität von Musik verweist, die darin besteht, gewissenhaft zu verherrlichen. Im Grunde geht es hier um nichts anderes als um zwei unterschiedliche Ebenen von Freiheit. Die Konsequenz daraus ist, dass wir, bevor wir entscheiden, ob wir uns dem Charme einer bestimmten Musik willentlich und aktiv hingeben – und damit gleichzeitig Gefahr laufen, zu ihrem Spielball zu werden – in der Lage sein sollten, ihre manipulative Macht zu erkennen. Schauen wir uns noch ein weiteres Beispiel an, um diesen Gedankengang zu untermauern  : In praktisch allen Hollywood-Schinken kommt es am Schluss des Films zu einer Szene, in der der Hauptdarsteller, nach aktions- und erfolgreichen Kämpfen gegen das Böse, mit vibrierender Stimme verkündet, die toten Weggenossen seien gerächt und die Moral gerettet. Das Ganze wird untermalt vom langgezogenen Klang der Trompete, die dem Zuschauer die obligatorische Träne entlockt. Ich für meinen 105


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Teil wehre mich gegen eine solche Vereinnahmung meiner Emotionen, meines moralischen oder patriotischen Empfindens. Ich widersetze mich dieser Art von Manipulation. Gewiss, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, kann auch etwas Positives an sich haben. Unter der Bedingung freilich, dass man sich der Tatsache bewusst ist, sich auf das Spiel der Emotionserzeuger eingelassen zu haben. »Wenn man genau aufpasst, können emotional kompetente Stimuli, so Damasio, aufgespürt werden […] Von diesem Moment an können Aufmerksamkeit und Gedanken in Richtung dieser Stimuli umgeleitet werden.«54 Und im Hinblick auf die Musik könnte er ebenso gut hinzugefügt haben  : »… zu diesen Stimuli hin-, oder durch diese Stimuli abgelenkt werden«. Hier ist es also an uns, die Wahl zu treffen zwischen einer aktiven, sprich freien, und einer manipulierten, sprich unfreien Musikwahrnehmung. Diese bewusste Haltung ist vergleichbar mit jener, die – wie am Beispiel von Picassos Guernica demonstriert – darin besteht, das »betrachtete« Werk neu zu komponieren. Sie entspringt dem zweifachen Wunsch, geistige Wachheit zu erlangen und die Freiheit der eigenen Meinungsbildung zu schützen. Dass Menschen einander gerne manipulieren, bedarf keiner expliziten Erörterung. Ein Buch über Musik sollte also daran gemahnen, dass der Mensch die Möglichkeit hat, sich ihrer als eines mächtigen Einflussnehmers zu bedienen. Doch wenden wir uns zunächst den positiven Eigenschaften zu, die die Macht der Musik birgt. Musik vermag unsere Gefühle zu instrumentalisieren und unseren Körper in eine wahre »Emotionsorgel« zu verwandeln. Der Komponist strebt danach, uns durch sein Werk mit dem Numinosen zu verbinden. Er möchte den Hörer gewinnen und in seinen Bann ziehen, um ihm unbekannte und wunderbare Welten zu eröffnen. So kam es, dass sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, namentlich unter dem Einfluss Ludwig van Beethovens, allein durch die Kraft der musikalischen Sprache neue emotionale Welten auftaten, und zwar – zumindest vorerst – unabhängig vom Umfang oder den klanglichen Möglichkeiten des Orchesters. In diesem Zusammenhang möchte ich nicht versäumen, Ihnen eine Kostprobe von Hector Berlioz’ Reaktion auf Beethovens Streichquartett in cis-Moll op. 131 zu liefern  : »Ich geriet unter den Einfluss des Genies dieses Autors. Unmerklich wurde seine Wirkungskraft immer stärker  ; ich empfand eine ungewöhnliche Störung des Kreislaufs, das Pulsieren in meinen Adern wurde schneller  ; kaum begann das zweite Stück, welches übergangslos auf das erste folgt, drehte ich mich, versteinert vor Verblüffung, zu einem meiner Sitznachbarn um und sah sein Gesicht, bleich und von Schweiß bedeckt, und alle anderen unbeweg106


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lich wie Statuen. Allmählich spürte ich ein furchtbares Gewicht, das sich wie ein schrecklicher Albtraum auf meine Brust legte, ich spürte, wie sich meine Haare zu Berge stellten, sich meine Zähne fest aufeinanderdrückten, sich alle meine Muskeln zusammenzogen und schließlich, beim Erklingen einer Phrase des Finales, ausgeführt mit letzter Gewalt durch den energischen Bogenstrich Baillots, bahnten sich kalte Tränen, Tränen der Angst und des Schreckens mühsam ihren Weg durch meine Augenlieder und bildeten gleichsam den Höhepunkt dieses grausamen Gefühls.«55 Einen stärker reagierenden Patienten hätte sich auch Professor Damasio nicht träumen lassen, so eindringlich ist die Beschreibung der spektakulären Wirkung des musikalischen Zeichens auf die psychische Natur des Berichterstatters. Natürlich könnte man eine vermeintliche romantische Hypersensibilität des Doktor Berlioz56 für derlei Bezeugungen verantwortlich machen, doch besteht für mich absolut kein Unterschied – in Bezug auf die Exaltiertheit – zwischen Berlioz’ brennender Emotionalität und der nihilistischen Hysterie zahlreicher Künstler und Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte dann die Entdeckung der Klangfarbe und ihrer emotionalen Ausstrahlungskraft, insbesondere der Blechblasinstrumente – Hörner, Trompeten, Posaunen, etc. – sowie die Möglichkeiten des erweiterten Klangumfangs  : So vermag etwa das unerhört differenzierte Orchester Richard Wagners das emotionale Engagement seines Publikums durch die nie enden wollende Bewegung der instrumentalen Wogen immer wieder aufs Neue zu motivieren, genau wissend, dass sich der Hörer dem fatalen Charme der ihr innewohnenden, unbestreitbaren Musikalität nur allzu gern hingibt. Auch die zeitgenössische Musik bleibt was den Einsatz betörender Orchesterfarben anbelangt nichts schuldig. Und wie wir bereits im Zusammenhang mit den vier »Elementen« gesehen haben, ist die Instrumentierung, im gleichen Maß wie die Form, der einzige musikalische Parameter, der, im Gegensatz zu den drei anderen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts bewusst aufgelöst wurden, einer stetigen Weiterentwicklung unterworfen war, insoweit es die Kommunikation des Ausdrucks betrifft. Das Arbeiten in der modernen Musik mit gegensätzlichen Nuancen, mit Crescendi und Decrescendi, denen aufgrund ihres weit ausladenden Charakters die Rolle der Hauptakteure zufällt, die extremen Kombinationen und Farben der Instrumente, – all diese Elemente stellen zwar starke Emotionsträger (OECs) dar, sind aber offensichtlich nicht imstande, das Fehlen anderer Referenzen – außer durch eine völlige Orientierungslosigkeit – zu kompensieren. Ist diese doch DAS Merkmal schlechthin geworden, welches das breite Publikum mit zeitge107


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nössischer Musik in Verbindung bringt, aus dem einfachen Grund, dass ihm kein anderes interpretierbares Zeichen zur Verfügung steht. Und weil diese Orientierungslosigkeit Unbehagen hervorruft, antwortet der Hörer mit Ablehnung. Abschließend möchte ich jeden, der sich für die Materie interessiert, darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, sein musikalisches Ohr und seine Aufnahmefähigkeit zu trainieren, um den emotionalen Strömen der Musik bei sukzessivem Hören auf den Grund zu gehen – so wie die Spannungsverläufe und Achsen eines Bildes durch häufiges und aufmerksames Betrachten ausfindig gemacht werden können. Wer sich von derlei Empfehlungen abgeschreckt fühlt, dem sei zur Beruhigung versichert, dass dieses aktive Hören durchaus keine Kenntnis oder gar Analyse der jeweiligen Partitur erfordert, sondern lediglich die Bereitschaft, das Werk mit wachem, konzentriertem Ohr aufzunehmen. Nach einer gewissen Zeit wird er das Aufkommen von Gedanken, Emotionen und Gefühlen feststellen, die denen des Komponisten nahekommen, ja gleichen oder sich gar mit ihnen decken, so wie es mir bei der Betrachtung von Picassos Guernica ergangen ist. Entsteht doch am Ende einer solchen »Übung« eine Verbindung, die, wenn sie auch nicht die perfekte Kongruenz zwischen dem Gefühl des schöpfenden Künstlers und dem des aufnehmenden Rezipienten darstellt, stark genug ist, um Strawinskys Diktum über die Aussagekraft der Musik zu dementieren. Der Komponist kann den gewissenhaften Einsatz der emotionalen Potentialitäten des musikalischen Objekts weder ignorieren noch als belanglos, trivial oder oberflächlich abtun. Es ist dringend erforderlich, den Zusammenhang zwischen akustischem Phänomen und dem Entstehen von Emotionen und Gefühlen systematisch zu erforschen und zu »kartieren« – um noch einmal die Terminologie des Neurologen zu bemühen. Solcherlei Anstrengungen erachte ich als mindestens ebenso wichtig wie all die – gewiss nützlichen und ehrenvollen – Untersuchungen, die auf dem Gebiet der Akustik und der elektronischen Musik gemacht wurden. Geht die Erforschung des emotionalen Faktums doch davon aus, dass man sich Gedanken macht über Sinn und Zweck der Musik, der unter anderem darin besteht, sowohl gespielt, als auch gehört, geschätzt und genossen zu werden, und zwar nicht nur von einer kleinen Gemeinde militanter Eingeweihte, sondern vom musikliebenden Publikum in seiner Gesamtheit, so wie es früher stets der Fall war. Müßig scheint mir der Einwand, dass die im Moment des Hörens entstandene Intersubjektivität – das musikalische Zeichen ist sowohl im Komponisten als auch im Rezipienten mit einer beträchtlichen Subjektivität ausgestattet – jede Systematisierung, jede Kodifizierung einer emotionalen Sprache unmöglich mache. 108


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Darauf antworte ich mit einem bewusst spektakulären Beispiel  : Ich bediene mich einer emotionalen Analyse des Anfangs von Also sprach Zarathustra von Richard Strauss, einer der infolge geradezu inflationären Zitierens durch Film und Fernsehen berühmtesten Sequenzen des klassischen Musikrepertoires. Dem Komponisten gelingt es hier, durch die Vereinigung bestimmter musikalischer Objekte beim Hörer unmittelbare Gefühle auszulösen, die die Eigenschaft besitzen, diese Sequenz mit dem Numinosen zu assoziieren, mit der Idee von Eroberung und Sieg, aber auch mit Zweifeln, ganz am Schluss des Werks. Bevor wir beginnen, möchte ich darauf hinweisen, dass alles in dieser Sequenz vom Komponisten in voller Kenntnis der Zahlensymbolik konzipiert wurde  ; wer sich für diese Symbolik interessiert, wird den Inhalt der folgenden Abschnitte problemlos verstehen. Am Anfang erklingt, kaum hörbar, ein tiefes C. Es deutet auf der ersten Note der Tonleiter das an, was noch kein Tongeschlecht ist, weil es zu tief ist, um als solches wahrgenommen zu werden. Aber was sich abzuzeichnen beginnt, das ist die Darstellung des göttlichen Schöpfergeistes, der zu Anbeginn der Zeiten über den schwarzen Fluten schwebt. Auf ähnliche Art – nur mit einem Es als erste Note – gestaltet Richard Wagner den Anfang seines Ring. Sodann lassen die Trompeten die drei hintereinander aufsteigenden Noten C, G, C erklingen, eine Quint und eine Quart, die zusammengenommen eine Oktave ergeben. Was augenblicklich an eine aufs äußerste gespannte Saite denken lässt, einen Bogen, einen geschlossenen Kreis. Und natürlich assoziiert man mit dem ersten C die Eins, mit dem G das Dual- oder Binärsystem und mit dem zweiten C das Ternär- oder Dreiersystem, welches uns wieder zur Einheit zurückbringt.

Die Spannung löst sich auf in dem Doppelakkord Dur/Moll, schneidend wie das erste Fiat Lux  !, Es werde Licht  ! Die Kräfte des Universums scheinen sich zu vereinen. Wir werden von einem starken Gefühl der Erwartung gepackt. Die Tatsache, dass der als offen empfundene Dur-Akkord zuerst kommt, und dann erst der geschlossene Moll-Akkord, weist uns intuitiv darauf hin, dass sich eine introspektive Spannung aufbaut, und dass auf diese nach innen gerichtete Spannung unweigerlich eine Öffnung folgen muss, nämlich in Form der umgekehrten Akkordfolge Moll/Dur … Das Wort wird gesprochen … Weisheit  ! 109


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Es folgen die zwölf Paukenschläge auf den Noten C und G, Tonika und Dominante, den beiden Säulen des Tongeschlechts. Für ein Werk mit dem Namen Zarathustra, Homonym von Zoroastro, oder Sarastro aus der Zauberflöte ist es nicht verwunderlich, dass es die Zahl der zwölf Himmelskonstellationen enthält. Diese Sequenz auf C, G, C, etc. ist eine Wiederholung des Trompeten-Crescendos C, G, C – gleich einer Antwort auf den Ruf der Trompeten, gleich einem kosmischen Echo der drei Noten des Anfangsmotivs.

Sodann nehmen die Trompeten das ternäre Motiv wieder auf und diesmal – als hätten wir’s geahnt – explodiert der Moll/Dur-Akkord in strahlendem Dur. Die Öffnung vollzieht sich. Nach dem Es werde Licht  !, Dur/Moll, folgt nun das Und es ward Licht. Das Wort erfüllt sich … Kraft  ! Abermals sind die zwölf Paukenschläge zu hören. Doch dann erschallt, zum dritten Mal, das Motiv der Trompeten, um endlich die Apotheose zu verkünden. Diesmal erstrahlt das Licht in seiner ganzen Herrlichkeit. Um diesen Effekt zu erreichen, greift Strauss auf die vierte Tonleiterstufe zurück. – Ein klug kalkulierter Überraschungseffekt, hatte er uns doch bis zu diesem Moment in einer extremen Spannung auf der ersten Stufe des C-Dur ausharren lassen. Diese vierte Stufe, F-Dur, wird als Höhepunkt, als Ekstase ästhetischer Erfahrung empfunden  : die Schöpfung dargestellt in ihrem ganzen Glanz … Schönheit  ! Wie wir sehen, war sich Strauss, als er den Anfang dieser langen Symphonischen Dichtung komponierte – der Einleitung folgen 40 Minuten wundervollster Musik –, der emotionalen Wirkung der musikalischen Objekte genau bewusst. Er kannte auch die traditionelle Symbolik der Zahlen, ebenso wie die Rolle, die das Gedächtnis beim Hören und bei der Umwandlung von Gefühlen spielt. Ist doch die Musik, im Gegensatz zur Malerei, abhängig von der Zeit. Sie kann nur als Ablauf in der Zeit erlebt werden. Folglich ist das Gedächtnis der wichtigste Faktor des aktiven Musikhörens, indem es Orientierungspunkte festlegt und Erwartungen aufbaut. Was sich in den Worten Damasios so anhört  : »Wir behandeln nicht nur die Präsenz eines Objektes, sondern auch sein Verhältnis zu den anderen Objekten und seine Verbindung mit der Vergangenheit. Unter diesen Umständen evaluiert der emotionale Apparat auf natürliche Weise, und 110


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Akustische Körper

der Apparat des bewussten Geistes koevaluiert indem er unter Beweis stellt, dass es den Gedanken gibt.«57 Schließen wir dieses Kapitel mit der Feststellung, dass im Grunde auch das objektivste Hören immer nur ein Spiel ist, das nach ganz bestimmten Regeln abläuft. Aber woher kommen diese Regeln  ? Lassen wir Roland Barthes auf diese Frage antworten, auch wenn sich seine Aussage auf die Aufnahme von geschriebenen Botschaften, sprich  : Literatur, bezieht. Lässt sich diese doch auch auf das Wahrnehmen von Musik anwenden  : »Diese Regeln entstammen einer jahrtausendalten Logik des Erzählens, einer symbolischen Form, die uns sogar schon vor unserer Geburt konstituiert, in einem Wort, jenem riesigen kulturellen Raum, in dem unsere Person nur eine vorübergehende Erscheinung ist.« Weiter schreibt Barthes – und bestätigt damit die 20 Jahre später aufgestellten Theorien Damasios  : »Lesen bedeutet unseren ganzen Körper arbeiten zu lassen […] auf den Ruf der Zeichen des Textes, sämtlicher Sprachen hin, welche die „moirierte“ Tiefe der Sätze durchqueren und herausbilden«.58Um fortzufahren  : »In der Lektüre sind alle Regungen des Körpers vorhanden, ineinander vermengt, gerollt  : Faszination, Leere, Schmerz, Wollust  ; die Lektüre versetzt den Körper in Erschütterung«. Welcher musikalische Zeitgenosse von Barthes hätte es gewagt, auch nur Annäherndes zu schreiben  ? Dabei gibt es in der Musik nichts als Emotionen  : Die musikalischen Objekte und ihre Kombinationen lösen den Wahrnehmungsprozess aus, der seinerseits unmittelbar gefolgt wird von einer Emotion, so schwach diese auch sein mag. Das Zusammenspiel dieser durch das Werk hervorgerufenen Emotionen erzeugt einen ganz bestimmten Zustand, der je nach der musikalischen Vorbildung des Hörers mehr oder weniger komplex sein wird, der aber systematisch, ob es einem gefällt oder nicht, dem Bereich der Emotionen zuzuordnen ist. Kontemplation, Bewunderung, ja selbst reine Meditation – alle diese Wörter beziehen sich auf einen Zustand des Geistes, also auch des Körpers und, infolgedessen, auf eine Emotion. Dies verneinen zu wollen, zeugt nicht nur von Selbsttäuschung, sondern ganz einfach von Ignoranz. Woher rührt also die offenkundige Aversion der Komponisten des 20. Jahrhunderts – zumindest derer, die sich zur militanten Fraktion der Avantgarde zählen – gegen den Körper und seine Erschütterungen, gegen Emotionen, Gefühle  ? Wie erklärt sich diese Faszination für die logische und rigide – um nicht zu sagen  : frigide – Auslegung  ? Wohl aus dem Bedürfnis heraus, endgültig aufzuräumen mit dem Bild des schmachtenden Troubadours, des vermaledeiten Künstlers, des zotteligen, alkoholsüchtigen »Taugenichts«. Was mag der Grund sein für diesen Zugriff, um nicht zu sagen  : Rückzug, auf den Jargon der Wissenschaft  ? 111


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Die Wissenschaft – vereinnahmt, mitunter sogar missbraucht, um eine Musik zu retten, die auf der Suche war nach einer neuen Identität. Die Wissenschaft – mit ihrem unanfechtbaren Prestige, ihrer unerbittlichen Methodik, ihren unbestreitbaren Resultaten, neuer »Vektor« des menschlichen Genies. Dieses Genie, das im Lauf der Zeitalter von einer Geistesdomäne zur anderen zu wandern scheint, in einer ewigen Pendelbewegung der Geschichte  : Das Genie der Physik und der Metaphysik bei den Ägyptern verwandelt sich in das philosophische und ästhetische Genie der Griechen, das politische und militärische Genie der Römer wird zum Genie der Dichtkunst, der Malerei und später der Musik in den Kulturen des Abendlands. Und schließlich das Genie, das seit einiger Zeit die Kunst aufgeben zu wollen scheint zugunsten der Wissenschaft oder die Kunst zumindest dazu verurteilen will, nur noch ephemer in Erscheinung zu treten. Ja, so ist es  : In diesem 20. Jahrhundert bedient sich der Musiker der Wissenschaft, aus Angst davor, gleichzeitig mit dem Genie auch seine Seele zu verlieren. Aber … ist nicht vielleicht die Seele die eigentliche Finalität der Musik  ?

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6. Musik, Sprache der Seele  ?

»Und ich fragte mich, ob nicht die Musik das einzige Beispiel dessen sei, was – hätte es keine Erfindung der Sprache, Bildung von Wörtern, Analyse der Ideen gegeben – die mystische Gemeinschaft der Seelen hätte werden können.« Marcel Proust, Auf der Suche nach der ­verlorenen Zeit

Seit jeher ist die Geschichte der Musik im Grunde nichts anderes als die Geschichte zweier Strömungen, nämlich die Suche nach der vollkommenen Sprache für die einen sowie die Suche nach der universellen Sprache für die anderen. Was ganz und gar nicht dasselbe ist, wie Umberto Eco uns in seinem Buch darzulegen versucht  : »Die Suche nach einer Sprache, die das innerste Wesen der Dinge zu reflektieren vermag, ist nämlich eine Sache  ; eine andere ist jedoch die Suche nach einer Sprache, die von allen Menschen gesprochen werden kann. Nichts verhindert, dass eine vollkommene Sprache nur wenigen zugänglich und eine universal gesprochene unvollkommen ist.«59 Hier haben wir in zwei Sätzen zusammengefasst, was den Unterschied ausmacht zwischen einem introspektiven und spekulativen Musiker einerseits und einem extrovertierten, seine Begabungen verschwenderisch versprühenden Musiker andererseits. Proust, den ich weiter oben zitiere, wäre mit Sokrates einverstanden gewesen, der im Kratylos dafür plädiert, Erkenntnis nicht mithilfe von Worten zu erwerben, weil diese zu schwach und unpräzise seien, sondern durch die Dinge, oder besser noch, durch die Ideen selbst. Ein Gedanke, den auch der heilige Augustinus verfolgt und weiterentwickelt, ein Gedanke, der offensichtlich das ganze im Entstehen begriffene Europa beschäftigte  : »Die kritische Kultur Europas«, so Eco, »die sich dem Drama der Sprachenzersplitterung stellt und anfängt, über die eigene Zukunft als vielsprachige Zivilisation nachzudenken […], sucht nach Wegen der Heilung. Dabei ist sie bald rückwärtsgewandt im Versuch, die Sprache Adams wiederzufinden, bald 113


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

vorwärtsgewandt mit dem Ziel, eine Sprache der Vernunft zu konstruieren, der die verlorene Vollkommenheit der Sprache Adams zu eigen sein müsste.«60 Eine Sprache, die sich allein aus Ideen zusammensetzt, ohne Hinzunahme von Wörtern, wäre ideal. Sie wäre Motor und Brennstoff unseres Bewusstseins in einem. Wäre da nur nicht das geringfügige Problem, dass wir, um überhaupt zu diesem Niveau zu gelangen, auf eben diese Wörter angewiesen sind. Die Musik kann die Rolle der natürlichen Universalsprache nicht für sich in Anspruch nehmen, denn sie vermag komplexe Zusammenhänge, auch in ihrer einfachsten Form, wie zum Beispiel »Wissen Sie, wie spät es ist  ?« – außer wenn sie gesungen sind – nicht zu kommunizieren  ; anders ausgedrückt  : Ihrer Aussagekraft entzieht sich praktisch die Gesamtheit des verbalen Wissens. Das heißt, das Konzept der Sprache, in unserem Fall der musikalischen Sprache, beruht auf reiner Extrapolation. Der universale Charakter der Musik hingegen, der sich darin manifestiert, dass eine Symphonie von Mozart von einem Franzosen im selben Maß geschätzt wird wie von einem Japaner sowie durch die Tatsache, dass sie uns etwas vom »Jenseits« vermittelt und, wie wir gesehen haben, in komplizenhafter Übereinstimmung mit den Zahlen und »Prinzipien« steht, hat zu allen Zeiten die Hoffnung genährt, dass durch sie eine vollkommene Sprache entwickelt werden könne. Aber was dabei herauskäme, wäre die Sprache entfleischlichter und von allen Belanglosigkeiten befreiter Wesen. Eine Sprache von Wesen, die sich nicht mehr nach der Uhrzeit zu erkundigen oder einen Börsenauftrag zu erteilen bräuchten. Oder aber eine Zusatzsprache, eine Sprache die man spräche, um unsägliche Dinge auszudrücken, um rein abstrakte Konzepte zu kommunizieren. In einem Wort  : Sie wäre nichts anderes als das, was jene Musiker tun, die sich jeden Tag zu dritt oder zu viert zusammentun, um Kammermusik zu spielen … Es ist wichtig, sich an dieser Stelle vor Augen zu führen, dass die Komponisten, die vor und nach der sogenannten »klassischen Periode«, oder, für die Nostalgiker unter den Lesern, dem »goldenen Zeitalter« der Musik wirken, hauptsächlich spekulativ arbeiten. Von Pythagoras bis zu den Franziskanermönchen des Mittelalters, von Schönberg bis zu den Komponisten-Forschern des IRCAM – zu allen Zeiten wird herumexperimentiert. Im Altertum beschäftigt man sich mit den Verhältnissen von Zahlen und Klängen – in der Hoffnung, daraus eine universelle Klangmechanik abzuleiten, so wie man in den Musiklaboratorien von heute neue Klangräume erschließt. Und all dies aus dem Streben heraus, der vollkommenen Sprache auf die Spur zu kommen, aus dem Versuch heraus, die Natur der Dinge unmittelbar auszudrücken, beziehungsweise das zu ergründen und zu enthüllen, was sich hinter den Dingen verbirgt. 114


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Musik, Sprache der Seele  ?

Im Gegensatz dazu ist die musikalische Epoche von Bach bis Debussy geprägt durch die Herausbildung einer Sprache von universeller Gültigkeit, durch ihre phänomenale Wirkungskraft sowie die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der ganzen Welt rezipiert wurde. Und natürlich durch die Tatsache, dass sich manch einer von uns nach ihr zurücksehnen mag. Die Tonkünstler jener Ära streben nach Ausdruck, nicht nach musikalischen Experimenten. Oder genauer gesagt  : Ihre Suche nach immer neuen expressiven Mitteln zeichnet sich durch Sinnlichkeit aus, und ihr Verhältnis zu diesem Tonmaterial ist, im positiven Sinn des Wortes, gefühlsbetont. Ihre Herangehensweise ist nicht so sehr intellektuell als vielmehr intuitiv. Ihr Leitgedanke lautet  : Inspiration. Gleichwohl spielt die Frage, welches Idol dem Künstler in der Entstehungsphase des Werks gerade Pate steht, ob er an den Kuss der Muse glaubt oder nicht, und ob seinem schöpferischen Akt ein intellektueller oder eher ein intuitiver Prozess vorausgegangen ist, nur eine untergeordnete Rolle. Was uns viel mehr interessiert, ist die Frage, in welchem Teil unserer psychischen Anatomie genau die Musik ihre Wirkungskraft entfaltet. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich das Wort »Seele« eingebürgert. Es soll die subtilsten Vorgänge in unserem Inneren beschreiben. Wobei fatalerweise oftmals die Seele herhalten muss, wenn in Wirklichkeit das Gefühl oder – schlimmer noch – Gefühlsseligkeit gemeint ist. Gefühl und Körper sind untrennbar verbunden, das Gefühl IST der Körper, das haben uns Damasio, und vor ihm, Darwin gelehrt. Die Seele, wie auch immer wir sie definieren – oder auch nicht – steht für das, was nicht mehr der Körper, oder gar völlig losgelöst von diesem ist. Aber lassen wir den Versuch, die Seele zu ergründen, zu analysieren  ; selbst die Werke der Philosophie, der Theologie oder der Metaphysik haben es bis jetzt nicht geschafft, das Sujet zu erschöpfen. Sparen wir uns auch die Unzahl berühmter Zitate zum Thema »Seele und Kunst«, »Seele und Literatur«, »Seele und Kochen«, etc. Ich denke, dass darüber, was wir unter »Seele« verstehen, mehr oder weniger Einigkeit herrscht. Dennoch möchte ich eine vorläufige Definition riskieren  : Die Seele ist alles, was wir in uns nicht kennen, und alles, was nicht wir ist. Das Unbewusste ist nicht die Seele, denn es ist das »unbekannte Ich«. Die Seele ist das gewusste »Nicht-Ich«, und durch jenes Bewusstseinslicht, das sie in unserem Geist aufleuchten lässt, ist sie sogar das, worum wir am besten wissen. Aber gewusst ist nicht dasselbe wie bekannt, wir kennen weder den Ort noch die Beschaffenheit der Seele, wir wissen lediglich, dass sie die subtilste Ebene unserer Psyche darstellt. Und die Behauptung, die Seele sei nicht Ich, lässt sich sowohl 115


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

aus religiöser Sicht bestätigen, gemäß der die Seele ein Teil Gottes ist, der uns beseelt – also gleichsam eine Leihgabe –, als auch aus psychologischer Sicht. Heißt es doch dort, sie sei der Teil »in uns«, der sich durch kein Element des Körpers oder des Geistes beherrschen oder beeinflussen lässt. Andernfalls könne es sich ja schließlich nicht mehr um die Seele handeln. Woraus wir also schließen  : Die Seele ist »in mir«, aber sie ist nicht »Ich«, sie ist gewusst, aber nicht bekannt. Die Philosophie des Buddhismus vermag dieses scheinbare Paradox der verschiedenen Daseinsstufen am besten zu analysieren und zu zeigen, wie sehr die Seele entpersönlicht ist, wie sehr wir westlich geprägten Menschen auf geradezu pathetische Art an unserer Persönlichkeit festhalten und uns dadurch den »Blick« auf unsere Seele versperren. Die Sphäre, die der Seele vorbehalten ist und in der ihr Wesen am deutlichsten in Erscheinung tritt, ist, wie wir bereits gesehen haben, die Sphäre des Numinosen. Angesichts des Numinosen scheint der Körper wie ausgeschaltet. Die Gefühle verfallen in Schweigen, und die daraus erwachsene innere Stille ist im Grunde nichts anderes als das, was das Werk – als Träger des Numinosen – uns vermitteln möchte. Damit wir uns richtig verstehen  : Die wahre Stille und die wahre Größe der Kathedrale sind die Stille und Größe, die sie in uns zu offenbaren vermag. So wie die wahre Erhabenheit und der Frieden, die von einem mächtigen Gebirge ausgehen, die Erhabenheit und der Frieden sind, die der Anblick dieses Gebirges in uns zu erwecken vermag. Das, was wir in diesem Moment empfinden, sollte eigentlich »Meta-Gefühl« heißen, oder »Jenseits-des-Gefühls«. Denn es geht hier nicht mehr um »die Wahrnehmung eines bestimmten Körperzustands«, der durch dieses Meta-Gefühl reflektiert wird, sondern um die Enthüllung der nackten ganzen Seele, das heißt  : um die Offenbarung einer Gegend unseres Selbst, die bis dahin niemand zu identifizieren, zu lokalisieren, zu analysieren vermochte61. Mit der Musik verhält es sich genauso. Ob emotionale Werke, sentimentale oder »intellektuelle«  : Sie alle sprechen zu unserer Seele. Außer, dass der emotionale »akustische Hintergrund« der beiden erstgenannten Kategorien so stark ist, dass es schwer fällt, beim Hören zu unterscheiden zwischen dem, was in unserem Körper vibriert und was in unserer Seele aufleuchtet, oder anders ausgedrückt  : zwischen dem, was uns bewegt und was uns transzendiert. Um herauszufinden, was zu unserer Seele spricht, muss zuerst die Fanfare der Emotionen zum Schweigen gebracht werden. Einem Werk von Tschaikowsky zu lauschen in der Absicht, die subtilste Region unserer Psyche zu identifizieren, ist völlig zwecklos. Diese Musik, die im Übrigen eine große und schöne Seele besitzt, spricht vor allem unseren Körper an. Sie geht unter die Haut, sie löst die ganze Bandbreite der Emotionen in uns aus. 116


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Musik, Sprache der Seele  ?

Ich behaupte, dass es ganz im Gegenteil die »kopflastigsten« Werke sind, die am besten dazu geeignet sind, uns den Weg zur Seele zu weisen. Zuvorderst rangiert die Musik J. S. Bachs, bei dem die – ständig vorhandene – Emotion allein durch das sehr deutliche »Gefühl« ausgelöst wird, man befinde sich auf Tuchfühlung mit der Seele. Und durch sie auf Tuchfühlung mit etwas Größerem, Höherem. Mit dem bewusst gewählten Wort »Gefühl«, als kleines Augenzwinkern an die Adresse Damasios, meine ich das Wahrnehmen eines ganz bestimmten Zustands, und zwar nicht des Körpers, sondern des subtilen Geistes, der Seele. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass all diejenigen, die Seele und Gefühl, genauer gesagt  : das echte, emotionale Gefühl, in fröhlicher Unbekümmertheit durcheinanderbringen, die behaupten, diese oder jene Musik habe »keine Seele«, nur um damit sagen zu wollen, dass sie ihnen weder Gänsehaut noch Tränen, geschweige denn einen Ohnmachtsanfall (bei den ganz Sensiblen) zu bescheren vermag, dass also sie alle am Thema vorbeizielen. Solcherlei Seelenzustände liefern zwar den Stoff für schöne Bücher, verschleiern aber die unangenehme Tatsache, dass man den eigentlichen Gegenstand nicht verstanden hat. Die Seele, so es sie überhaupt gibt, ist nicht Wir, wenigstens nichts, was aus unserem Fleisch wäre, auch nicht aus dem »Fleisch« unseres Geistes. Denn jene, so Damasio, »atmet durch den Körper.« Wenn die Seele, die – im gleichen Maß wie die Vollkommenheit, die Wahrheit, ja sogar die Freiheit – eine Angelegenheit des Glaubens ist, vorgibt, das zu sein, was sie ist, dann muss sie vollkommen frei sein. Frei von jeder Bindung an dieses emotionale und wankelmütige Tier, das wir sind. Demnach könnte also eine weitere, großartige Definition der Seele von ihrer offensichtlichsten Eigenschaft her rühren  : Stabilität, Beständigkeit. Dank dieser Eigenschaft ist es mir selber gelungen, sie »auf frischer Tat« zu ertappen und meinen Glauben an sie darauf zu gründen. Als Kind war ich geradezu besessen von der Idee, dass es eine Seele geben müsse, die – so dachte ich – die notwendige Voraussetzung sei für jeden späteren Glaubensakt, für jedes metaphysische Engagement. Würde ich es nicht schaffen, mir selber zu beweisen, dass in mir eine Seele steckt, so hätte ich auch keinen Grund mehr, mich um Gott oder um mein Schicksal zu kümmern. Ich war aber wild dazu entschlossen, meinen Geist über das, was die Wirklichkeit mir darbot, hinauszuschicken. Also stellte ich folgende Überlegung an  : Wenn in mir eine Seele wohnt, das heißt ein Ding, das vor mir existiert hat und auch nach mir existieren würde, dann muss diese vermeintliche Seele notwendigerweise immun sein gegen sämtliche Turbulenzen meines Körpers und meines Geistes. 117


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Bei der ersten Mandelentzündung, die mich pünktlich jeden Winter, begleitet von heftigen Fieberanfällen, ans Bett zu fesseln pflegte, machte ich auf einmal – trotz des Deliriums, verursacht durch die hohe Körpertemperatur und die Medikamente – die Entdeckung, dass es irgendwo in mir einen Ort gab, einen Hort der Ruhe und Stabilität, an dem ich sicher war vor dem Sturm, der mich daran hinderte, aufzustehen, zu sprechen oder nachzudenken. Ein winziges Kämmerchen, in das ich mich flüchten konnte und wo ich endlich in der Lage war, einen »klaren Gedanken« zu fassen. Ich vertrieb mir die Zeit damit, lange Zahlenreihen und auswendig gelernte Gedichte aufzusagen. Doch sobald ich dieses Refugium verließ, brach der Sturm wieder los, und mein Kopf spielte wieder verrückt. In den vielen Jahren meiner musikalischen Tätigkeit bin ich diesem »Ort« mehrmals auf die Spur gekommen  ; dass es sich eher um einen Ort als um eine Entität handelt, stand für mich außer Zweifel. Und wie wir bereits gesehen haben, ist die Musik, die sich für dieses Zusammentreffen mit der Seele am ehesten eignet, zwangsläufig die am wenigsten leidenschaftliche, dafür aber die, die oftmals die heftigsten Leidenschaften zu wecken vermag. In der Musik spüre ich, spüren wir eine große, jeder elaborierten Syntax innewohnende Stabilität, welche durch das Tempo als strukturbildendes Element noch erhöht wird. Aber vor allem spüren wir eine innere Stabilität, eine Stabilität des Subjekts, die unabhängig ist von den Höhen und Tiefen, den Leidenschaften, die die Partitur in uns auslöst. Genau das ist die Finalität der Musik, ihre Seele, die zu unserer Seele spricht. Sie ist der Fixpunkt, die Achse des Pendels, unbeweglich und vollkommen ruhig, wenn der große Sturm der Leidenschaften durch den emotionalen Raum unseres Individuums fegt. Kraft dieser Stabilität kann man sagen – ohne gleich in die Falle des romantischen Missverständnisses zu tappen –, dass Musik die Sprache der Seele ist. Denn – und diese Evidenz sollten wir uns immer wieder vor Augen führen – im Gegensatz zu allen anderen Kunstformen verläuft die Musik in der Zeit, wie ein Fluss. Freilich ein Fluss, der uns mit sich fortreißt, kraft des ihm eigenen Rhythmus, dem wir uns nicht entziehen können. Es sei denn, wir gehen auf Distanz zum Werk, versinken, – gewissermaßen – in Dumpfheit. Doch denken wir an Heraklits Parabel  : »Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt.« So ist es  : Wir steigen in den Fluss, doch dieser fließt weiter, und zum Zeitpunkt B ist er schon nicht mehr das, was er zum Zeitpunkt A war. Wir sind im selben Fluss und sind es doch nicht. 118


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Musik, Sprache der Seele  ?

Hier haben wir eine ausgezeichnete Metapher unseres Verhältnisses zur Welt. Einer Welt, die sich außerhalb von uns verändert und wir außerhalb von ihr, vorausgesetzt, man betrachtet das »Wir« als Einheit von Körper und Geist. Die einzigartige und mächtige Zauberkraft der Musik besteht darin, uns in einen Fluss fortzureißen, der mit uns fließt und uns die Gewissheit gibt, dass wir in eine Welt eintreten, in der Zeit und Raum auf den Kopf gestellt sind, wie abgeschafft. So dass wir, wie der berühmte Ethnologe Claude Lévi-Strauss es formuliert hat62, zu einer Art Unsterblichkeit gelangen. Die Zeit verändert sich nicht mehr unabhängig von uns, sondern mit uns, und der Raum ist gleichzeitig überall und nirgends. Ist es doch die Musik, die die Zeit strukturiert und den Raum erfüllt. Oder besser ausgedrückt  : Weil der Fluss laut Heraklit niemals etwas Starres ist, etwas in einem bestimmten Zustand Greifbares, weil er also niemals ist, wird das musikalische Erleben zu einer einmaligen Erfahrung ontologischer Begründung  : Auf beständige Art fließend, befindet es sich im Gleichklang mit unserer stabilen Seele und bietet uns die einmalige Chance, das Wunder der Verschmelzung mit dem göttlichen Prinzip zu erleben, so oft wir es wünschen. Allerdings bezieht sich diese verblüffende Erfahrung nur auf die Seele, was sich vielleicht anhand des folgenden Beispiels veranschaulichen lässt  : Sobald uns eine Passage eines Werks – namentlich aus der romantischen Periode – besonders bewegt, klammern wir uns reflexmäßig an den Klang, der das Aufkommen dieses Gefühls hervorgerufen hat, versuchen wir, ihn festzuhalten und seinen Zauber noch einmal aufleben zu lassen. Wodurch wir automatisch aufhören, mit dem Fluss zu fließen. Wir lassen das Werk los. Dasselbe Phänomen kann man praktisch täglich in der Oper erleben, wenn das Publikum nach dem hohen C des Tenors, adrenalingeschwängert und ganz benommen vor Freude und Dankbarkeit, applaudiert und schreit, ungeachtet der Musik, die unterdessen wieder eingesetzt hat. Oder typischerweise bei italienischen Opern, wenn das Publikum noch vor Beendigung der Schlussarie, am Boden zerstört infolge des tragischen Todes der Heldin – manchmal ist es auch der Tenor, der so galant ist, vor ihr zu sterben, oder besser noch  : an ihrer statt – mit seinem Beifallssturm das arme Orchester übertönt, das versucht, die Partitur zu Ende zu spielen – so wie der Komponist es vorgesehen hat. Freilich besteht diese Gefahr des »Loslassens« bei den Werken, in denen das Numinose heraufbeschworen wird, nicht. Denn das Numinose ist nicht der Feind der Gefühle, im Gegenteil, es ist vielmehr Ausdruck des Gefühls der Seele, welche sich im Angesicht des »Großen« befindet. So zwingt uns der Schluss von Parsifal zur letzten Kontemplation einer allerletzten Facette seines Geheimnisses, 119


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

welches uns vier Stunden lang daran gehindert hat, in den Fluten zu versinken, ohne jemals Gefahr zu laufen, die Musik loszulassen. Vier Stunden, die mit ihrer ganzen Substanz auf wundersame Art zusammengeschrumpft sind, zu einer Raumzeit, die wir in uns tragen, für einige Stunden in unserem Körper und für die Ewigkeit in unserer Seele …

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7. Das Phänomen Beethoven

»Ich kenne kein anderes Zeichen für das Erhabene im Menschen als die Güte.« L. v. Beethoven

Bevor wir diesen Teil des Buches über die Musik als Sprache abschließen und uns dem Thema der Moderne zuwenden, scheint es mir angebracht, gewisse Aspekte von Beethovens musikalischer Sprache – wenn auch nur auf »Oberflächenniveau«, wie die Linguisten es zu nennen pflegen – zu beleuchten. Ist doch Beethoven durch die Vielzahl neuer Zeichen, mit der er die musikalische Syntax bereichert hat, aber auch durch die Erweiterung der »Bibliothek« emotional-kompetenter Objekte, die auf der Basis dieser Zeichen entstanden waren, als wichtigster Impulsgeber der Moderne in die Geschichte der Musik eingegangen. Weiter oben haben wir gesehen, dass ein Zeichen nur dann existiert, wenn es beim Empfänger auch als solches ankommt. Das musikalische Zeichen wird nur dann wahrgenommen, wenn es gefühlt wird. Und im Zusammenhang mit der musikalischen Form haben wir festgestellt  : Je größer die Komplexität eines Werks, umso weniger kopflastig gestaltet sich das Erleben desselben, und umso intensiver muss sich der Hörer auf die Gefühle verlassen, die durch die neuen Zeichen ausgelöst werden. Ein Komponist, der zugleich modern und verstanden sein will, sollte also die Fähigkeit besitzen, neue Zeichen zu kreieren, die der Hörer trotz allem zu deuten vermag. Um dieses Gleichgewicht zu erreichen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein  : Zum einen darf der musikalische Diskurs nicht durch die Einführung zu vieler neuer Zeichen überfrachtet werden, zum anderen müssen diese auf gekonnte und behutsame Art an den Hörer herangeführt, gewissermaßen durch bereits bekannte Zeichen empfohlen werden. In dieser Hinsicht ist Beethovens Vorgehen absolut meisterhaft. Beethoven ist ein Phänomen, denn kein anderer Komponist, weder vor noch nach ihm, hat es jemals geschafft, so bahnbrechend und gleichzeitig so beliebt zu sein. Man darf sogar behaupten, dass die Modernität in der Musik seine Erfindung ist und durch ihn vorwärts getrieben wurde. Mehr noch als Bach, Haydn oder Mozart hat Beethoven die expressiven Qualitäten des musikalischen Materials virtuos ausgelotet. 121


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Und wenn seine Popularität praktisch ins Unermessliche gestiegen ist, dann liegt das daran, dass er mit seinen schöpferischen Erkundungen nur ein Ziel vor Augen hatte  : in seiner Musik die größtmögliche Menschlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Beethoven interessierte sich nur für den Menschen. Er richtete sich ausschließlich ans menschliche Herz, versuchte nicht, dem Intellekt zu schmeicheln oder Fürsten zu umgarnen. Sein gesamtes Oeuvre ist ein einziger Kraftakt, der darin besteht, die Menschheit auf seinen herkuleanischen Schultern um einen Ton höher hinauszuheben. Deshalb mobilisierte Beethoven seine geistigen Kräfte, die immens waren, um eine prometheische Inspiration zu entfachen. Man vergegenwärtige sich nur einen Moment, dass dieser Mann, dessen Sprache sich – bei genauerer Betrachtung – als unendlich komplex erweist, die größte Anzahl »Ohrwürmer« der Musikgeschichte geschrieben hat, und man bekommt eine Vorstellung davon, zu welchen Großtaten der menschliche Geist fähig ist, wenn er dem Genius das Wissen um die Kraft der Zeichen zur Seite stellt. Sei es die fünfte Symphonie, auch Schicksalssymphonie genannt, mit ihrem berühmten Anfangsmotiv, sei es die Pastorale, die Mondscheinsonate oder die Ode an die Freude, ganz zu schweigen von Für Elise und der Frühlingssonate – ein berühmtes Thema folgt dem anderen, eins um das andere bilden sie eine universal gültige Botschaft, die Beethoven an die ganze Menschheit richtet. An dieser Stelle möchte ich versuchen, der Frage auf den Grund zu gehen, was denn genau die phänomenale Universalität der Musik Beethovens ausmacht, was der Grund ist für die Versatilität einer Musik, die so überaus kunstvoll und populär zugleich ist. Wenn sich auch Beethovens Genie weder analysieren noch auf eine Formel reduzieren lässt, so könnte das Geheimnis seiner Schaffenskunst doch in einer Konstanten der deutschen Klassik und Romantik verborgen sein, nämlich der allgemein verbreiteten Verwendung des Arpeggios. Das Arpeggio ist ein Akkord, dessen Töne nicht gleichzeitig, sondern hintereinander gespielt werden. Man nennt ihn auch gebrochenen oder aufgelösten Akkord (Bsp. 7.1.)  :

Nacheinander erklingend (Bsp. 7.2.)  : 122


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Das Phänomen Beethoven

Oder in beliebiger Reihenfolge erklingend (Bsp. 7.3.)  :

Jeder beliebige Akkord, auch ein dissonanter, kann »arpeggiert« werden. Im Zusammenhang mit der Musik Beethovens handelt es sich jedoch nur um solche, die vom perfekten Dur- bzw. Moll-Akkord abgeleitet sind. Wie schon weiter oben anhand des musikalischen Zeichens festgestellt, sind diese Akkorde mit einem hohen Maß an Assoziationspotenzial ausgestattet, das den Zuhörer emotional in das musikalische Geschehen einbindet. Eine Musik, deren Strukturen solche Akkorde oder Arpeggien als Grundmaterial verwendet, besitzt eine unmittelbare Signifikationsmacht. Doch überzeugen wir uns gleich, am Beispiel einer ganzen Reihe von – selbstredenden – Ausschnitten Beethovenscher Werke, von dieser Omnipräsenz des Arpeggios. Wir beginnen mit der Klaviersonate Nr. 1 in f-Moll op. 2/1 (Bsp. 7.6.)  :

Gefolgt vom ersten Satz der Klaviersonate Nr. 14, Mondscheinsonate, in cis-Moll op. 27/2 (Bsp. 7.7.)  :

Sowie dem dritten Satz derselben Sonate (Bsp. 7.8.)  : 123


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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Sodann die Klaviersonate Nr. 23, Appassionata, in f-Moll op. 57 (Bsp. 7.9.)  :

In Beethovens Symphonie Nr. 5 in c-Moll op. 67 ist das Arpeggio E-G-C-E aufgrund einer zusätzlichen, fremden Note – A – nicht sofort identifizierbar, aber mindestens ebenso präsent wie die tragende Struktur eines Gebäudes (Bsp. 7.10.)  :

Der 4. Satz mit dem Titel Gewitter und Sturm aus der 6. Symphonie in F-Dur, op. 68, Pastorale, bestehend aus einem Arpeggio zunächst in F-Dur, dann in d-Moll (Bsp. 7.11.)  :

Das Scherzo der Symphonie Nr. 7 A-Dur, op. 92 (Bsp. 7.12.)  :

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Das Phänomen Beethoven

Die vier Sätze der Symphonie Nr. 9, die alle auf demselben d-Moll-Arpeggio basieren, D-A-F-D  : Erster Satz (Bsp. 7.13.)  :

Zweiter Satz (Bsp. 7.14.)  :

Dritter Satz (Bsp. 7.15.)  :

Hier verbirgt sich das d-Moll-Arpeggio auf raffinierte Weise hinter einer Melodie in B-Dur, bildet aber gleichzeitig ihr Gerüst. Vierter Satz (Bsp. 7.16.)  :

Sowie natürlich das Hauptthema des letzten Satzes, die Ode an die Freude, das in einem strahlenden D-Dur-Akkord erklingt, obwohl Beethoven die Partitur bis dahin unter dem Joch der eher düsteren Moll-Tonart gehalten hatte mit dem Ziel, das durch die Dur-Tonalität symbolisierte Licht erst ganz zum Schluss zu befreien und so das semiotische Vermögen des Dur, Freude auszudrücken, voll und ganz auszuschöpfen (Bsp. 7.17.)  :

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Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Das sind nur einige Beispiele unter Dutzenden anderer, ganz zu schweigen von den zahlreichen »Entwicklungen«, die häufig ihrerseits sei es auf Arpeggien der Eingangsthemen, sei es auf der Umwandlung von nicht arpeggierten Themen in Arpeggio-Motive beruhen. Auch die Werke, die in der späteren deutschen Musikgeschichte die größte Berühmtheit erlangen sollten, sind hauptsächlich auf Arpeggien als Grundprinzip aufgebaut. Das wohl bekannteste Beispiel, Wagners Ritt der Walküren, ist eine regelrechte »Ode an das Arpeggio« (Bsp. 7. 18.)  :

Beethoven war nicht nur ein genialer Meister der motivisch-thematischen Arbeit, sondern er verlieh dieser ein völlig neues Gewicht innerhalb des musikalischen Diskurses, er wies ihr eine grundlegende Bedeutung innerhalb des Schreibgestus zu. Hat doch die Verwendung von Arpeggien oder anderen Derivaten des perfekten Dur- oder Moll-Akkords den Vorteil, dass dem Hörer ein starkes, unmittelbar identifizierbares Zeichen dargeboten wird, das sozusagen ein Gefühl der »Vertrautheit« in ihm weckt, bevor er in das Labyrinth mannigfaltiger Variationen entführt wird. Das Thema, die melodische Urzelle des musikalischen Werks, wird solange bearbeitet, bis sein anfängliches Gesicht nicht mehr zu erkennen ist und sich häufig ein neues Thema herauskristallisiert, das sich seinerseits auch wieder zu etwas Neuem hin entwickelt  ; das Anfangsmotiv jedoch bleibt bestehen, wie ein extrem sympathisches Element, im ursprünglichen Sinn des Wortes. Doch kehren wir noch einmal zurück zur berühmten Schicksalssymphonie. Ich möchte Ihnen gerne veranschaulichen – ohne dass spezifische Kenntnisse vonnöten wären, um meinen Gedanken zu folgen –, wie Beethoven auf zugleich schlichte und kraftvolle sowie extrem kurze und prägnante Elemente zurückgreift, um seine Partitur aufzubauen. Er legt seinem Werk eine Struktur zugrunde, die der eines Chromosoms nicht unähnlich ist  : In seinen mikroskopischen Verästelungen ist die Konstruktion des gesamten Körpers in potenzierter Form erkennbar. Die Grundsequenz (Bsp. 7.19.)  :

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Das Phänomen Beethoven

… welche implizit den c-Moll-Akkord evoziert (Bsp. 7.20.)  :

Aber Beethoven lässt die Note C, den Grundton des Akkords, aus, und erzeugt mit diesem »gebrochenen« Akkord eine Situation harmonischer Zweideutigkeit  : Kann doch ein aus nur zwei Noten bestehender Akkord den unterschiedlichsten Tongeschlechtern zugeordnet werden, wenn man ihn durch eine oder mehrere Noten ergänzt. So wie er in den ersten beiden Takten der Symphonie formuliert wird, bleibt unser Ohr in Erwartung. In diesem Stadium des Werks, das heißt  : noch vor Beginn des dritten Takts, könnten wir, angenommen, wir hörten das Werk zum ersten Mal, entweder auf c-Moll oder Es-Dur als Haupttonart schließen, weil die Noten G-G-G-Es beiden angehören. Im ersten Fall genügte es, ein C hinzuzufügen, damit c-Moll explizit wird, im zweiten Fall ein B, um Es-Dur zu bestätigen (Bsp. 7.21.)  :

(links  : c-Moll, rechts  : Es-Dur) Aus diesem Grund ist die zweite Sequenz unabdingbar (Bsp. 7.22.)  :

… um klarzustellen, dass wir uns in c-Moll befinden, und nicht in Es-Dur. Denn, selbst wenn wir abermals nur zwei Noten haben – woraus sich wieder eine mögliche Zweideutigkeit ergibt – erhalten wir durch das Hinzukommen der zweiten Sequenz implizit die »fehlende« Information, die uns c-Moll als Haupttonart bestätigt. Genauso gut hätte Beethoven eine fröhliche Symphonie komponieren können, wenn er anstatt des Anfangs, den wir so gut kennen, etwa Folgendes geschrieben hätte (Bsp. 7.23.)  :

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1.   k o r r e k t u r

Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Mit dieser kleinen Spielerei wollte ich Ihnen lediglich demonstrieren, welche Aussagekraft sich hinter den einfachsten musikalischen Zeichen sowie den ihnen zugeordneten emotionalen Referenten verbirgt  : durchschlagend und pathetisch im einen Fall, leicht und fröhlich im anderen. Die Veränderung der Zielrichtung eines Zeichens in der Musik ist vergleichbar mit dem Austausch eines Schildes im Straßenverkehr  : Plötzlich fahren alle Autos in die andere Richtung. Schauen wir uns nun die rhythmische Wirkung dieser vier Noten an, die dem Anfang des Werks seinen wahren pathetischen Charakter verleihen. Das »Programm« der Symphonie ist das Schicksal des Menschen, das bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt vorgezeichnet ist durch die Aussicht auf den unausweichlichen Tod und das gleich zu Beginn des Werks – Beethoven soll diese Worte der Legende nach im Zusammenhang mit den ersten acht Tönen seiner Symphonie gesprochen haben – »an die Pforte klopft«. Als Anfangsmotiv für seine Symphonie wählt Beethoven vier Noten, die dem traditionellen Trauermarsch zuzuordnen sind. Es gibt zwei Rhythmen, die üblicherweise für diese Musikgattung verwendet werden, wie etwa in Chopins berühmter Marche funèbre (Bsp. 7.24.)  :

… oder eben wie in unserem Satz von Beethovens fünfter Symphonie. In beiden Fällen setzt sich die Sequenz aus vier Noten zusammen, allein der Rhythmus unterscheidet sie voneinander. Ähnlich verhält es sich mit dem Hochzeitsmarsch – leicht erkennbar, wenn man Mendelssohns berühmte Melodie aus dem Sommernachtstraum mit dem Brautchor aus Wagners Lohengrin vergleicht. Das Motiv, das Beethoven für seine fünfte Symphonie, aber auch im langsamen Satz der dritten verwendet, ist dasselbe, das Mahler später als Eröffnungsmotiv seiner eigenen fünften Symphonie verwenden wird, in der das Trauermotiv allerdings wesentlich schneller gespielt wird. Es verharrt zunächst auf dem Cis, um erst im dritten Takt ein Arpeggio zu entfalten, das uns wieder auf exemplarische Weise vorführt, wie sich ein musikalisches Thema aus einem aufgelösten Akkord heraus entwickelt (Bsp. 7.25.)  : 128


1.   k o r r e k t u r

Das Phänomen Beethoven

Aufgrund der Tatsache, dass Mahler nur einen Ton für die vier Noten seines Eröffnungsmotivs wählt und diese zudem bedeutend schneller gespielt werden, ist die Parallele zwischen den beiden Werken weniger klar zu erkennen. Deutlicher offenbart sich die Verwandtschaft zu Beginn des dritten Satzes von Beethovens Symphonie, wo das Ursprungsmotiv »zusammengedrückt« und auf das einfache G reduziert worden ist, der Rhythmus des Trauermarschs jedoch beibehalten wird (Bsp. 7.26.)  :

Sich einen schlichteren Anfang als diese vier Noten vorzustellen, dürfte schwerfallen. Und dennoch, durch die Wahl der Zeichen und aufgrund der Kenntnis ihres emotionalen Gewichts reichen sie aus, um dem gesamten Werk seinen genetischen Stempel aufzudrücken. Zu gerne nähme ich den Leser mit auf einen semiologischen Erkundungsstreifzug durch Beethovens Schicksalssymphonie, um ihm die Bedeutung der darin verwendeten »Zeichen« zu veranschaulichen. Ihm Takt für Takt vor Augen – oder besser  : vor Ohren – zu führen, wie präzise sich Beethoven diese »emotionale Reise« in seinem Geist zurechtgelegt hat. Leider würde ein solches Unternehmen den Rahmen dieses Buches sprengen. Dennoch möchte ich es mir nicht nehmen lassen, anhand von drei weiteren Beispielen zu demonstrieren, dass Beethoven seinem System, nämlich der Zugrundelegung des Arpeggios und der Verwendung von einfachem, ja minimalem Emotionsmaterial durch praktisch alle Werke hindurch treu geblieben ist. Die ganze Komplexität speist sich aus der Entwicklung dieses Tonmaterials. So baut sich etwa das Thema des zweiten Satzes um ein Gerüst von ineinander verschachtelten Arpeggien auf (Bsp. 7.27.)  :

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1.   k o r r e k t u r

Zweiter Satz: Die Sprache der Musik

Der dritte Satz, das Scherzo, beginnt mit einem Arpeggio (Bsp. 7.28.)  :

Und das Thema des letzten Satzes, das nur aus Leitern und Arpeggien besteht (Bsp. 7.29.)  :

Dieses Prinzip lässt sich auf fast alle Werke Beethovens anwenden, bis hin zu seinen späten Quartetten  : Die Komplexität der Form und der Entwicklung steht der Schlichtheit der thematischen Grundelemente ebenbürtig gegenüber. Im Laufe des kompositorischen Prozesses erfahren diese einfachen Basiselemente unendlich viele Metamorphosen, und genau diesen Vorgang hat der Philosoph Gilles Deleuze so umschrieben  : »Die Musik ist eben das Abenteuer eines Ritornells.«63 Für Beethoven konnte das nur eins bedeuten  : dass sein Werk trotz seines höchsten künstlerischen und ethischen Anspruchs dennoch seine Finalität, seine ureigene Bestimmung nicht verlieren durfte, nämlich den Menschen, das »Herz« zu ergreifen. Und welche Vorgehensweise könnte sich besser dazu eignen, den Menschen auf eine ergreifende Reise durch die Irrgärten des Geistes mitzunehmen, als starke und eindeutige Zeichen zu verwenden  ? Kraft dieser Finalität hat Beethoven sein Werk in seine Epoche hineingemeißelt – und in die Ewigkeit hinausgeschleudert. Diese Geste machte ihn zu einem wahren Modernen.

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1.   k o r r e k t u r

DR I T T E R S AT Z : M u s i k u n d M o der n e

Wer sich mit der Geschichte des Begriffs »Moderne« auseinandersetzt – sei es auf dem Gebiet der Musik, der bildenden Kunst oder der Literatur –, wird unweigerlich mit einer Art Henne-Ei-Problem konfrontiert. Gibt doch etwa die Frage, wer als der wahre »Erfinder« der Musik des 20. Jahrhunderts zu gelten habe – Debussy, Strawinsky oder Schönberg – seit jeher Anlass zu leidenschaftlichen Debatten unter Musikwissenschaftlern und Komponisten. Doch muss das Rad der Geschichte zweifellos noch weiter zurückgedreht und die »Geburtsstunde« des Phänomens in einer anderen Epoche gesucht werden  : bei Wagner, und von Wagner noch weiter zurück bis zu Beethoven, von Beethoven zurück zu Bach, usw. Bis auch der Euphrat wieder überschritten ist … Eine weitere Schwierigkeit stellt sich beim Versuch, die eigentliche Essenz des Moderne-Begriffs zu definieren  : Während sie für die einen rein ästhetischer Natur und ausschließlich im Kontext der Kunstgeschichte anzusiedeln ist, kann sie für die anderen nur in den gesellschaftlichen Auswirkungen der Psychoanalyse begründet sein, die in der Achse Freud/Schönberg Gestalt angenommen habe. Und dank welcher sich eine Erklärung finden ließe für jenes obsessive Streben nach einer ästhetischen »tabula rasa«, als künstlerischer Ersatzhandlung für den Akt des Ödipus. Für viele freilich kann der »Einbruch der Moderne« nichts anderes als einen politischen Charakter haben, insbesondere auf dem Gebiet der Kunst. Vollziehe sich doch jegliche Fortentwicklung der Kunst, zumindest in unserem abendländischen Kulturkreis, in erster Linie durch die Subversion etablierter Werte und Normen. Dabei versteht es sich von selbst, dass eine Analyse der künstlerischen Moderne im Hinblick auf ihre politischen Motive zumindest gewagt ist  : zum einen, weil es sich bei den meisten künstlerisch tätigen Menschen um auf sich selbst bezogene Individuen handelt, die sich primär auf ihr eigenes, inneres Universum konzentrieren, zum anderen, weil das politische Ereignis zu den Faktoren gehört, die außerhalb der Person des Künstlers geschehen. Weil es ein Teil der Welt ist und weil der schöpferisch tätige Mensch sich zum Ziel gesetzt hat, ein auf die Zukunft ausgerichtetes Spiegelbild dieser Welt zu erzeugen. Das politische Ereignis, welcher Art es auch sein mag, agiert lediglich als emotionaler Strom-


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Dritter Satz: Musik und Moderne

stoß, als energetischer Impuls auf das künstlerische Material, aber keinesfalls als operativer Modus. Die Behauptung, Schönberg habe in einer einzigen Anstrengung das klassische Tonsystem und die bürgerliche Ordnung auf den Kopf stellen wollen, ist schierer Unsinn. Dem bürgerlichen Ordnungssystem ging es sowohl vor als auch nach und während Schönbergs Schaffenszeit prächtig  ; auch trotz des sogenannten Einbruchs der Moderne hat es, wie wir später noch sehen werden, niemals aufgehört zu prosperieren  ; fast möchte man sagen, die Dodekaphonie oder Zwölftonmusik64 – weil ihr Manifest eher progressistisch als modernistisch ist, weil ihre Gesetze rigide sind und ihre Hohepriester jegliche Haltung oder jeglichen Diskurs verwerfen, durch die ihr Reich in Gefahr geraten könnte – habe das traditionelle Ordnungssystem eher kopiert als erschüttert. Die »bürgerliche Beschaulichkeit« des tonalen Systems ist rein gar nichts im Vergleich zur von den Mandarinen des »Serialismus« gehegten Gewissheit, »ganz bestimmt recht«65 zu haben. Eben weil die Moderne in ihrem Kern als politisches Phänomen begriffen wurde, bezeichnete man die ästhetischen Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts als »Revolution«, freilich eine Revolution, die aus unserer heutigen Sicht – man möge uns verzeihen – eher harmlos daherkommt, ist doch die abendländische Kunst seit jeher einem ständigen Wandel unterworfen gewesen. Wozu hätte es da einer Revolution bedurft  ? Was sollte damit zerstört werden und warum  ? Und was sollte an ihrer Stelle entstehen  ? Man wollte sich von einem System verabschieden, das sich doch gerade durch das sukzessive Hinzukommen neuer Elemente auszeichnete, durch eine wachsende Komplexifizierung, und zwar in einem Rhythmus, der einer Assimilation durchaus nicht im Weg stand. Ein System, das sowohl für den Fortbestand bürgte als auch für nie endende Erneuerungen. Wichtiger als die Frage, ob das Element des Modernen unabdingbar ist in der Kunst – scheint es doch, dass dem so sei, zumindest in unserer westlichen Welt – ist die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Definition des Begriffs, um zu wissen, wo genau die Grenzen zu ziehen sind zwischen modern und traditionell. Das jedem Künstler innewohnende Streben nach dem vollkommenen Werk findet seine Entsprechung in der Suche nach der vollkommenen Sprache, die den Menschen seit der babylonischen Urkatastrophe umtreibt und die Umberto Eco in seinem gleichnamigen Werk66 nachgezeichnet hat. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es üblich, dass ein Komponist sich auf das Werk seines Vorgängers beruft. Im Grunde wird immer und immer wieder dieselbe Symphonie geschrieben  ; man »inspiriert sich«, man verwendet Zitate unter irgendeinem »Vorwand«, oder man zitiert und tut so, als habe man nichts 132


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Dritter Satz: Musik und Moderne

davon gemerkt – siehe etwa Mahlers dritte Symphonie, deren Anfang eine eindeutige Anlehnung ist an Brahms’ erste Symphonie. Jenseits allen Anekdotischen freilich bleibt die Suche nach dem Absoluten, der absoluten Wahrheit. Und eben diese Suche ist es, die man als »modern«, als neue Etappe bewerten kann. Freilich verlieren wir uns hier in einer Definition, die derjenigen des Fortschritts gleichkommt. Doch unterscheidet sich dieser, wie wir noch sehen werden, stark vom Konzept der Moderne. Überzeugender ist die Auslegung, die den Begriff »modern« mit den Parametern assoziiert, die in ihrer Gesamtheit das »Aktuelle« darstellen  ; also eine Auslegung, die auf einer eher horizontalen und imaginären Ebene stattfindet als die des Fortschritts, der seinerseits eher vertikal und in der Zeit verläuft und den man gern als die Frucht einer Revolution betrachtet, obwohl er in Wahrheit deren schlimmster Feind ist. Wir werden an späterer Stelle noch darauf zurückkommen. Gewiss wäre es unnötig gemein zu behaupten, das Scheitern dieser Revolution sei besiegelt durch die Ablehnung der breiten musikalischen Öffentlichkeit sowie eines nicht gerade unbeträchtlichen Teils der Interpreten selbst, und die Existenz zahlreicher Künstler, die herzlich wenig Interesse an den ästhetischen Umwälzungen bekundeten, spreche für sich. Waren doch all die Bartoks, Brittens, Schostakowitschs, Prokofjews, Janaceks tatsächlich genauso »modern« wie die sogenannten Revolutionäre. Angesichts der unumstrittenen Tatsache, dass sie einen festen Platz in der vordersten Front des heutigen Konzertrepertoires einnehmen, könnte man fast die Behauptung wagen, dass es ihnen sogar noch besser gelungen sei, das Experiment der Moderne voranzutreiben. Und sei es nur, weil ihre Vorstellung von Modernität subtiler war, sich in höherer Übereinstimmung mit der Essenz ihrer Kunst befand. Zwischen denen, die grundsätzlich alles über den Haufen werfen wollen, und denen, die Angst vor der geringsten Veränderung haben, weist die Moderne demjenigen einen natürlichen Weg, der den Strömungen seiner Zeit offen gegenübersteht …

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8. Anatomie der Moderne

»Man muss absolut modern sein.« Arthur Rimbaud »Wozu brauchte man in jeder Saison einen neuen Duft  ? War das nötig  ? Das Publikum war früher auch sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfügig änderte. Jahrtausendelang hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, Ölen und getrockneten Würzkräutern vorlieb genommen.« Patrick Süskind, Das Parfum

Mode und Moderne Man müsste sämtliche Akademiker dieser Erde zusammenrufen, wollte man dem Modernebegriff in allen Einzelheiten auf den Grund gehen. Einem Begriff, der zwar mit dem der Innovation nichts gemein hat, aber trotzdem gern mit ihm verwechselt wird. Denn dem Neuen fällt im Allgemeinen die Rolle des »Lotsenfischs« zu – das Neue ist meistens das Vorzeichen für das, was als »modern« angesehen wird. Ein hanebüchenes Statement, das von unkritischen Geistern mit unfehlbarer Regelmäßigkeit vorgebracht wird, ist die Behauptung, »Modernität« habe etwas mit »Mode« zu tun, womit unterschwellig nahegelegt wird, dass das Moderne lediglich eine ephemere Haltung sei, die den Gesetzen eines immer hektischer werdenden kulturellen Marktes gehorcht. Dazu kann ich nur »Nein«, »Nein« und nochmals »Nein« sagen. 1. Zunächst verrät uns die Etymologie, dass »Mode« vom lateinischen Wort modus abstammt und Maß bzw. Art bedeutet. Demnach beinhaltet die eigentliche Wurzel des Begriffs »Mode« den Aspekt von Entwicklung oder Wandel über135


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Dritter Satz: Musik und Moderne

haupt nicht  ; vielmehr handelt es sich um eine Art, um die Lebensart unserer westlichen Zivilisation, aber auch um die seit jeher bestehende Art Jahrtausende alter Kulturen, deren modus vivendi keinen Veränderungen unterworfen war. Wenn sich Mode wandelt, dann deshalb, weil sich das Bedürfnis geändert hat, von einer bestimmten Art zu sein. Einem neuen Zustand in der Mode ist niemals eine bestimmte Zeitspanne zugebilligt worden, niemals hat irgendjemand einen neuen Stil lanciert und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass dieser zu einem bestimmten Zeitpunkt überholt sein werde. »Modernität«, »modern«, leitet sich vom Wort modernus ab, das seinerseits vom lateinischen Wort modo abstammt und so viel wie »eben erst, gerade eben« bedeutet. Der Begriff zeichnet sich also durch eine im Zeitlichen verankerte semantische Tragweite aus, und deutet an, was sich verändert hat oder im Begriff ist, sich zu verändern. Der Raum auf der einen Seite, die Zeit auf der anderen. Es ist interessant festzustellen, dass uns die Etymologie ein völlig entgegengesetztes Bild liefert von dem, was wir normalerweise mit den Begriffen »Mode« und »Modernität« assoziieren  : Befinden sich doch die meisten von uns in dem Glauben, Mode sei eine Frage der Zeit und Modernität eine Angelegenheit der »Attitude«. Darüber hinaus werden beide Begriffe immer wieder gerne in einen Topf geworfen – was die größten Verwirrungen zur Folge hat. Das ärgerlichste Missverständnis ist allerdings die Unterstellung, die Mode bestimme die Modernität. Dabei ist es, wie wir gesehen haben, der modo, sprich  : die eben erst geschehene Veränderung, also die Neuheit, welche den modus, die Art zu sein, aktualisiert, auf den neuesten Stand bringt. Weil ein Wandel in der Tiefe stattgefunden hat, macht sich die Mode zum Sprachrohr dieser Veränderung und ist die Öffentlichkeit bereit zur Annahme dieser »Mode«. Folglich ist die Mode die Wirkung und die Modernität die Ursache. 2. Auf der anderen Seite trägt das Moderne, wie wir gesehen haben, das Neue von morgen als Keim bereits in sich. Doch tritt es oftmals erst durch die Neuheiten der jüngsten Vergangenheit in Erscheinung, womit wir wieder bei seiner etymologischen Bedeutung angelangt wären. Debussy und Schönberg gaben mit ihren musikalischen Neuerungen den Anstoß zu einer Modernität, die sich das ganze 20. Jahrhundert hindurch weiterentwickeln sollte. Messiaen wiederum machte sich den von Debussy begründeten Modernitätsgedanken zu eigen, um seinerseits wieder etwas Neues hervorzubringen. Freilich ist es undenkbar für einen Komponisten, sich damit zufrieden zu geben, einen Stil einfach nur zu »übernehmen« und durch eine Anzahl neuer Zeichen zu ergänzen  ; er muss sich zuerst vergewissern, dass die neuen Codes, 136


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Anatomie der Moderne

die er in seinen musikalischen Sprachschatz aufgenommen hat, auch stark und aussagekräftig genug sind, um für das Fortleben seines Werks zu bürgen. Dieses Problem hat die Mode nicht. Weil sie danach strebt, vorübergehende Codes, eine ephemere Semiotik des »Kleidens« und des Aussehens zu schaffen, ist das für die Mode unentbehrliche Neue vor allem von der ständig wiederkehrenden Amnesie des Konsumenten abhängig. Ich möchte an dieser Stelle präzisieren, dass das Wort »Mode« hier als die geläufigste semantische Einheit verwendet wird, nämlich im Sinne von »Manien«, Automatismen und Mimetismen  ; richtigerweise müsste eher von »Moden« die Rede sein  ; allerdings sind wir hier weit entfernt vom Zeichenkomplex aus Roland Barthes’ Sprache der Mode. 3. Das Moderne verändert sich auf lineare Weise. Zwar unregelmäßig, in Schüben – fast könnte man sagen  : in Fieberschüben –, jedoch unter Verzicht auf die wehmütigen und unvermeidlichen Rückfälle der Mode in das, was einmal »war« und was den Spruch  : »Die Mode von vorgestern ist die von morgen« begründet. Man muss sich nur diesen Begriff der Linearität richtig vor Augen halten, um den Versuchungen des Neo-dies und Neo-das, von neo-tonal und neo-romantisch zu widerstehen, die doch nichts anderes sind als der Ausdruck irgendwelcher Trends und bloß eine Schau des Grotesken zu bieten haben. Was ich damit meine, ist das Phänomen des Neo-»Passiven«, das bereits Ende der 1950er-Jahre damit begann, nur noch »Pasticcio«, Fälscherkunst zu produzieren. Das Moderne hingegen ist durchaus imstande, seinen Lauf zu nehmen und trotzdem auf Elemente aus der Vergangenheit zurückzugreifen, die dann aber auf neue Art wiederverwertet werden. Das Wichtigste, um modern zu bleiben, ist, dass sich diese Elemente mit ihrer Zeit in Einklang befinden. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Versöhnung mit der Musiksprache aus der Zeit vor der Schönbergschen Zwölftonrevolution nur allzu gut mit der Tatsache harmonisiert, dass unsere Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten die Notwendigkeit eingesehen hat, den blinden Fortschrittsglauben infrage zu stellen und das Augenmerk wieder vermehrt auf ihre Traditionen zu richten oder, genauer gesagt  : nach Mitteln und Wegen zu suchen, um diese wieder aufleben zu lassen, zu aktualisieren. Womit wir vielleicht eine erste Definition des Begriffs »Modernität« riskieren können  : Sie ist die Summe der Bestandteile des Aktuellen. Um darauf zurückzukommen, dass das Moderne – wie weiter oben dargelegt – nur allzu gerne mit Mode gleichgesetzt wird  : Dies liegt nicht an der Kunst an sich, an ihrem Inhalt oder ihren Ausdrucksweisen, sondern vielmehr daran, dass gewisse Zeitgenossen, die in einem Denkschema verhaftet sind, an dem es für 137


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Dritter Satz: Musik und Moderne

sie nichts zu rütteln gibt, »Posen« einnehmen, und zwar immer dann, wenn die Modernität eine jener »Pausen« einlegt, in denen das »vor Kurzem Errungene« danach strebt, sich zu institutionalisieren, kurz bevor ein neuerlicher Schub wieder eine Veränderung mit sich bringt. In diesen Momenten der Assimilation ist es äußerst verführerisch, die neuesten Einfälle zu unanfechtbaren Dogmen der aktuellen künstlerischen Orthodoxie zu erheben. Kein geringerer als Berlioz hatte bereits erkannt, dass nichts von kürzerer Dauer ist, als es die Früchte der Modernität sind  : »Zunächst wollte man Musik nur in konsonanten Harmoniegeweben sehen […] und als Monteverdi versuchte, den Septakkord einzuführen, mangelte es nicht an Tadel und Beschimpfungen aller Art. Doch war diese Septime erst einmal angenommen […], gesellte man sich zu denen, die es für klug hielten, jede Komposition zu verachten, deren Harmonie einfach, weich, hell, sonor, natürlich war. Um jenen zu gefallen, musste sie unbedingt gespickt sein mit Sekundakkorden in Dur oder Moll usw., die ohne irgendeinen Grund und ohne irgendeine Absicht verwendet wurden, es sei denn man unterstellte diesem Stil die Absicht, so oft wie möglich unerfreulich für das Ohr zu sein […]. Es war die Übertreibung der Reaktion«.67 Jeder weiß, dass die umgekehrte Tendenz heute als reaktionär abgestempelt würde. Und diese Polarität ist es, die sich, gleich einem Pendel, – mit verlässlicher Regelmäßigkeit umkehrt, den Leuten immer wieder aufs Neue eintrichternd, »was man denken muss«, ohne wirklich einen Einfluss auf den Verlauf der »Moderne« zu haben. Im Gegenteil  : Ist doch vielmehr sie diejenige, die durch ihr Auftreten den Zorn der neuen Päpste heraufbeschwört, egal welche Religion sie gerade vertreten. Kunst und Modernität Eine der schönsten Definitionen des Begriffs der Modernität stammt von Baudelaire68  : »Denn es ist sehr viel bequemer, alles in der Kleidung einer Epoche für absolut hässlich zu erklären, als sich darum zu bemühen, die in ihr enthaltene geheimnisvolle Schönheit zum Vorschein zu bringen, wie gering und beiläufig sie auch sei. Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.« Mit anderen Worten  : Ohne Modernität ist die Kunst, oder zumindest die Kunst des Abendlandes69, ihrer existentiellen Seite beraubt. Andererseits, ohne das Ewige und Unabänderliche verliert sie ihre essentielle Qualität. 138


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Anatomie der Moderne

Was genau das Wesentliche in der Kunst ausmacht, werden wir an späterer Stelle untersuchen. Als erstes wenden wir uns der Frage zu, worin das Moderne in der Musik besteht – das heißt, der »vorübergehende und entschwindende« Aspekt – und inwiefern dieser untrennbar mit der Kunst verknüpft ist. 1. Modernität und Fortschritt

Zunächst muss unterschieden werden zwischen den beiden Begriffen Modernität und Fortschritt, denn leider haben sich aufgrund ihrer Konfusion eine ganze Reihe von Missverständnissen eingeschlichen, die größtenteils verantwortlich sind für die anhaltende Ablehnung der Neuen Musik durch das Publikum. Fortschritt – ein Wort, das wir in erster Linie im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften verwenden – markiert für diese die immer dichter aufeinanderfolgenden Etappen, die uns der »Wahrheit« näherbringen. Im alltäglichen Leben steht der Begriff für die Zustandsänderungen, die uns einem »Besseren« entgegenführen. In der Wissenschaft spricht man dann von Fortschritt, wenn eine neue Theorie bestätigt wird, oder wenn eine bestehende durch einen Änderungsvorschlag oder eine Widerlegung modifiziert oder zunichte gemacht wird. Anders gesagt  : Für den Wissenschaftler können ein Mehr oder ein Weniger gleichermaßen gewinnbringend sein, vorausgesetzt, sie führen ihn näher an das »Wahre« heran. Für uns, den Normalsterblichen, hingegen ist Fortschritt immer gleichbedeutend mit »mehr« oder »besser«  : schneller, bequemer, sicherer … Nun hat es den Anschein, als ob sich die Welt der Musik seit mehr als einem halben Jahrhundert für diese konsumistische Deutung entschieden hätte  : Das Moderne, das ist der Fortschritt, und der Fortschritt, das ist das »Mehr«  ; mehr Zeichen, mehr Neues, mehr »Bürgerschreck«, mehr Provokation, Subversion. Demnach müsste man bei einer strikten Anwendung des Fortschrittsgedankens auf die Musik konsequenterweise sagen  : Debussy ist mehr wert als Mozart, aber weniger als Boulez, der seinerseits weniger wert ist als einer seiner Schüler. Oder  : Wagners Verwendung des Chromatismus – in seinen Spätwerken zu einem festen Bestandteil geworden – schickt seine früheren Werke wie Lohengrin oder Tannhäuser in die Obsoleszenz, was in etwa vergleichbar wäre mit der Einführung der neuesten Version eines Computerprogramms, die ihren Vorläufer de facto zu wertloser Makulatur degradiert. Anders als das Moderne macht der Fortschritt alles, was durch ihn ersetzt wird, sei es eine Theorie, ein Medikament oder ein Radio, zu Ausschussware, zu Museumsgut, zu Stoff für die Geschichtsbücher. 139


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Der einzige den Künstler unmittelbar betreffende, den kreativen Schaffensprozess direkt beeinflussende Fortschritt ist der Fortschritt im Instrumentenbau, namentlich im Geigenbau. Aber selbst da ist er weder »gefräßig« noch monomanisch. Er verfolgt lediglich das Ziel, sich irgendwie der gewünschten Perfektion anzunähern.70 Nehmen wir das markanteste Beispiel dieser Fortschrittsentwicklung, die Violine. Sie erreicht ihr Ideal mit Stradivarius und einigen anderen Geigenbauern derselben Epoche, als diese für die Herstellung ihrer Instrumente die Regel des Goldenen Schnitts anwenden, von der wir gesehen haben, welch eminente Rolle ihr in der Welt und der ihr innewohnenden Ordnung zufällt – natürlich abgesehen von einigen anderen Geheimnissen, wie dem berühmten Firnis, der auf das rohe Holz aufgetragen wird. Ist nun das ideale Instrument, die »Gewinnschwelle« erreicht, so verliert der Wettlauf um die ewige Fortentwicklung seinen Sinn  : Man bemüht sich nur noch darum – vorausgesetzt man hat das nötige Glück und Talent –, es genauso gut zu machen wie die Handwerker von damals und ihre Kunstfertigkeit nachzuahmen, da das Instrument als solches ja jenes Stadium bereits erreicht hat, das dem der Perfektion am nächsten kommt. Aber die eigentliche »Erfindung« der Geige in ihrer heutigen Form sowie die Entwicklung eines jeden Instrumentes ist ein Faktum der Moderne, denn dieses stellt eine Neuerung dar, die weitere Neuerungen nach sich zieht, wie z. B. neue Instrumente, die von ihr abgeleitet sind (Bratsche, Cello etc.), Literatur für dieses Instrument sowie Musiker, die lernen müssen, es zu spielen etc. Und diese Verwirrung um die Bedeutung von Fortschritt und Modernität ist es, der wir einen störenden Dorn im Auge der Musikwelt zu verdanken haben, nämlich jenen frenetischen Wettlauf um ständige Innovation, welcher dem Kampf, der die heutige Wissenschaft und unsere Konsumgesellschaft auszeichnet, exakt nachempfunden ist. Nicht nur scheint es jeder »moderne« Komponist heute als seine Pflicht zu erachten, völlig neue Klangwelten zu erschließen, sondern man erwartet von ihm, dass er sich von Werk zu Werk selbst neu erfindet. Wie oft haben wir nicht schon vernommen, die neueste Kreation dieses oder jenes Komponisten sei nicht schlecht, aber er wiederhole sich, man habe das doch alles schon einmal gehört. Diejenigen, die nichts anderes als das zu kritisieren haben, wären im 18. Jahrhundert ganz schön betreten gewesen, hätten sie den Uraufführungen von Haydn, Mozart oder Beethoven beiwohnen müssen, die gewiss jedes Mal anders tönten, aber ihrem Stil doch bemerkenswert treu blieben, und wo das Publikum nur sehr langsam mit Innovationen konfrontiert wurde. Die 140


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ersten 60 Symphonien von Haydn sowie die ersten 20 von Mozart sind einander von ihrem Stil wie von ihrer Machart her extrem ähnlich. Andererseits, jeder angehende Komponist tut zunächst nichts anderes, als seinesgleichen zu imitieren  ; wie der junge Beethoven, der am Anfang seiner Laufbahn auch nur ein kleiner Haydn war. Debussy mag gar nicht so Unrecht haben, wenn er meint, der größte Fehler von Schriftstellern und überhaupt allen Künstlern liege darin, nicht genug Mut und Willen aufzubringen, mit ihrem Erfolg zu brechen, nicht nach neuen Wegen und neuen Ideen zu suchen.71 Und dennoch, trotz dieser Empfehlung bleibt Debussy durch all seine Werke hindurch unverkennbar Debussy, identifizierbar u. a. an seiner Ganztonleiter, der pentatonischen Skala oder den NonenakkordFolgen. Aber er greift auf sein eigenes Material, auf seine ureigenste Sprache zurück, um durch sie jedes Mal etwas Anderes, etwas Neues auszudrücken. So ist Pelléas mitnichten dasselbe wie die 24 Préludes, die musikalische Form der beiden Werke ist radikal verschieden, aber Debussy verwendet jeweils eine Sprache, die viele Ähnlichkeiten aufweist. Heute wird von einem Komponisten erwartet, dass er seine intimsten musikalischen Attribute zum Opfer darbietet, dass er sich wie eine Schlange häutet, ja, dass er sich letztendlich selbst aufgibt. Doch ist ein solches Kunststück nur den Meistern vorbehalten und darf auf keinen Fall von Anfängern verlangt werden72. Die Herausbildung des Einzelwesens geschieht, im gleichen Maß wie die einer Gesellschaft oder einer kulturellen Gruppe, zunächst durch Individuation und erst nach Abschluss dieses Prozesses durch Differenzierung. Leider kommt es nur allzu oft zur Verwechslung dieser beiden Vorgänge, die sich nur in dieser Abfolge – und nicht in der umgekehrten – vollziehen können  : Zuerst konstruiert sich der Mensch, und dann erst differenziert er sich. Die besonderen Eigenschaften, die die Ganzheit eines Individuums ausmachen, müssen sich vollständig entfaltet haben, bevor sie der Alterität anheimfallen. Zumal sich die Differenz aus einer inneren Notwendigkeit heraus ergeben sollte und nicht aus einer Strategie. Von vornherein um jeden Preis different sein zu wollen, bedeutet nichts anderes, als einer Chimäre nach der anderen hinterherzulaufen, um zum Schluss doch nichts wirklich Fassbares oder Definitives zu sein. Von jungen Komponisten zu erwarten, dass sie gleich mit ihrem ersten Werk die Welt neu erschaffen, hieße, sie zu ermuntern, eine Pose einzunehmen, sie zur Falschheit zu erziehen, mit anderen Worten, eine ganze Generation zu opfern …

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Dritter Satz: Musik und Moderne

2. Die Moderne und ihre chronologisch begründete Bewertung

Ein weiterer Stachel, der durch den synonymen Gebrauch der Begriffe »modern« und »fortschrittlich« gesetzt wird, ist jene sehr zeittypische Manie, ein Werk systematisch anhand einer vermeintlichen chronologischen Skala für wertvoll oder, im Gegenteil, für wertlos zu erklären. Britten »darf« nicht schreiben, was er geschrieben hat, weil 30 Jahre vor ihm Schönberg die Zwölftontechnik erfunden hat und man deswegen entweder dodekaphonisch schreiben muss – oder schweigen. Nun, erstens hat Britten – oder wer auch immer – das Recht, so zu komponieren, wie es ihm gefällt  ; die Geschichte ist da, um zu urteilen und zu bewerten, was sie, im Falle von Britten, getan hat. Zweitens haben das Zwölftonprinzip und seine diversen Ableger ihre Grenzen offengelegt und können, nachdem sie gewissermaßen in ihrem Bemühen gescheitert sind, sich als Regenerationsmodus des musikalischen Materials durchzusetzen, keinen Anspruch erheben auf jene Rolle der allwissenden und triumphierenden Pythia, die alles mit Lob oder Tadel bedenkt. In erster Linie aber würden wir unserer größten Meisterwerke verlustig gehen, wenn dieses Prinzip der chronologisch begründeten Bewertung auf das gesamte abendländische Repertoire angewendet würde. In dem Fall dürfte man die Kunst der Fuge nicht mehr spielen mit dem Argument, dass Bachs eigene Söhne zur selben Zeit schon Werke komponierten, die bereits eine avanciertere Sprache hatten als die ihres Vaters. Und Wagner hätte seine Meistersinger ins Feuer werfen müssen, weil ihre diatonischen Harmonien die Chromatik des Tristan beleidigt hätten. 3. Moderne und Subversion

Sagen wir es ruhig gerade heraus  : Der Fortschritt und mit ihm die Fortschrittsabhängigkeit, durchaus vergleichbar mit der Abhängigkeit von einer Droge – man braucht »seine tägliche Dosis« an Neuem, sofort und schnell  : den neuen Computer, noch leistungsfähiger als der alte, das neue Auto, noch schneller als das alte – ist eine Bestrebung des Bürgertums. Man muss nicht unbedingt Zola gelesen haben, um zu wissen, dass die bürgerliche Motivation zum Fortschritt aus dem Bedürfnis heraus entsteht, zu erhalten und zu vermehren. Vor mehr als 200 Jahren gewann die Bourgeoisie die Macht über den Adel und hat seitdem nicht die geringste Absicht gehegt, sie wieder aus der Hand zu geben. Der Fortschritt erweist sich dabei als ihr bester Verbündeter, braucht man 142


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Anatomie der Moderne

doch kein Historiker zu sein, um festzustellen, dass die industrielle Revolution der gesellschaftlichen Revolution auf dem Fuß folgte. Das Individuum, mitgerissen von diesem Strudel fortschreitender Entwicklung und gierig auf die nächste »Dosis«, die der folgende Tag mit sich bringen wird, sei es in Form eines sozialen Fortschritts, einer technologischen Neuerung oder einer Schwemme an Informationen – gespickt mit dem nötigen Quäntchen Voyeurismus –, hat nicht im Sinn, das System umzustürzen – , höchstens manchmal, den einen oder anderen oberflächlichen Aspekt, mithilfe eines Streiks, einer vorübergehenden Protestaktion. Das ewige Versprechen und die ständige Verlockung machen den Bürger abhängig von dem System, das ihn umgibt. Für eine Revolution bleibt da kein Raum. Damit wir uns nicht missverstehen  : Meine Absicht ist es weder, dem Fortschritt als solchem, noch, der bürgerlichen Welt den Prozess zu machen, haben doch beide ihre Funktion in unserer Gesellschaft. Ich möchte nur betonen, dass der sogenannte, das Fortschrittsdenken aufs trefflichste verkörpernde esprit bourgeois – und seine notorische Angst vor Umwälzungen – das exakte Gegenteil ist von dem, was sich als der Inbegriff von Modernität etabliert hat, nämlich dem sogenannten esprit artistique. Seitdem nun die Kunst de facto zum offiziellen Teilnehmer am aktuellen »Fortschrittswettlauf« geworden ist, hat sie von ihrer Subversivität eingebüßt. Erstens, weil ihr praktisch jeglicher Einfluss auf die breite Öffentlichkeit abhandengekommen ist, und zweitens, weil sie sich von ihrem ursprünglichen Ziel, ihrer Finalität losgesagt hat, die darin besteht, das »Andere« ans Licht zu bringen und zu verherrlichen – zwei Begriffe, die im Repertoire des bourgeoisen Geistes überflüssig zu sein scheinen, möchte dieser doch vor allem Bürger hervorbringen, die gefügig sind und so wenig »erleuchtet« wie möglich. Und genau darin schlägt sich eine der spektakulärsten Paradoxien in der modernen Kunst nieder  : dass sie nämlich in einem bestimmten Moment der Geschichte so subversiv sein wollte, dass sie ihre Fähigkeit, das Unerwartete heraufzubeschwören, endgültig erschöpft hat. Welches Tonmaterial bleibt einem noch übrig, wenn man sämtliche Noten des Klaviers mit einem Mal über Bord wirft  ? Womit soll man eine noch »modernere« Klangsprache kreieren  ? Mit Mikro-Intervallen  ? Durch die Rückkehr zu klassischen Harmonien  ? Im Grunde kann die Lösung nicht durch eine Erneuerung der musikalischen Sprache erfolgen, sondern nur durch eine Änderung des musikalischen Gestus. Es wäre also an der Zeit, eine klare lexikologische Trennung vorzunehmen zwischen den Progressisten, die die Moderne an der Polarität »besser/mehr« festmachen, und den Modernisten, für die das Entstehen von Modernität einer 143


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Dritter Satz: Musik und Moderne

natürlichen Entwicklung folgt. Damit meine ich eine »nicht konzertierte« Entwicklung zwischen den jeweiligen Innovationsschüben – die man dann nur allzu gern, und vor allem im Nachhinein, als »Bewegung« oder als »Schule« bezeichnet – und den Ruhephasen, in denen die Öffentlichkeit damit beschäftigt ist, sich die neuen Codes anzueignen. Modernität und Erneuerung Im Bewusstsein vieler Komponisten freilich entspringt die Tendenz zur Vermischung von »modern« und »fortschrittlich« einer Intention. Begannen doch in den frühen 1950er-Jahren und zur Entstehungszeit der Darmstädter Ferienkurse zahlreiche Musiker, sich in zunehmendem Maß für die moderne Wissenschaft zu interessieren, wobei sie ihr Augenmerk vor allem auf die Methoden der Theorisierung und Modellbildung richteten. Auf der verzweifelten Suche nach einer Möglichkeit, der Zwölftontechnik, deren Zenit zu dieser Zeit bereits überschritten war, den Rücken zu kehren – auf noch radikalere Weise übrigens, als Schönberg es zu seiner Zeit hinsichtlich der spätromantischen Ästhetik getan hatte – erkannten sie im Diskurs der Wissenschaft eine unversiegbare Quelle neuen Materials und neuer Anwendungsmodi. Gewiss, all dies war äußerst konsistent und vielversprechend, barg die Aussicht auf eine Unmenge faszinierender Entdeckungen. Doch tendierte man dazu, die Wissenschaft zu sehr »beim Wort« zu nehmen, anstatt ihren »Geist« herauszufiltern. Der Diskurs wurde dogmatisch. Und als sich plötzlich innerhalb der Wissenschaft eine Öffnung abzuzeichnen begann hin zu schwindelerregend metaphysischen, poetischen, künstlerischen Perspektiven, als sich die Wissenschaft in ihrem Diskurs wie in ihren Zielen auf einmal der Kunst und der Poesie anzunähern begann, da konzentrierten sich unsere weißbekittelten Musiker immer noch auf ihren post-Lavoisierschen73, positivistischen, trockenen, asketischen Jargon  ; auf eine Sprache, die weniger der Domäne der Kunst zuzuordnen war als der des Ingenieurwesens, welches – allein schon aus ontologischer Notwendigkeit heraus – keine Subversion duldet, sondern vielmehr der etablierten Ordnung dient. Aber wahre Modernität schert sich nicht um die etablierte Ordnung. Sie ist, wie wir gesehen haben, eine Kristallisierung des Aktuellen und entsteht auf der Basis des »eben erst an die Öffentlichkeit getretenen Neuen«, daher die etymologische Bedeutung des Wortes. Indem sie sich manifestiert – wie eine Momentaufnahme der jeweiligen Epoche –, bringt sie Bewegungen, Schulen, 144


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Anatomie der Moderne

einzelne Künstler hervor, die ihrerseits wieder etwas Neues erschaffen, und so weiter und so fort. Dem Fortschritt, sei es auf wissenschaftlichem oder ökonomischem Gebiet, gebührt im menschlichen Drama, das sich in der jeweiligen »Moderne« widerspiegelt, lediglich die Rolle eines Akteurs – einer unter vielen. Modern sein heißt, mit seiner Zeit zu gehen. Das ist nicht alles, aber es ist viel. Manch einer mag hier entgegenhalten, dass diese Definition zu weit gefasst ist und Raum lässt für eine Fülle von »Ausrutschern«, angefangen bei den diversen »Neo-ismen«. Gewiss waren Neo-Romantik, Neo-Klassizismus, Neo-Tonalität etc. einen kurzen Moment lang Bestandteile des modernen Dekors. Aber da sie nichts grundlegend Neues hervorgebracht haben, das der Ursprung einer Moderne von morgen hätte sein können, dürfen sie noch lange nicht als DIE Moderne der jeweiligen Zeit angesehen werden. Neuheit wohlgemerkt, nicht Fortschritt. Eine neue Perspektive, eine neue Art und Weise, die Dinge zu erleben, zu sehen, zu hören. »Nur einen oder zwei Meter auf einmal zurücklegen, stehenbleiben und die Dinge erneut betrachten, aus einem anderen Blickwinkel«74, so sieht es der Philosoph Alain. Das und nichts anderes sagt uns auch Baudelaire. Das »Ewige und Unabänderliche« auf eine neue Art anzusehen. Neue Perspektiven zu suchen, um die Ewigkeit in den Blick zu nehmen, eine Ewigkeit, die immer gleich bleibt. »Die Zeit«, so Messiaen, »antwortet der Bewegung und die Ewigkeit bleibt die selbe.«75 Modern sein ist im Grunde eine vollkommen westliche Art, kollektiv über das Sein und das Werden zu meditieren. Sind wir Abendländer doch weit und breit die einzigen, die sich ständig den Kopf darüber zerbrechen, was neu, modern oder fortschrittlich ist. Andere Kulturen haben eine Art der Wissensüberlieferung hervorgebracht, die sich Tradition nennt und die, weil sie meistens auf mündliche Art erfolgt, nicht die kleinste Ungenauigkeit, Abwandlung oder Weiterentwicklung duldet. Der Glaube an die Unfehlbarkeit dieser Tradition, ihre Vollkommenheit, ihre göttliche Herkunft haben in den außerwestlichen Kulturen die Überzeugung heranwachsen lassen, dass die Zukunft ihnen keine andere Offenbarung zu bringen vermag, als die Bestätigung dessen, was bereits gesagt, oder genauer  : prophezeit worden ist. Die Musik dieser fremden Kulturen ist von dieser Regel nicht ausgenommen  ; genau genommen ist sie aufgrund ihrer extremen Kodifizierung sogar viel intellektueller als unsere polyphone westliche Musik. Sie erhebt nicht den Anspruch, sich selbst zu transzendieren, aber sie will dem Hörenden, ähnlich wie die Atmung des Prana-Yoga, dabei helfen, zur Erleuchtung zu gelangen. In gewisser Weise ist sie – man verzeihe mir diesen Vergleich – der Diener der Tradition. Was ein 145


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Grund, freilich nicht der einzige, dafür ist, dass sie nie an die Ausstrahlungskraft der abendländischen Musik herangereicht hat.76 So haben sich innerhalb dieser traditionellen Kulturen Techniken entwickelt, die dazu dienen, die Kunst des Meditierens zu erlernen, das »Arkanum« der Welt zu erforschen und, wenn möglich, zur göttlichen Erkenntnis zu gelangen. Und die Musik ist dabei nicht mehr als ergänzendes Beiwerk. Der einzig vorstellbare Fortschritt bedeutet in diesem Rahmen das individuelle Fortschreiten hin zu dieser Erkenntnis. Und dieses Fortschreiten ist, um es mit den Worten des Philosophen Alain zu sagen, nichts anderes als die Art, die Realität nach jedem getanen Schritt aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Sehen, was ist – mit jedem Mal anders und mit jedem Mal tiefer. Und genau in diesem Sinne erkenne ich das ewige Streben unserer westlichen Gesellschaft nach Modernität als eine Form des kollektiven Meditierens an – dies eine Ansicht, die C. G. Jung sicher mit mir geteilt hätte. »Moderne« Kunst, das ist die jüngste Art und Weise, eine kollektive Vision von Sein und Werden zum Ausdruck zu bringen. Der etablierten Ordnung, dem Fortschritt ist diese neue Betrachtungsweise jedenfalls nicht zu verdanken. Sie kann, ja sie darf gegen den Strom schwimmen, sich gegen die Ordnung auflehnen, wenn diese sich – wie es in wachsendem Maß der Fall ist – zum Hampelmann eines ökonomischen Systems macht, das dem Wesenskern des Menschen, seiner Würde, seinem Weiterbestehen zuwiderläuft. Modernität gründet sich nicht auf Fortschritt. Sie steht in einer symbiotischen Verbindung mit dem Numinosen und den Zahlen des göttlichen Prinzips, was sich in jeder Epoche auf eine neue Art manifestiert. Sie ist die extreme Abwandlung eines Themas, das zu Anbeginn der Zeit enunziert wurde. Denn Modernität – ein letztes Mal darf ruhig daran erinnert werden – gründet sich auf jene Neuheiten, die Baudelaire als »das Vergängliche, das Zufällige, die andere Hälfte der Kunst …« bezeichnet, die wie Blumen unvermittelt aus dem Boden schießen und die man schnell pflücken muss, um ihren Duft einzufangen und in der Gegenwart zu verankern. Einer Gegenwart, deren Atmosphäre geschwängert ist vom Duft des Modernen. Ein Duft, der freilich bisweilen herb erscheinen mag. Doch hat Baudelaire jemals behauptet, seine Blumen des Bösen seien ein Strauß Rosen  ?

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9. Vom Klischee zur Couch. Kleine Zusatzbetrachtung zur Moderne

»Das Programm ist nicht mehr, wie früher, der Kampf des Neuen gegen das Akademische, der Subversion gegen das konformistisch Verkrustete, sondern  : Wir brauchen vereinfachte Kunst, unbedingt …« Philippe Sollers,Vorwort zu Les Ambassadeurs von André Morain

Man kann intelligent sein und Klischees mögen. Das Gegenteil zu behaupten, wäre ein Klischee, jedoch nicht der Beweis für einen Mangel an Intelligenz … Übrigens wäre das Lexikon, das die im allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgerten Begriffe absegnet und ein großer Freund von »Sofortbildern« aller Art ist, vom »Gebrauch« und a fortiori vom »allgemeinen« abgeschnitten und auf die Rolle des simplen Wörterbuches reduziert, gäbe es keine Klischees. Wenn man Klischees schon mögen soll, dann doch genau aus dem Grund, mit ihnen spielen zu können  : den Saft des gesunden Menschenverstands herauspressen, ihn filtern und mit einem Schuss kritischen Geistes vermischen. Demnach herrscht auf dem Gebiet, das uns hier interessiert, ein solides Vorurteil, nämlich jenes, dass »modern« und »populär« einander ausschließen, mit anderen Worten  : dass moderne Musik einer kultivierten und schicken Elite vorbehalten ist, dass »populär« gleichzusetzen ist mit »konservativ« und »reaktionär« – eine Option gegen den Fortschritt und für die Tradition. Doch lassen wir den morbiden Glauben an eine linke oder rechte PseudoModernität beiseite  : Derlei Geplänkel ist völlig sinnlos, und es besteht absolut keine Notwendigkeit, irgendein sozio-philosophisches Modell als Beweis zu beschwören, sondern es genügt, ein paar simple Fakten aufzuzeigen. Modernität bricht immer überall gleichzeitig hervor. Alle Gattungen, die die populäre Geste repräsentieren, ob Chanson, Rock- oder Pop-Musik, aber auch der eher konzeptuelle Geist der Schöpfer »ernster« Musik – sie alle sind von diesem plötzlichen Bruch mit dem Alten gleichermaßen betroffen. Und sie alle tauschen ihre Trouvaillen untereinander aus  : Der Jazz beeinflusst die klassische 147


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Musik seit Debussy, die Klangwelten der Avantgarde erobern die Domäne von Pop und Jazz77. Vor Reaktion und Spießertum ist freilich keine soziale Schicht gefeit. Akademisten aller Zeiten, die, die sich selbstzufrieden auf ihren vergangenen Errungenschaften ausruhen, »Studio-Haie«, Großmäuler und Holzhacker, denen nichts Besseres einfällt, als scham- und einfallslos sofort jeden neuen Trend auszuschlachten – Hauptsache  : Der Rubel rollt –, sie sind die wahren Feinde der Moderne. Nicht um eine Frage der Klasse geht es hier also, sondern um eine Frage der Masse, und zwar in dem ursprünglichen Sinn, den die Physik diesem Wort zugedacht hat  : Eine winzige Minderheit neugieriger, erfinderischer, abenteuerlustiger Geister muss sich behaupten gegen eine breite, träge Masse, die die Anstürme der Moderne nur zögernd absorbiert – so als schwänge immer ein leichtes Bedauern mit. Da diese Anstürme aber von allen Seiten her gleichzeitig erfolgen, hat die Masse keine andere Wahl, als die »Eindringlinge« in sich aufzunehmen und sich, mittels dieser Assimilierung, langsam, aber sicher zu verändern. Und die elitären Geister, die sich einbilden, sie seien die einzigen, denen aufgrund einer angeblichen, omnipotenten Komplexität das Recht zustünde, die heilbringende Moderne zu verkörpern, müssen sich darüber klar werden, wie viel Eitelkeit und Gefahr ihre Haltung mit sich bringt, ist doch eine lebendige, gesunde, fruchtbare Entwicklung nicht denkbar ohne diese Pendelbewegung zwischen dem, »was oben«, und dem, »was unten ist«, um noch einmal den Vergleich mit der Alchemie heranzuziehen. Das Einzigartige der Popularmusik ist ihre Spontanität sowie ihre ständig erneuerte Identität, erneuert durch das Aktuelle, von der Wurzel, der Essenz her  ; und es ist die Großzügigkeit, mit der sie das neue Tonmaterial hervorbringt und neue Zeichen generiert. Das Unabdingbare in der ernsten Musik ist die Technik, durch die eine Organisation des Tonmaterials überhaupt erst möglich ist. Erst durch sie erhält der »Ansturm« den Wert des Emblematischen, das Zeichen den Wert des Symbols, die Form den Wert des Archetyps. Den Austausch ständig zu erneuern, sich bei den Hervorbringungen der populären Musik zu inspirieren, aus ihr gemeinschaftsbildende Elemente zu schöpfen sowie umgekehrt, für den Komponisten von Popularmusik, sich den Techniken der ernsten Musik gegenüber zu öffnen, das ist die moderne Geste schlechthin, eine Geste, die von allen großen Komponisten zu allen Zeiten zelebriert wurde. War es nicht Gustav Mahler, der Musik nur dann für wahrhaftig und wertvoll befand, wenn diese im Volkstum verwurzelt war  ? 148


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Vom Klischee zur Couch. Kleine Zusatzbetrachtung zur Moderne

Eine Wiederbelebung dieser gegenseitigen Befruchtung ist für die zeitgenössische Kunst ebenso wichtig wie für die Gesellschaft. Indem er sich nämlich durch einen für niemanden erreichbaren Asketismus abschottete, sich von seinen eigenen Ursprüngen abschnitt, schuf der moderne Künstler ein Vakuum für alle erdenklichen Mediokritäten, die nur darauf warteten, dieses auszufüllen, um das verwaiste Musikpublikum zu befriedigen. Aus dieser Situation heraus entstand das weiter oben dargelegte Klischee, das zwar einen bestimmten Zustand der Moderne des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, ihren eigentlichen Funktionsmodus jedoch völlig ausblendet. Und genau das ist der Grund, weshalb wir dieses Klischee mögen – wie ein Arzt, der das Symptom schätzt, weil es ihm dabei hilft, die Krankheit zu identifizieren. Die Moderne krankt am Elitismus der einen und am Opportunismus der anderen  ; doch gebührt ersteren ganz eindeutig der Vorzug gegenüber letzteren, denn sie sind zumindest die ehrlicheren von beiden. Manch einer wird jetzt einwenden, dass es immer wieder Scharlatane gibt, die aus reinem Opportunismus in die Rolle des Avantgardisten schlüpfen, dessen Darbietung freilich nur Vertreter derselben »Schule« beeindruckt. Die Altmeister von Darmstadt, auch wenn sie zuweilen aus intellektuellem Narzissmus heraus handelten, sind deswegen nicht minder Meister ihrer Kunst. Ihre Vorgehensweise ist integer, ihre Vision tiefgründig, ihr Ideal rechtschaffen. Nur ähnelt ihre Absage an das bestehende Zeichen der Askese des Propheten, der seinem Volk das Gebot der Keuschheit einzuschärfen versucht  : ein Idealismus, der sich mit dem Leben nicht in Einklang bringen lässt, der dringend einer Aktualisierung bedarf. Die Dringlichkeit des Zeichens – was aber noch lange nicht heißen soll  : »zurück zum Klischee« … Und da wir wieder beim Thema angelangt sind, kommen wir auch gleich auf ein anderes Klischee zu sprechen, eines, das ebenfalls mit einer »dicken Haut« ausgestattet ist und das gewissermaßen den Anstoß zur Niederschrift dieses Buches gegeben hat, nämlich die sich hartnäckig haltende Behauptung, die musikalische Avantgarde, als Teilaspekt der Moderne des 20. Jahrhunderts, habe sich der Emotion, der Inspiration oder der Phantasie verweigert. Kein Zweifel, dass die kompositorische Geste des modernen Musikers viel analytischer ist als die seines Vorgängers aus der Klassik oder der Romantik. Gingen diese doch mittels Synthese zu Werk – und eigneten sich so die Geste des Demiurgen an. Der moderne Komponist verfährt, indem er sich selbst in »Echtzeit« analysiert, über jeden Moment seines Schöpfungsvorgangs Rechenschaft ablegt. Es stimmt, viele sind auf der Hut vor ihrem eigenen Instinkt, ihren Emotionen, weil man sie nicht quantifizieren, nicht geltend machen kann in dem Protokoll, von dem sie meinen, es der Nachwelt schuldig zu sein. Diese unter 149


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Dritter Satz: Musik und Moderne

den Komponisten der Moderne weit verbreitete Methode der Selbstanalyse ist lediglich das Spiegelbild eines globalen Wandels, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kunst vollzog und der vielleicht besser zum Ausdruck zu bringen vermochte, was Freud so umschrieben hat  : »Eine rationalistische, oder vielleicht analytische Disposition kämpft in mir gegen die Emotion, wenn ich nicht in der Lage bin zu erkennen, warum ich bewegt bin oder was mich überwältigt.«78 Es ist derselbe Freud, der von sich selbst behauptete, er sei »ganz unmusikalisch« und dessen Couch zum Vorwand für eine Unzahl bedeutender Klischees des 20. Jahrhunderts wurde. Mit dem Ende der Freudschen Ära sollte auch das wechselseitige Interesse von Psychoanalyse und Musik – und das ist das Mindeste, was man sagen kann – wieder abflauen bzw. in der Versenkung verschwinden. Von einigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, wie beispielsweise Theodor Reik (1888–1969) und seinen Ecrits sur la musique (1953) [Orig. The Haunting Melody] oder, in unserer Epoche, Marie-France Castarède, die mit Leidenschaft die Zusammenhänge von Musik und Psychoanalyse erforscht79. Denn, mit Ausnahme von Lacan80, der eine intuitive Vorstellung von der tiefen Wirkung der Musik auf unsere Psyche gehabt haben soll, und zwar mittels des Affekts, über den er die Stimme als Triebobjekt definierte, scheint die ganze Welt fröhlich zu ignorieren, dass die Tonkunst – was nur allzu gut einleuchtet, seitdem wir wissen, dass es sich um eine Sprache der Zeichen handelt, die eng mit unserem Körper und unserem Geist verknüpft ist – einen ganzen Kosmos von emotionalen Archetypen darstellt und dass dank dieser eine intensive Übertragungs- und Sublimationsarbeit möglich ist. Eigentlich müsste man sogar so weit gehen und sagen, diese Arbeit sei die Bedingung für die Erschaffung eines Meisterwerks. Was wir dank Mahler im Laufe der Zeit nachvollziehen konnten, nicht nur, weil er sowohl Zeitgenosse als auch Landsmann Freuds ist81, sondern vor allem weil er der erste war, der sich explizit äußerte über den Ursprung der zahlreichen musikalischen Elemente, die er in seiner Jugend gehört hatte und die er mit einschneidenden Erlebnissen assoziierte, und aus denen er das Material für seine Symphonien beziehen sollte. Beschäftigt man sich eingehend mit der Literatur über Musik und Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts, so wird man feststellen, dass die eigentliche Arbeit auf dem Gebiet der Annäherung zwischen Musik und Psychoanalyse eher eine Sache der Musikspezialisten war als der Erben Freuds und Lacans. Man braucht sich nur die Abschlussberichte diesbezüglicher Workshops82 anzuschauen, um zu verstehen, dass die Psychoanalyse es vorzuziehen scheint, sich auf spannende – und sich sprunghaft vermehrende – technische Überlegungen zu 150


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Vom Klischee zur Couch. Kleine Zusatzbetrachtung zur Moderne

konzentrieren, die sich jedoch vom eigentlichen Kern des Problems immer weiter wegbewegen  : dem musikalischen Objekt als emotionalem Archetyp. Analyse versus Synthese Und dennoch, trotz dieses nicht gerade überwältigenden Interesses an unserer Kunst trägt die Psychoanalyse dazu dabei, den Mechanismus der schöpferischen Intuition besser zu verstehen, und zwar über die Funktionsweise des Unterbewusstseins, dessen Arbeit eine wesentliche Rolle spielt. Psychoanalytiker sprechen wenig von Synthese, aber dank der Freudschen Traumlehre sind wir heute in der Lage, den Syntheseprozess nachzuvollziehen. Träume galten bis zum Zeitpunkt der Entdeckung ihrer Sinnhaftigkeit und Deutbarkeit als allegorischer Modus, den jeder x-beliebige Seelendoktor glaubte interpretieren zu können. Freud erhob den Traum zum symbolischen Modus, den es nicht mehr zu »übersetzen«, sondern zu analysieren galt. Tatsächlich handelt es sich beim Traum nicht um einen linearen Diskurs, den man nur ein wenig zu verschieben braucht, um ihn von A bis Z wie eine Geschichte lesen zu können, sondern um einen durch das Unbewusste hervorgebrachten Syntheseprozess. Der Träumende platziert Motive inmitten einer Myriade von Elementen, die eigentlich nur als schmückendes Beiwerk dienen. Und diese Motive sind Symbole  ; so wie das Symbol in seiner ursprünglichen Bedeutung die Hälfte einer Münze oder Medaille darstellt und in dieser Eigenschaft automatisch die Aufmerksamkeit auf die fehlende andere Hälfte lenkt – sprich »symbolisiert« – und dazu auffordert, diese aufzuspüren, um beide wieder zu vereinigen, genauso symbolisiert jeder Teil des Traums ein Element aus dem wachen Leben des Träumenden, des bewussten oder unbewussten. Und es obliegt dem Analytiker, dieses zu lokalisieren, um die Psyche des Patienten wieder in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. In jedem Träumenden schlummert also ein versteckter Künstler  ? Dieser Gedanke mag gar nicht so abwegig sein und findet etwa Bestätigung in unserem Erstaunen, wenn wir uns nach einer Nacht voller Bilder und Geschichten, barock und exotisch, fragen, wie es nur möglich war, soviel »Phantasie« aufzubringen. Andererseits ist die Schlussfolgerung insofern falsch, als es sich beim schöpferischen Akt, sei er ein kompositorischer oder ein malender, um einen kontrollierten, fortgesetzten, willentlichen Akt handelt. Gleichwohl interessiert uns der Träumende, denn er benutzt seine Fähigkeiten zur Synthese, um daraus Realität zu machen83. Diese kreative Fähigkeit, die er 151


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Dritter Satz: Musik und Moderne

jede Nacht aufs Neue unter Beweis stellt, und die ihm in wachem Zustand normalerweise abgeht, weist deutliche Analogien – und zwar sowohl in Bezug auf die aktivierten physiologischen Mittel als auch auf den Zustand, in dem sich unser Proband während seines Traums befindet – mit dem Zustand der Inspiration auf, von dem so mancher Komponist der Vergangenheit Zeugnis abgelegt hat. Doch ist mit diesem Begriff, über den die meisten heutzutage die Nase rümpfen, eine höhere Fähigkeit zur Synthese gemeint, durch die der Komponist eine intellektuelle Leistung vollbringt, zu der er im Normalzustand nicht imstande wäre. Man denke nur an Mahler, der ohne die Abgeschiedenheit seines Sommerhäuschens nicht komponieren konnte  ; gleich dem Träumenden, der, ist er einmal erwacht, all die Welten nicht mehr heraufzubeschwören vermag, die er doch kurz zuvor noch selber erschaffen hatte. Im Grunde ist dieser Syntheseprozess nicht sonderlich kompliziert, auf jeden Fall nicht komplizierter als eine intensive und anhaltende Konzentration. Aber die kompositorische Arbeit nimmt bisweilen, kraft der Objekte, die sie manipuliert – Symbole, Zeichen, Embleme, verbunden mit komplexen Emotionen oder Gefühlen –, Züge einer Trance an. Am besten eignet sich – ein weiteres Mal – Gustav Mahler dazu, diesen Zustand zu veranschaulichen. Widerfuhr ihm doch eines Tages das freilich gruselige Erlebnis, dass er, vertieft in die Arbeit an einer seiner Symphonien, plötzlich das Bild seines eigenen toten Körpers vor Augen hatte, der, in einen Sarg gebettet, in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes stand. Und nochmals Mahler, der berichtete, abends mit einem Problem zu Bett zu gehen und am nächsten Morgen mit der Lösung wieder aufzuwachen – freilich ein viel verbreiteteres Phänomen. Mozart ersann den größten Teil seiner Werke »im Hintergrund«  ; ihre Ausarbeitung erfolgte praktisch unbewusst und die fertige Komposition tauchte laut Mozarts eigenen Worten »wie ein Blitz« vor ihm auf, eine Art Geistesblitz, in dessen Folge er nur noch niederzuschreiben brauchte, was er in jenem Moment »gesehen« hatte. Beethoven komponierte erst nach langen Meditationen in seinem geliebten Wienerwald, wo die Bäume zu singen schienen, wo die Natur ihm seine Melodien zu diktieren schien. Messiaen – um einen Künstler aus unserer Epoche zu zitieren – äußerte einigen Schülern gegenüber, dass er nicht so oft improvisiere, wie er es eigentlich gern täte, »um die Inspiration nicht zu erschöpfen«. Woraus wir schließen, dass auch er daran glaubte … Diese Beispiele verdeutlichen, dass mehr oder weniger alle großen Komponisten ihren Geist »losgelassen« und einer anderen Region ihres Gehirns anvertraut 152


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Vom Klischee zur Couch. Kleine Zusatzbetrachtung zur Moderne

haben. Dieser oblag es dann, die geheimnisvolle Fusion zwischen Intuition und Tonmaterial zu organisieren. Einige Hirnforscher haben festgestellt, dass es sich bei dieser Region, in der sich der Synthese- oder von mir aus auch Inspirationsprozess vollzieht, um einen bestimmten Frequenzwellenbereich handelt. Dieser Begriff, der leider durch den einen oder anderen »Kuriositätenhändler« übernommen wurde, sollte gleichwohl nicht unerwähnt bleiben und man deute ihn nach seinem eigenen Gutdünken. Ist doch unser Gehirn, genau wie unser Auto, mit mehreren Gängen ausgestattet, die wir je nach zu erfüllender Aufgabe in Anspruch nehmen. Im normal aktiven Wachzustand des Menschen sind die Frequenzwellen im Gehirn am schnellsten  ; es sind die sogenannten Betawellen. Sobald man bei gleichzeitiger Wachheit in einen Zustand leichter Entspannung eintritt, produziert das Gehirn Alphawellen, die wiederum in verschiedene Unterkategorien eingeteilt werden. Eine davon ist die Phase Alpha 1, die einer tiefen meditativen Aktivität entspricht, in deren Verlauf zahlreiche Bilder aus dem Unterbewusstsein freigesetzt werden. Vermutlich war das der Zustand, hervorgerufen durch extreme Konzentration mit hypnoseähnlicher Wirkung, in dem sich Mahler zum Zeitpunkt seiner Halluzination befand. Um noch einmal auf das Thema der Psychoanalyse zurückzukommen  : Ich bin der Ansicht, dass diese durchaus positiv einwirken könnte auf die psychorigide, sprich starrköpfige Haltung des »seriellen und postseriellen« Tonkünstlers, den ich im Grunde für einen unterdrückten Hyperromantiker halte. Im Falle Arnold Schönbergs ist dies vollkommen evident  : Nachdem er, fast noch stärker als Richard Wagner, eine romantische bzw. spätromantische Formsprache ausgelebt hatte, die in einer Musik von schmerzhafter Wollust, einer zerrissenen, erschütternden Musik ihren Ausdruck gefunden hatte, vollzog der Komponist an sich selbst Abrahams Opfer, indem er die durch ihn erschaffene lebendige Substanz abtrennte und so eine höchst romantische Tonsprache hinter sich ließ, die in seinen späteren Werken freilich immer wieder – wenn auch nur in versteinerter Form – zum Vorschein kommen sollte. Bei Schönbergs Nachfolgern geschieht die Verdrängung sehr viel früher, an der Quelle sozusagen, und manifestiert sich durch dasselbe Symptom extremer Rigidität in der Sprache, manchmal sogar in der Haltung des Komponisten selbst. Machen wir uns nichts vor  : Wozu soll eine Starrheit des Egos gut sein, wenn sie nur dazu dient, etwas bei sich zu halten, das doch im Grunde nur darauf wartet, hervorbrechen zu können  ? Und was kann dieses »Etwas« schon anderes sein als eine brodelnde, flammende, gloriose Romantik, für die der moderne Künstler eine versteckte Sehnsucht empfindet. Denken wir lieber an Debussy und insbe153


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Dritter Satz: Musik und Moderne

sondere an die vielen Szenen aus Pelléas et Mélisande, um festzustellen, dass dort eine von Friede und Leichtigkeit durchdrungene Romantik herrscht, eine Romantik, die auch als solche angenommen wird, eine sublimierte Romantik. Denn typischerweise ist diese nichts anderes als eine jener Phasen der »Analität« – um noch einmal das Vokabular des Psychoanalytikers zu bemühen –, in denen das »kollektive Unbewusste« einer Epoche seinen Durst nach Selbstverwirklichung stillt. Was zunächst in Gestalt einer intensiven schöpferischen Aktivität zum Ausdruck kommt, die ihrerseits gefolgt wird von einer reaktiven Verdrängung – oder eben Sublimation. Schönberg entschied sich für die Verdrängung, Debussy für die Sublimation. Das ganze 20. Jahrhundert orientierte sich sei es am einen, sei es am anderen. Da mutet es umso seltsamer an, dass der gute Ton, der offizielle Weg der »Vorzimmermoderne«, der Weg der Verdrängung sein sollte. Es lässt sich problemlos nachvollziehen, was die frühen Protagonisten der Moderne dazu brachte, mit der Romantik Schluss zu machen, mit diesem Seelenexhibitionismus, diesem schamlosen Zurschaustellen der Gefühle. Obwohl dies freilich nicht die richtige Sichtweise ist. Die Romantik wird in dem Moment unerträglich, wo sie sich mit Akademismus paart. Was bleibt, ist ein hohles pompöses Getue, ein prätentiöses, in sich zusammenfallendes Soufflé. Das Gute an ihr ist die Aufhebung der Hemmungen, eben das Fehlen jeglicher Verdrängung  ; die Romantik ist die Couch, auf der der Künstler seinen innersten Gefühlen freien Lauf lassen kann. Doch setzt er sich in den Kopf, nicht nur sein Tonmaterial kontrollieren zu wollen, sondern auch seine Alibis, so kann aus einem solchen In-Gewahrsam-nehmen des Affekts und der Triebe nichts anderes herauskommen als gefilterte, zensierte Elemente, die gefangen sind in einem Werk, das dem Rezipienten umso weniger zu offenbaren vermag, als es sich seinem eigenen Schöpfer gegenüber verschlossen hat. Ich behaupte ja nicht, dass Komponisten halluzinogene Pilze zu sich nehmen oder Kaffeetassen zum Schweben bringen sollen, aber ich denke, es wäre interessant, die Aufmerksamkeit auf die Thematik der Verdrängung zu lenken sowie auf die Dichotomie zwischen den weiter oben dargelegten Vorgehensweisen der Analyse einerseits und der Synthese andererseits, verbunden mit den jeweiligen Funktionsmodi des Gehirns, und, logischerweise, den verschiedenen Resultaten, die sich daraus ergeben. Auch die Entfremdung zwischen Neuer Musik und Hörerschaft einerseits sowie der Bruch zwischen Neuer Musik und Allem, was mit dem menschlichen Körper und menschlichen Emotionen zu tun hat, andererseits, sollten thematisiert werden. Und schließlich sollten diese Fakten zu den Worten Freuds in Beziehung gesetzt werden, die wir hier ein zweites Mal zitieren, um 154


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Vom Klischee zur Couch. Kleine Zusatzbetrachtung zur Moderne

sie in einem neuen Lichte zu sehen  : »Eine rationalistische oder möglicherweise analytische Disposition kämpft in mir gegen die Emotion, wenn ich nicht in der Lage bin zu erkennen, warum ich bewegt bin oder was mich überwältigt …«.

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10. Das Gesetz der Reihen …

»Es gibt noch viele gute Musik, die in C-Dur geschrieben werden kann.« Arnold Schönberg

Zwölftonmusik, das ist ein bisschen so wie der Satz des Pythagoras  : Jeder hat schon einmal davon gehört, aber nur die wenigsten können sagen, was genau darunter zu verstehen ist. Kaum einen Musikliebhaber vermag das Wort Dodekaphonie in Begeisterung zu versetzen, markiert es doch eine Grenze, den Point of no Return, von wo an seine Ohren nicht mehr mitspielen, er aufhört ins Konzert zu gehen. Doch anstatt ihm einen Strick aus diesem vermeintlichen Unverständnis oder Desinteresse zu drehen, versuchen wir lieber, den Begriff gemeinsam zu ergründen, mit dem die Bewegung gemeint ist, die die Entfremdung zwischen zeitgenössischer Komposition und Publikum ausgelöst hat. Was ist eine Reihe  ? Seit jeher gehen die Meinungen über den Wert des Serialismus weit auseinander. Während er für die einen »eine historische Notwendigkeit« darstellt, halten die anderen ihn für »eine Form von Terrorismus«. Ersteren werden wir antworten, dass die Zwölftontechnik ohne jeden Zweifel für ihren Erfinder, Arnold Schönberg, eine historische Notwendigkeit war, weil sie ihm gestattete, der Zentripetalkraft des postwagnerschen Musikideals zu entkommen, in welchem er sich immer tiefer zu verstricken schien, auch wenn dieser ästhetischen »Sackgasse« so fantastische Meisterwerke wie Verklärte Nacht oder die Gurre-Lieder entsprungen sind. Für seine Zeitgenossen freilich – und ich denke dabei insbesondere an Debussy – sollte sich diese ungeheuerliche Ausreizung der tonalen Grenzen auf ganz natürliche Weise in eine sehr persönliche Sprache einfügen, und zwar ohne dass es nötig gewesen wäre, Wurzeln zu zerstören, das System über Bord zu werfen, die Codes durcheinanderzubringen, die den Künstler an sein Publikum binden. 156


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Das Gesetz der Reihen …

Ginge es lediglich um das Werk Weberns sowie um einen Teil des Schönbergschen und Bergschen Oeuvre, so wäre die Erfindung der Reihentechnik, wie mir scheint, durchaus gerechtfertigt. Betrachtet man dagegen den Platz, den das Werk Debussys, das in einer modernen, aber jederzeit zugänglichen – weil in eine Kontinuität eingefügten – Sprache komponiert wurde, sowohl im Konzertrepertoire als auch in den Herzen der Musiker einnimmt, so kann man sich ausmalen, was die frühen Zwölftöner ohne die Zwangsjacke ihres neuen Systems wohl hervorgebracht hätten  : dieselbe Strenge und dasselbe Gespür für den seltenen Klang, unterstützt durch subtile »Entgleisungen« der bestehenden Codes, deren Überleben die Kommunikation des Werks mit einem breiten Publikum ermöglicht sowie, zu guter Letzt, eine vollkommen neue, allen Ohren zugängliche Musik. Doch halten wir zunächst fest  : Allein schon die Bezeichnung »Reihentechnik« ist, wenn nicht irreführend, so doch zumindest raffiniert, und sei es nur durch die Wahl des Wortes an sich. Die mathematische Reihe, die die Feierlichkeit zu begründen scheint, mit der sich die Tonsetzer – einschließlich der Autor dieser Zeilen – ihrem musikalischen Konstruktionsspiel hingaben, ist per definitionem eine Folge von Größen, die einer bestimmten Gesetzmäßigkeit zufolge wachsen oder abnehmen. Eine Reihe ist unendlich und keine der Zahlen, die in ihr enthalten sind, darf wiederholt werden. Das musikalische Reihenprinzip seinerseits besteht darin, die zwölf in einer Oktave enthaltenen Noten so anzuordnen, dass keine von ihnen wiederholt wird, oder, anders ausgedrückt, eine Note erst dann zu spielen, nachdem alle anderen elf gespielt worden sind. Und es bezieht sich auf die »kleine« Definition des Begriffs »Reihe«, also  : Folge, Aufeinanderfolge. Ein Wort, das schon weitaus bescheidener klingt, umso mehr, als jede Art von Musik, egal welcher Art, eine Aufeinanderfolge von Noten darstellt. Der Erfinder der seriellen Musik, Arnold Schönberg, gab ihr den Namen »Zwölftonmusik«, oder auch »Musik der zwölf Töne«, was im Französischen mit dodécaphonisme übersetzt wurde, einer Vokabel, die ganz offensichtlich dazu angetan war, mehr Staat zu machen. Eine Erklärung, die uns angesichts der Tatsache, dass doch alle Musik – zumindest unsere westliche – auf diesen zwölf Tönen gründet, nicht sonderlich weiterbringt. Wichtigstes Bestreben des Reihensystems war es, eine radikale ästhetische Umwälzung herbeizuführen. Im gleichen Maß, wie der Kubismus durch die Aufgabe des Figurativen eine visuelle Revolution auslöste, so bestand das Ziel des reihentechnischen Verfahrens – im »philosophischen« Sinn – in der Vermeidung jeder Bevorzugung einzelner Töne oder Tongruppen bzw. jeder Affinität einzelner Töne oder Akkorde zueinander. Vom »mechanischen« Prinzip her bestand 157


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das Verfahren in der Unterdrückung jeglicher Figuren, die für die Bildung der tonalen Sprache unerlässlich waren. Dies zumindest geschah, als die »verallgemeinerte« Reihentechnik aufkam, bei der im Gegensatz zur Schönbergschen Reihenlehre, die lediglich den Tonhöhenverlauf als Reihe festgelegt hatte, das Prinzip der Nichtwiederholung auch auf die Parameter Tondauer, Lautstärke, Rhythmus und Klangfarben etc. ausgeweitet wurde. Dank des immensen Vorteils, dass der von den Protagonisten der Moderne angestrebte musikalische Umbruch auf quasi automatische Weise herbeigeführt werden konnte, war das reihentechnische Kompositionsverfahren mit einem ganz speziellen Reiz ausgestattet, den die Cleversten der Zunft schon bald für sich entdecken sollten  : Hinterließ doch das musikalische Produkt den unmittelbaren Eindruck einer bunt schillernden Farbigkeit, einer üppigen klanglichen Vielfalt. Weil keine Note in ihrer direkten Nachbarschaft wiederholt wurde, war die Gefahr des déjà entendu, des Wiedererkennens, von vornherein gebannt und das Resultat besaß den einzigartigen Charme eines Kaleidoskops  ; allerdings mit der Konsequenz, dass sich nach einer gewissen Zeit ein Gefühl von Beliebigkeit, ja Langeweile einstellte sowie der Schwierigkeit, sich in diesem akustischen Labyrinth zurechtzufinden. Doch seien wir ehrlich  : Diese Langeweile ist nichts im Vergleich zu derjenigen, die wir empfinden, wenn wir – gleich einer chinesischen Wasserfolter – einer eintönigen Musik ausgesetzt sind, die einzig als Reaktion auf die serielle Kopflastigkeit komponiert wurde. Die Grenzen der Reihentechnik Wenn der Serialismus seinen Platz eher in der Musikgeschichte als im großen Repertoire gefunden hat, so liegt der Grund dafür vermutlich in einem inneren Widerspruch des Systems. Die chromatische oder auch temperierte Tonleiter, d. h. die Folge der zwölf Halbtonschritte, die eine Oktave ausmachen, ist im Grunde nichts anderes als ein Frequenzverteilungssystem. Ebenso gut wäre auch ein anderes vorstellbar gewesen – etwa jenes von Pythagoras ursprünglich konzipierte System, in dem die Oktave in 25 Schritte eingeteilt ist, oder sogar noch mehr –, hätte sich das Zwölfersystem nicht als das formbarste, entwicklungsfähigste erwiesen, welches am geeignetsten war, die polyphone Harmonik herauszubilden. Nun, da es einmal angenommen war, musste es dazu gebracht werden, etwas auszusagen, es mussten Regeln aufgestellt werden, es musste ein Stil gefunden 158


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werden. Das taten die Klassiker, indem sie den Kontrapunkt einführten, die Harmonie, die Form, wie beispielsweise die Sonate, die Fuge. Indem der Serialismus ein System im System installierte, fungierte er gleichzeitig als Regelwerk und als Stil, ein Stil freilich, der sich sehr schnell als nicht ausbaufähig erweisen sollte. Nichts ähnelt einer »Reihe« oder einer Reihenanordnung mehr als eine andere Reihe oder Reihenanordnung. Dieselben Gründe, die den Erhalt einer sofortigen Vielfalt möglich machten, verurteilten zu einem historischen Immobilismus. Diese kreative Unbeweglichkeit und Eintönigkeit waren auf die Redundanz des Systems im System zurückzuführen, und genau diese Redundanz ist es, was ich als inneren Widerspruch bezeichne  : Das Aufeinandertreffen der beiden Systeme provoziert einen Kurzschluss infolge eines Übermaßes an Zwängen. Zur Veranschaulichung schlage ich den Vergleich mit einem Schachspiel vor  : Jedem Spieler stehen zu Beginn der Partie insgesamt 16 Figuren zur Verfügung, 16 bewegliche Elemente, die wir den 12 Noten unserer Oktave gegenüberstellen wollen. Zusammen mit den 64 Feldern des Schachbretts bilden diese Teile das System, mit anderen Worten  : die Art und Weise, wie der Raum aufgeteilt ist und die Akteure in Dur- und Moll-Figuren organisiert sind  ; genauso wie die chromatische Skala eine Frequenzverteilung innerhalb der Oktave und eine hierarchische Organisation der möglichen Modi und Harmonien darstellt. Die Züge, die jeder Spieler mit seinen Figuren machen kann, sind in den Spielregeln festgelegt. Sie entsprechen den Kompositionsregeln. Dem Stil der »klassischen« Musik entspricht ein Spielstil im eigentlichen Sinn. Auch andere Systeme waren denkbar und existierten schon lange vor unserer Zeit. So gab es beispielsweise seit 750 n. Chr. das indische Chaturanga-Spiel, ein Urahne unseres Schachspiels, das für jede Spielerseite acht Figuren vorschrieb  : ein Schiff, ein Pferd, einen Elefanten, einen König und vier Soldaten. Zur selben Zeit entwickelte sich in der abendländischen Musik das System der sogenannten Modi, eine andere Art, die Oktave aufzuspalten, mit weniger Unterteilungen. Und genauso ist es möglich, sich eine Weiterentwicklung des Schachspiels vorzustellen – selbst wenn jeder Versuch mit einem »Schach  !« endet84. Zum Beispiel könnte man auf zwei Brettern statt auf nur einem spielen, oder auf einer Kugel, oder einfach die Zahl der Figuren ändern … oder anders ausgedrückt  : das System ändern. Das wäre eine Möglichkeit, die jedoch, wie es scheint, noch keinen Spieler so richtig überzeugen konnte. Übertragen auf die Musik, würde eine Änderung des Systems bedeuten, die Oktave anders aufzuspalten, die »Tem159


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peramente« aufzugeben. In eine ähnliche Richtung bewegt sich die Arbeit der Komponisten, die mikrotonale Tonsysteme ergründen. Aber ein System im System zu installieren würde im Fall unseres Schachspiels bedeuten, die 16 Figuren zwar beizubehalten, aber die Spielregeln abzuschaffen, um sie durch eine neue Ordnung zu ersetzen, durch die der Zug einer jeden Figur festgelegt wird. Das könnte etwa heißen  : Der Bauer A1 darf sich als erster bewegen, wie es ihm gefällt, dasselbe gilt für eine beliebige nächste Figur, aber A1 ist erst nach dem 17. Zug wieder an der Reihe usw.  ; so erwiese sich aber das, was das Spiel auf den ersten Blick vielleicht spannender erscheinen lässt, auf längere Sicht als völlig chaotisch und langweilig. – Eine Erfahrung, die Sie mit einem Freund oder einer Freundin, der/die gerne Schach spielt, zum Spaß einmal ausprobieren sollten. Ein System in einem anderen System zu schaffen war also doch nicht das Wunderrezept, von dem sein Erfinder geglaubt hatte, es werde die Musik »für die nächsten 100 Jahre« regenerieren. Und so wurde Schönbergs Zwölftonprinzip allmählich zugunsten anderer Kompositionsmethoden aufgegeben. Trotzdem bleibt ihm, kraft des altbekannten Grundsatzes des stimulierenden Zwangs, das Verdienst, etliche Musiker inspiriert zu haben, die ihm – wie etwa Strawinsky – »einen Besuch abstatteten«, ohne freilich zu lange bei ihm zu verweilen. Über die Serialisten der ersten Stunde kann man sagen, dass sie sich mit ihrer Erfindung einer Art Versteckspiel hingaben, mit ihr flirteten, sich von ihr entfernten, um dann wieder zu ihr zurückzukehren – ausgenommen natürlich Anton Webern, der ein wahrhaft originelles Klanguniversum, von geradezu schwindelerregender künstlerischer Dichte zu schaffen vermochte, vermutlich weil er die weiter oben erwähnte Hürde der Monotonie meisterhaft zu nehmen verstand, indem er sich auf Werke von äußerster Kürze beschränkte, Stücke mit Längen von einigen Sekunden bis einigen Minuten. In der Folge lockerten die engagiertesten unter den Zwölftönern die Zügel, ohne jedoch auf eine der Haupterrungenschaften der Reihentechnik zu verzichten  : die identifizierbare Nicht-Wiederholung einer Note oder eines anderen musikalischen Objekts. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur ein Beispiel der späteren Kompositionen von Boulez oder Stockhausen zu betrachten. Hier ist das strenge Reihenprinzip nicht mehr vorherrschend, aber sein spezifisches Gepräge nach wie vor erkennbar. Hinzugekommen ist eine Geschmeidigkeit, die unerlässlich ist, damit das musikalische Material der Entwicklung seines Schöpfers folgen kann. Anders ausgedrückt, man beschränkte sich nicht mehr darauf, seine zwölf Noten fein säuberlich abzuzählen, so wie die Hausfrau, die genau aufpasst, dass sie 160


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nicht zu viele Pflaumen für ihre Konfitüre nimmt, sondern man achtete darauf, dass eine bereits gehörte Note erst dann wieder vorkommt, wenn man sie ein bisschen vergessen hat. Bei den »Gründervätern« des Serialismus galt diese Vorgehensweise als Stil. Aber auch heute noch wird sie fortgesetzt, sogar unter ganz jungen Komponisten, freilich nicht ohne die damit einhergehende Mimesis. Und es ist durchaus legitim, das Festhalten an dieser Methode ein klein wenig kurios zu finden. Mag doch die Anwendung eines Verfahrens, das nach einer »automatisch erzeugten Vielfalt« strebt, als List erscheinen, um einen Mangel an musikalischem Einfallsreichtum zu verbergen. Im Übrigen werden mich diese Ideologie, diese Quasi-Religion des NichtWiederholens, dieser Horror vor dem Déjà-entendu sowieso niemals von der angeblichen Originalität überzeugen können, die sich einer Methode verdankt, die drauf und dran ist, zu einer regelrechten Neurose zu werden. J. S. Bach zum Beispiel hätte das Thema seiner berühmten Fuge in d-Moll niemals schreiben können (Bsp. 10.1.)  :

in der die Note A in zwei Takten 16-mal vorkommt und das Melisma des tiefen Teils immer um dieselben Noten kreist. Und doch weisen allein diese beiden Takte mindestens ebenso viel Originalität auf wie so manch seriell komponiertes Werk, und können gleichwohl mehr Ruhm für sich in Anspruch nehmen. Analysiert man gewisse Bachsche Werke wie beispielsweise das Musikalische Opfer, welches Spiegelungen85 von einer bemerkenswerten Komplexität enthält, so öffnen sich Perspektiven, die auf eine ganz andere Art Schwindel erregen als etwa die Werke, die sich aus reinem Selbstzweck um eine größtmögliche Komplexität bemühen. Bei Bach – wie auch bei anderen – steht die Symbolik der Zahlen, welche die Macht über die musikalischen Elemente und Formen innehat, im Dienst von etwas Höherem, einem Jenseits, das man auch bei anderen großen Komponisten wiederfindet, die die Zahl gesucht haben – und das Numinose, wie Beethoven, wie Messiaen. Denn die Zahl ist keine Entschuldigung, kein Vorwand, kein Alibi. Sie ist ein Zweck, sie ist der Ursprung des göttlichen Prinzips. Wir haben es im Zusammenhang mit Pythagoras und der Stringtheorie gesehen  : Die Zahl bestimmt alles, sie ist im Zentrum von allem. Die Kabbala lehrt uns, dass die Zahl – für 161


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die, die an Gott glauben – die unmittelbarste und erkennbarste Offenbarung des göttlichen Prinzips darstellt. Sich nach »Dodekaphonisten«-manier damit zufriedenzugeben, bis zwölf zählen zu können, heißt, die Zahl nicht »für voll zu nehmen«. Die Zahl ist im Zentrum aller lebenden Materie, sie ist da, um zu beflügeln, und nicht, um Ketten anzulegen. Aus diesem Grund wird sich jedes um Wirkungskraft bemühte musikalische System auf die Logik der Zahlen stützen, ohne freilich im gegebenen Moment auf eine gewisse Souplesse verzichten zu können – so wie das tempérament, das bei den Frequenzen gewisser Intervalle »geschummelt« hat, um die Polyphonie hervorzubringen, die uns heute vertraut ist. Die Erweiterung des Reihenkonzepts Die Reihe, und zwar nicht im engeren Sinn der Zwölftontechnik, sondern die »verallgemeinerte« Reihe, kann also als Versuch angesehen werden, mithilfe eines Verteilungssystems – hervorgegangen aus einem nicht mathematischen, sondern nur arithmetischen Modell – die totale und intellektuell gesteuerte Kontrolle auszuüben über eine Materie – in unserem Fall die Musik –, deren effektive und affektive Modi nach wie vor im Dunkeln, ja im Mysteriösen liegen. Als Versuch, es dem Demiurgen gleich zu tun, der die Kräfte geltend macht und die Formen hervorruft. Aus diesem Blickwinkel gesehen, könnte man ein geniales Werk – zum Beispiel eine der letzten Symphonien Mozarts, in der jede einzelne Note unverzichtbar erscheint, in der die geringste Umstellung oder Hinzufügung das globale Gleichgewicht auf empfindliche und spürbare Art stören würde – als eine Super-Reihe, eine Meta-Reihe betrachten, als ein perfektes Verteilungssystem, in dem jedes Element den Platz findet, der ihm durch ein unwiderlegbares Gesetz zugewiesen wurde. Freilich ein Gesetz, welches nicht formuliert ist, weil es nicht formulierbar ist. Dieses Gesetz ist die Harmonie, innerhalb derer die verschiedenen Techniken – Harmonik, Kontrapunktik, Stilregeln – notwendige, aber ungenügende Bedingungen darstellen. Die Harmonie, die man auch als Wahrnehmung eines gewissen Gleichgewichts innerhalb einer gewissen Anhäufung von Attributen definieren könnte, ermöglicht es, kraft der Intuition sehr große akustische, visuelle, poetische Komplexe zu schaffen. Und diese intuitive Kraft zur Herstellung von Harmonie ist es, die man eines Tages mit dem Namen »Inspiration« bedacht hat. 162


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Einige romantische Geister sehen im Phänomen der Harmonie eine Funktion der Natur. Aber erst der Mensch begann, auch, indem er das Konzept der Harmonie erfand, die Kunst als solche zu ersinnen. Möglicherweise ist die Natur – ein Gedanke, den auch Einstein verfocht – eine unendliche mathematische Formel, innerhalb derer jedes Ding seinen Platz findet, selbst und vor allem das Chaos, das den größten Teil unseres Universums ausmacht. Die Harmonie hingegen ist ein rein vom Menschen ausgehender Versuch, die verschiedenen dem Chaos entstammenden Elemente in ein Gleichgewicht und ein »richtiges« Verhältnis zueinander zu bringen. Und aufgrund dieser Eigenschaft möchte man behaupten, die Harmonie sei nicht etwas Natürliches, sondern vielmehr etwas Übernatürliches. Denn sie ist einzig und allein das Konzept des »Übermenschen«, dem Lévi-Strauss das Recht zugesteht, diesen Namen zu tragen, nämlich des menschlichen Kollektivs. In diesem Sinne bestünde also ein Zusammenhang zwischen der Meta-Reihe, als die wir einige Meisterwerke der klassischen Musik annehmen wollen, und einer höchst komplexen mathematischen Verteilung, die es ermöglicht, zu diesem für jeden Menschen wahrnehmbaren Zustand der vollkommenen Verhältnismäßigkeit zu gelangen. Und dennoch ist das mathematische Modell, welches die Vorausplanung eines solchen Meisterwerks gestattete, nicht denkbar  ; die Analyse funktioniert erst im Nachhinein. Besser als Reihen  : die Lehre der Kabbala Gleichwohl haben wir die Möglichkeit, wenn wir uns die Schriften Umberto Ecos86noch einmal vornehmen, die verschiedenen, auf ihre Art eigenwilligen, aber alle gleichermaßen spannenden Versuche nachzuvollziehen, die nur dem einen Ziel dienten, nämlich die Formel, das Prinzip, die »Maschine« zu erfinden, die imstande wäre, ein Modell für die unendlich vielen »Namen« und ihre Kombinationen zu entwerfen  ; das göttliche Modell, das verlorengegangene Original wiederzufinden. Eine solche Erfindung war zum Beispiel die »logische Maschine« des Ramon Llull (um 1233 – 1315), bestehend aus beschrifteten, drehbaren Scheiben, mit denen auf mechanische Weise einfache Begriffe in Zusammenhänge gebracht werden konnten, aus denen Llull ungeahnte philosophische »Propositionen« ableitete – in unendlicher Zahl. Oder die Arbeiten von Pater Marin Mersenne (1588 – 1648), der zusammen mit René Descartes das Jesuitenkolleg von La Flèche besucht hatte und fast als 163


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eine Art Urahne des Serialismus angesehen werden kann, denn er entwickelte 1636 in seiner Harmonie universelle ein System zur Erzeugung von »drei Oktaven überspannenden Gesängen«, für die man »mehr Ries Papier brauchen würde als zur Füllung des Abstandes zwischen Erde und Himmel, auch wenn jeder Bogen 720 Gesänge von je 22 Tönen enthielte und jedes Ries so zusammengepresst würde, dass es weniger als ein Zoll dick wäre«.87 Aufgrund seiner Untersuchungen über den Zusammenhang von Frequenz und Tonhöhe, die in das Gesetz zur Bestimmung der absoluten Frequenz mündeten, gebührt diesem Mönch in der Geschichte der abendländischen Tonkunst ein besonders hoher Stellenwert. Giordano Bruno, Pico della Mirandola und viele andere Gelehrte – sie alle waren besessen von der Kunst der Kombinatorik, vereint in demselben Hunger nach Unendlichkeit, demselben Streben nach dem Ideal. Auffallend ist, dass das historische »Epizentrum« dieser Bemühungen das Jahr 1492 war, ein Jahr, das für die Geschichte der Menschheit und insbesondere des Abendlandes aus zweifachem Grund von größter Bedeutung war. Am frühen Morgen des 12. Oktober 1492 sichtet ein Matrose von Kolumbus’ Schiffsbesatzung das erste Stück Land der Neuen Welt. Und wenige Wochen zuvor, am Dienstag, 31. Juli 1492, verlassen 200 000 Menschen die iberische Halbinsel, weil Isabella die Katholische durch das Alhambra-Edikt die Vertreibung aller Juden aus ihrem Reich veranlasst hat. Während eine Minderheit in den Maghreb flieht, sucht der größte Teil von ihnen Zuflucht in Frankreich und Mitteleuropa, unter ihnen auch eine Handvoll Rabbiner, die bereits seit dem 12. Jahrhundert an der Entwicklung der kabbalistischen Lehre arbeiten. Diese wird allgemein als ein mystisch-linguistisches System dargestellt. In Anbetracht der elementaren Auslegung der talmudischen Schriften neige ich allerdings dazu, zu bezweifeln, dass die Begriffe »System«, »mystisch« und »linguistisch« in diesem Zusammenhang ihre richtige Anwendung gefunden haben. Die Kabbala lässt sich durch ihre drei verschiedenen Interpretationsarten der Torah88, aber vor allem aufgrund der Tatsache, dass sie den Wörtern wie den Ideen eine fortwährende Bedeutungsoffenheit auferlegt – und zwar sowohl hinsichtlich der Buchstaben als auch hinsichtlich des Klangs – weder in begrifflicher noch in lexikologischer Hinsicht leicht festmachen. Aufgrund etlicher Gemeinsamkeiten kann die kabbalistische Tradition, ob man sich ihr nun auf intellektuellem oder ekstatischem Weg annähert, mit der alchemistischen Wissenschaft in Zusammenhang gebracht werden  : Im gleichen Maß, wie die Vertreter der rein spekulativen Alchemie ihre Kunst als eine per164


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sönliche Durchführungstechnik betrachten und die Vertreter der operativen Herangehensweise in ihr eher einen Weg mystischer Vereinigung – über die Arbeit der Natur – mit dem göttlichen Prinzip sehen, so gibt es auch in der Kabbala verschiedene Methoden, um die Heilige Schrift zu deuten  : Während die einen die Buchstaben und Wörter »öffnen«, sind andere, darunter ein gewisser Rabbi Löw aus Prag, dem die Erschaffung des legendären Golem nachgesagt wird, eher auf der Suche nach ihren thaumaturgischen Kräften  ; wieder andere streben nach mystischer Ekstase durch unendliche Permutation der Buchstaben des göttlichen Namens und seiner Abwandlungen. Aber lesen wir zum Vergleich, wie Umberto Eco die Erreichung dieses Zustands beschreibt  : »Die Praxis der Lektüre durch Permutationen ruft ekstatische Wirkungen hervor […]. Nimmt man dann noch Atemtechniken hinzu, die das Buchstabieren der Namen begleiten sollen, so wird begreiflich, wie man vom Buchstabieren zur Ekstase gelangt und von dieser zum Erwerb magischer Kräfte […]«  !89 sowie François Florands bildreiche Veranschaulichung der kompositorischen Vorgehensweise J. S. Bachs  : »Beim Aufbau einer Entwicklung greift Bach zu einem von ihm bevorzugten Mittel  : […] eine Progression herbeiführt, die ganz aus dem melodischen Verlauf selbst kommt, beinahe wie ein Fluss, den man ohne äußerlich erkennbaren Grund anschwellen sieht  : keine Nebenflüsse, keine Schneeschmelze, kein Unwetter, sondern allein der Zuwachs durch geheimnisvolle unterirdische Quellen. […] Vielmehr ist es ein für Bach bezeichnender Vorgang, der durch einen inneren Anstau von Energie, von Bewegungskraft in Gang kommt und bis zu dem Punkt getrieben wird, wo Komponist und Hörer gesättigt und wie betäubt sind. […] Aber schließlich kommt es zu einem Augenblick, wo sich dem Komponisten vom Hin- und Herdrehen des Motivs der Kopf selbst zu drehen beginnt. Es schwindelt …«90. Diese beiden Textausschnitte erlauben uns, einige Parallelen festzustellen, die Kabbala und Musik verbinden  : Beiden Disziplinen liegt ein und dasselbe Permutationsspiel von Wörtern und Noten, von thematischen Elementen und Mikrostrukturen zugrunde, und erst ihre Aneinanderreihung, Wiederholung, Umstellung lässt die Energie entstehen, deren Akkumulation dann den eigentlichen kreativen Effekt haben wird sowohl auf denjenigen, der sie konzipiert, als auch auf denjenigen, der sie rezipiert  : die Kreation musikalischer Objekte beim Komponisten, die Herausbildung emotional starker Bilder beim Hörer. Denn das Prinzip der Kabbala ist ebenso wie das der Musik, auf den Dualismus Transmission/Rezeption gegründet. Wobei der Begriff »Rezeption« laut Marc-Alain Ouaknin in der kabbalistischen Tradition nicht im Sinne von »empfangen«, sondern von »konstruieren« zu verstehen ist, insofern nämlich der Leser 165


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dazu angehalten wird, das Wort selbst neu zu erschaffen. Der Leser, so Ouaknin, wird in diesem Stadium der Lektüre selbst zum Schöpfer  ; je tiefer er in die Schrift eintauche, umso mehr habe er die »Intuition« des Buches91. Aber wozu überhaupt die Kabbala in einem Buch, das sich mit der Frage nach der Musik von heute befasst  ? Nun, zunächst weil unter ihrem Einfluss – von 1492 an – eine Bewegung in Gang gesetzt wird, die bedeutende Forschungen sowohl auf sprachlicher als auch mystischer Ebene zur Folge hat. Die Verbreitung der kabbalistischen Lehre stürzt sämtliche Gebiete der Geisteswissenschaft in eine brennende Suche nach dem Sinn, [quête de sens], zu verstehen einerseits als Suche nach der Bedeutung und andererseits als Streben nach Sinneswahrnehmung. Die Suche nach der vollkommenen Sprache weitet sich aus auf die Musik, weil die Komponisten selbst mehr oder weniger bewusst vom Geist der Kabbala durchdrungen sind, sei es durch das direkte Studium derselben, sei es über die Dichtkunst oder die Lektüre von kabbalistisch geprägten Philosophen. Ich zögere also nicht mit der Behauptung, die Kabbala sei der Ursprung des Phänomens, das ich als den Beginn der eigentlichen »Moderne« in der Musik bezeichne. Ihrer Strahlkraft ist es zu verdanken, dass sich in der Tonkunst die bis zu diesem Zeitpunkt bestehende Monophonie allmählich in eine immer anspruchsvollere Polyphonie wandelte – die Notre-Dame-Schule im 12. und 13. Jahrhundert – und dass sich die schriftliche Notation mit festgelegten Notenwerten etablierte – die Ars Nova in der Abhandlung von Philippe de Vitry im 14. Jahrhundert. Ihrem – direkten oder indirekten –- Einfluss verdankt jene Spirale ihre Entstehung, die die Ereignisse in einer endlosen Bewegung aneinanderreiht, deren Expressivität sich mit jeder weiteren »Schleife« stärker ausprägt  : Am Anfang steht das Neue, ihm folgt eine Aktualisierung des Neuen, aus der schließlich die daraus resultierende Frucht erwächst  : die sogenannte »Modernität«. Es wird hier nicht behauptet, es habe vonseiten der Komponisten die Absicht bestanden, die Musik mithilfe des direkten Studiums der Kabbala einem kombinatorischen Wettkampf, einer Suche nach verborgenen Bedeutungen preiszugeben. Ich bin vielmehr der Ansicht, der kabbalistische Geist habe sich eher über die Dichtkunst, Literatur, Philosophie sowie die mystischen Erkenntnislehren ausgebreitet, waren diese Disziplinen doch unmittelbarer vom Studium der Buchstaben und Zahlen betroffen. Die bedeutendsten Anhänger der KabbalaLehren waren, neben vielen anderen, Ramon Llull, Giordano Bruno, Pico della Mirandola und Dante. Sie alle haben durch die Weitergabe der Leidenschaft für das Spiel mit Wörtern, das Umstellen von Buchstaben, das Verlangen, eine Vo166


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kabel zu »öffnen«, so wie man eine Frucht aufbricht, um ihr Fruchtfleisch und ihren Saft zu gewinnen, einen starken Einfluss ausgeübt auf die Komponisten ihrer Zeit, die im Begriff waren, die erweiterten Möglichkeiten ihres musikalischen Materials zu erforschen. Ganz offensichtliche Spuren kabbalistischer Vorgehensweisen lassen sich beispielsweise in der Poetik Stéphane Mallarmés oder James Joyces wiederfinden – Ouaknin nennt es »courir dans les mots« oder »lire aux éclats«.92 Über die Kabbala öffnen sich dem Komponisten – heute wie gestern – völlig neue Denk- und Ansatzmodelle – bezogen sowohl auf strukturelle und formale Kriterien als auch auf den Klang–, die nicht nur vom mathematischen Standpunkt aus gesehen spannend sind, sondern die zudem einem Modell entstammen, dem unendlich mehr Lebendigkeit, Spontanität und Kreativität innewohnt als dem Modell der Zwölftontechnik. Befasst man sich eingehender mit der kabbalistischen Lehre und ihrer Methodik zur Untersuchung der Welt, deren Einfluss auf die damalige Dichtkunst, Literatur und Musik – namentlich auf Carlo Gesualdo – schier nicht abschätzbar war, so kann man nicht anders, als die Reihentechnik im Vergleich dazu als ästhetisches Korsett zu empfinden. Und man fragt sich, wie es möglich war, dass sich ein Schönberg, bei dem dank seines talmudisch geprägten Geists fruchtbarer Zweifel einherging mit kreativem Elan, mit einem derartig einengenden System zufriedengeben konnte. Die Anwendung des Reihenprinzips auf das musikalische Material erinnert mich an die chinesische Tradition der Lotusfüße, die darin bestand, die Füße junger Mädchen so fest einzubandagieren, dass sie so klein wie möglich blieben, um letztlich sogar zu verkrüppeln. Im Fall Schönbergs sowie seiner Wiener Kollegen, Berg und Webern, besteht kein Zweifel daran, dass das Gesetz der Reihe für sie eine erlösende Befreiung darstellte von der entfesselten Tonsprache der Spätromantik, die im deutschen Kulturraum – nach Wagner, der den Virus tief in die Adern der Musik injiziert hatte – eine weitaus größere Auswirkung hatte als in den übrigen Ländern der Welt. Übrigens war es der kulturellen Distanz gegenüber dem wirkungsmächtigen Komponistenkollegen zu verdanken, die er trotz gegenseitiger Wertschätzung stets einzuhalten wusste, dass Debussy, und nicht nur er, seinen eigenen Weg zu finden vermochte, ohne auf irgendein System, außer der reinen Ästhetik, zurückzugreifen. Und in diesem Sinne mutet seine Einschätzung der Symptome des »großen Kranken«93 originell und prägnant an  : »Die Anwendung der symphonischen Form auf eine dramatische Handlung könnte sehr wohl dazu führen, die drama167


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tische Musik zu töten, anstatt ihr zu dienen, wie man es triumphal an dem Tag ankündigte, als Wagner zum entschiedenen Herrscher über das lyrische Drama wurde.«94 Rollen wir den Gedankengang von der anderen Seite her auf  : Debussy geht also zu Werke, indem er die Musik entdramatisiert  ; er überlässt es allein der Dichtkunst, welche konsubstantiell mit der Tonkunst verknüpft ist, die musikalischen Objekte und Formen zu »diktieren«, ohne dass irgendein von außen auferlegtes System die Möglichkeit hätte, sich ihrer zu bemächtigen. Nein, für Debussy ebenso wie für viele andere sollte die Dodekaphonie keine »historische Notwendigkeit« werden.

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11. Kleine Geschichte der Moderne à la française Mit seiner Feststellung, die Musik warte immer noch auf ihren Lavoisier, stellte Stendhal nicht nur seine Unwissenheit unter Beweis, sondern er sprach geradezu eine Ungeheuerlichkeit aus, betrieb Gotteslästerung. Es war so, als wenn Berlioz an seinem Lebensabend gesagt hätte  : »Die Literatur wartet nach wie vor auf ihren Darwin«95, damit meinend, dass die Einführung eines Klassifizierungssystems im literarischen Dschungel vonnöten gewesen wäre, jedoch nicht wissend, dass ein solches im Entstehen begriffen war, nämlich in Form der vergleichenden Sprachwissenschaft. Tatsächlich stellte Stendhal mit dieser Äußerung seine totale Unwissenheit unter Beweis, hatte doch ein gewisser Rameau eben genau diesen Übergang, der von einem stark mystisch geprägten Musikverständnis hin zu einem eher wissenschaftlichen Ansatz führen sollte, bereits ein Jahrhundert zuvor vollzogen – so wie Lavoisier den Übergang von der alchemistischen Tradition zur modernen Chemie begründet hatte. Und gotteslästerlich war seine Bemerkung allemal, wenn man bedenkt, dass es in einem Land, in dem der Literat König ist, jemanden geben sollte, der nicht weiß – oder vorgibt, nicht zu wissen, dass zum Beispiel ein Pico della Mirandola mit seiner Rede über die Würde des Menschen die Verkörperung humanistischer Renaissance-Literatur schlechthin war96. In Frankreich eine Gegebenheit dieses Ranges einfach auszublenden käme dem Ausschluss aus der literarischen Gemeinschaft gleich. Aber Stendhal ist entschuldbar. Denn die Franzosen, denen Voltaire näher stand als Rousseau, die eher auf den Rationalisten setzten als auf den Künstler, haben beschlossen, Rameau zu ignorieren. Mit einer Dünkelhaftigkeit und Schamlosigkeit, die einem Deutschen etwa, dem es niemals in den Sinn käme, Bach zu ignorieren, äußerst befremdlich vorkommen muss. Versuchen wir also, mehr über diesen Komponisten in Erfahrung zu bringen, dessen Schaffen sich trefflich in die Thematik dieses Buches einfügt. Und schon bald stellen wir fest, dass Rameau die Musik als Gefühlskatalysator begreift, als etwas, das die Seele emporhebt, als eine »Wissenschaft der Natur«. Rameau war ein gelehrter und feingeistiger Mensch, bescheiden und rechtschaffen, ein Musiker von außergewöhnlicher Schaffenskraft. Allein 32 Bühnenwerke ließen ihn zu einem der produktivsten Opernkomponisten werden, nach 169


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Donizetti, der mehr als 70, und Scarlatti, der sogar mehr als 110 Bühnenwerke komponierte. Darüber hinaus schuf er eine bedeutende Sammlung von Cembalo-Werken sowie, und vor allem – eine Schande, dass unsere Musikschulen und Konservatorien es nicht als einen Grundpfeiler97 ihrer musiktheoretischen Ausbildung aufstellen – sein elementares theoretisches Werk Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturels. Der Titel allein besagt schon alles. Der französische Musiker sieht sich gern als Pädagoge und Reformator  : als Pädagoge durch die Weitergabe seines Werks und die Anzahl seiner Schüler, als Reformator aus Tradition, im Sinne eines bleibenden Vermächtnisses der Aufklärung. Rameau ist der Inbegriff jenes »honnête homme« [ehrbaren Bürgers] der Aufklärung, Freund Voltaires, der vier Opernlibretti für ihn schrieb, Vertrauter der Encyclopédistes. Vertrauter, aber kein direkter Beiträger, denn der Franzose jener Epoche misstraut dem Musiker noch mehr, als er es heute tut. Tritt man heutzutage an einen Boulez heran, mit der Aufforderung, er möge die Referenzartikel unserer Lexika verfassen, so wurde der Kommentar eines Rameau, der sich die zuweilen grotesken Fehler, die er in einem Artikel der neuen »Bibel« entdeckte, zu kritisieren oder zu verspotten erdreistete, mitnichten geduldet. Rameau wurde gleichsam verbannt, und zwar so gründlich, dass seine Opern nach seinem Tod aus dem Repertoire verschwanden – als Dank sozusagen für seine »aufgeklärte« Kritik. Nicht zuletzt vonseiten der »Lumières«98, die sich in diesem Fall doch eher als fahle Öllämpchen erwiesen.99 Freilich beabsichtige ich, mehr zu bewirken als die Rehabilitierung des Rameauschen Oeuvre. Im Folgenden möchte ich demonstrieren, indem ich ihre Schriften miteinander vergleiche, wie viel Berlioz, Debussy, Messiaen und Boulez dazu beigetragen haben – jeder zu seiner Zeit und mit seinen mitunter stark kontrastierenden Positionen –, dass die französische Musik stets im Zentrum der Modernität stand, und darüber hinaus  : im Zentrum der künstlerischen Bewegung, des kreativen Flusses. Haben diese Komponisten doch gegen eine Trägheit angekämpft, die es allein darauf abgesehen hat, einen Moment des kulturellen Geschehens in einer glückseligen Sicherheit erstarren zu lassen, einer Sicherheit, die steril und immobil ist. Die gemeinsame Matrix ihrer Modernität ist zweifelsohne ein tief empfundener Sinn für die Dichtersprache, jene besondere Teildisziplin der Linguistik, die Roman Jakobson in den Status der Sprache schlechthin erhoben hat, um ein Verzeichnis aller Aussagen aufzustellen, bei denen es auf die Form der Botschaft ankommt. Die Untersuchung der geometrischen Proportionen in den Klangkörpern, die zu Rameaus Harmonielehre nach natürlichen Prinzipien geführt 170


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Kleine Geschichte der Moderne à la française

haben, die unerhörten und immer wieder unvorhersehbaren harmonischen Entwicklungen bei Berlioz, der Symbolismus und die neuen musikalischen Formen bei Debussy, Boulez’ aus individuellen Strukturen abgeleitete globale Strukturen, Messiaens Erfindung »nicht umkehrbarer Rhythmen« – all dies steht in engem Zusammenhang mit der Poetik. Sowie eine gewisse Vorstellung über die französische Tradition, die »sofern es überhaupt eine gibt, so Messiaen, harmonische Lesbarkeit und formale Zerteilung [ist] »100, was Boulez in ganz ähnlichen Worten ausgedrückt hat. Und Debussy, freilich in einer lyrischen und ansprechender klingenden Formulierung  : »Eine rein französische Tradition […] geformt aus Empfindung und liebenswürdiger Zartheit, richtigen Akzenten […] diese Klarheit im Ausdruck, mit jener Genauigkeit und Gedrängtheit in der Form«.101 Trotz seiner Rolle als Verfasser eines Traité de musique théorique et pratique sollte Rameau lediglich daran erinnern, dass sich »der französische Geschmack doch in erster Linie auf den Gesang bezieht«. Was für ihn freilich eine bedauerliche Tatsache darstellte, war er doch überzeugt davon, dass diese Vorliebe zu Lasten der Harmonie gehe, welche für ihn die wahre Ausdruckskraft der Musik ausmacht. Die Kunst der Harmonik wurde vor allem von den deutschen Komponisten entwickelt und in Frankreich erst durch das Wirken Christoph Willibald Glucks, den Berlioz als wahren Meister anerkennen und dessen Stil Debussy als zu »deutsch« und schädlich für die Identität der französischen Musik beurteilen sollte, als vorherrschendes gestalterisches Element etabliert. Manch einer wird sich vielleicht darüber wundern, dass Henri Dutilleux an dieser Stelle keine Erwähnung findet, aber das Prinzip des Kapitels besteht in erster Linie darin, die Künstler selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre kreative Herangehensweise anhand ihrer schriftlichen Hinterlassenschaften zu beleuchten. Dutilleux jedoch hat praktisch keine eigenen Schriften verfasst und sich hauptsächlich im Rahmen von Interviews und Künstlergesprächen zu seiner kompositorischen Arbeit geäußert. So würdigen wir hier knapp, aber nicht minder leidenschaftlich denjenigen unter den Franzosen – und Zeitgenossen des Autors –, der am besten von allen das Kunststück fertiggebracht hat, gespielt und geliebt zu werden, und zwar von Musikern und Publikum gleichermaßen sowie definitiven Eingang ins Repertoire zu finden und dennoch niemals auf dem Programm zu erscheinen. Dies aus dem einfachen und armseligen Grund, dass es nach wie vor der Opportunismus oder auch eine gewisse Orthodoxie, das Diktat einer angeblichen »Salon-Moderne« sind, die dem heutigen Konzertgeschehen den Stempel aufdrücken. 171


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Rameau Ohne Zweifel ist Rameau derjenige, der dank einer bedeutenden musikphänomenologischen »Abkürzung« die Gesamtheit des Weges vorgezeichnet hat, auf dem nach ihm zahlreiche Musiker, die einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung der musikalischen Sprache geleistet haben, fortschreiten sollten.102 Ausgehend von der Beschreibung eines Urzustands (»Musik ist natürlich, wir verdanken einzig dem Instinkt das angenehme Gefühl, welches sie uns empfinden lässt«), definiert er sein Ziel und legt seine Mittel dar  : »Die Musik ist eine Wissenschaft, die gewisser Regeln bedarf  ; diese Regeln müssen sich auf bestimmte Grundwahrheiten gründen, die wiederum nie anders als mithilfe der Mathematik erkannt werden können.« War die Tatsache, dass Rameau nach seinem Tod ins künstlerische Abseits geriet, einer Kabale seiner Philosophenfreunde zu verdanken, so ist sein Naturbegriff, der dem kulturellen Milieu bis in die 1960er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein so abgrundtief fremd war und von Rameau systematisch als »Leitmotiv« beansprucht wurde, nicht ganz unschuldig an der Fortdauer dieses Zustands. So gesehen mutet es gar nicht so verwunderlich an, dass in einer Zeit, in der sich eine Wiederversöhnung des Individuums mit seinem Ursprungsmilieu abzuzeichnen scheint, Rameau, und mit ihm die gesamte Strömung des Barock, derzeit eine Renaissance erlebt. Doch zunächst sollte die Frage beantwortet werden, was genau Rameau unter dem Begriff »natürlich« versteht. Fast möchte man Boulez’ »endgültiges« Urteil gegen seinen künstlerischen Vorfahren auf eine zu hastige Lektüre der theoretischen Ausführungen Rameaus schließen (siehe hierzu den ihm gewidmeten Abschnitt dieses Kapitels). Während Boulez’ geistige Väter, zu denen er sich regelmäßig bekennt – Debussy und Messiaen – auf die »naturierende Natur« als eine ihrer Hauptinspirationsquellen103verweisen, ist »la Nature« für Rameau ein Zentralbegriff von überragender Bedeutung, der sich auf die Ordnung der Dinge bezieht  : natura rerum, im Wesentlichen beherrscht durch die Zahlen und die Mathematik – also eigentlich dem Boulezschen Weltbild gar nicht so unähnlich. Diesem entspricht auch sein Vorbehalt gegenüber eher unpräzisen Konzepten, wie etwa dem der Inspiration, das auf 660 Seiten der verschiedensten musiktheoretischen Abhandlungen nur ganze zwei Mal erwähnt wird. Oder dem Begriff der Fantasie, von dem kaum 18-mal die Rede ist, und selbst dann nur im Sinne von »nach Belieben«  : »… der Fantasie des Autors überlassen«. Das, was mit Anbruch der romantischen Epoche die Geister schockieren und die »Amateure« abstoßen mochte, war genau dieses unbedingte Streben nach 172


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Ordnung, einer pythagoreischen Ordnung, in der jedem Ding kraft der ihm von der Natur zugewiesenen Eigenschaften sein Platz in der Welt gebührt. Eine Natur, die in den Augen des Meisters von Samos wie in denen des Meisters von Dijon vor allem durch die Zahlen ausgedrückt wird sowie durch die Gesetze, die sich zwingend, natürlich,104 aus diesen ergeben. Und so ist es auch nur allzu natürlich, dass Rameau auf der Suche nach der »harmonischen Proportion« das tempérament – sprich  : die temperierte Tonleiter – gegen die Tonleiter seines Vorgängers Zarlino verteidigt, ja mitunter sogar gegen Pythagoras selbst, d. h., gegen die Anwendung der – unveränderten – Pythagoreischen Tonleiter und ihrer 25 Abstufungen innerhalb der Oktave. Glaubt Rameau an das musikalische tempérament, so deswegen, weil er überzeugt davon ist, dass es in der Natur eine ursprüngliche und unabänderliche Ordnung gibt, auf der alles aufgebaut werden muss  ; und dass diese Ordnung ihre optimale Ausdruckskraft allein im tempérament findet, dem einzigen System, welches durch den »wider-natürlichen Kompromiss«, den es aufstellt, eine Polyphonie und ein harmonisches System zu entwickeln vermag  : »Die Notwendigkeit dieses »Temperaments« beweise ich zunächst anhand einer unendlichen Zahl eindeutiger Erfahrungen, welche ich anschließend auf »Progressionen« gründe, die dieses Prinzip mir geliefert hat. Ich beweise, dass daraus, weil diese »Progressionen« nicht in einer harmonischen Proportion sein können, die Geometrie folgen muss, die sich in dieser Progression verbirgt, und schließlich treibe ich die Sache soweit vorwärts, bis die Méthode in ihrer vollen Ausdruckskraft dabei herauskommt.« Es versteht sich von selbst, dass Rameau sich häufig auf die Nature als Figur seines musikalischen Dramas bezieht. Wer erinnert sich nicht daran, auf welch raffinierte Weise er die Elemente in Les Indes Galantes heraufbeschwört  ? »Man muss lange die Natur studiert haben«, so Rameau in einem Brief an seine Schülerin Marie-Louise Mangeot, »um sie so wahr als möglich zu malen«. Eine Ansicht, die Debussy zu der Frage veranlassen sollte, warum denn Rameaus ausgezeichneter Rat, die Natur zuerst zu beobachten und dann erst zu versuchen, sie zu beschreiben, nicht befolgt worden sei.105 Aber noch einmal, wir sprechen hier von der Natur als einer représentation oder anders ausgedrückt  : als einem Zweck, dessen Mittel Rameau in seinen zahllosen theoretischen Abhandlungen offenlegt. Tatsächlich könnte man, ob es Stendhal nun gefällt oder nicht, von einem Großteil dieser Traktate glauben, es handle sich um reine Studien der Geometrie, der Physik oder der Klangkörperakustik, in denen aber zwischendurch einige glänzende Reflexionen über Sensibilität und Imagination aufblitzen, wie 173


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Dritter Satz: Musik und Moderne

transzendiert durch die Darlegung dessen, was man wohl als Prä-Strukturalismus bezeichnen muss – anderthalb Jahrhunderte vor Lévi-Strauss.106 Und was wäre besser dazu geeignet, dies zu veranschaulichen als jene Behauptung, die genauso gut von Barthes oder Foucault stammen könnte, vorausgesetzt man ersetzt »Musik« durch »Literatur« und »Klang« durch »Schrift«  : »Die Musik ist die Wissenschaft der Klänge  ; folglich ist der Klang der Hauptgegenstand der Musik.« Gleichwohl findet Rameaus Darlegung der strengen Grundprinzipien immer wieder ein Gegengewicht in der Formulierung des Zwecks, der von der Kunst wie von der Natur die Eleganz, die Geschmeidigkeit, die Schönheit besitzen soll. Nachdem Rameau die Geometrie zu einem wesentlichen Faktor seiner musiktheoretischen Untersuchungen erhoben und seine Arbeiten auf die beiden »Entdeckungen«, nämlich das Vorhandensein der geometrischen Proportion, die er aus der Klangerscheinung des Klangkörpers ableitet sowie das Entstehen der Dissonanz in der »4. Proportionale« gegründet hatte, hielt er es dennoch für unerlässlich, seine Vorgehensweise wie folgt zu präzisieren  : »Dergestalt ist die Musik des Geometers, der sich nur an Berechnungen orientiert, weshalb ihm der Musiker niemals hat Gehör schenken wollen.« Dieser Satz allein scheint weit in die Zukunft zu weisen und den Gegenschlag der strengen Geometer von heute zu rechtfertigen. Dennoch ist Rameau im Grunde genommen ein Zahlenmensch. Ein ungehorsamer Sohn Pythagoras’, der uns zuweilen an metaphysischen Wortgefechten teilhaben lässt zum Beispiel über die durch den Griechen etablierte Vorherrschaft der Drei  : »Alles im Buch Denarius weist daraufhin, dass Pythagoras und seine Epigonen [sectateurs] sein System als Darstellung der universellen Musik betrachteten  ; sonst hätten der Philosoph, die Arithmetiker und die Musiker die Zahl Sieben niemals als von Natur aus perfekt erklärt«  ; seine Anhänger, so Rameau, wären Pythagoras und seinen Zahlentheorien nicht gefolgt, wenn die Potenz der Zahl Drei sich nicht nur auf die Musik sondern auch auf die gesamte Geometrie anwenden ließe. All das mag heute denen, die nur wenig über die Symbolkraft der Zahlen wissen, äußerst obskur erscheinen. Doch die wesentlichen Fragen, die Rameau in der Folge aufwirft, und die unbeantwortet bleiben, sind die folgenden  : »Hat die Zahl irgendeine Macht über das Ohr  ? Ist sie verantwortlich dafür, dass in uns das Konsonanzempfinden entsteht sowie für das Gefühl, dass zwischen den Intervallen mehr oder weniger Vollkommenheit besteht  ? Welche Tugend kann die Zahl haben, bevor man das Verhältnis einer Konsonanz gefunden hat  ? Werden die Stäbe des Zirkels durch die Zahl oder das Ohr geleitet, bis sie zu den Fixpunkten 174


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gelangen, die dafür sorgen, dass wir den Intervall als konsonant wahrnehmen, in seiner Vollkommenheit, die nur das Gehör beurteilen kann  ? Demnach ist es die Konsonanz, die, indem sie das Maß festlegt, die Zahlen bestimmt, die sie angeben soll.« Bemerkenswert ist, dass die perfekte Ordnung durch die Zahl auf zwei verschiedenen Wegen gleichermaßen bewirkt wird  : zum einen durch die Unterteilung der Saite107, zum anderen durch die menschliche Wahrnehmung – beide Wege gehorchen demselben Naturgesetz. Rameaus gesamtes theoretisches Werk – es bleibt dem Leser überlassen, dieses in Ruhe selber zu ergründen – ist nichts anderes als eine stetige Weiterwicklung dieser Fragen in Bezug auf die Zahl. Was den Gefühlsmenschen Rameau betrifft, so bringt er seine Gedanken in Briefen oder in Zeitungsartikeln zum Ausdruck. Doch lesen wir selbst, angefangen bei einer Behauptung, mit der sich der Autor selbst eine lange Nase zu zeigen scheint  : »Man kann Musik auch ohne theoretische Kenntnisse sehr wohl ausgezeichnet praktizieren. Doch ohne eine gewisse Empfindsamkeit […] ist man niemals ein perfekter Musiker«, was er später noch genauer darlegt  : »Es gibt gewisse Vollkommenheiten, bei denen es auf Genie und Geschmack ankommt und bei deren Erlangung die Erfahrung von noch größerem Vorteil ist als die Wissenschaft selbst.« Wie ein Augenzwinkern in Richtung Damasios und der neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Emotionen mutet da Rameaus Devise an, das Ziel der Musik sei es, zu gefallen und Leidenschaften zu erregen. »Die Musik ist die Sprache des Herzens.« Eine Devise, die Debussy fast 200 Jahre später mit seinem berühmten Satz bestätigen sollte  : »Die Musik soll demütig danach streben, Vergnügen zu bereiten«108 – was ihm zahlreiche Moderne, anscheinend weniger geübt in bescheidener Demut, während langer Zeit zum Vorwurf machen sollten. Rameau ahnt die Semiotik der Emotionen voraus, die wir weiter oben angesprochen haben und die der Musik kraft der »natürlichen« Intervall- und Akkordverhältnisse innewohnt  : »Welcher Mensch wird nicht anerkennen, dass er der Natur, seinem reinen Instinkt, jenes angenehme Gefühl zu verdanken hat, das er beim Hören bestimmter Tonverhältnisse empfindet…«. Denn wenn es um die Aufnahme von Musik geht, so ist es in erster Linie der Instinkt, den dieser wissenschaftlich geprägte Geist, dieser Mensch der Prinzipien und der Systeme, heranzieht, um den Vorgang des Hörens zu lenken. »Um die Wirkung der Musik voll und ganz zu genießen, muss man in einer reinen Hingabe seiner selbst sein […] die Natur hat uns ein Geschenk gemacht, welches man Instinkt nennen kann.«109 175


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Diese doppelte Haltung, geprägt durch Strenge und Hingabe, ist mehr als modern. Sie erscheint uns heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im eigentlichen Sinne avantgardistisch. Veranschaulicht sie doch auf vollkommenste Weise die vor einigen Jahren in Mode gekommene Theorie der »zwei Gehirne«…. Nehmen wir uns Rameaus Schriften wieder vor, und hören wir vor allem seine Musik. Nichts Neues ist seitdem über die Tonkunst geschrieben worden – und behauptet jemand das Gegenteil, so hat er nur die Überschriften gelesen –, das nicht Nachahmung, Anpassung oder Übertragung der natürlichen, dem Vater aller Modernen so teuren Grundprinzipien wäre. Berlioz An keinem anderen Komponisten der Romantik mögen sich die musikalischen Geister der Epoche mehr geschieden haben als an Hector Berlioz. Sei es das Publikum, seien es die Musiktheoretiker oder die Interpreten selbst – die einen waren von seinem Genie überzeugt, während die anderen ihm sogar die elementarste Beherrschung des musikalischen Handwerks aberkannten. Doch anstatt uns hier auf ein langatmiges musikästhetisches Plädoyer zugunsten eines genialen Erneuerers einzulassen, sagen wir doch einfach, dass es eine Sache des persönlichen Geschmacks ist. Aber auch, dass es, um Berlioz’ Musik zu lieben, genügt, diesem Freigeist und musikalischen Außenseiter mit Aufgeschlossenheit zu begegnen  ; sich für sein Temperament zu interessieren, das aus jeder Faser seines Klanggewebes hervorbricht, mag es das Timbre betreffen, die Harmonien, deren überraschende Wendungen so manchen Hörer in Verwirrung stürzen, oder den Rhythmus. Dann klärt sich auf einmal alles auf. Wer jedoch mit dieser Freiheit des Geistes nichts anzufangen weiß, den mag Berlioz’ Musik an jene Artikel des Père Duchêne110erinnern, von denen Roland Barthes erzählt, dass Hébert seine Texte niemals begann, »ohne ein paar »foutre« und ein paar »bougre« einfließen zu lassen111. Berlioz’ Musik scheint also nichts für empfindsame Ohren zu sein. Freilich liegt die Essenz von Berlioz’ Modernität nicht in dieser Autonomie begründet, gemessen am geltenden Kanon des kompositorischen Handwerks. Andere, wie etwa Palestrina oder Gesualdo, haben lange vor ihm dieselbe künstlerische Unabhängigkeit unter Beweis gestellt. Nein, die eigentliche Pioniertat des Komponisten aus der Dauphiné lässt sich im ersten Satz seines berühmten Traité d’instrumentation et d’orchestration zusammenfassen  : »Jeder klangerzeugende Körper, den der Komponist in An176


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wendung bringt, ist ein Musikinstrument.«112 Dieser kleine unscheinbare Satz, mit einer Art souveräner Distanz, wie beiläufig hervorgebracht, wiegt schwer im Hinblick auf die Konsequenzen und trägt alle kommenden Abenteuer der Musikgeschichte in sich. War es doch bis zu diesem Zeitpunkt üblich, Musik mit wohl determinierten Noten und Instrumenten zu machen, einem festen Kanon entnommen, der nur ganz allmählich, mit äußerster Vorsicht und vor allem nicht ohne das Einverständnis des jeweiligen Dienstherrn erweitert wurde. Berlioz – wie seine Nachfolger – erzeugte Musik mit Klängen, gleich welcher Art, mit welchen Mitteln auch immer. Was dann zum Beispiel heißen sollte, dass die Violinen im Unisono spielen, um den Geist der verlorenen Geliebten heraufzubeschwören – (Au cimetière, fünftes Lied der Nuits d’été), dass Glocken läuten – (Symphonie fantastique) oder traditionelle Instrumente verwendet werden, aber dafür in extremen Lagen. Wagner war der erste, dem diese in den damals herrschenden Formalismus geschlagene Bresche gelegen kam. Wusste er doch, auch wenn er dem traditionellen Instrumentarium grundsätzlich die Treue halten sollte – abgesehen von den Ambossen in Rheingold und den Glocken in Parsifal, die er dem Orchesterarsenal hinzufügte, das kaum umfangreicher war als die gewaltigen »Maschinen« eines Meyerbeer– alle nur erdenklichen Effekte klassischer Instrumente auszunützen  : die Tuba für den Drachen Fafner – ein unverkennbares Echo aus Berlioz’ Requiem, die rhythmischen, das Pferdegalopp evozierenden Ostinati der Walküre, ein direkter Anklang an Fausts Höllenritt aus La Damnation de Faust … Aber Berlioz war nicht der Mensch, der sich selbst als historischen Meilenstein sah und pflegte wie kein zweiter die hohe Kunst der Selbstironie. So ist uns jene liebenswerte, von ihm selbst erzählte Anekdote überliefert, die seinen Ruf als Klangerfinder aufs Trefflichste veranschaulicht  : »Ein Musiker, den vor fünfzehn oder zwanzig Jahren ganz Paris kannte, besucht mich eines Morgens, unter dem Arm einen sorgfältig in Papier gehüllten Gegenstand tragend. Mit den Worten des Archimedes  : »Ich hab es gefunden  ! Ich hab es gefunden  !«, tritt er bei mir ein. […] »Betrachte dir dies Instrument, eine einfache Blechdose, mit Löchern versehen und am Ende eines Seils festgebunden. Ich will sie wie eine Schleuder in rasche Schwingungen versetzen, und du wirst etwas Wunderbares hören. Da, horch  : Hu, hu, hu  ! Durch diese Nachahmung des Windes werden die berühmten chromatischen Läufe in Beethovens Pastorale grausam in den Schatten gestellt. […] Ha  ! Mein Lieber, welch eine Entdeckung  ! Und welch einen Artikel wirst du mir darüber für das Journal des Débats schreiben  ! […] Nachher steht es dir frei, von meiner Entdeckung für deine Symphonien Gebrauch zu machen.«113 177


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Die Engländer, das weiß jeder, sind die größten Berlioz-Verehrer114, während man den Komponisten in Frankreich seit jeher, wenn auch nicht vollends verschmäht, so doch zumindest nie so richtig ernst genommen hat. Möglicherweise, weil seine überaus große literarische Hinterlassenschaft, die noch umfangreicher ist als seine musikalische, zu viele Briefe, intime Bekenntnisse, satirische und humoristische Artikel enthält und nicht genug Traktate, Essais, hochgelehrte und komplexe Betrachtungen über seine Kunst. Mit seinem aufbrausenden, romantischen Temperament hatte es der revolutionäre Komponist sicher versäumt, sich jene Reflexion Napoleons zu Herzen zu nehmen, gemäß derer er die Franzosen durch Ernsthaftigkeit erobert habe. Und da die Menschen, so Napoleon, immer den Eigenschaften am meisten Respekt zollen, die sie selbst nicht besitzen, fehle es den Franzosen eindeutig an Ernsthaftigkeit. Später dann waren es andere Erneuerer, die – ganz im Stil des Ersten Konsuls, zumindest was ihre Vorliebe für Machteroberung sowie ihren Hang zur Unterdrückung jeglicher Form von Opposition betraf – keine Gelegenheit versäumen sollten, um aus dieser Schwäche Nutzen zu ziehen. Debussy Debussy, ein Moderner  ? Für viele sicher eine Frage, die sich gar nicht erst stellt. Gleichwohl lassen sich gewisse Koryphäen immer wieder gerne darüber aus, welchem seiner Werke, ob Jeux oder Pelléas, als erstes das Siegel Debussyscher Modernität gebührt, während die meisten, gewiss musikwissenschaftlich weniger bewandert, seine Musik ganz einfach zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zählen, wenn nicht gar zu den Klassikern überhaupt. Doch wie stand der Betroffene selbst dazu  ? Sah er sich als einen Klassiker oder als einen Modernen  ? Obwohl er stets eine schamhafte Zurückhaltung bewahrte, wenn es um die Offenbarung seines persönlichen Universums ging115, hinterließ Debussy der Nachwelt einige Reflexionen, die uns nicht nur Aufschluss geben über seine Vision der Musik im Allgemeinen, sondern auch über seine persönlichen musikästhetischen Vorstellungen. So begreift sich Debussy in Bezug auf die Moderne als ein Mensch der Kontinuität in der Neuerung, und nicht als ein Künstler, der den Bruch herbeiführt  : »Ich revolutioniere nichts  ; ich demoliere nichts. Ich gehe ruhig meinen Weg und mache, anders als die Revolutionäre, keinerlei Propaganda für meine Ideen.« »Man qualifiziert mich als Revolutionär, aber ich habe nichts erfunden. Ich habe höchstens alte Dinge auf eine neue Art präsentiert. Es 178


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gibt nichts Neues in der Kunst. Meine Melodien […] sind keine Erfindungen […] ich habe sie alle schon einmal gehört. Nicht in den Kirchen, sondern in mir selbst.« Debussy ist nicht prinzipiell gegen das Neue, er verfeinert lediglich die Definition des Begriffs, indem er »neu« im Grunde eher mit »modern« vergleicht. Er verachtet das Neue, das nur oberflächlich ist, das nicht notwendig ist, um das Aktuelle herzustellen. »Ich kann die Doktrinäre und ihre Impertinenzen auf den Tod nicht leiden«, um zu präzisieren  : »Ich glaube, der grundsätzliche Fehler der meisten Literaten und Künstler ist der, dass sie nicht genug Mut und Willenskraft aufbringen, um mit ihrem Erfolg zu brechen, keine neuen Wege und Ideen zu suchen […]. Welche Freude, in sich etwas Neues zu finden, das einen selbst überrascht und mit Süße erfüllt  !« Und diejenigen, die in ihm eher den Klassiker sehen, warnt er  : »Was nennen Sie eigentlich klassisch  ? Glauben Sie mir, man nennt viele Leute klassisch, die nicht damit einverstanden wären und die sich nicht vorstellen können, dass sie für solche gehalten werden.« Um diese Feststellung an anderer Stelle zu vertiefen  : »Im positiven Sinne kann man sagen, dass alles, was schön ist, mit der Zeit klassisch wird. Im negativen Sinne, wenn sich klassischer und akademischer Geist miteinander vermischen. Nun gut  ! Dann bin ich eben der Ansicht, dass wir auch akademische Werke brauchen, um die zaghafteren Geister zufriedenzustellen und ihnen die Illusion der Sicherheit zu geben.«116 Dieser letzte Satz gibt uns einigen Aufschluss über einen erstaunlichen, einzigartigen Aspekt von Debussys Persönlichkeit, eine Besonderheit seines Geistes, die ihn zu einem echten Modernen macht, moderner als die meisten seiner Nachfolger, die sich auf seinen »Anti-Dilettantismus«117 wie auf ein Leitmotiv berufen, als wäre dieser sein einziger Gedanke gewesen. In der Tat kommt Debussy immer wieder auf dieselbe Frage zurück, die ich an den Anfang dieses Buches gestellt habe  : »Welche Musik für welches Publikum  ?« Und setzt damit das Vorhandensein unterschiedlicher Niveaus künstlerischer Avanciertheit voraus, dank derer die Musik automatisch, auf quasi natürliche Weise, jenes Publikum anspricht, welches für sie »vorbestimmt« ist. Diese Überzeugung schlägt sich in seinen Artikeln wie in seinem kompositorischen Werk nieder, wobei es ihn herzlich wenig zu kümmern scheint, dass er sich hin und wieder selbst widerspricht. Als wäre Debussy, anspruchsvoll in seiner Kunst, aber sensibel als Mensch, hin und her gerissen zwischen seiner Geringschätzung des »gros public«118 und einem angeborenen Sinn für das Einfache – wovon seine zahlreichen Kompositionen für Kinder zeugen, darunter etwa La Boîte à jouxjoux, Children’s Corner –, und zu dem er sich nicht ohne einen gewissen Stolz bekannte  : »Ich will von dem Land 179


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in meinem Inneren singen, mit der naiven Treuherzigkeit eines Kindes. Vermutlich wird diese unschuldige Kunstgrammatik die Verfechter des Künstlichen und der Lüge zu allen Zeiten schockieren.« Debussys Bestreben, das er übrigens mit Ravel teilt und das den universellen Erfolg der beiden Komponisten zum großen Teil erklären mag, besteht darin, das Publikum, gleich welcher Art, mit einer qualitativ anspruchsvollen Musik zu versorgen und die Masse nicht der Mittelmäßigkeit anheimfallen zu lassen. Daher wohl auch sein amüsanter Lobgesang auf die Vorzüge der Drehorgel, in dem sich beißender Humor  : »Lassen Sie sich gesagt sein, dass der Schah von Persien eine elektrische Orgel besitzt, die das Vorspiel von Parsifal spielt […]. Wenn Sie glauben, diese Ausführungen in den Harems seien schmeichelhaft für Wagner […]« mit tiefgründigen und weitsichtigen Betrachtungen vermischt  : »Denjenigen, die an dieser Verteidigung der Drehorgel etwas Lächerliches finden, könnte man entgegnen, dass es sich mitnichten um ein Dilettantenvergnügen handelt, sondern um das, was man gegen die Mittelmäßigkeit der Massenseele versuchen sollte.« Aber Debussy hat noch weitere Methoden auf Lager, um die Kultur »unters Volk« zu bringen. So erwähnt er beispielsweise die cafés-concerts  : »Ohne den Habitué von cafés-concerts stärker in Schutz nehmen zu wollen als den Besucher der Concerts Lamoureux119, muss man dennoch gestehen, dass sie alle beide recht haben, was ihre eigentlichen emotionalen Mittel betrifft«, sowie die Konzerte unter freiem Himmel, deren Verdienst er durchaus anerkennt, vorausgesetzt man wende, so der Meister, die nötige Sorgfalt bei der Organisation auf, ohne die »diese den besten Mittelmäßigkeitsverbreiter darstellen, den man sich erträumen kann«. Überhaupt legt er, wenn es um den Faktor Raum geht, eine außerordentliche Sensibilität an den Tag, indem er beispielsweise – immer noch im Zusammenhang mit Freilichtkonzerten – genau darauf achtet, dass diese oder jene Harmonieabfolge, »die im geschlossenen Raum eines Konzertsaals vielleicht ungewöhnlich erscheint, dort gewiss erst richtig zur Geltung gelangt«. Debussy legt also größten Wert darauf, das breite Publikum nicht im Stich zu lassen. Ganz im Gegensatz zu unserer heutigen Avantgarde, die leider genau das seit über 60 Jahren tut, – sogar auf die Gefahr hin, dass dieses Publikum unerbittlich den Abhang der Seichtheit hinunterschlittert, fröhlich umgarnt von den Produzenten akustischer Mainstream-Ware. Debussy, wie auch nach ihm Bartók, schreibt Musik für Kinder, weil er es als seine künstlerische Pflicht erachtet. Er komponiert spanische Musik – darunter Iberia, La Puerta del Vino, La Soirée dans Grenade –, weil er fasziniert ist von der 180


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Strahlkraft guter Volksmusik  : »Praktisch die Gesamtheit der modernen spanischen Musik hat ihre Wurzeln unmittelbar im Repertoire volkstümlicher Lieder. Und dennoch mangelt es ihr nie an Abwechslung, so dass man diese Quelle unerschöpflich nennen kann«, und an anderer Stelle  : »Diese prächtige Volksmusik, in der sich so viel Traum mit so viel Rhythmus vereint und sie zu einer der reichsten dieser Welt macht.« Dass eine Verbindung mit dieser Folklore für die ernste Musik nur fruchtbar sein kann, steht für ihn außer Frage, selbst wenn »eine Art von Schamhaftigkeit, so viele schöne Improvisationen in das Formelgerüst zu pressen, die »Professionellen« zurückhielt«. Manchmal, je nachdem in welcher Stimmung er gerade ist, sind seine Äußerungen widersprüchlich, so etwa 1901, als er behauptet, dass »seit Beethoven der Beweis für die Nutzlosigkeit der Symphonie erbracht« sei. Um nur zwei Jahre später festzustellen  : »Wenn man sich über die wenigen Symphonien beklagt, die Frankreich den anderen Ländern entgegenhalten kann, so muss vor allem der »Prix de Rome« dafür verantwortlich gemacht werden«. Zudem schrieb, wie Henri Dutilleux ganz richtig festgestellt hat120, Debussy selbst eine Symphonie in drei Sätzen … La Mer  ! Oder es kommt vor, dass er seiner Geringschätzung der Mittelmäßigkeit des breiten Volkes gegenüber freien Lauf lässt  : »Die Erziehung des Publikums scheint mir die sinnloseste Sache der Welt zu sein […]. Hat das Ignoranz-Milieu jemals ein Gespür gehabt für die schönen Blüten der Renaissance, die sich in seiner Mitte entfaltet haben  ?« An anderer Stelle hingegen macht er sich wieder Gedanken, wie man der »großen Menge« entgegenkommen könne  : »Aber wie wäre es, wenn man sich der alten Griechen erinnerte  ? Begegnet man nicht bei Euripides, Sophokles, Aischylos den großen menschlichen Regungen, in so einfachen Linien, mit so natürlichen tragischen Wirkungen, dass auch die Unempfänglicheren und Ungebildeten sie verstehen könnten  ? […] Stünde dies alles dem Volk nicht viel näher als die psychologischen oder mondänen Finessen des zeitgenössischen Repertoires  ?« Schließlich unterbreitet er eine Art Synthese aus diesen beiden Positionen  : »Was wollen Sie  ? Das Publikum bevorzugt jenen Effekt, durch den es erschüttert, enerviert, bewegt wird. Das Publikum verlangt nicht, dass man seine Gefühle analysiert […], sondern dass ihm diese Gefühle geschenkt werden.« Emotion, Vergnügen – das sind Wörter, die immer wieder aufs Neue aus seiner Feder fließen  : »Bis aufs nackte Fleisch der Emotion vordringen«, »Die Musik soll demütig danach streben, Vergnügen zu bereiten«. Gleichzeitig aber wehrt sich Debussy dagegen, der Spielball seiner Sinne zu sein oder andere Menschen 181


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durch Klang zu manipulieren. Daher rührt wohl auch seine unbedingte Liebe zu Rameau und sein Misstrauen gegenüber Wagner, den Anhängern des Verismus sowie allen, die die Musik dazu benutzen, den Hörer »aufzuregen«, um ihn besser zu kontrollieren. Jenen unterwürfigen und kritiklosen Hörer, von dem er bekennen sollte, selbst einmal einer gewesen zu sein  : »Zu jener Zeit, als ich so sehr Wagnerianer war, dass ich die einfachsten Prinzipien des Anstands vergaß.« Man hat Debussy oft vorgeworfen, ein Anti-Wagnerianer zu sein, was vollkommen absurd ist. Vielmehr liegt die Wahrheit in diesen Worten  : »Ich bewundere Beethoven und Wagner, aber ich lehne es ab, sie en bloc zu bewundern, nur weil man mir gesagt hat, es seien Meister  ! Ich will die Freiheit haben zu sagen, dass mich eine langweilige Seite langweilt, egal von welchem Autor sie stammt.« Wahrlich ein Zitat, das sich jeder angehende Musiker, jeder überzeugte Musikliebhaber, zu eigen machen sollte  ! Alles, was Debussy darüber hinaus geschrieben hat, muss im Lichte dieser Aussage gesehen werden. Debussys künstlerische Sensibilität sowie seine Suche nach einer neuen Klangästhetik veranlassen ihn dazu, eine spezifisch französische Identität herauszuarbeiten und zu verteidigen, eine Identität, die er seit Rameau verloren glaubt, untergegangen in der allgemeinen Faszination, die die deutschen Komponisten auf die französische Musikwelt ausüben, verloren auch seit und größtenteils durch Gluck  : »Ich habe nie verstanden, warum alle angehenden Musiker […] eine deutsche Basis haben sollten. Frankreich wird unzählige Jahre brauchen, um sich von diesem Einfluss zu lösen, und betrachtet man originelle französische Komponisten wie Rameau, Couperin, Daquin […], so kann man nur bedauern, dass der ausländische Geist sich gegenüber dem, was eine große Schule hätte sein können, durchgesetzt hat.« In unseren heutigen Ohren mögen derlei Äußerungen unangebracht klingen, wie ein Nachhall alter Konflikte, die plötzlich aus der Vergangenheit auftauchen, vor allem wenn Debussy dazu tendiert, den universellen Charakter der Musik und der menschlichen Seele infrage zu stellen  : »Wir applaudieren angesichts eines Werks, das von weit her kommt […] ohne uns zu fragen, ob wir ein ernsthaftes Gefühl aufbringen können für das Erschauern von Seelen, die den unsrigen fremd sind.« Heute freilich, in einer Zeit, in der »weit« nicht mehr viel zu bedeuten hat, scheinen Begriffe wie »Stil« oder »nationale Schule« wieder verstärkt ins künstlerische Bewusstsein zu rücken. Zum Glück – nach all den Jahrzehnten, in denen vor allem eine »international« geprägte Musikästhetik tonangebend war, vergleichbar dem derzeit vorherrschenden Einheitsstil in der Architektur mit seinen beliebig austauschbaren Stadtzentren. 182


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Auch wenn das Streben nach Universalität durchaus nachvollziehbar ist, so spiegelt es doch die berühmte, sich seit einigen Jahrzehnten hartnäckig durchsetzende »pensée unique« wider. Und auch wenn dieses Einheitsdenken wiederum als der neueste Ausdruck einer Suche nach der vollkommenen »Verhaltens«-Sprache angesehen werden kann, so darf man sich dennoch fragen, ob eine einheitliche Sprache – in der Kunst – genügend Kraft und Potenzial besitzt, fast möchte ich sagen  : genügend »Biodiversität«, um sich ständig selbst zu erneuern, oder ob sie nicht im Gegenteil schrecklich sterilisierend ist. Denken wir nur daran, dass es heute praktisch unmöglich ist, selbst mit der Partitur in der Hand, den Ursprung eines Werks – auf 10 000 km oder 30 Jahre genau – zu bestimmen. Debussys Hauptanliegen, daran sei noch einmal erinnert, ist die »Menschlichkeit«. Was ihn übrigens auf Distanz zu Wagner gehen lässt, »diesen Menschen, der nur ein wenig menschlicher hätte sein müssen, um ganz groß zu sein«. Auf Menschlichkeit und Natürlichkeit gründet sein »System«. Das Natürliche, die Freiheit ist es, was seine Modernität ausmacht, wie er es selbst in zwei Schlüsselsätzen beschreibt  : »Vorhergegangene Forschungen auf dem Gebiet der reinen Musik hatten in mir einen Hass gegen die klassische Entwicklung entstehen lassen, deren Schönheit bloße Technik ist und nur die Mandarine unserer Klasse interessieren kann. Ich wünschte für die Musik eine Freiheit, die ihr vielleicht mehr als irgendeiner anderen Kunst gemäß ist, da sie nicht auf eine mehr oder minder genaue Nachahmung der Natur beschränkt ist, sondern in die geheimnisvollen Beziehungen zwischen der Natur und der Phantasie vorstößt.« Ein Wunsch, den sich auch angehende Pianisten, Komponisten oder Dirigenten zu Herzen nehmen sollten, bevor sie sich an eins seiner Werke heranwagen. Debussy lehnt die klassische Form der »Entwicklung« ab, namentlich die der Sonate oder der Symphonie, um die Kräfte und Entwicklungspotenziale seiner Musik im musikalischen Grundmaterial selbst zu suchen. Aus dieser einen Erklärung spricht unendlich viel mehr Tiefe als aus dem Attribut »symbolisch«, das man dem Komponisten nur allzu gerne – der Einfachheit halber – anzuhaften pflegt und das er genauso entschieden von sich weist  : »Ich gebe zu, dass ich dieses exzessive Bedürfnis nach Symbolen nicht verstehe. Man scheint vergessen zu haben  : das Schönste ist immer noch die Musik.« Indem er diese Liebe zur Freiheit und zum Natürlichen auf alle Entwicklungsmodi seiner Kunst anwendet, gelangt Debussy schließlich zum Abschluss der Komposition seiner Oper Pelléas et Mélisande, die anfänglich heftig kritisiert wurde als der Versuch eines lyrischen Kunstwerks ohne jede Lyrik. Dabei ist Pelléas, wie sein Schöpfer selbst betont, »nichts als Melodie. Nur ist diese Melodie nicht unterbrochen, nicht zerteilt in Abschnitte gemäß den alten Regeln. Meine 183


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Melodie ist absichtlich ununterbrochen, denn sie soll das Leben selbst darstellen.« Bereits acht Jahre zuvor hat Debussy in einem Artikel – er ist von einiger Bedeutung, will man sowohl die schöpferische Alchemie des Komponisten als auch die Gründe für seine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber Wagner und der Neudeutschen Schule verstehen – seine Vorstellungen über die Interaktion zwischen Drama und Musik dargelegt  : »Die Musik hat einen Rhythmus, dessen heimliche Kraft die Entwicklung bestimmt  ; die Regungen der Seele haben einen anderen Rhythmus, auf instinktivere Art allgemein und einer Fülle von Ereignissen unterworfen. Aus dem Nebeneinander dieser zwei Rhythmen entsteht ein dauerhafter Konflikt. Es geschieht eben nicht zur selben Zeit  : Entweder müht sich die Musik ab, hinter einer Figur herzurennen, oder aber die Figur setzt sich auf die Note, um der Musik zu gestatten, sie einzuholen.« Liebhabern italienischer Opern mag dieser letzte Satz besonders amüsant erscheinen, erlebt man doch im Belcanto nicht gerade selten, dass ein Sänger oder eine Sängerin endlos lange auf einer Note »sitzen bleibt«, um die Handlung anzuhalten und »die Musik vorbeigehen zu lassen«. In zahlreichen Äußerungen hat Debussy seinem »wahren Vorbild« Rameau gehuldigt und ich überlasse dem Leser das Vergnügen, diese Schriften selbst zu lesen und die Entwicklung der »Moderne« in der französischen Musik bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, angefangen bei einem unverhüllt wissenschaftlichen und insgeheim poetischen Geist der Aufklärung bis hin zu einer hypersensiblen, aber stets nach Ausgewogenheit und Klarheit strebenden Seele. Außer seinem musikalischen Vermächtnis hinterließ Debussy eine Fülle wegweisender Gedanken, die als wesentlicher Ausgangspunkt für die Neue Musik des 20. Jahrhunderts angesehen werden müssen. Als unerlässlich für die Arbeit eines Komponisten erachtete er die Wahrnehmung und Einbeziehung der Natur, der Emotionen, der Einfachheit, der Kraft der Volksmusik sowie das Bestreben, zu einem Stil, zu einer französischen Schule zurückzufinden. Tatsächlich hat es den Anschein, als schicke sich das 21. Jahrhundert an, diesen Anliegen Folge zu leisten … Messiaen Olivier Messiaen, Komponist, Ornithologe und Rhythmiker – so lautet die Berufsbezeichnung des großen französischen Musikers auf seiner Visitenkarte. Diese Vielseitigkeit und geistige Neugier findet ihren Niederschlag im Ti184


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tel seines meisterhaften Theoriewerks, in dem er die Summe seiner Erfahrungen als Mensch und als Musiker dargelegt hat  : Traité de rhythme, de couleur, et d’ornitholgie. Eine Annäherung an die Persönlichkeit Olivier Messiaens kann nur schrittweise und aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgen, wenn voreilige und reduktionistische Schlussfolgerungen vermieden werden sollen. Zu vielschichtig, zu komplex sind der Mensch und der Musiker, um allein aufgrund von Klischees beurteilt zu werden  : Wenn einige seine Liebe zu den Vögeln oder seine tiefe Religiosität belächeln, so vergessen sie dabei, dass bei diesem Menschen – Organist, Komponist, Pädagoge, Vogelkundler –, der sich für die modernen Wissenschaften begeisterte und vollkommen durchdrungen war von seinem christlichen Glauben, all diese verschiedenen Ebenen nicht einfach übereinandergeschichtet sind, sondern einander komplementär ergänzen  ; und sie vergessen, dass sie sich einer ganz und gar herausragenden Persönlichkeit gegenüber sehen. An allererster Stelle der Pädagoge. Auch wenn es seit jeher zahlreiche Komponisten gegeben hat, die ihre Kunst und ihre Technik an andere weitergegeben haben, so hätte kaum einer von ihnen die Ehre für sich beanspruchen können, zwei komplette Generationen von angehenden Musikern in seiner Klasse – oder besser  : seinen Klassen – vereint zu haben, darunter die prominentesten Namen der heutigen Musikszene. Messiaen lehrte nicht aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus, sondern aus reiner Freude, anderen Menschen seine Begeisterung für die Musik und sein Wissen weiterzugeben, gleichzeitig aber auch von ihnen neue Ideen anzunehmen. Seine Leidenschaft für das Unterrichten war für ihn eine erweiterte Form der Nächstenliebe. Womit der – für einige – irritierendste Aspekt seiner Persönlichkeit angesprochen wäre  : Der Komponist war gläubiger Christ, durchdrungen von einer mystischen, vollkommenen Inbrunst, beseelt von einem Glauben, der ihn zur Annahme einer Organistenstelle an der Kirche La Trinité in Paris veranlasste, der er während 60 Jahren, bis zu seinem Tod treu bleiben sollte  ; einem Glauben, der ihm die Themen und Titel eines Großteils seiner Kompositionen eingeben sollte. Aber auch und vor allem einem Glauben, der seine Musik bis in ihre kleinsten Elemente kolorieren sollte, und dies aus dem einfachen Grund, dass für Messiaen die »Freude« der beherrschende Ausdruck in der Musik war, in seiner Musik. Diese Idee der jubilierenden Freude ist nicht etwa eine Eigenheit der christlichen Religion. Die jüdisch-chassidische Tradition etwa propagiert Tanz und Gesang, um religiöse Hochstimmung und Lebensfreude zu erzeugen – letztere als wesentliche Voraussetzung, um den Menschen bei guter physischer und see185


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lischer Gesundheit zu halten  ; der tibetische Buddhismus seinerseits lädt seine Anhänger zur Entdeckung des ihnen innewohnenden Glücks ein. Neu ist dagegen die Tatsache, dass ein Komponist auf die Darstellung schmerzlicher Gefühle – zentrale Inspirationsquelle der Romantiker wie der Modernen – verzichtet, ebenso wie auf die Verarbeitung existentieller Ängste, die etwa das Leben und Werk »verkannter« Künstler wie Barraqué oder Zimmermann prägen, um sich allein darauf zu konzentrieren, mit seiner Musik die »Freude« an der Schöpfung, die Kontemplation der Schönheit zu vermitteln. Diese Freude und Schönheit schöpft Messiaen aus seinen leidenschaftlichen Naturbeobachtungen. Dieser bedeutende Pädagoge, dessen theoretische Schriften brillante Zeugnisse seiner analytischen Kraft und seines hochgelehrten Geists sind, kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn er von seinen berühmten Schülern als den »Überdodekaphonisten« redet, die nichts anderes als immer nur ihre Intelligenz, ihr Gehirn, ihre Strenge, ihre Klarheit im Kopf haben, und empfiehlt ihnen, es doch lieber den Malern gleichzutun und von Bergen und Wäldern zu lernen – wie Debussy, »der die Natur geliebt hat, wie man eine Frau liebt«, wie Berlioz, der in seiner Damnation de Faust »die Spur einer visuellen Verbundenheit mit den furchterregenden Gebirgen der Dauphiné« vermittelt, wie Wagner, der durch die Arbeit an seinem Ring dazu angeregt wurde, »sämtliche Naturkräfte und die verschiedenartigsten Wesen zu betrachten und zusammenzutragen«. Die Melodie der Vögel

Messiaen bezeichnete sich also selbst als Ornithologen. Einen großen Teil seines Lebens und seiner Arbeit verwandte er darauf, Hunderte von Vogelstimmen aus der ganzen Welt zu sammeln, aufzuzeichnen und zu katalogisieren. Bewaffnet mit Bleistift und Notenpapier durchzog er die Landschaften Frankreichs, später auch anderer europäischer und außereuropäischer Länder und notierte die sich seinem Ohr darbietenden Klänge. Nach einer möglichst »naturgetreuen« Transkription überließ er es seinem Komponistengenius, diese Fülle verschiedener Gesänge in Melodien und rhythmische Strukturen zu transformieren und an die temperierte Stimmung anzupassen. Das Ergebnis dieser ornithologischen Forschungs- und Sammeltätigkeit bildete den wesentlichen Anteil des musikalischen Materials, das vor allem in den Kompositionen seit dem Ende der 40erJahre seinen Niederschlag finden sollte. Messiaen liebt die Vögel, sind sie doch für ihn »die besten Musiker der Welt«. Allerdings gibt er sich nicht damit zufrieden, ihren Gesang in Musik zu »über186


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setzen«, er charakterisiert sie in üppigen Beschreibungen, einmal mit zarten, mitunter unschuldigen Worten, dann wieder theatralisch und beschwörend wie ein plötzliches Orgeltutti. Hier eine kleine Kostprobe seiner bilderreichen Sprache  : »Das süße, perlende Timbre des Rotkehlchens, gleich einer vertraulichen Liebkosung  ; das Timbre der Singdrossel, jung und frühlinghaft im Forte, autoritär im Fortissimo, in der Art von Xylophon und Metallkugeln  ; das feuchte Cembalotimbre der Nachtigall  ; das Karussell, die Kaffeemühle des Eichelhähers  ; das musikalische Bellen, der klagend wiederholte Ruf im Glissando, die wilden, immer schneller werdenden Aufwärtsläufe des Großen Brachvogels  ; der Ruf des Waldkauzes, bald schreiend vor Entsetzen wie der Schrei eines ermordeten Kindes etc.« Die Vögel sind es also, an die er sich vertrauensvoll wendet, auf dass sie seine musikalische Sprache inspirieren. Vom Catalogue d’oiseaux bis zu Éclairs sur l’Audelà bildet der Gesang der Vögel, so Messiaen, »die Quelle aller Melodie. Ich kann behaupten, dass alles, was ich über die Melodie weiß, mich die Vögel gelehrt haben.« Rhythmus und Ewigkeit

Im Mittelpunkt von Messiaens musiktheoretischen Studien und Analysen steht der Rhythmus. Der Meister macht sich dran, eine endlose Zahl rhythmischer Figuren in einem Katalog zusammenzutragen, ihnen einen Namen und ihre Herkunft zuzuweisen, ohne sich freilich darauf zu beschränken, uns eine trockene Buchhalteranalyse zu präsentieren  ; er geleitet uns an den Ursprung des Rhythmus – Rhythmus als Teilung der Zeit –, er offenbart uns seine Vision von Zeit und Ewigkeit, und zitiert Thomas von Aquin  : »Die Ewigkeit ist ganz und gar gleichzeitig, während es in der Zeit ein Vorher und ein Nachher gibt.« Für Messiaen ist die Zeit nicht die einzige Domäne, die dem Menschen vorbehalten ist. Weil die Ewigkeit das Jagdrevier der Götter ist, schöpft er seine Inspiration aus ihr, überlässt es ihr, ihm die Musik zu übermitteln, die im »Geist der Welt« enthalten ist. Die Zeit hingegen betraut er mit der Aufgabe, diese Musik zu organisieren und ihren Verlauf nehmen zu lassen. Offenbarung auf der einen, Weitergabe auf der anderen Seite. Auch da unterscheidet Messiaen wieder zwischen verschiedenen, übereinandergeschichteten Zeittypen  : »die ungeheuer lange Zeit der Sterne, die sehr lange Zeit der Berge, die mittlere Zeit des Menschen, die kurze Zeit der Insekten«, die allerdings, so Messiaen, »eine enorme Schwierigkeit für unsere Wahrnehmungsfähigkeit darstellen […] die verschiedenen Zeiten, die im Menschen zusammen187


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leben  : die physiologische Zeit, die psychologische Zeit.« Und ins Zentrum der Zeit, des Rhythmus stellt Messiaen selbstverständlich die Zahl, die »abstrakte und intellektuelle Sinnlichkeit [volupté] der Zahl, einzigartige Sinnlichkeit, die über die quantitative Ordnung hinausgeht, um die höchste aller Ordnungen zu erlangen […] die Ordnung des inneren Rhythmus«. Die Harmonie der Farben

Das dritte Element der »Musikalchemisten«, die Harmonie, steht in Messiaens Schaffen in engem Zusammenhang mit der Farbe. Er habe schon immer Farbspektren »gesehen«, wenn er Musik höre, insbesondere in der harmonischen, vertikalen Dimension. »Während meiner Gefangenschaft121«, erinnert sich Messiaen, »ließen farbige Träume und Visionen die Akkorde und Rhythmen meines Quatuor pour la fin du temps entstehen.« Gewiss, die Harmonik wird bei Messiaen oft als die einzige Dimension dargestellt, die dem Einfluss der Farben ausgesetzt sei. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen den einzelnen Parametern durchlässig, »die Harmonie ist vollständig vom Rhythmus und vom Timbre abhängig, sie vereint Rhythmus und Timbre, indem sie das eine wie das andere betont […], sie schafft farbige Rhythmen«. Von seinen Betrachtungen über das »intellektuelle« Verständnis einer farbigen Vision der Musik kommt Messiaen schon bald zu dem Schluss, dass die Fähigkeit zum gleichzeitigen Hören von Klängen und Wahrnehmen von Farben ein neurologisches Phänomen sein muss, welches er als »angenehme Krankheit« bezeichnet, von der einer seiner Freunde betroffen war. Der Schweizer Maler Charles Blanc-Gatti hat die Visionen, die Messiaens Orgelwerke in ihm hervorriefen, in zahlreichen Bildern festgehalten. Ein Anlass für Messiaen, dem gern auch der Ruf des asketischen Priesters anhaftete, uns die Vorteile des Rauschmittels Meskalin zu verraten, welches »akustische Wahrnehmungen in farbige visuelle Empfindungen verwandelt. […] Zudem zerstört es den Begriff der Zeit […]. Das Gehirn wird überrascht von einer Fülle von Bildern, und es ist daran gewöhnt, diese in solch kurzer Zeitspanne und in einer solchen Menge aufzunehmen […]. Dergestalt waren meine Farbträume«. Man ist überrascht und erfreut, diese beinahe enthusiastische Darstellung einer halluzinatorisch wirkenden Substanz aus der Feder eines »seriösen« Künstlers zu lesen. Aber andererseits sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass Messiaen ein offener und neugieriger Geist war, der sich stets für alles interessierte, was die Welt an ihn herantrug. Dass in dem Organisten und Lehrer auch ein großes Kind steckte, das durchaus imstande war, in einem anrührenden Text mit dem 188


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Titel »Warum ich Mozart liebe« schlicht und ergreifend festzustellen  : »Mozart ist von allen Musikern der musikalischste. In seiner Musik würde man vergeblich nach einem Fehler suchen«. Aber auch ein großes Kind, das uns seine Schwäche für Monster und Ungeheuer gesteht, »besonders die aus der Kreidezeit«, und für all die Künstler, die Monster bildnerisch dargestellt haben, wie etwa Bosch, Goya, Dali, Picasso, oder Ernst. Er habe selbst versucht, musikalische Monster herzustellen, doch sei ihm dies niemals gelungen. »Die Musik kann Schrecken, Entsetzen, Übernatürliches wiedergeben […], aber in der Kunst der Töne und der Rhythmen liegt eine intellektuelle Wollust, die absolut ungeeignet ist für Monstrositäten und Abscheu – ebenso wie für Lachen oder Komik –, alles Dinge, die sich ausschließlich auf Kriterien stützen, die weit entfernt sind von musikalischer Abstraktion.« Darum liebe ich Messiaen … Boulez In einem Buch, welches den Anspruch erhebt, den Hörer mit der Musik seiner Zeit zu versöhnen, oder genauer gesagt, ihm die Mittel an die Hand zu geben, diese zu begreifen, zu beurteilen und auszuwählen, ist es wichtig, Boulez zu vereinfachen. Zum einen, um diesem einen Dienst zu erweisen und zum anderen, um mit einer Reihe von Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Geist des Publikums festgesetzt haben. Kaum ein Künstler hat zu schärferen Auseinandersetzungen angeregt als Pierre Boulez. Der Grund dafür ist der anhaltend streitbare Ton, der einen Großteil seiner Schriften prägt, von den allerersten Essays seiner Jugendzeit bis hin zu den jüngsten Artikeln. Kaum ein Künstler ist so berühmt und gleichzeitig so wenig bekannt wie er. Der Grund dafür ist der dichte Komplexitätsschleier, mit dem er sowohl sein kompositorisches als auch sein musiktheoretisches Werk umhüllt. Für die große Mehrheit bleibt Boulez jemand, der schwierig ist, eine Art Knecht Ruprecht, ein Spielverderber, oder einfach die Ikone eines weniger sympathischen Teils der Moderne des 20. Jahrhunderts. Für viele, die in näheren Kontakt mit ihm gekommen sind, ist er eine strahlende Quelle, so strahlend allerdings, dass die Gedankenströme etlicher patentierter »Boulezianer« des Öfteren, in des Meisters Gegenwart, zu versiegen scheinen, dass etliche Jünger von einer freiwilligen und leidenschaftlichen Hingabe der Persönlichkeit, einer Hörigkeit gegenüber einem unsichtbaren Diktat befallen werden, welches sie nicht verstehen. 189


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Freilich bekommen die einen wie die anderen denselben Komplikationsprozess zu spüren, den Boulez in den 1950er-Jahren äußerst methodisch in Gang gesetzt hat  : eine Komplikation des eigentlichen kompositorischen Vorgangs, aber vor allem eine Komplikation des kritischen Diskurses, der systematisch mit Boulez’ eigenem musikalischem Schaffen einherging. Und dennoch, Kompositionsmethode und kritischer Diskurs sind weniger kompliziert, als es den Anschein hat. Genauer gesagt  : Boulez’ Kompositionsmethode ist weder mehr noch weniger komplex als die eines Beethoven oder eines Berlioz, wenn man bedenkt, dass der schwierigste Teil, die »tour de force de l’acte créateur« [der kreative Kraftakt A. d. Ü.] doch darin besteht, eine Sprache mit universeller Strahlkraft zu erzeugen, ein Werk zu schaffen, welches der Welt zu Diensten steht, anstatt nach der Eroberung derselben zu trachten. Gewiss ist Boulez’ theoretische Aussage zu seiner eigenen Kompositionsmethode sehr eindrücklich und hätte ohne jeden Zweifel die bedeutendsten Genies der Vergangenheit zum Erblassen gebracht. Aber besteht die größte Schwierigkeit nicht eigentlich darin, das Wunder zu vollbringen – wie wir es bei Beethoven gesehen haben –, eine innovative und zugleich universale Sprache zu kreieren  ? Wahre Komplexität, das ist also jenes Wort, das von »inspirierten« Modernen nach Belieben gesteinigt wurde, ein Wort, das im Grunde poetisch, symbolisch, praktisch ist, wenn es darum geht, den Ursprung eines großen Mysteriums zu bestimmen  : Warum vermag dieser Komponist ein Werk zu schaffen, das jeder schätzt und jeder versteht, und warum jener andere nicht  ? Etwas anderes ist die Organisation des Werks oder das, was ich als »Einrichtung der Baustelle« bezeichnen möchte. Auf diesem Gebiet ist der Polier Boulez gänzlich unschlagbar. Unterstützt durch Diagramme, Organigramme, Schemata, Gleichungen, präsentiert er sein Werk sowie jene, die er mit Brio analysiert, im überwältigenden Glanz – denn darauf kommt es ja schließlich an – einer barocken Fülle arithmetischer und algebraischer Berechnungen, von denen natürlich kaum jemand – noch nicht einmal die eifrigen Boulezianer in der ersten Reihe – etwas versteht. Ist diese Orgie, dieser Taumel komplexer Demonstrationen erst einmal über die Bühne gegangen – ich denke dabei vor allem an die Analyse des Sacre du printemps – stellt man einigermaßen erstaunt fest, wie bescheiden sich die Ausbeute origineller Trouvaillen doch eigentlich ausnimmt. Boulez, der sich vehement gegen »Krämeranalysen« ausspricht, gegen Analysen, die ordnen, etikettieren, klassifizieren und nichts vom eigentlichen Herzen des Werks offenbaren, tut im Grunde nichts anderes, als einen neuen Maßstab anzuwenden  : er tauscht den Krämerladen gegen den Großverteiler  ; er ersetzt 190


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die Preisschilder durch die Datenbank. Was den Kern des Problems betrifft, so bleibt dieser so mysteriös und unerreichbar wie eh und je, selbst wenn einem die brillanten Ausführungen und zornigen Anweisungen den Eindruck vermitteln, man befinde sich in absoluter Gewissheit122. Doch kommen wir zurück zu unserer ursprünglichen Absicht, die Person Boulez zu vereinfachen, zu entschärfen, denn dieser »gendarme planétaire« des musikalischen Gedankenguts, dieser »Oberaufseher«, der die »großen Ferien des Gedankens«123 anprangert und damit die Arbeiten seiner Kollegen meint, offenbart sich als ein großer Meister, dessen Genie lediglich von der Neigung übertroffen wird, sein eigenes Image nach Belieben zu verfälschen. Zunächst die Komplexität des Diskurses. Erinnern wir uns daran, dass Boulez’ musikalischer Werdegang in direktem Zusammenhang steht mit der – vor allem auf Frankreich konzentrierten – Verbreitung des aus der Linguistik kommenden Strukturalismus. Dabei denke ich in erster Linie an jenen Zweig, der sich Ende der 1950er-Jahre unter dem Einfluss von Michel Foucault herausbildet, einer Zeit, in der Boulez seinen eigentlichen Durchbruch erlebt, mehr noch als an das ethnosoziologische Strukturdenken von Pionieren wie Claude Lévi-Strauss, der übrigens nie einen Hehl daraus gemacht hat, jeglicher Musik nach Debussy nichts abgewinnen zu können. Die Maxime des sprachlichen Strukturalismus der 1950er-und 60er-Jahre lautet »Komplikation« im etymologischen Sinn des Wortes. Roland Barthes beschreibt zum Beispiel, er nehme einen Begriff, um ihn zu komplizieren, mit anderen Worten, um ihn auf seine innerste Struktur zu reduzieren, welche dann wahrscheinlich eine neue Fähigkeit offenbaren wird, sich neu zu entwickeln, anders ausgedrückt  : sich zu explizieren und ein neues Konzept darzubieten. Während sich diese Art, die Dinge zu sehen problemlos auf Philosophie und Literatur anwenden lässt – wenngleich sie auch da eher schlecht gealtert ist –, manifestiert sie sich in der Musik in einer Atrophie des emotionalen Raums sowie einer gleichzeitigen Hypertrophie des theoretischen Begleitdiskurses. Man bemüht sich, alles, bis auf die geringste Sechzehntelnote genau, zu begründen. Man vergewissert sich, dass die Befriedigung, alles verstanden zu haben, die Frustration kompensiert, nichts empfunden zu haben … Und parallel zu dieser neuen Denkmethode bildet sich eine Methode des Sprechens heraus, bricht ein regelrechter Krieg der Sprachen aus, dessen Chronik Roland Barthes in seinen Schriften festhält124. So ließe sich zum Beispiel folgender typische Satz Boulez’  : »Es besteht immer noch eine Konfusion zwischen dem Exposé resultierender Strukturen, welche sich aus einem bestimmten Ensemble von Entstehungs- oder Kombinationsprozessen ergibt und der Investigation, welche die reale Studie der Prozesse selbst 191


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voraussetzt125« auch ganz einfach so ausdrücken  : »Die schulmäßige Musikanalyse wird heute immer noch mit dem gründlichen Studium der Partitur verwechselt.« Aber solch eine schlichte Aussage macht natürlich weniger her. Das Gebot der Stunde lautet, die musikalische Welt benommen zu machen und mit komplexen Äußerungen zu bombardieren, deren Inhalt im Grunde ganz einfach ist, und gleichzeitig die neue politische und philosophische Elite, stets erpicht auf einen respektheischenden Fachjargon, zu beeindrucken und zu beweisen, dass man dieselbe Sprache spricht wie sie, dass man aus demselben Holz geschnitzt ist. Ist diese Hybridsprache erst einmal »dekodiert«, stellt sie sich, wie wir an obigem Beispiel gesehen haben, als völlig harmlos heraus, und man denkt sich insgeheim  : Und das soll alles sein  ! Wirklich schade ist im Grunde, dass Boulez seine Energie und sein literarisches Talent darauf verwendet, Trottel zu beeindrucken, Rügen auszuteilen und seine Überlegenheit kundzutun, was sich in so großartigen Sätzen niederschlägt wie  : »Kein Zweifel, dass Debussy zu Gehör bringen wollte, dass man seine Revolution nicht nur konstruieren, sondern auch träumen muss.«126 Und nun zur Komplexität seiner musikalischen Sprache. Es gibt zwei Wörter, die bis zum Überdruss strapaziert worden sind, sowohl von Boulez selbst als auch von seinen Anhängern  : Wissenschaft und Mathematik. Wenn es nichts Besseres mehr über sein Werk zu sagen gab, dann wurde der mathematische Aufbau gelobt, der »wissenschaftliche« Diskurs bewundert. Tatsächlich stoßen wir in Schriften wie Penser la musique aujourd’hui oder Relevé d’apprenti auf zahlreiche Tabellen und Schemata, die die Boulezsche Organisation der Töne erklären sollen und die aber nichts anderem entspringen als der guten alten, wohlverstandenen Algebra, arithmetischen Progressionen, Reihen, die im Vergleich zu eigentlichen »mathematischen« Reihen sehr begrenzt sind. Es war Boulez selbst, der diese Bewegung in Gang gesetzt hat, indem er schrieb  : »Wenn man das Denken der Mathematiker und Physiker unserer Zeit studiert, kann man genau ermessen, welch immense Strecke die Musiker noch zurückzulegen haben, bis sie zum Zusammenschluss einer generellen Synthese gelangen.«127 Um sein Anliegen 39 Jahre später reumütig zu relativieren  : »Ich habe festgestellt, dass es sehr schwierig ist, ein Miteinander von Wissenschaftlern und Musikern zu etablieren, schwieriger als ich dachte […] die wissenschaftliche Intuition gründet nicht auf denselben Datenbanken wie die musikalische Intuition […] 192


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ein Menschenleben würde nicht reichen, die gesamten spezifischen Kenntnisse dieser beiden Kulturen in sich aufzunehmen.«128 Immerhin hat diese Klarstellung den Vorteil, uns einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Boulez und Messiaen vor Augen zu führen, beweisen doch die theoretischen Schriften des letzteren, wie sehr ihm stets an den kühnsten, kreativsten, spekulativsten Wissenschaften gelegen war. Befassen wir uns hingegen mit Boulez’ Penser la musique aujourd’hui und seinen endlosen Klassifizierungen, Etikettierungen, Diagrammen und Schemata, so schließen wir daraus, dass der Autor das Wort Wissenschaft auf die Wissenschaft der Ingenieure, der Geometer beschränkt, dass er sich im Grunde der musikalischen »Landvermessung« verschrieben hat. In der Tat sind die bemerkenswert kompetenten Informatiker des Ircam129 aus einem anderen geistigen Holz geschnitzt, das möglicherweise, so Boulez, überhaupt nicht mit jenem übereinstimmt, aus dem die Komponisten geschnitzt sind. Denn diese befinden sich in vollkommener Symbiose mit der Relativitätstheorie, fühlen sich in der Quantenmechanik zu Hause, begeistern sich für die Stringtheorie. Was heißt, dass Wissenschaft und Wissenschaft nicht unbedingt das gleiche ist. Aber fahren wir fort mit Boulez’ Entdramatisierung. Er ist der einzige in der Geschichte der Musik, der Rügen und Fleißpunkte austeilt und diejenigen mit Schimpf und Schande belegt, die ihm die Gefolgschaft verweigern. Seine Methode lässt sich in vier Teile zerlegen. Zunächst wird die Nutzlosigkeit jeglichen nicht Boulez-konformen Gedankenguts bekräftigt. Auch dieser Vorgang vollzieht sich in vier verschiedenen Tempi  : 1. Jeder, der nicht derselben Meinung ist wie ich, wird nicht gebraucht  : »Bekräftigen wir unsererseits, dass jeder Musiker, der die Notwendigkeit der Zwölftonsprache nicht gespürt hat – wohlgemerkt  : gespürt, und nicht verstanden – nutzlos ist.«130 2. Ich werde Ihnen jetzt demonstrieren, dass ich der einzige bin, der die Schlüssel zu diesem idealen System besitzt – siehe jenes berühmte »was geht mich das Gefühl eines Lumpensammlers an  ? Meine Meinung wiegt tausendmal mehr als die seine  ; allein sie wird Dauer haben«, im Vorwort zu Penser la musique aujourd’hui. 3. Selbst diejenigen, die zwar dem System zustimmen, aber keinen Treueschwur auf meine Person abgelegt haben, sind, wenn nicht nutzlos, so doch zumindest unbrauchbar  : »Kongresse organisierend […] paradieren sie falsch doktrinär, absurd konservativ, dumm-dick, zum größten Ruhm der Avantgarde.«131 193


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4. Nur ein paar Tote finden Gnade vor seinen Augen  : Weber(n) und vor allem Debussy, der, wie es scheint, als einziger richtig verschont bleibt, auch wenn es schwerfällt, ihm seine verwerflichen Sätze über das Gefühl und das Vergnügen zu verzeihen. Es mag erstaunen, dass Boulez sich niemals zu seinem geistigen Vater Rameau – und sei es nur aus Prinzip – bekannt hat, dem klassischen Komponisten, der doch am deutlichsten von allen seinen naturwissenschaftlichen Ansatz in der Musiktheorie kundgetan hatte. Tatsächlich ist die Ansicht des Jüngeren über den Älteren unwiderruflich  : »Die Ära Rameaus und seiner „natürlichen“ Grundsätze ist endgültig abgeschafft.«132 Fester Glaube an ein unwiderlegbares Urteil sowie, bekräftigt durch die Magie des »endgültig«, Glaube an eine einzigartige Fähigkeit, die Zukunft zu schmieden, in saecula saeculorum … Dieses Abstandnehmen von einem Künstlerkollegen, der doch logischerweise eigentlich als geistiger Vorläufer gelten müsste, hängt teilweise damit zusammen, dass beide Männer von radikal unterschiedlicher Natur sind, desgleichen ihre Ziele. Für den einen, den bescheidenen hônnete homme des Lumières ist das Suchen ein Mittel, während die Natur ein Zweck bleibt  ; die Wissenschaft ist nicht die Natur, sie ist das Mittel, das der Mensch erfand, um diese zu verstehen und zu offenbaren. Für den anderen soll der esprit scientifique der Neuen Musik keinesfalls als Metapher verstanden werden, sondern als Naturveränderung  ; so zieht, wie in der »echten« Wissenschaft, wo die Forschung zum Selbstzweck wird, jeder Fortschritt in der Musik eine neue Forschung nach sich. Die drei anderen Bestandteile der Boulezschen Methode sind Beleidigung, Überlegenheitsanspruch und intellektueller Terror. Auf dieses Dreifachverfahren, ersonnen anlässlich der Niederschrift von Penser la musique aujourd’hui, greift Boulez seine ganze Karriere hindurch zurück, bis hin zu einem erst kürzlich erschienenen Interview in der französischen Tageszeitung Le Monde, in dem er sich anschickt, einige abtrünnige Pariser Komponisten zu beleidigen und daran zu erinnern, dass seine Karriere doch die einzige sei, die »über die Stadtgrenze hinausgeht«. Über einen solchen Kommentar – würdig eines Parvenus – aus dem Munde eines Großmeisters der musikalischen Moderne kann man nur staunen. Was die Beleidigungen betrifft, so genügt es, folgendes Exemplar vom Jahrgang 1954 zu zitieren  : »Wir sind immer noch beim nuttigen Geschrei schrecklicher Degenerierter, deren Gewissenlosigkeit sie unschuldig werden lässt gegenüber ihren Abscheulichkeiten.«133 Wenn wir diese geballte Ladung heute als außerordentlich heftig empfinden, dann deshalb, weil wir in einer Welt leben, in der Wert darauf gelegt wird, die Konstruktion der Persönlichkeit an Friedenswer194


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ten zu orientieren. Boulez hingegen ist in erster Linie Zeitgenosse einer Kriegswelt. Seine direkten Vorfahren sind genauso mörderisch  : Breton und Aragon. Künstler sind das Spiegelbild ihrer Epoche. In Boulez’ Diskursen, insbesondere in jenen der unmittelbaren Nachkriegszeit, schlägt sich die ganze Gewalt eines Europas nieder, das sich der Apokalypse preisgibt. Und er versucht, sich darin einen Platz zu erobern. Seine ersten Essays sind gleichsam sein »Nachtmahl von Beaucaire«.134Man muss durch Gewalt auf sich aufmerksam machen, durch seinen Jargon beeindrucken. Derlei Sichtweisen müssen dringend revidiert werden. Allein auf die Bedeutung des Werks kommt es an. Schließlich kann dieses nicht aufgrund einer Werteskala beurteilt werden, die der Komponist selbst aufgestellt hat, sondern nur aufgrund seiner Wirkung im Hinblick auf die Finalität desselben, auf die Finalität aller Musik. Und diese Finalität besteht nicht darin, zu gefallen, sich zu verkaufen, zu funktionieren – alles Werte, die nur vorläufig sind –, sondern vielmehr darin, ein neuer Satz, ein neues Kapitel im großen Weltbuch zu sein. Fürchten wir uns also nicht vor Boulez und lassen es nicht zu, dass unsere Unwissenheit durch die Parfumschwade intellektueller Anbiederung überlistet wird und wir fälschlicherweise meinen, »dazuzugehören«. Boulez hat seinen Platz in der Geschichte der französischen Musik, aber hören wir endlich damit auf, ihn als die exotische Kreuzung aus Einstein und Rameau hinzustellen. Niemand wird bestreiten, dass Boulez ein großer Meister seines Fachs ist, aber er ist ein Meister à la française, von jener Art, französisch zu sein, wie man sie eher in der Politik antrifft als in der Kunst. Machtstreben und der Hang zu Beleidigungen zählen nicht gerade zu den hervorstechenden Merkmalen französischer Komponisten, und schon gar nicht zu denen des »Vaters« der französischen Moderne, Debussy. Boulez ist ein Fall für sich. Als eine Art Napoleon des Cymbalums wendet er die Tugenden des Staatsstreichs auf Papier und Institutionen an. Sein Werk vor Ort – man mag es schätzen oder nicht – bleibt freilich bestehen. Seine Schallplatten- und CD-Aufnahmen haben Geschichte geschrieben, das Ircam wie das Ensemble intercontemporain sind Institutionen mit weltweiter Ausstrahlung und von offenkundiger Notwendigkeit. Boulez wird man kaum darum bitten, sich zu ändern – soviel steht fest. Aber es wäre doch wünschenswert gewesen, dass er von sich aus mehr Offenheit und Großzügigkeit an den Tag legt, um den Weg zu weisen, den Weg aus einem Denkschema heraus, im Vergleich zu dem er selbst, nach eigener Einschätzung, ein »100%-iger Marxist-Leninist« ist. 195


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Von Rameau bis Boulez scheint die Entwicklung der Moderne »à la française« ein andauerndes Versteckspiel zwischen Künsten und Wissenschaften gewesen zu sein. Auch wenn sie ihre Inspiration eher aus der dichterischen und bildnerischen Kunst bezogen als aus der Geometrie, haben Berlioz und Debussy die Musik ihrer Zeitgenossen wie die der kommenden Generationen doch nicht minder stark beeinflusst. Und auch wenn sie zweifellos geistige Kinder der Naturwissenschaften waren, so haben Rameau und Boulez beide mit demselben Vorurteil zu kämpfen gehabt, nämlich Schöpfer einer Musik zu sein, die jeglicher Menschlichkeit und Emotionalität entbehrt, einer Musik, die nüchtern und trocken ist – was in beiden Fällen natürlich nicht zutrifft. Messiaen scheint im Grunde der einzige zu sein, dem eine perfekte Synthese von Rationalität und Emotionalität gelungen ist. Was wohl als Ergebnis einer breiteren, visionäreren Annäherung an den Wissenschaftsbegriff gesehen werden muss. Hatte es doch seit jeher die Wissenschaft der großen Intuitionisten135gegeben – Newton, Einstein, de Broglie – und die Wissenschaft der Ingenieure, und so wird es auch in Zukunft sein. Die Letzteren bringen das zur Anwendung, was die Ersteren entdeckt haben, doch strahlt ihr Diskurs weniger Abenteuer aus und ist vor allem weniger subversiv. Gewiss, bis ins 20. Jahrhundert hinein konnte man sich mit der Bezeichnung »Wissenschaft der Musik« insofern zufrieden geben, als bei der Ausarbeitung der klassischen Formen ein gewisser geometrischer Ansatz Pate gestanden hatte. Kurzum, die musikalische Analyse besaß eindeutige Analogien mit der grundlegenden Mathematik. Geht es jedoch darum, höhere Geistesmächte zu evozieren, Intuition, Einfallsreichtum, und – warum nicht gleich  ! – Fantasie, Inspiration, kurz  : all jene Sphären, die die Finalität der Musik ausmachen, so finden wir die angemessene Resonanz in Quantenmechanik, Relativitätstheorie, Stringtheorie. Wo Boulez und Rameau lediglich die Geometrie der Formen, der Strukturen, ja der akustischen Räume heraufbeschwören, da dringt Messiaen, für den der »musikalische Gedanke« oder, um seine eigene bevorzugte Terminologie zu verwenden, der »rhythmische Gedanke« einzig und allein dazu dienen soll, die Seele zu erheben, in viel entlegenere Regionen vor, um seine wissenschaftlichen Referenzen zu suchen. Ist das der Grund dafür, dass uns das Werk dieses Letzteren stärker berührt, dass seine Musik besser »funktioniert«  ? Ich für meinen Teil tendiere – paradoxerweise – eher dazu, das Phänomen strukturalistisch zu erklären. Gibt es doch, um die Begriffe des Komponisten Francis Bayer aufzugreifen, zwei Arten der kompositorischen Vorgehensweise, nämlich die »konstruktivistische« und die »intuitionistische«. 196


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Kleine Geschichte der Moderne à la française

Für die Konstruktivisten ist der kompositorische Akt als solcher absolut vorrangig, wohingegen für die Intuitionisten allein das Resultat dieses Aktes im Vordergrund steht. Das Problem des konstruktivistischen Ansatzes ist, dass aus der Konsequenz des Prozesses die Beschreibung des Prozesses selbst gemacht wird, wie der bulgarische Philosoph Tzvetan Todorov136 erklärt. Was Todorov in seiner Schrift erörtert, ist das Funktionieren der Symbole, aber er weist uns auf einen ontologischen »Kurz-Schluss« hin, der sich vortrefflich auf unsere Aussage anwenden lässt  : »Ich komponiere, um zu komponieren.« Der Prozess tritt an die Stelle des Resultats des Prozesses, womit wir wieder beim ersten Kapitel des Buches angelangt wären, in dem ich auf die unterschiedlichen Kategorien von Komponisten aufmerksam gemacht habe. Nämlich jene, die nicht den Anderen, das Außen, das Resultat als Sinn und Zweck ihrer Arbeit betrachten, sondern jene, die sich auf einen rein reflexiven Akt beschränken, die zu ihrem eigenen Exegeten werden, ihrem eigenen Kritiker.

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12. Die Kritik und das Authentische Bevor wir diesen dritten Teil über das Moderne in der Musik abschließen, sollen noch zwei weitere Themen angeschnitten werden, die ihrer wachsenden Bedeutung im derzeitigen Musikgeschehen halber nicht unerwähnt bleiben dürfen. Zum einen handelt es sich um das Gebiet der Musikkritik, zum anderen um die mittlerweile gut etablierte Mode – so gut nämlich, dass man sie mittlerweile schon als Modus bezeichnen kann – der »authentischen« Interpretation, wobei sich der zweite Punkt unmittelbar aus dem ersten ergibt. »Kritik« leitet sich vom griechischen Wort kritikos ab und bedeutet »Unterscheidung, Trennung«. Es geht also darum, echt von falsch oder genauer  : »besser« von »weniger gut« zu unterscheiden. Die reinen Gründe der Kritik … Auf dem Gebiet der Musik gliedert sich der Begriff »Kritik« in vier verschiedene Tätigkeitsfelder  : An erster Stelle steht selbstredend die journalistische Musikkritik, von der jedermann eine Vorstellung hat. Diese Tätigkeit existiert seit einigen 100 Jahren und hat sich seit ihren Anfängen nicht wesentlich weiterentwickelt, abgesehen davon, dass es im 19. Jahrhundert nicht selten die berühmtesten Tonkünstler ihrer Epoche waren, die durch ihre musikkritischen Schriften großen Einfluss auf das zeitgenössische kulturelle Leben ausübten. So unter anderem Robert Schumann oder Hector Berlioz, von denen uns zahlreiche »Blätter« überliefert sind. Heutzutage gibt es nur noch wenige Komponisten, die sich dazu herablassen, diese schwierige Übung in Angriff zu nehmen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Musikkritik als ein eigenständiges, spezialisiertes Fach herausgebildet. Im Allgemeinen ist der Kritiker von Haus aus Musikologe, der sein Tätigkeitsfeld auf den publizistischen Bereich ausgedehnt hat. Seine Beiträge beschränken sich nicht mehr, wie früher, auf die reine Berichterstattung, sondern beinhalten Interviews, Reportagen sowie fundierte musikwissenschaftliche und musikhistorische Veröffentlichungen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entwickelte sich innerhalb der Musikwissenschaft der Zweig, der sich mit der Erforschung alter, oftmals beschädigter, über viele Orte verstreuter, zer198


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Die Kritik und das Authentische

stückelter Partituren befasst, mit dem Ziel, eine sogenannte »wissenschaftlichkritische Edition« zu realisieren. Auch dieses Gebiet gabelt sich wieder in zwei Tätigkeitsfelder, von denen das eine in die Veröffentlichung einer Referenzpartitur mit dem Ziel mündet, den Spieler an die »Wahrheit« der Interpretation heranzuführen. Das andere besteht in der weiterführenden Arbeit einzelner Musiker, die nicht nur den »Text« zu rekonstruieren versuchen, sondern den gesamten Kontext erforschen, die »Umgebung« des Werks zur Zeit seiner Entstehung, angefangen bei den zeitgenössischen Instrumenten sowie der Art und Weise, wie diese gespielt wurden, bis hin zu den geringsten Details damaliger Interpretationstechniken. Das alles in der Absicht, die oben erwähnte historisch »authentische« Aufführungspraxis zu ermöglichen, auf die wir später noch näher eingehen werden. Schließlich erblickten, in noch jüngerer Vergangenheit, zwei neue Varianten musikkritischer Tätigkeit das Licht der Welt, diesmal auf Initiative der Komponisten selbst. Da ist zum einen die »Kritik« der eigenen schöpferischen Arbeit, nicht nur a posteriori, sondern schon vor der Fertigstellung des Werks, also eine Art kritisches Begleiten des künstlerischen Entstehungsprozesses. Da ist zum anderen, ausgeführt entweder durch den Komponisten selbst oder durch einen seiner Exegeten, die analysierende Erklärung des Werks bzw. der einführende Kommentar, mitunter sogar in Form von Vorträgen oder Workshops, unterstützt durch jede Menge Musikbeispiele. Die erste dieser modernen Varianten wurde durch Pierre Boulez theoretisch untermauert. Bereits seine frühesten Schriften zeugen von der Absicht, seine kompositorische Arbeit mittels musiktheoretischer Betrachtungen und Analysen selbst kritisch zu begleiten. Gleichzeitig gestattete ihm diese Vorgehensweise, das bisher Entstandene zu hinterfragen, umzugestalten, sich permanent neu zu formulieren. So spricht er etwa in Probabilités critiques du compositeur137 von »diesem Bedürfnis, dieser Obsession, sein Gebiet, seine Forschungen genauer erklären zu müssen«. Und wieder haben wir hier eine nach außen gerichtete Tätigkeit, eine öffentliche Zurschaustellung. In der Folge offenbart uns Boulez, dass der Entstehungsprozess des eigentlichen Werks von »einer Art Zauber« bestimmt werde. Indem er sich ständig mit der eingehenden Analyse seiner Ziele und seiner Mittel befasst, steigert sich der moderne Komponist, als sein eigener Kritiker, in eine Art reflexive Trance. Mit all den Risiken, die mit einer zu systematischen, »zu perfekten kritischen Definition seiner selbst« einhergehen […] in welchem Maß es dieser kritischen Analyse gelingt, sich gefahrlos zu vollziehen […] dann hätte das Werk kaum mehr eine Chance, vom Moment seines Entstehens an [wäre es] kurzgeschlossen durch eine totale Absenz der Notwendigkeit«. 199


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Aber im Grunde betreiben alle oder fast alle Komponisten die Kunst der kritischen Selbstanalyse, bzw. Selbstkritik – Rameau an der Spitze. Und Messiaen, der seine Schüler auffordert, den Kompositionsvorgang – nach Art des Kleinen Däumlings, der seine Kieselsteine auf den Waldboden streut – mit einer kleinen schriftlichen Analyse zu begleiten, die ihnen später erlauben soll, den Weg ihrer Gedanken zurückzuverfolgen. Oder Mahler, der zahlreiche Briefe hinterlassen hat, die die Höhen und Tiefen seines schöpferischen Weges in allen Einzelheiten widerspiegeln. Und Debussy, der, wie wir bereits gesehen haben, weise erklärt, dass die geistige Arbeit des Komponisten nur diesen selbst etwas angehe und das Publikum sich lediglich für das Resultat zu interessieren habe. Und genau da liegt der Hund begraben  : Das Resultat der seit mehr als einem halben Jahrhundert praktizierten Vorgehensweise ist weit davon entfernt, so verführerisch zu sein, dass das Werk um seiner selbst willen angenommen würde, und der Komponist sieht sich gezwungen, die Rolle des eigenen Exegeten zu übernehmen bzw. die Talente eines anderen in Anspruch zu nehmen, woraus dann das besagte vierte Tätigkeitsfeld resultiert. Die explikative Kritik ist in den letzten Jahrzehnten zweifelsohne zu einer der verbreitetsten Kulturtätigkeiten überhaupt avanciert, unabhängig davon, ob sie durch den Komponisten oder den bildenden Künstler selbst ausgeübt wird, durch einen Publizisten oder durch irgendeinen patentierten oder selbsternannten »Kunstexperten«. Je undurchsichtiger, provozierender das Werk, je weniger es »vorhanden« ist – denken wir nur an die leeren Leinwände oder schweigenden Partituren –, umso mehr gerechtfertigt ist die analysierende Aktivität, umso mehr bestätigt sich ihre Wichtigkeit, mit der Tendenz, gewissermaßen über das Werk selbst zu triumphieren, die Oberhand zu gewinnen. So entpuppt sich der Experte, der die Aufgabe der Exegese übernommen hat, als regelrechter Magier  : Da, wo nichts war, kommt plötzlich ein Kunstwerk zum Vorschein. Da, wo man nichts als Provokationsverlangen erkannte, enthüllt sich plötzlich tiefe intellektuelle Motivation. Da, wo völlige geistige Wirrnis herrschte, wird auf einmal alles klar. Aber weil der kritische Diskurs auf beinahe unterschwellige Art destilliert wird, indem die Wörter, wie bei einer Schatzsuche, mal hier mal da eingestreut werden und der Zuschauer oder Zuhörer aufgefordert ist, die Kritik – und folglich das Werk – selbst zu vollenden, wird dieses Publikum Teil des schöpferischen Vorgangs. Und diese plötzliche Bedeutsamkeit, die ein jeder der Beteiligten einige Augenblicke lang für sich in Anspruch nehmen kann, mag eine Erklärung dafür sein, warum sich die moderne Kunst solch großer Anziehungskraft erfreut, 200


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Die Kritik und das Authentische

selbst wenn es sich bei gewissen Werken ganz offensichtlich um reine Scharlatanerie handelt und diese auf dem Kunstmarkt völlig verrückte, ihren reellen Wert übersteigende Preise erzielen. Mit der Idee, den Zuschauer oder Zuhörer am schöpferischen Akt zu beteiligen, haben sich die »Spezialisten«, die damit beschäftigt sind, die Leere unserer Epoche zu verkaufen, etwas besonders Pfiffiges einfallen lassen. Da kann Cendrillons Kutsche noch so oft in einen Kürbis verwandelt werden – die Nummer funktioniert immer wieder aufs Neue. Aus dem einfachen Grund, da sie dem Ego des Zuschauers schmeichelt, und noch mehr dem Ego des Gauklers, der sich selbst darüber wundert, dass er so viele Hasen aus seinem leeren Zylinder hervorzaubern kann. So ist es doch  : Wird etwas aus dem Nichts hervorgebracht, so vollzieht sich »Schöpfung«, oder vielmehr spielerisches Geschwätz. Über ein a priori wertloses Objekt zu glossieren und ihm eine dem Talent des Redners entsprechende Bedeutung beizumessen, hat keinen anderen Effekt, als letzteren auf ein Podest zu heben und ihm einen beträchtlichen Einfluss sowohl über den Erschaffer als auch über dessen Werk zu verleihen. Und jeder hat etwas davon  : der Künstler, selbst ganz überrascht ob seines Erfolgs, der Magier, völlig hingerissen von seiner Nummer, und das Publikum, als kollektiver Monsieur Jourdain geschmeichelt darüber, alles verstanden zu haben. Das, was wir hier als »Kritik-Event« bezeichnen, ist zum großen Gewinner geworden, quasi zum Hauptakteur des zeitgenössischen Kunstbetriebs. Ich gebe zu, dass diese leicht überzeichnete Situation in erster Linie in der Welt der bildenden Kunst anzutreffen ist. Doch auch in der modernen Musik ist diese Form der erläuternden Kritik zu einer solchen Notwendigkeit geworden, dass mitunter ganze Konzertabende mit theoretischen Ausführungen angefüllt sind, um für ein oder zwei Uraufführungen – oftmals die Dauer von einigen Minuten kaum überschreitend – ein ausgewachsenes Symphonieorchester zu mobilisieren. Die Frage, ob diese Art von kostspieligen Veranstaltungen, die sowieso nur von Habitués frequentiert werden, ihre Mission beim »normalen« musikliebenden Publikum erfüllen, erübrigt sich. Nur allzu oft unterzieht sich der Autor dieser Zeilen der unverzichtbaren Übung, die »Anleitung« im Programmheft zu studieren oder den »wenigen erläuternden Worten« zu lauschen, die von der Bühne herab der Aufführung des Werks vorausgeschickt werden. Freilich bieten diese keine echten Lösungen, die es dem breiten Publikum langfristig erlauben, in die Klangwelt des Komponisten einzutreten. Kein Vortrag, so mitreißend er auch sein mag, wird das mehrmalige Hören eines Werks ersetzen können – die notwendige Bedingung seiner Aneignung. 201


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Dritter Satz: Musik und Moderne

Keine andere Methode wird ein Publikum, das einem Stück schon nach der ersten Anhörung eine Absage erteilt, besser zu überzeugen vermögen als die Kombination von akustischer und visueller Darbietung. Ich werde im letzten Kapitel dieses Buches eingehender darauf zu sprechen kommen. Daraus können wir schließen, dass das hier beschriebene »Kritik-Event« in höherem Maß der bildenden Kunst und der Architektur zum Nutzen gereicht als der Musik. Was auf die untrennbare Beziehung von Musik und Zeit sowie auf den emotionalen Gehalt der musikalischen Zeichen zurückzuführen ist  : Man kann den Hörer nicht einfach beschummeln, indem man ihn mit einem Diskurs bezirzt – und sei er auch noch so brillant –, um ihn hinterher seinem Schicksal und einer Botschaft zu überlassen, deren Inhalt feindlich oder unbedeutend bleibt. Was, wie wir gesehen haben, auf dasselbe hinausläuft. Die bildende Kunst oder die Architektur lassen dem Betrachter die Freiheit, sich zu rühren, weiterzuziehen, das Werk hinter sich zu lassen, es abzulehnen und zum nächsten überzugehen. Der Betrachter des Kunstwerks ist Herr über die Größe Zeit, wohingegen der Hörer eines musikalischen Werks der Zeit des Komponisten unterworfen ist. Darüber hinaus werden die emotionsauslösenden Zeichen der Malerei über das Auge transportiert, und es ist erwiesen, dass das Visuelle weniger schnell und weniger stark auf das neurovegetative System einwirkt, als dies die auditiven Reize tun, welche ihrerseits weniger reaktiv sind als die Geruchsreize. Es hat also den Anschein, als liege das Heil der modernen Musik – »komplex« und »dissonant« – in der Verbindung von Auge und Ohr. Und jeder Beteiligte käme dabei auf seine Kosten, weil diese Verbindung dem Magier des Wortes da eine neue Chance gäbe, wo offenbar jeder »musikalische« Versuch gescheitert ist. Und indem sie in vollkommen unberührte Gefilde vordringt, kurbelt die Ton/ Bild-Kombination die Kritikertätigkeit wieder an und verspricht angesichts der endlos vielen Verknüpfungsmöglichkeiten eine schier unerschöpfliche Fülle an Erkundigungswegen. »Authentisch« haben Sie gesagt  ? Die Tätigkeit der musikwissenschaftlichen Kritik hat denselben fulminanten Erfolg erlebt wie die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Wiederbelebung des Barockrepertoires und das damit einhergehende Bestreben, die Orchester und Ensembles mit Originalinstrumenten zu besetzen. Der Grund für dieses Phänomen liegt natürlich in der Aberration der auf die Alte Musik angewandten romantischen Interpretationsweise, bei denen man 202


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Bach oder Lully bedenkenlos mit vollbesetzten Symphonieorchestern aufführte oder für Mozarts Symphonien kurzerhand die Bläserbesetzung verdoppelte, ganz zu schweigen von den Ausartungen in puncto Phrasierung, Artikulation … Man kann nicht umhin, all den Harnoncourts, Christies, Gardiners, Jacobs, die sich zeitlebens für die sogenannte historische Aufführungspraxis eingesetzt haben, uneingeschränkte Bewunderung entgegenzubringen. Das Publikum ließ sich praktisch im Sturm von der Schönheit dieses neuen Musizierstils erobern. Weil der zeitgenössische Musikbetrieb für seinen Geschmack nichts zu bieten hatte, es aber dennoch begierig auf das Neue war, nahm dieses Publikum den Weg in umgekehrter Richtung, und das Defilee der »Uraufführungen« vollzog sich in historischem Gewand. Und kaum hatte sich dieses Paradox eingebürgert, wurde es auch schon zu einem wichtigen Bestandteil des modernen Kulturbetriebs, der den Zeiten wie den Grenzen gegenüber aufgeschlossen ist  : Das Alte kann wieder zum Neuen werden. Dennoch möchte ich, trotz meiner offenkundigen Begeisterung für die Errungenschaften dieses wunderbaren Barockepos, dem kritischen Geist dieses Kapitels Tribut zollen und einige Dinge zu bedenken geben oder zumindest auf einige störende Unklarheiten hinweisen. Da ist zunächst die Tatsache, dass sich jeder der oben genannten Meister nur allzu gerne als Entdecker der Wahrheit ausgibt, als Inhaber des einzig gültigen Kanons der authentischen Interpretation. Wir haben von Kapellen gesprochen, also betreten wir quasi religiösen Boden  : An welchen Gott soll man glauben, wer hat mehr Recht als sein Nachbar, wer ist authentischer als die anderen  ? Als nächstes stellt sich die Frage, wie es überhaupt um den Willen des Komponisten bestellt ist. Schließlich geht es nicht nur darum, den Buchstaben, sondern auch den Geist originalgetreu wiederzugeben. Und was den Wunsch nach der Verwendung historischer Originalinstrumente betrifft, so wird oft vergessen, dass die Mehrzahl der Komponisten von nichts anderem träumte, als dass diesem Pianoforte oder jenem Blasinstrument oder Bogen endlich ein besserer Klang abgerungen werde. Wie sollen da die nichtschwingenden Saitenabschnitte, die wie ein altes Harmonium klingen oder das Hammerklavier, das an ein verstimmtes Saloon-Piano erinnert, mit den Briefen in Einklang gebracht werden, in denen Klavier- oder Geigenbauer inständig um ihre jüngsten Errungenschaften gebeten werden oder vom neuen Klang eines gewissen Steinway geschwärmt wird … Und schließlich gibt es noch zwei weitere, nicht gerade unerhebliche Widersprüche, die allerdings niemanden sonderlich zu stören scheinen  : Der erste betrifft jene »Reinheit« des alten Stils, nach der geforscht wird und die eine »gesunde« Reaktion auf die Gefühlsexzesse der Romantik sein soll. Da203


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Dritter Satz: Musik und Moderne

bei stellt sich die Frage, ob die Bemühungen unserer Forscher nicht in die falsche Richtung gehen. In der Tat scheint mir die Abschaffung jeglichen Glissandos, Vibratos oder gerollten Rs, um nur diese Beispiele zu nennen, im totalen Widerspruch zu den ältesten überlieferten Tondokumenten zu stehen. Beweisen uns diese doch, dass die Darsteller des 19. Jahrhunderts auf eine Art deklamierten, die uns heute ganz einfach grotesk vorkäme. Dasselbe gilt natürlich auch für die Sänger. Und man kann davon ausgehen, dass die noch älteren Generationen auf ähnliche Weise spielten oder sangen, vielleicht sogar noch übertriebener. Hingegen ist es sehr unwahrscheinlich, dass dieser »bereinigte« Stil, diese unschlagbare Fitnesscenter-Rhythmik – Markenzeichen unserer Epoche, makellos und peinlichst genau den Text befolgend – die Spielweise des 18. Jahrhunderts gewesen sein soll. Aus historischen Zeugnissen von Instrumentalisten wissen wir heute  : Früher liebte man das Rubato, die Glissandi, die Improvisation, allesamt Merkmale einer großen Freiheit, einer großen Spontanität, die einer bis heute anhaltenden allmählichen Anämisierung anheimgefallen sind. Die »historisch informierten« Interpretationen basieren auf einer Werktreue, die dem Geist des Werks an sich gar nicht gerecht wird, ganz im Gegenteil. Nur liegt das – im Grunde unlösbare – Problem darin, dass diese Freiheit, dieses allgemein verbreitete Stehgreifspielen nicht niedergeschrieben wurde und deshalb auch nicht reproduzierbar ist. Dasselbe erlebt man heute beim Jazz, wo zahlreiche Interpretationselemente nach wie vor ausschließlich mündlich überliefert werden. Dabei scheint es so, als wenn gerade diese Elemente, über die wir praktisch keine Auskünfte besitzen, den wesentlichen Teil dessen ausmachen, was das Publikum damals zu Gehör bekam, zu einer Zeit, als die Persönlichkeit des Interpreten und seine »Ausschmückungstalente« die wesentlichen Elemente einer musikalischen Darbietung darstellten. Es ist also notwendig, den Begriff der Authentizität mit der größten Vorsicht zu bewerten. Paradoxerweise habe ich den Eindruck, dass die »historischen« Aufnahmen, die wir seit mehr als einem Jahrzehnt zu Gehör bekommen, den Geist unserer Epoche auf bemerkenswerte Weise widerspiegeln  : Reinheit des Textes, weil wir in einer Zeit leben, in der die »objektive« Realität hoch im Kurs steht, sei es in Form von vulgären Reality-Shows, von Filmen, die auf einer »wahren« Geschichte beruhen, oder von historischen Romanen. Am anderen Ende des Spektrums rangiert jenes Publikum, das verrückt ist nach Fantasy, Horror und mittelalterlicher Epik, und das sich mithilfe der Alten Musik in eine Atmosphäre der Donjons und Ritterfräuleins versetzen lässt. Womit zwei dem Anschein nach widersprüchliche Erwartungen erfüllt wären. 204


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Die Kritik und das Authentische

Schließlich liebt unsere stets in Eile befindliche Epoche zügiges Tempo und gnadenloses Pulsieren. Wir werden überflutet mit neuen Einspielungen von Mozart- oder Beethovensymphonien, die eine um die andere in einer barbarischen Diskotheken-Rhythmik gehalten sind. Ganze Sätze ohne die geringste Tempofluktuation, furios an einen Bodybuilding-Kurs gemahnend, mit dem Dirigenten im Jogging-Outfit, à la Jane Fonda, die Pauken über Lautsprecher verstärkt, gleichsam um die Jagderöffnung anzukündigen. Oder ist es vielleicht doch nur die Langeweile des Toningenieurs, der von einem Heavy-Metal-Konzert träumt  ? Authentisch  ? Das ist es ja möglicherweise alles – fragt sich nur, für welche Epoche … Der zweite Widerspruch, auf den ich hinweisen möchte, betrifft die fabelhafte Hirnakrobatik, der sich insbesondere die Akteure der Opernwelt nach Lust und Laune hinzugeben scheinen  : Auf der einen Seite sorgen die Anhänger der sogenannten Werktreue dafür, dass die Intention des Komponisten die alleinige Richtschnur für die musikalische Interpretation des Werks darstellt, auf der anderen Seite lautet die oberste Maxime, die Inszenierungen mögen immer moderner, immer schräger, immer innovativer werden. Dabei wäre es doch eigentlich logisch, das Auge mit derselben Liebe zum Detail, derselben »Wahrheit« hinsichtlich des historisch authentischen Stils zu verwöhnen wie das Ohr. Aber offenkundig ist nur letzterem dieses Privileg vorbehalten. Freilich könnte man das Pferd auch von der anderen Seite aufzäumen und fordern, die Musik solle sich genauso viele Freiheiten hinsichtlich der Interpretation von Text und Stil »herausnehmen« können wie die Inszenierung. Mit anderen Worten  : Der Graben zwischen dem, was man hört, und dem, was man sieht, wird immer größer. Natürlich wäre es unerträglich, die Sänger nur noch bei Kerzenschein, mit Perücke und Reifrock auftreten zu lassen  ; aber wie soll man es sonst bewerkstelligen, Orchestergraben und Bühne miteinander zu versöhnen, wenn der eine immer »antiker« und die andere immer moderner wird  ? Zum Teil verbirgt sich die Antwort in dem, was wir bereits weiter oben angedeutet haben  : dass es sich nämlich bei dieser Art von Authentizität ohnehin nur um eine Illusion handelt. Tritt doch, je mehr man versucht, eine vergangene Zeit wieder aufleben zu lassen, der jeweils herrschende Zeitgeist umso stärker zu Tage. Paradoxes Resultat oder geheimer Wunsch unserer lieben Meister der »historischen Aufführungspraxis«  ? Was auch immer die Antwort sein mag  : Wir können davon ausgehen, dass sich im außergewöhnlichen Erfolg des »Barock«-Revivals, zumindest teilweise, nicht nur der kreative Engpass widerspiegelt, der unser zeitgenössisches Musik205


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Dritter Satz: Musik und Moderne

schaffen charakterisiert, sondern auch die allgemeine Verunsicherung des heutigen Publikums sowie dessen stetige Gier nach »Neuem«, und sei dieses Neue auch nur einer Zeitmaschine entsprungen …

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V I E R T E R S AT Z : D i e B e g i erde n a c h M u s i k


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13. »Le bon plaisir«

»Die oberste Regel ist, zu gefallen …« RACINE

Gefallen, Vergnügen … Zwei Wörter, die im modernen Sprachgebrauch unterschiedliche Bedeutungen haben, aber durch dieselbe Wurzel placere verbunden sind – sowie durch die windende Sprosse eines unsichtbaren »ich will«, gleich der doppelten Schlange des Hermesstabs. Stehen doch das »Ich will gefallen« des schöpferischen Künstlers und das »Ich will mein Vergnügen« des Betrachters einander gegenüber. Wenn sich der Betrachter nun zum Fürsten erhebt, wird das Vergnügen zum Demiurgen, zum »bon plaisir«138 des Königs, es erlässt die Regeln, »deren oberste ist, zu gefallen«. Es bestimmt den Stil und gleichzeitig die Höhe der Gagen, weckt Berufungen und hält, wie ein guter Kapitän, der zugleich auch Herr über die Winde wäre, Kurs auf eine stärkende, beruhigende, belebende Ästhetik. Auf diese Weise ist die »große Musik« des Abendlandes entstanden. Durch den Willen, das »Belieben« der Fürsten, die diese in Auftrag gaben. Aber auch durch die, die sie erfanden  ; wie in einer doppelten Wellenbewegung, angeregt durch das »placere« – regelrechte »Plazenta« des Hedonismus – gereichten die Schöpfungen der einen den Begierden der anderen zur Befriedigung. Unter den »Erfindern« gab es zum einen die Servilen, die Kriecher, diejenigen, die zurechtschneiden, stutzen, nach Maß anpassen, die Lullys und die Salieries, die tönenden Hofgärtner, die Bratenköche, die auf Bestellung anrichten und aufschneiden. Und es gab diejenigen, die sich nach außen hin zwar anpassen, innerlich aber nach ihrem Gutdünken verfahren, die genialen Enfants terribles, denen die Gehorsamsverweigerung oder die Flucht in die Taubheit lieber war, als sich Vorwürfe anzuhören oder gar den Befehl zu empfangen, »weniger Noten« zu schreiben. Und dann gab es Wagner, den Hofnarr – im liebevollen Sinn des Wortes gemeint –, der das »bon plaisir« in den Rang der totalen Kunst erhob. Denn zwischen den Zeilen des musikalischen Vergnügens begann sich der Lauf der Moderne abzuzeichnen, als Bächlein zunächst, dann anschwellend, über die Ufer 209


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

tretend, tobend. Die Moderne, die bis zur Ankunft des Herrn vom grünen Hügel – wahrhaftiger »vieux de la montagne«139 – lediglich der Ausdruck eines immer anspruchsvolleren, zum Schluss geradezu an Onanie grenzenden Vergnügens gewesen war. Immer stärker, raffinierter, mächtiger und einnehmender, immer ansteckender und dominierender – das waren die Triebfedern, die hinter der Intention des Vergnügens steckten, die Moderne zu schaffen  : alles dafür tun, um den bestmöglichen Orgasmus zu haben, den Fürsten zum Orgasmus zu bringen. Das bon plaisir, zur Trance im Sinne de Sades geworden, hatte die Überdosis erreicht. Blieben nur noch Tod oder Entzug. Tod durch Vergessen oder Entzug durch Askese, so lautete die Losung, Debussy oder Schönberg. Der eine »bis zum nackten Fleisch der Emotion« vordringend, aber Dogma und Scholastik souverän ignorierend. Der andere, nach wollüstigem Schwelgen in dunkler Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies – Verklärte Nacht, Gurre-Lieder –, den fruchtbaren talmudischen Zweifel auf das herkömmliche musikalische System anwendend, um dieses schließlich der Sterilität anheimfallen zu lassen, indem er jegliche Affinität zwischen bestimmten Noten oder Intervallen verleugnete und den musikalischen Elementen das plaisir untersagte, sich gemäß ihren – von ihm verworfenen – Neigungen zu paaren. Wie eine Anstandsdame, welche die Gemächer der Jungfrau bewacht. Und wo bleibt da bitte das Vergnügen  ? Nach Art und Weise der Mönche, die in der Abgeschiedenheit ihrer Klöster den Cantus Planus und die Polyphonie erfanden, destillierten die »Modernen«, ihr Haupt mit der konischen Mütze des zeitgenössischen Alchemisten bedeckt, ihr eigenes plaisir, heimlich und hermetisch, das plaisir ausgeklügelter Rezepturen, komplexester Kombinationen, unerhörtester und raffiniertester Klangtexturen, erlesenster Atmosphären. Nachdem sie endlich des »Fürsten« und seiner Bevormundung entledigt waren, kosteten sie ihr Vergnügen im Stillen aus. Das Publikum, welches von nun an die vakant gelassene Rolle des Auftraggebers übernahm, musste sich beugen, den Buckel hinhalten und das Offenkundige akzeptieren  : Die Krone hatte einen anderen Kopf bekommen. Mit hundertjähriger Verspätung gegenüber der menschlichen Gesellschaft hatte nun endlich auch die musikalische Gesellschaft ihre Revolution vollbracht. Heute hat sich die Gemeinschaft als Spaßgesellschaft proklamiert, dreist und offiziell. Wer dieses Grundprinzip infrage stellt, begeht schlimmste Blasphemie, einen unvorstellbaren Tabubruch. Also applaudiert man wieder den musikalischen Heckentrimmern, auch wenn sie nur einen mickrigen Buchsbaum be210


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»Le bon plaisir«

schneiden  ; die Bratenköche kehren zu ihrem Drehspieß zurück, um uns ekliges oder zumindest fades Grillfleisch im Übermaß vorzusetzen. Was dabei herauskommt ist all das »Neo-Dingsda«, das »Techno-Zeug« mit seinen Derivaten, konzipiert, uns zu gefallen, uns zum Kauf zu bewegen, uns etwas vorzugaukeln, unseren Geschmack zu korrumpieren und unser Urteilsvermögen zu verfälschen. Und was ist mit all denen, die – hineingeboren in eine gesunde Demokratie und nichts vom »bon plaisir du roi« wissend, aber auch nicht die geringste Absicht hegend, sich mit einer herrschenden und dominierenden Entität zu identifizieren – sich zwar auf Kosten der Musik eine schöne Zeit gönnen, jedoch nicht darauf verzichten wollen, in perfektem Einklang zu sein mit dem, was ich als den eigentlichen Sinn, die Finalität der Musik bezeichne  : um, für den Augenblick des Hörens, an der Seele der Welt, an der eigenen Essenz zu partizipieren  ? Welche Alternative bleibt ihnen, zwischen den Soldatenmönchen, die eifersüchtig wachen über ihr knapp gewordenes plaisir, und den Händlern im Tempel, die im Begriff sind, ihre vollen Fässer vor uns auszuleeren, vorausgesetzt, man zahlt bar  ? Die Rettung – wie bei jeder Fallgrube, die dieses Namens würdig ist – kommt von oben. Durch Bildung des musikalischen Gehörs, durch Trainieren des auditiven Fassungsvermögens, durch Aneignung von Codes und Regeln. Hören, zweimal hören, fünfmal hören – so lange, bis das Ohr zutraulich wird. Dem Musikinteressierten möchte ich dies mit auf den Weg geben  : In puncto Freude, Vergnügen, plaisir, haben Sie alles zu gewinnen, und zwar durch Aneignung eines größeren Wahrnehmungsfelds, einer erweiterten Empfindsamkeit, eines toleranteren Ohrs. Lieben Sie Proust, lieben Sie Gracq, oder Joyce  ? Auf den ersten Blick sind ihre Schriften nicht gerade einfach zu verstehen. Aber spüren Sie nicht, wie es Ihrer Seele leichter fällt, sich in diesen dünneren und subtileren Luftschichten zu öffnen und zu erheben  ? Wie sehr das geringste Wort, der winzigste verbale Reiz in Ihnen Reaktionen hervorruft und Sie zu dem Abenteuer einlädt, eine Türe zu öffnen, die doch seit eh und je da war  ? Nun, mit der Musik verhält es sich ganz genauso. Wir sind in dem Glauben, nur die eingängigen Harmonien genießen zu können, die schnell identifizierbaren Melodien. Dadurch verurteilen wir uns selbst, aus Angst oder aus Bequemlichkeit, zu einer anderen Form von Taubheit. Vor den Toren des Tempels zu verharren, wenn man die Schlüssel in der Tasche trägt, ist schlimmer, als daraus verjagt zu werden. 211


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

Aber seine Wächter, die Soldatenmönche, die, eingesperrt in sich selbst, wie Brünnhilde auf ihrem Felsen, über die Geheimnisse der auditiven Glückseligkeit wachen und von jedem Hörer – wie von Siegfried – die Feuerprobe verlangen, möchte ich daran erinnern  : die Finalität der Musik, das ist der »Andere«, und die Finalität des Komponisten besteht darin, diesen Anderen durch das Gehörte im wahrsten Sinne des Wortes zu »magnifizieren«, ihm innere Größe angedeihen zu lassen, ihn zu erheben. Nicht sich selbst groß machen durch eine intellektuelle Leistung, von der man sich erhofft, sie möge die Welt in Erstaunen versetzen, sondern die Welt dem Himmel ein Stückchen näher bringen – das ist eine Leistung, die auf andere Weise beachtlich ist. Weil sie es verstanden, ihre Intentionen zu verbergen, diese mit dem schillerndsten Zierrat zu schmücken, »die Kinder zu ihnen kommen zu lassen« und ihnen den sichtbaren Teil des Gartens Eden zu zeigen, behielten sie alle, die Bachs, Mozarts, Beethovens, ihre Beweggründe, die übergroße aber verborgene Komplexität ihres Werks für sich, um allein die Pracht dem Ohr darzubieten. Moderne Komponisten hingegen lassen, obwohl sie sich – im Alleingang – daran laben, nichts von ihrem plaisir nach außen dringen. Dafür offenbaren sie, mitunter beinahe entschuldigend, ihre »Triebfeder«, fabelhaft komplex wirkende Konstruktionen, bei denen man meistens vergeblich nach einem Zugang oder nach Tiefe sucht. Moderne Komponisten haben gebrochen mit dem, was ihre Verbindung zur Welt ausmachte, denn sie wollten mit dem »Herrscher« da oben brechen, aber auch mit dem da unten, den Emotionen, den Gefühlen, dem Körper. Wissen wir doch nur allzu gut, dass das plaisir ein Tyrann ist, der die Fäden unserer Psyche manipuliert, bis in die innersten Strukturen unserer Physis hinein, indem er sie für seine Zwecke benutzt und missbraucht. Diese Fäden, die nichts anderes sind als unser Überleben140. Freilich ist es »kein Leichtes, Weisheit und Musik in Übereinstimmung zu bringen«, wie der Philosoph Alain treffend formulierte141. Wenn der emotionale Mensch bei modernen Komponisten keine Freude findet, dann bietet er sich, wie eine Kurtisane, denen feil, die ihm zu einem schäbigen Preis Befriedigung zu verschaffen wissen. Begeben wir uns also zu ihnen hinauf, zu den »Modernen«, da jeder andere Weg todbringend wäre. Aber einen Teil des Weges sollen auch sie zurücklegen und uns entgegen kommen, ohne zu »fallen«, damit alle sich in der Musik vereinen und sich ihrer erfreuen, denn dies ist ihr »bon plaisir«. 212


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14. Der Mensch und seine Begierde

»Das, was Anstrengung, Willen, Appetit, Begierde begründet, ist nicht, dass wir eine Sache als gut beurteilen  ; sondern im Gegenteil, man urteilt, dass eine Sache gut ist, weil man sie durch Anstrengung, Willen, Appetit, Begierde anstrebt.« SPINOZA, Ethik, III

Am Anfang dieses Buches sagte ich, dass es nicht dieselben Gründe seien, die den Komponisten zum Schreiben und den Musikfreund zum Hören treiben. Dennoch sind beide durch ein und dieselbe Begierde vereint  : Im Falle des schöpferischen Künstlers ist es der Wunsch nach Emanation [émanation] – die Begierde fungiert als Ursprung des Objekts, und im Fall des Hörers ist es der Wunsch nach dem Greifen [préhension] – das Objekt ist der Ursprung der Begierde. Das heißt, dass wir es hier mit einer Form von Erotik zu tun haben. Lautet ihre Definition doch, dass mit dem Objekt die Begierde entsteht. Die emotionale, gefühlsmäßige Beziehung zum musikalischen Zeichen geht einher mit einer intensiven und leidenschaftlichen Liebesbeziehung, die den Rezipienten an das akustische Objekt bindet. Dies mag genügen als Erklärung für das oftmals übertriebene, irrationale Verhalten vieler Musikenthusiasten, insbesondere der Opernfans. Ob feindliche oder begeisterte Reaktionen, meistens sind sie völlig übergeschnappt. Sämtliche Hemmungen fallen, die Masse wird zur Horde. Für den Interpreten ist es immer ein faszinierendes Spektakel, ein Publikum vor sich zu haben, das von kollektiver Begeisterung gepackt wird. Allerdings wäre es naiv von ihm, auch nur einen Moment zu glauben, diese Begeisterung könne ihn selbst zum Ziel haben. Das Publikum ist verliebt in den Klang, der vom Künstler getragen wird, es akklamiert den Klang über die Person, die ihn der Menge darbietet  ; oder es bedenkt den mit Buhrufen, der ihn vergeudet hat, wie Perrette die Milch aus ihrem zerbrochenen Krug142. Das Publikum beurteilt den Interpreten aufgrund seiner Fähigkeit, das geliebte, ersehnte, wohl bekannte 213


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

tönende Objekt so »treu« wie möglich wiederzugeben. Und weil es immer wieder zum selben Objekt – genannt  : Repertoire – zurückkehrt, ist das Publikum in seiner Begierde monogam. Schickt es sich jedoch an, etwas Neues zu hören, etwa zu einer Uraufführung zu gehen, so wird diese Begierde durch das verlockende Vergnügen einer de facto-Polygamie verdoppelt  : der Liebhaber klassischer Musik schickt sich an, an neuen Tönen Gefallen zu finden. Diese Erwartung zu enttäuschen, den Hörer um seine erhofften Freuden zu bringen, heißt so viel wie die Verbindung zu ihm abzubrechen. Ihn über Jahrzehnte hinweg zu enttäuschen und zu frustrieren. Es bedeutet, ihm beizubringen, die Lust am Wiederkommen zu verlieren. Fragt man einen Melomanen, was ihn antreibt, ins Konzert oder in die Oper zu gehen, so lautet die Antwort meistens  : den Alltag hinter sich zu lassen und einen außergewöhnlichen Augenblick zu erleben. Laut Roland Barthes ein Alibi für jedwedes verliebte Verhalten  : »Das verliebte Subjekt, das wissen wir, zeichnet sich durch einen Rückzug von der Realität aus, es »desinvestiert« sich von der äußeren Welt.«143 Somit hat sich eine weitere Kategorie des Musikliebhabers herauskristallisiert, und zwar die, die auf das Begehren ausgerichtet ist. Sie verhält sich komplementär zu der Hörereigenschaft, die wir zu Beginn des Buches beschrieben haben und die sich auf das Verhältnis des Rezipienten zur Umwelt bezieht. Diese neue Nomenklatura deutet auf neue Erwartungen hin, welche nicht enttäuscht werden sollten, denn das ins Gegenteil umgeschlagene Begehren ist die Abscheu, das frustrierte Begehren ist der Ursprung von Widerwillen oder Zorn. Freilich helfen uns diese Affekte dabei, das schwierige und angespannte Verhältnis des Hörers zur Musik seiner Zeit besser zu verstehen. Ein erstes Charakteristikum der Begierde, gleichsam die unterste Stufe, ist der Voyeurismus. Dieser ist bei allen Hörern »als Hintergrund-Modus« vorhanden und man kann sich durchaus vorstellen, dass die Lust, in den Geist eines schöpferisch tätigen Künstlers vorzudringen, und sei es nur ein kleines Stück weit, das Hauptmotiv bildet für jegliches Interesse an kreativen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Alle Leser von Prousts Suche nach der verlorenen Zeit kennen das Vergnügen, »Einlass« in das Hirn des Autors gefunden zu haben, an seinen kleinsten Gefühlsregungen teilhaben zu können. Auch Boulevardpresse und Paparazzi wissen diesen – wenn auch unbewussten – Drang zum Voyeurismus nur allzu gut zu nutzen, und was bei belanglosem, meistens gefälschtem Klatsch und Tratsch funktioniert, das funktioniert sogar noch viel besser, wenn es darum geht, sich in die Vorstellungswelt eines Genies einzuschleusen. Aus diesem Blickwin214


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Der Mensch und seine Begierde

kel heraus sollte man sich den Film Being John Malkovich noch einmal ansehen, in dem anhand einer äußerst skurrilen Parabel erzählt wird, wie jemand in das Hirn eines anderen Menschen eindringt und sich allmählich dessen Persönlichkeit bemächtigt. Übrigens  : Durch das Verbot als Konstituente des Voyeurismus wird die Begierde nur noch gesteigert.144 Eine gesteigerte Form der Begierde ist der Fetischismus. Der Musikliebhaber findet Gefallen an Klängen, an bestimmten Klängen, an bestimmten Arrangements von Klängen. Mit wachsender Gewöhnung und musikalischer Bildung beginnt er, auf diese oder jene Kadenz zu warten, auf ein nicht geschriebenes, aber gemäß Konvention gesungenes hohes C, auf diese oder jene Verlangsamung, diese oder jene Farbe. Der Fetischismus ist die Konstituente der Begierde, die die heftigsten Reaktionen auslöst. Das gilt sowohl für das Gebiet der geschlechtlichen Erotik als auch für die sublimierte Erotik des Musikerlebnisses. Der fetischistisch geprägte Hörer duldet keinerlei Abweichung von seinem Genussritual, welches er selbst festgelegt hat. Dies lässt jeden Versuch, frischen Wind in ein klassisches Werk zu bringen, vor allem in der Oper, höchst problematisch werden … Schließlich kommen wir zu einer äußerst subtilen Ausprägung der Begierde, die mitunter das Erleben eines der beiden vorangegangenen Zustände voraussetzt, und zwar das Gefühl der Osmose in Bezug auf einen höheren Geisteszustand. Womit ich nicht den Voyeurismus im Sinne von »Ich befinde mich im Kopf von Mozart« meine, der eher eine touristische Haltung widerspiegelt, die dem Hörer ebenso wenig gestattet, sich für Mozart zu halten, wie sie dem Passanten erlaubt, in die »Seele« dieser oder jener Statue zu schlüpfen. So wie das Gespräch mit einer extrem brillanten Person unser eigenes Niveau hebt und uns dazu zwingt, das Beste aus uns herauszuholen, so wirkt die Aufnahme eines sublimen Musikwerks für einige Augenblicke erhebend auf uns. Und somit wären wir abermals mit einer Abwandlung des erotischen Akts konfrontiert, den man auch so beschreiben könnte  : Wir eignen uns die Eigenschaften des Wesens an, das wir begehren, oder zumindest teilen wir sie mit ihm. Auf uns Menschen bezogen, können dies Güte, Schönheit, Intelligenz oder Reichtum sein. Jemanden zu begehren, der keine dieser Qualitäten besitzt, ist doch eher eine Seltenheit. Zuoberst auf der Skala befindet sich die Stufe der Ekstase. In diesem Zustand erwartet der Hörer, dass ihn ein Werk oder ein Interpret kraft des geliebten Klangs zur »mystischen Kommunion« jenseits der Wörter führt – eine weitere Form sublimierter Erotik. Ich erinnere mich noch genau an die letzten drei Konzerte unter Herbert von Karajan bei den Salzburger Osterfestspielen, wo ich das Glück hatte, dabei sein zu dürfen. Besonders das Requiem von Verdi ist mir im 215


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

Gedächtnis haften geblieben – Karajans letzte Aufführung dieses Werks -, denn ich war, nachdem die letzte Note verklungen war, während ungefähr zwei Stunden außerstande, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Ich hatte sämtliche Stadien der Begierde durchlaufen, bis zur Ekstase, und ich war so angefüllt mit Tönen, einer wunderbarer als der andere, dass ich selbst keinen mehr hervorbrachte. Sowohl der schöpferische Künstler als auch sein Rezipient werden also durch ein und dieselbe Begierde motiviert, aber »funktionieren« wird ein Werk erst dann, wenn beider Begierden koinzidieren. Und wie wir anhand der Klassifizierungen sehen, die ich am Anfang des Buches aufgestellt habe, deckt sich die Begierde des Komponisten, der durch sie zum Komponieren angetrieben wird, mitnichten mit der des Hörers. Noch einmal möchte ich auf Roland Barthes zurückgreifen, der in Bezug auf den Lektürevorgang bemerkt  : »Was wir begehren, ist […] die Begierde des Schreibers [scripteur] während des Schreibens, oder  : Wir begehren die Begierde des Autos nach dem Leser, wir begehren das aimez-moi, das jeglichem Schreibvorgang innewohnt.«145 Machen wir uns also nichts vor  : Im Wettlauf um die Komplexität der »postschönbergschen« Musik geht es nicht um den Verzicht auf das aimez-moi, sondern im Gegenteil um ein exklusives und totalitäres n’aimez que moi.146 Der Komponist verschanzt sich nicht hinter einem Schutzwall der Kopflastigkeit, er erwartet von seinem Hörer den totalen Akt der Liebe. Er erwartet die Anstrengung und die Kompromisslosigkeit des Schülers, der sich auf die »Initiation« vorbereitet, durch die er sich vollkommen hingibt. Ein Blick auf die Militanz des Avantgarde-Publikums – zu dem sich der Autor dieser Zeilen lange Zeit selbst rechnete – genügt, um sich davon zu überzeugen. Wenn diese intensive Arbeit, dieser Akt der Huldigung nicht vollzogen wird, erscheint die kompositorische Geste verschwommen, wird sie als herablassende Abkehr wahrgenommen. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Beispiel aus der Filmbranche in den Sinn, an dem sich diese Aussage bestens veranschaulichen lässt. In Woody Allens-Film Deconstructing Harry [Harry außer sich] geht es darum, dass die gleichnamige Hauptfigur während der Dreharbeiten plötzlich für die Kamera unscharf ist [out of focus]. Nach Überprüfung aller Einstellungen steht jedoch fest, dass nicht ein Kameraproblem die Ursache der Unschärfe ist, sondern dass Harry selbst unscharf geworden ist  ! Im Moment, wo der Film in die Realität der Rahmenhandlung »kippt«, fühlt sich Allen, der die Rolle des Erzählers spielt, wie bei einem Flashback in die Zeit zurückversetzt, als er – damals noch Schriftsteller – selbst physisch unscharf geworden ist und ihm seine damalige Lebenspartnerin erklärt  : »Du wolltest für deine Leser ungreifbar werden, du hast von ihnen ver216


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Der Mensch und seine Begierde

langt, dass sie immense Anstrengungen unternehmen, um dich zu verstehen, um auf dich zuzugehen. Du bist von solch unglaublicher Arroganz, dass du für den Rest der Welt unscharf geworden bist.« So erscheint auf einmal alles, was wir zum Thema emotionsauslösender Objekte festgestellt haben, alles, was wir über die Frage gesagt haben, in welchem Maß die Rolle und die Bedeutung der Gefühle während des kreativen Prozesses berücksichtigt werden, in einem neuen Licht  : Der Komponist trocknet seinen Diskurs aus, lässt ihn der Askese anheimfallen, aus dem Verlangen heraus, den Hörer – wie in einer Art Osmose, bei der der gesättigtere Körper in den weniger gesättigten eindringt – zu zwingen, ihm seine eigenen Emotionen preiszugeben, ihm seine eigene Begierde zu schenken. Das aimez-moi des klassischen und romantischen Komponisten war großzügiger. Er gab viel und empfing »in Echtzeit«, im Moment des Hervorbrechens, der Gestaltwerdung seines Werks. Hatte nicht Mozart geschrieben, er sehe eine ganze Symphonie blitzartig vor seinem geistigen Auge erscheinen, und diese »Vision« sei die schönstmögliche Ekstase  ? Denn genau das ist die Tugend der Inspiration  : das sofortige Wissen um die erotische Macht der Musik in dem Moment, da sie aus des Komponisten Geist hervorbricht. Wir alle haben ihn schon erlebt, den Moment des musikalischen Einfalls, von dem man sofort weiß, dass er »funktionieren«, Gefallen auslösen wird, dass er den Wunsch hervorrufen wird, mehr zu hören. Allerdings ist dieser Begriff des plaisir sowie die ganze Folge der damit verbundenen Emotionen und Gefühle zu Recht dazu angetan, jedem Künstler, der nach dem Absoluten strebt, suspekt und abstoßend vorzukommen. War doch die Freude des klassischen Komponisten, Freude zu bereiten [le plaisir de faire plaisir], das »Von Herzen, möge es zu Herzen gehn« Beethovens dem Verderben durch das plaisir des Massenkonsums, der erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Erscheinung trat, noch nicht anheimgefallen. Verständlich also, dass es Komponisten gibt, die ihre Rolle nicht mit der einer Thai-Massage-Spezialistin identifizieren und sich weigern, westlichen Ohren ihre Wünsche zu erfüllen. Und liest man den sehr interessanten Artikel von Nicholas Wade147 in der New York Times, in dem über die neuesten Studien zum Thema Psychophysiologie des Musikhörens berichtet und Letzteres von einem sehr seriösen Harvard-Professor mit dem Genießen eines Cheesecakes verglichen wird, so versteht man, warum manche sich nicht in der Rolle des Zuckerbäckers sehen wollen. Im Grunde wird in diesem Artikel alles gesagt, was man über die Art und Weise wissen muss, wie Musik als Funktion funktioniert  : Sie ist unterhaltsam, vergnüglich, entspannend, ja sogar orgastisch, wenn es nach einem anderen ehrenwerten Professor geht, der im sel217


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

ben Artikel feststellt, dass gewisse Rockmusiker den Emotionsfaktor der Musik dazu benutzen, um ihre Chancen auf sexuelle Abenteuer zu erhöhen  ! Es versteht sich von selbst, dass das höhere Ziel, welches einen Komponisten – und das bereits in jungen Jahren – antreibt, schöpferisch tätig zu sein, nicht ganz denselben Niederungen entspringt, wie es diese »viehischen« Betrachtungen tun, und ich denke, dass die feindliche Reaktion im Hinblick auf die Welt der »auditiven Erholungspause«, der Bruch mit den Zeichen und Codes der »gustativen« tonalen Musik, der Bruch mit dem Körper und seinen Begierden, seinen Trieben, seinen Versuchungen im Grunde nichts anderes ist als ein Ruf nach dem Idealen, dem Absoluten – in einem Wort  : nach der Finalität der Musik. All das sollte berücksichtigt werden, bevor man der Avantgarde den Fehdehandschuh hinwirft. Doch ist der Vorwurf erst einmal geschluckt, muss über die zu selten aufgeworfene Frage nachgedacht werden, welcher Status, welche gesellschaftliche Verantwortung dem schaffenden Künstler zukommt. Hat er überhaupt eine  ? Gegenüber wem  ? Auch stellt sich die Frage aus meinem Vorwort erneut  : Welche Musik ist für welches Publikum bestimmt  ? Und wenn musikalische Finalität und emotionale, in letzter Konsequenz an Pornografie grenzende Übersteigerung auch unversöhnlich miteinander konkurrieren, so stigmatisiert, als Konsequenz eines starken Narzissmus, die verbissene Askese ihrerseits einen sadomasochistischen Komplex, bei dem das Verhältnis des Komponisten zu seinem Publikum ebenfalls weit entfernt ist von jeglicher Idee der Transzendenz, weil dem »Anderen«, dem Hörer, ein Platz außerhalb des Werks zugewiesen wird und mancher Komponist sogar seine Intention betont, den Hörer verunsichern zu wollen – sozusagen als Alibi für seine Arbeit. Wenn wir jegliche Würde aufgeben, um uns im Pathos, in der Bequemlichkeit, in billigem Zuckerwerk zu suhlen, reißen wir den Hörer mit uns den Abhang hinunter, ziehen ihn hinab auf ein akustisches Verwöhn-Niveau, von dem aus er nur mit Mühe wieder »nach oben« kommt. Entscheiden wir uns hingegen bewusst dafür, den Diskurs der Begierde/Vergnügen-Spirale hinter uns zu lassen und präsentieren dem Hörer ein Werk, das er wie ein zu lösendes Rätsel, wie ein zu durchquerendes Labyrinth erleben wird, an dessen Ausgang eine große Glückseligkeit auf ihn wartet, welche uns mehr Einfluss auf ihn zusichert, eine exklusive, monogame erotische Bindung, dann müssen wir auch bereit sein, ein unumgängliches Risiko in Kauf zu nehmen, nämlich jenes, »unscharf« zu werden, nur noch ein ganz schwaches und unfassbares Objekt der Begierde zu sein. 218


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15. Der vergessene Liebhaber

»Anderen überlegen zu sein, hat niemals großer Anstrengung bedurft, es sei denn, man verbindet damit den schönen Wunsch, sich über sich selbst zu erheben.« DEBUSSY, Monsieur Croche

Um das Fehlen von Kompetenz, von Professionalität in Bezug auf eine Person oder ihre Tätigkeit zu benennen, greift man häufig auf die Wörter Dilettantismus oder Laientum zurück. Der aus dem Italienischen abgeleitete Begriff Dilettant bedeutet Laie oder Amateur, obwohl er ursprünglich vom Verb dilettare, diletto kommt, was je nach Endung so viel heißt wie »bezaubern, erfreuen«, »bezaubernd«, »geliebt« … Amateur stammt vom lateinischen Wort amator ab, »der, der liebt«. Wie erklärt es sich dann, dass diese beiden Begriffe, die heute normalerweise verwendet werden, um den Faulen, den Ineffizienten anzuprangern, denjenigen, der zwar ein »florierendes Geschäft, Diplom und Patent« vorweisen kann, aber seinen Schuldigern die wohl verrichtete Arbeit vorenthält, auf die diese zu Recht warten  ? Woher kommt es also, dass aus diesen so positiv, so charmant, so leicht daherkommenden Vokabeln Schimpfwörter geschmiedet wurden  ? Ach ja, und dann ist da noch die Leichtigkeit, auch ein gern gehörter Vorwurf, noch so ein Wort, das seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt wurde und nun als Synonym für Oberflächlichkeit herhalten muss – und uns aus diesem Grund wenig sympathisch ist. Aber was gibt es gegen die Leichtigkeit148 einzuwenden  ? Ist uns die Schwere vielleicht lieber  ? Nein  ? Warum musste man dann ein so hübsches Wort vergewaltigen, um ein »Vergehen« daraus zu machen  ? Dasselbe gilt für Dilettant, für Amateur. Warum nur  ? Es liegt nicht in meiner Absicht, gegen den Duden oder gegen hypothetische Windmühlen des allgemeinen Sprachgebrauchs anzukämpfen, aber ich möchte zu verstehen versuchen, was sich hinter der Krise verbirgt, die die moderne Kunst im Allgemeinen und die zeitgenössische Musik im Speziellen erschüttert – hinter der Kommunikationskrise, versteht sich. 219


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

Demnach wäre also nach heutiger Lesart der Amateur, »der, der liebt« jemand, der nicht seriös ist. Soll man daraus schließen, dass die Selbstverpflichtung auf Qualitätsarbeit, die jeden guten Handwerker auszeichnet, und deren sich auch der Künstler im selben Maß wie seines Talentes rühmen sollte, von vornherein das Vergnügen verbietet, ein Werk zur Vollendung zu bringen  ? Hat man etwa Angst davor, dass sich die Freude [plaisir] an der kreativen Geste anschicken könnte, das Material und die Intentionen zu korrumpieren  ? Wäre einem vielleicht ein Künstler lieber, der die Aufgabe kalt und objektiv angeht  ? Oder ein Interpret, der auf Abstand geht zu seiner eigenen Emotion, um zu vermeiden, dass er sie womöglich nur für sich selbst zum Ausdruck bringt  ? Oder sollte es etwa das plaisir an sich sein, das »Schuld auf sich geladen hat«  ? Weil die Kunst zu seriös, zu engagiert, zu politisch geworden ist, um sich dazu herabzulassen, Freude hervorzurufen  ? Wir leben, zum Kuckuck nochmal, in einer Welt, die sich in der Krise befindet. Sollte das vielleicht jemandem entgangen sein  ? Dieselbe Frage gilt für das charmante Wörtchen diletto, für die Grazie, durch die das musikalische plaisir ganze Heerscharen von Musikfreunden der Transzendenz zuzuführen vermag. Musste es sein, dass es zum Markenzeichen des Opportunisten degradiert wird, des Scharlatans, des fröstelnden Akademisten  ? Warum sind derlei Anwürfe nicht auf eine angemessenere Etymologie gegründet worden  ? Man wird mir gestatten, darin den bewussten Willen zu erkennen, wieder einmal, und ganz auf der kartesianischen Linie, den Anteil des Körpers – als einer Sache, die frivol und wenig seriös ist – zu verdammen zu Gunsten des reinen Geistes, welcher – die Alma Mater ist mein Zeuge149 – im Übrigen niemals existiert hat  ; des reinen Geistes, der unempfänglich ist für das plaisir, den Zauber, das Lächeln, die Grazie, und ganz damit beschäftigt, ein Selbstrechtfertigungsmodell für seine Präsenz auf der künstlerischen Bühne zu konzeptualisieren, weshalb das aus diesem Modell resultierende Werk häufig nichts anderes ist als ein Alibi … Doch ginge es hier lediglich um einen Krieg der Wörter, so wäre das Problem des Amateurs und des Laientums nicht eine solche Herausforderung. Seit jeher hat sich der Laie [amateur] auf allen Gebieten der Kunst als ein großartiger Verbündeter erwiesen, als ein Vermittler, ein Verstärker, und zwar unabhängig von der Art und Weise, wie sich die Verbreitungsmodi der Musik gestalteten. Lange vor der Erfindung der Schallplatte, in den musikalischen Salons, war es der amateur, der, ob wohlhabend oder nicht, dafür sorgte, dass neue Werke in seinen Kreisen zu Gehör gebracht wurden. Für das gesamte symphonische und lyrische Repertoire erstellte man zwei- oder vierhändige Klavierfassungen, um 220


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Der vergessene Liebhaber

der großen Nachfrage insbesondere von Laienmusikern nachzukommen, die die langen Winterabende mit dem Klang der neuen Kompositionen erfüllten. Leider ist diese Tradition mit dem Aufkommen der modernen Reproduktionstechniken verloren gegangen. Heute ist es der Amateursportler, vor allem der Golf- oder Tennisspieler, der, weil es ihn im Übermaß gibt, diesen Aktivitäten ihren Status eines planetären Phänomens verleiht. Auf dem Gebiet der Astronomie sind es die Amateure, die einen Gutteil der katalogisierten) Himmelsobjekte entdeckt haben und es ist gar nicht so selten, dass man ihre Dienste auch heute noch in Anspruch nimmt. Und Schach ist nur deshalb so verbreitet, weil sich so viele Amateure diesem Hirnsport hingeben. Desgleichen zieht die Musik nur deshalb so relativ große Mengen in die Konzertsäle, weil viele Amateure darunter sind, die für die »Sache« kämpfen. Anhand dieser Beispiele wird klar, dass all diese Aktivitäten nur existieren und prosperieren, weil sie von Millionen von Laien ausgeführt werden. Dieselbe Vision lässt sich auch auf die Literatur ausdehnen, und wenn Barthes Roger Laporte zitiert, um zu sagen, dass eine Lektüre, die nicht zu neuerlichem Schreiben aufruft, für ihn etwas völlig Unvorstellbares sei150, dann meint er damit, dass derjenige, »der die Lektüre liebt« [amateur de lecture] virtuell zu einem »Laienschriftsteller« [écrivain amateur] wird. Die Literatur ist zu essenziell für die Kultur, als dass sie sich erlauben könnte, ein solch wesentliches Faktum zu ignorieren. Aber wie steht es mit der Musik  ? Welche Literatur gibt es für den Laienmusiker  ? Praktisch alle Komponisten haben zu allen Zeiten leichte, oder einigermaßen zugängliche Stücke geschrieben, und sogar nach dem »Einbruch« der Zwölftonmethode komponierten große Vertreter der Moderne wie Béla Bartók sowohl Werke für Kinder151 als auch sogenannte leichte Stücke. Die Größten haben es niemals für unter ihrer Würde erachtet, sei es Für Elise, sei es ihren Fröhlichen Landmann oder ihren Türkischen Marsch zu schreiben. Gewiss, die Erkennungsmarke war damals unfehlbar das Genie. War man in seinem Besitz, konnte man sich allen Luxus leisten, auch den der Einfachheit. Der emsige Metabolismus des heutigen Komponisten gestattet ihm diese Muße nicht mehr, ganz zu schweigen vom Druck des »Milieus«, für das er in erster Linie produziert und das beeindruckt sein will. Wenn man – selbstredend ironisch – von John Cages 4’33’’ einmal absieht, einem Stück, bei dem der Pianist für die im Titel angegebene Dauer bewegungslos dasitzen muss, ohne eine einzige Note zu spielen, dann hat die moderne Musikliteratur – zumal der wichtigsten zeitgenössischen Vertreter der Zunft – praktisch 221


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Vierter Satz: Die Begierde nach Musik

nichts zu bieten, was für Laienmusiker technisch und künstlerisch umsetzbar wäre. Wohl kaum jemand käme auf die Idee, seinen Gästen bei einem Hauskonzert eine Serie von Clustern oder ausschließlich serielle Musik zuzumuten. Und ich denke, dass es genau dieser für den musikalischen Appetit der Zuhörerschaft typische »zwischen Café und Digestif«-Aspekt ist, der den heutigen Komponisten davor zurückschrecken lässt, für Laien zu komponieren. Entweder Pollini in der Carnegie Hall oder gar nichts. Ein Großteil der gegenwärtigen Avantgarde würde den Amateurmusiker am liebsten auf die Rolle des konsumierenden Amateurs beschränken – nach dem Motto  : Hör zu und sei still und, vor allem, lass die Finger davon. Der Laienmusiker interessiert den modernen Komponisten nicht. Besessen, wie er ist, von der Zwiespältigkeit und Unbequemlichkeit seines erträumten Status des Unerreichbaren, zuckt er vor Schreck zusammen bei dem Gedanken daran, dass er sich durch einen – vermutlich ansteckenden – Dilettantismus blamieren könnte. Nachdem er schon auf das Genie – zu stark kompromittiert im Zusammenhang mit der verabscheuten Inspiration – hat verzichten müssen, bleibt ihm nur noch das Meisterwerk, sein Meisterwerk, bei dem es sich in erster Linie um eine Karriere handelt, eine gesellschaftliche Erfüllung, von der der amateur – in aller Logik – ausgeschlossen bleiben muss. Ich halte es nicht für nötig, dieser Aufzählung von Fakten, die lediglich als Denkanstoß dienen soll, noch etwas anderes hinzuzufügen. Wenn die zeitgenössische Musik solche Mühe hat, sich zu behaupten, dann sollte sie sich die Frage stellen, ob es zulässig ist, den lebenskräftigen, den aktiven Teil der Masse des Publikums, also gewissermaßen das zweite Bein des hinkenden Körpers, der die Kunstmusik unserer Epoche geworden ist, zu vernachlässigen, durch Missachtung zu strafen – und zwar sowohl durch die ihm zugedachten Charakterisierungen als auch durch die Werke, von denen es ausgeschlossen wird.

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F Ü N F T E R S AT Z : Ne u e W e g e der M u s i k


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16. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

»Die Sehnsucht nach dem Paradies ist das Verlangen der Menschen, nicht Mensch zu sein.« MILAN KUNDERA, Die unerträgliche ­Leichtigkeit des Seins

Von den Linguisten wissen wir, dass es Sprachen gibt – so etwa die von den indianischen Ureinwohnern Nordamerikas gesprochenen Chinook-Sprachen –, die über mehrere Vergangenheitsformen verfügen, darunter eine mythische Vergangenheit. Diese »mythische Vergangenheit« ist gewöhnlich die erste Zeit, die am Konservatorium unterrichtet wird. Da die Harmonie- und Kontrapunktklassen äußerst freigebig sind mit den akademischen Grundprinzipien der tonalen Sprache, pressen sie – in »konzertierter Aktion« mit den Instrumentalklassen, deren Literatur kaum je über Ravel hinausgeht –, den knetbaren Geist des angehenden Komponisten, vor allem, wenn dieser keinen besonderen Ehrgeiz an den Tag legt, seinen Durst an anderen Quellen zu löschen, in jene Form, die weit über die Grenzen der reinen Stilistik hinausgeht. Die mythische Vergangenheit ist eine Sprachwissenschaft für sich. Sie formatiert die Empfindsamkeit des zukünftigen Musikers neu, sie hämmert ihm nicht nur – was ja gut und schön ist – die künstlerischen Schaffensmodi des klassischen Zeitalters ein, sondern sie weckt in ihm – und das ist das Perverse daran – eine tiefe Sehnsucht nach dem Vergangenen. Der Begriff an sich ist zwar schön, ja sogar poetisch, und passt genau zum Geisteszustand jenes Interpreten, der sich dem Studium und der Ausführung eines klassischen Werks verschrieben hat. Tatsächlich muss dieser das, was er liest, mit seiner gegenwärtigen Zeit in Einklang bringen, – vor allem mit unserer jetzigen Epoche, in der so viel Wert auf Authentizität gelegt wird. Für den Komponisten freilich ist es höchste Zeit, und zwar bevor er sein Musikstudium in Angriff nimmt, sich eine »mythische Gegenwart«, ja sogar eine »mythische Zukunft« zu schaffen, in der er »seine Revolution träumen« muss – das Wort sowohl in seiner politischen als auch in seiner astronomischen Bedeutung verstanden. 225


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Fünfter Satz: Neue Wege der Musik

Ich erinnere mich noch gut an die Stückchen, die ich komponierte, bevor ich mit 13 meinen ersten Unterricht in Harmonielehre erhielt. Was dabei herauskam war, grosso modo und in aller Naivität, eine Art »post-Ravelscher« Sprache, jedenfalls weitaus moderner als all die Übungen, die ich später am Konservatorium absolvieren sollte. Und in meinem Kopf schwirrten noch viel komplexere Gebilde herum, die ich mangels technischer Mittel nur noch nicht zu Papier zu bringen vermochte. Die im Laufe der sechs Jahre Kompositionsunterricht erfolgte »Formatierung« zwang mich dazu, viele Stunden täglich an die »mythische Vergangenheit« zu denken, und ich brauchte drei oder vier weitere Jahre, um das Schiff, das mich durch sämtliche Meere der Harmonie gefahren hatte, zu versenken, wieder alleine schwimmen zu lernen, und – nach großer Anstrengung – in die Gegenwart und zu meiner wahren Natur zurückzufinden. Manch anderer ist »da unten« geblieben, besiegt von der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Ich behaupte jedoch, dass dieses Paradies pervers ist, wenn es beim Schöpfer die Sehnsucht nach demselben heraufbeschwört. Schafft doch der Künstler zwangsläufig das Gegenwärtige  ; die Sehnsucht aber ist nichts anderes als das starke Verlangen nach etwas unwiederbringlich Vergangenem. Dies ist im Kontext der abendländischen Kunst, die in einer Bergsonschen152 Zeit abläuft, oder »fließt«, eine unrealistische, einfältige Haltung. Im Grunde geht es doch nur darum, ob man sich für Dante oder für Milton entscheidet  : Der eine sucht das Paradies und schickt sich an, es in seinem Streben nach der vollkommenen Sprache neu zu erschaffen. Der andere beweint den Verlust des Paradieses und verliert sich dabei in gefährlichen Sehnsüchten und Konklusionen153. Denn die Idee des verlorenen Paradieses ist dem Menschen seit jeher eine unversiegbare Quelle künstlerischer Motivationen gewesen. Es würde jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen, wollten wir an dieser Stelle seine Geschichte und ihre unzähligen Varianten zurückverfolgen. Auf unser Thema bezogen würden wir eher sagen, dass der Mensch nach Transzendenz strebt. Sei es, um dem Tod zu entrinnen – wie einige es behauptet haben – sei es, weil dies seine »Finalität« ist – wie ich es in diesem Buch verfechte. Und dieser allgemeinen Finalität des Menschen gereicht die Finalität der Musik zum Nutzen. Die eine ist wie das »Sekret« [sécrété] aus der anderen. Demnach ist die Suche nach dem verlorenen Paradies letztendlich nichts anderes als die »Umstellung« der Suche nach der vollkommenen Sprache auf einen radikal existentiellen Modus. Das Interessante am Konzept des verlorenen Paradieses ist, dass es uns ein Ziel vorgibt und uns gleichzeitig hoffen lässt, dieses zu erreichen  : Da wir es ver226


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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

lassen haben, brauchen wir nur den Willen aufzubringen, dorthin zurückzukehren. Das Ziel, der »Inhalt« dieses Paradieses, ist natürlich Gott, der Garten Eden, wo man, die Hände auf dem Rücken verschränkt und ein Gänseblümchen zwischen den Lippen, von Gleich zu Gleich mit dem »Höchsten« diskutieren kann. Gewiss ist man bei Bach oder bei gewissen Werken von Mozart versucht, sich der Wahrheit am nächsten zu wähnen und zu glauben, man dürfe nicht von der Seite dieser Genies weichen, da sie zweifelsohne den Schlüssel zum Garten in ihrer Tasche tragen. Dabei gerät in Vergessenheit, dass diese großen Männer an die »mythische Gegenwart« dachten und eine »mythologische Zukunft« bauten. Denn sie fragten sich nicht, »wann« das Paradies verloren gegangen sei, sondern »wo«. Wir, die wir uns oft jämmerlich in einer mystischen Vergangenheit verheddern, uns benebeln mit einer missverstandenen Kabbala und einer nie gelernten Alchemie, wir vergessen, dass das verlorene Paradies parallel zu uns »fließt«, ja sogar vor uns »herfließt«, um noch einmal Bergsons Terminologie zu paraphrasieren. Das verlorene Paradies ist das Ziel unserer Suche, es befindet sich weiter vorne, weiter oben. Freilich erreichen wir dieses nicht mit der passiven Sehnsucht nach einer »dekomponierten« Vergangenheit [passé décomposé] – oder vielmehr einer Vergangenheit, die ihr Vermögen, Gegenwärtiges zu »komponieren«, ausgeschöpft hat –, sondern durch die Anpassung der »Prinzipien und Ursachen« an eine moderne Vision, die sich im Gleichklang befindet mit der gegenwärtigen Zeit und ihren Notwendigkeiten. Ich erinnere daran  : Die Finalität der Musik besteht darin, den Anderen, den Rezipienten, zu erheben, größer zu machen [magnifier] und, wenn die Transzendenz auf diese Weise vollbracht ist, den Schöpfer – durch eine reflexive Bewegung – seinerseits zu transzendieren. Niemand kann sich damit brüsten, »sein« Ziel erreicht zu haben, wenn er nicht zuerst den Anderen erreicht hat. Das ist der Grund, weshalb es das vergessene, verkannte oder unverstandene Genie nicht gibt. Es reicht, dass ein Werk nur einen einzigen Hörer für einen Augenblick berührt, erhebt, transzendiert, damit sowohl dieses als auch sein Schöpfer ihre Daseinsberechtigung finden. Ein »vergessenes Genie« ist ein Schöpfer, der nichts transzendiert hat. Es stellt nichts dar – oder höchstens das Samenkorn, das wartet. Also befindet sich das verlorene Paradies nicht nur, wie ich weiter oben sagte, im »Jetzt« und im »Später«, sondern es ist auch hier. Das verlorene Paradies ist der Ort, wo der »Kontakt« entsteht, wo sich die Unendlichkeit des Möglichen vor uns auftut und wo jeder, der diese Unendlichkeit 227


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Fünfter Satz: Neue Wege der Musik

nur einen kurzen Augenblick lang einzufangen vermag, das Grundmuster seiner eigenen Möglichkeiten erkennt. Für einen Komponisten ist die Suche nach dem verlorenen Paradies wie die Suche nach der Geheimsprache, der »Sprache der Vögel«, die sowohl den Alchemisten als auch Messiaen besonders am Herzen lag. Dieser suchte, studierte und verarbeitete sie, und zwar nicht nur in seinen Kompositionen, sondern auch in seinem Geist154. Diese Sprache ist zeitlos, deshalb passt die mythische Gegenwart am besten zu ihr, denn, so Sartre, die Gegenwart existiert nicht. Aber mythisch muss sie sein, bringt doch die Musik den Menschen seinem Archetyp näher. Und aus diesem Grund unterscheiden wir zwischen »Funktion« und »Finalität« der Musik. Funktionelle Musik, namentlich die Unterhaltungsmusik in all ihren Facetten, ist nicht dazu berufen, uns unsere mythologische Dimension zu enthüllen. Ebenso wenig erhebt sie den Anspruch, uns die Pforten zum Garten Eden zu öffnen. Ihre Sprache ist unbeschwert. Auch offenbart sie uns nichts von unserem innersten Wesen. Sie ist eine »existentielle« Musik, frisch wie Quellwasser. Tief in ihrem Inneren jedoch wachsen die mythischen Keime von morgen heran, denn sie vermag auf eine naivere, spontanere und authentischere Art vom Menschen zu sprechen als die »ernste« Musik  ; und vor allem  : der unverfälschte moderne Mensch drückt sich quasi unbewusst in ihr aus – was der Klangsubstanz eine gewisse »Bodenständigkeit« verleiht. Die Kunst von morgen wird heute gezeugt, auf der Straße. Dort nimmt der mythische Mensch, aus dem »Rinnstein« geboren, Gestalt an, um sich später am Schmiedefeuer des Genies Kraft und Stärke zu holen. Aus diesem Grund haben die großen Komponisten ihr musikalisches Material immer aus der Folklore geschöpft, deren jüngste Erscheinungsform die diversen Varianten des Jazz, der Rock- und der Popmusik sind. Freilich ist die »Sprache der Vögel« nicht einfach die Sprache der Straße. Das »Argot« [argotique] der Dombaugesellen, aus dem durch eine orthographische Entstellung das Wort »Art gothique«155 [gotische Kunst] hervorgegangen sein soll, ist die Kenntnis der »Prinzipien und Ursachen« und ihrer gewissenhaften Anwendung auf die Bereiche des Menschlichen. In der Kunst ist diese Kenntnis meistens intuitiver Natur, und die gewissenhafte Anwendung findet ihre Entsprechung in der Kompositionstechnik. So stoßen wir an beiden Enden des goldenen Zeitalters der abendländischen Musik, der Einfachheit halber auch klassische Musik156 genannt, auf »ErneuererKomponisten«, bei denen technische Angaben und metaphysisches, um nicht zu sagen  : mystisches Fundament in umgekehrt proportionalem Verhältnis zueinander stehen. In der französischen Musik sind dies Rameau und Messiaen157. In 228


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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

der »deutschen« Musik Bach und Schönberg, welcher mit der Erfindung des Reihensystems eine Rationalisierung der kompositorischen Geste anstrebte, ohne freilich die Transzendenz des Menschen zu erforschen. Vielmehr suchte er den schöpferischen Akt als solchen zu transzendieren. Und dennoch, Schönberg, der zweimalig konvertierte Gottesmann schrieb  : »Im Grunde genommen muss das Konzept des Schöpfers und der Schöpfung in Einklang mit dem göttlichen Modell Gestalt annehmen. Inspiration und Perfektion, Wunsch und Vollendung, Wille und Erfüllung treffen spontan und gleichzeitig aufeinander.« Und genau betrachtet ist das Verteilungssystem der zwölf Halbtöne anhand der Reihenmethode nur ein Beispiel von vielen, bei dem die fundamentale Symbolkraft der Zwölf – Zahl des Tierkreises und der Stämme Israels – zur Anwendung gelangt. Vielleicht wird man mir vorwerfen, unter all diesen antiken Meilensteinen Wagner außer Acht zu lassen. Aber im heidnischen Universum von Tristan und Isolde und vor allem der Götterdämmerung geht es vor allem um die Suche nach dem Schatten, um die Suche nach der »Reinigung« durch das Feuer, verbunden mit der Erlösung durch die Liebe, und weniger um die Suche nach einem Paradies, das Wagner – unzufrieden darüber, es am Schluss seines Rings den Flammen übereignet zu haben – mit seinem Parsifal in den Garten von Wahnfried zurückholt. Freilich ein Paradies im Taschenformat, dessen alleiniger Herr und Meister er ist. Wahrscheinlich war es der Vorbeizug des Kometen von Bayreuth, der letztlich die Implosion der Romantik herbeigeführt hat  : Wer wäre schon fähig gewesen, das Feuer des Himmels, nachdem es auf die Erde hinabgekommen war und diese den Flammen preisgegeben hatte, noch stärker anzufachen, ohne sich dabei zu verbrennen oder auf epigonenhafte Weise zu paraphrasieren  ? Aber musste man sich deshalb gleich mit demselben, romantisch umgekehrten Elan, in den kältesten Positivismus stürzen und das kompositorische Objekt auf die Materie und das Material, auf das Spiel von Konzepten und Funktionen, von Klassifizierungen und Kategorien reduzieren  ? War man gezwungen, die »Prinzipien und Ursachen« zu vergessen, indem man diese mit den kleinen Ursachen verwechselte  ? Mit jenen, die die Tonalität ihrem eigenen Verderben anheimfallen ließen  ? Unsere Epoche braucht neue »Vektoren«, und vor allem braucht sie »Vermittler«, um jeglichem Abdriften in die Nostalgie entgegenzuwirken. Olivier Messiaen war sicher einer der letzten großen Vermittler, gemessen an der Zahl – und der Qualität – der Schüler, die er hervorgebracht hat. Er war im Besitz dieser Macht, denn er beherrschte sowohl die mythische Gegenwart als auch die mythische Vergangenheit und die mythische Zukunft. Und er hatte dieses unüber229


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troffene Verlangen, sein Wissen an andere weiterzugeben. Dabei beschränkte sich seine Arbeit nicht nur auf die Weitergabe technischer Details, sondern er wusste denen, die empfänglich dafür waren, den Sinn für die Suche und für das Numinose einzuflößen. War er doch, mehr als jeder andere, den verschiedensten Diskursen gegenüber aufgeschlossen  : vom trockensten, strengsten, asketischsten bis hin zum rauschhaftesten. Die Suche nach dem Heiligen Gral, der »feuchte« Weg der Alchemisten, der Jakobsweg – all dies sind Bezeichnungen für ein und dasselbe Streben nach Transzendenz, mit ein und demselben Ziel  : hier und jetzt die Pforten des wiedergefundenen Paradieses aufzustoßen.

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17. Tout néo, tout beau … »Die Jugend ist eher dazu geeignet, zu erfinden als zu beurteilen, auszuführen als zu beraten, neue Projekte zu lancieren als alte zu verfolgen.« FRANCIS BACON

Dieses Zitat scheint mir auf geradezu ideale Weise dazu geeignet, das Phänomen des »Neo«-Irgendwas zu veranschaulichen. Ist doch das Neue das Geringste, was diese Erscheinung, die seit einigen Jahrzehnten eine bemerkenswerte Breitenwirkung erzielt, aufzuweisen hat. Die Erzeuger repetitiver und minimalistischer Musik sind nicht mit den ungezügelten und erfrischenden Tugenden der fertilen Jugend ausgestattet, sondern sie pflegen im Gegenteil die morbide Sehnsucht derer, die ich ohne zu zögern als »Neu-Alte« charakterisieren würde. Und genau das empfinden wir, wenn wir mit dieser Musikrichtung konfrontiert werden  : ausbleibende Vitalität, fehlender Schwung, eine Eintönigkeit, der man sogar noch schneller gewahr werden würde, wenn da nicht diese obsessive Rhythmik wäre, derer sich die »Neos« nur allzu gerne bedienen, als Krücke für abhanden gekommene Melodik und Harmonik  ; eine Rhythmik freilich, deren Beweglichkeit kaum mehr wert ist als die eines Rollstuhls, kaum zu mehr zu gebrauchen, als von einem Verdruss zum nächsten zu gelangen. Bisher wurde jeder neue Wachstumsschub der abendländischen Musik begleitet von einer Bewegung, die in Panik ausbrach angesichts der Veränderung und angesichts der Vorstellung, dass man, wie Euripides in Medea sagt, eher als Nichtsnutz denn als Weiser dasteht, wenn man den Unwissenden raffinierte Neuheiten präsentiert. Mit anderen Worten, die Begleiterscheinung eines jeden Kreativitätsschubs war der Opportunist. Weil der Vertreter des »Neo« von einer Reaktion – im pejorativen Sinn des Wortes – animiert wird, scheint er nicht so recht zu wissen, wo der Cursor – im zeitlichen Sinn – positioniert werden soll. Er ist der Ansicht, die musikalische Entwicklung habe eine schlechte Wendung genommen, die moderne Kunst in ihrer Gesamtheit sei ein Reinfall, und er sei in der Lage, den harmonischen Lauf der Geschichte wieder herzustellen. Freilich fällt es ihm schwer, den richtigen 231


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Originalzeitpunkt zu erwischen und er bewegt sich, wie der Zeitreisende aus H. G. Wells’ Roman Die Zeitmaschine, wahllos zwischen den Epochen hin und her. Häufig »landet« er zu früh, weit vor dem Zeitalter, in dem die Welt noch »in Ordnung war«. Aber nichts ist zu einfach für diesen liebenswürdigen New Age Hippie, und die modalen und »perfekten« Akkorde, auf die er beim Verlassen seiner Zeitmaschine stößt, erscheinen ihm so köstlich, dass er sich auf Teufel komm raus damit vollstopft und sie bis zur Hypnose wiederkäut. Daraus entsteht dann die sogenannte Repetitive Musik, die Minimal Music, beides, neben einer ganzen Reihe anderer Musikstile, Erscheinungsformen des »Neo«. Die daraus resultierende Leere, eine paradoxe Leere, welche durch die originalgetreue Nachgestaltung der Melodien und rhythmischen Figuren geschaffen wird, soll uns in eine pseudo-hinduistische oder pseudo-tibetische Trance versetzen – »pseudo« wohlbemerkt, liegt mir doch nichts ferner, als den östlichen Kulturen den gebührenden Respekt zu verweigern. Womit wir wieder bei der Musik als Funktion angelangt wären. Das Ziel ist, mit möglichst wenig Aufwand zu verzaubern, und die Finalität bleibt dabei auf der Strecke, zurückgelassen in Mister Wells’ Maschine. Allerdings ist diese Funktion die Garantie für einen unmittelbaren Erfolg, wenn auch schrecklich ephemer, weil das »Neo« dem Vergleich mit den Modellen, die es ja eigentlich »erneuern« soll, nur sehr schlecht standhält. Die Preisgabe des tonalen Systems und aller Codes, die eine perfekte Kommunikation mit dem Publikum erlauben, war ein fataler Irrtum. Sich dem entgegengesetzten Exzess zu verschreiben, sprich der minimalistischen oder repetitiven Versuchung zu erliegen, heißt doch im Grunde nichts anderes, als die simpelsten Codes bis zum Überdruss zu wiederholen, wie ein Alzheimer-Patient, der immer wieder alte Erinnerungen aufwärmt und nicht fähig ist, den Anschluss an die Gegenwart herzustellen und sich diese einzuprägen. So ist es doch  : Das »Neo« ist nichts anderes als eine Form von Autismus, von Gedächtnisschwund. Allerdings darf diese reduzierende Vorgehensweise nicht mit den ästhetischen Erkundungen zahlreicher Komponisten verwechselt werden, die – das Beispiel von Strawinskys Pulcinella vor Augen – die Grenzen der Tonalität ausloteten, indem sie Harmonie, Melodie, bekannte Stilfiguren oder vertraute Formen verwendeten, um diesen einen anderen Bedeutungsinhalt zuzuweisen. Kommt es auf diese Weise zur Verschiebung, zum Abrutschen eines bekannten Codes, so entsteht automatisch ein neuer Code. Was dagegen unzulässig ist – es sei denn, man beabsichtigt, ein Pasticcio etwa für eine Filmkomposition zusammenzustel232


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Tout néo, tout beau …

len – ist dies  : Man verwendet bekannte Codes in einem stilistischen und formellen Rahmen, der sich durch Rückwärtsgewandtheit auszeichnet, um im Grunde absolut nichts Neues zu sagen  ; man benutzt sie aus reinem Opportunismus. Strawinsky hat diese Vorgehensweise in seinem Le Sacre du Printemps als erster demonstriert. Dort verwendet er einen durchwegs klassischen Septakkord und fügt diesem den gleichen Akkord um einen Halbton verschoben hinzu, um eine völlig neue, aber dennoch signifikante Kombination hervorzubringen. Das Ohr ist durchaus in der Lage, diese Übereinanderschichtung zweier vertrauter Figuren unbewusst zu registrieren (Bsp. 18.1.). Es gibt nichts Stimulierenderes für einen Komponisten, als das Material, welches die Tonalität für seine Kunst bereithält, so zu verarbeiten, dass es etwas Eigenes, etwas Neues zum Ausdruck bringt – und durch diese Geste modern zu sein. Doch gerade darin offenbart sich die schwierigste Herausforderung für den schöpferischen Künstler überhaupt, nämlich sich jene Persönlichkeit zu schmieden, welche die Codes und Konventionen zu transzendieren vermag. Eine Elektroenzephalografie würde bei Minimal und Repetitiv höchstens flache Hirnströme erzeugen, oder völlig chaotische. Die Adepten dieser Systeme sind der Ansicht, die Tonalität sei »die vorige Grenze, die deine Väter gemacht haben« – Sprüche 22, 28 –, die auf keinen Fall verschoben werden darf. Lieber bleiben sie darauf sitzen, als dass sie ihres Weges gehen und diese im Auge behalten. Machen wir trotzdem den Versuch, ihre Methode zu verstehen. Ihr Argument lautet  : »Das Grundmaterial war gut, es hätte noch lange von Nutzen sein können. Aber dann ist man durchgedreht und hat das Huhn, das goldene Eier legt, geschlachtet. Fangen wir also noch mal von vorne an, diesmal langsamer, und folgen dem Rhythmus der Natur, aber vorsichtiger.« Nur, von welcher Natur ist hier die Rede  ? Die einzige Natur, die in der Musik das Sagen hat, ist die menschliche Natur, und diese bäumt sich auf und schnappt über, je nachdem, welchen Lauf die Geschichte gerade nimmt. Den Rhythmus der musikalischen Entwicklung zu verlangsamen, ihn umzukehren, ihn zu umgehen – das heißt doch nichts anderes, als sich der Illusion hinzugeben, die Musik könne am Rande der menschlichen Gemeinschaft leben. Dabei IST die Musik die Gesellschaft. Sie wächst und sie entwickelt sich im Rhythmus der Wachstumsschübe eben dieser Gesellschaft. Sie ist ihr Echo, ihr erhabener Widerhall. Unsere Gesellschaft, hic et nunc, ist pluralistisch, ethnisch gemischt, kosmopolitisch. Sie ist das Spiegelbild einer Welt, die (sich) noch nie so viel bewegt hat wie heute. Die kulturellen Mischungen sind im Begriff, DIE neue Kultur schlechthin zu werden, welche, wie Barthes betont, eine Sprache ist. Und niemand weiß, was morgen aus dieser Sprache erwachsen wird. Bleibt nur zu hoffen, 233


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dass das Resultat nicht öde Remakes des »Neo« sein werden, sondern etwas Stimulierenderes. Denn eine Musik, die unsere Zeit ausdrückt, soll sein wie diese. Sie soll die Frauen und Männer widerspiegeln, die in Bewegung sind, die reisen, und zwar sowohl in der Zeit – mittels Informationsvehikel, als auch im Raum – mittels Kommunikationsmittel. Eine Musik, die den Anspruch erhebt, wirklich neu zu sein, »neu geboren« aus der Zusammenschmelzung der Welt, wird auch die verschiedenen Merkmale dieser Welt in sich tragen  : verschiedene Gattungen und Stile unter ihrem Dach vereinend, zusammengefügt durch den Gedanken eines geschickten Schöpfers, der mit seiner kreativen Geste die Synthese zustande bringt. Die außerordentlich reich bestückte musikalische Bibliothek der Avantgarde des 20. Jahrhunderts kann Klangtexturen und vor allem Klangfarben dazu beisteuern  ; der Jazz und seine Ableger, gemeinschaftsbildende Rhythmen, ja selbst gewisse Aspekte des tonalen Kanons, Melodien, Harmonien, Formen, all diese Elemente können verwendet werden, weil ihnen die große Kraft des »Signifikanten« innewohnt  ; im gleichen Maß wie – warum auch nicht – mehr oder weniger ausgeprägte Anspielungen auf noch ältere Stile – Barock, Klassik, Romantik –, mit dem Ziel, dem Hörer einen Leitfaden durch den musikalischen Diskurs zu geben. Im Grunde ist dies der Weg, den Alban Berg, genau zum Zeitpunkt, als sich die große »Fraktur« abzuzeichnen begann, in seinem Wozzeck demonstriert hat, diesem Schmelztiegel, in dem sich all die verschiedenen Formen wiederfinden, und in dem sich der eigentliche Stil herauskristallisiert, um in einer Art Grimasse schneidender Versöhnung mit der Tonalität zu gipfeln. Die Mischung also braucht es, um zum Neuen vorzustoßen. Vorausgesetzt allerdings, die »Nostalgie« wird ausgeklammert – es sei denn, es handelt sich um die Sehnsucht nach einer verheißungsvollen Zukunft.

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18. Eine Musik ohne Stimmung  ?

»Ich weiß, dass die zwölf Töne einer Oktave derart weitreichende Möglichkeiten bieten, dass sie von allen menschlichen Genies niemals ausgeschöpft werden können.« STRAWINSKY

Die Preisgabe der tonalen Sprache im 20. Jahrhundert hat ein Trauma hervorgerufen, das durchaus vergleichbar ist mit jenem, welches durch die babylonische Urkatastrophe ausgelöst wurde  : Davor »verstand« man, was der Komponist sagen wollte, und jeder war in der Lage, den Wert eines Werks relativ schnell zu beurteilen oder zumindest zu wissen, ob ihn dieses berührte oder nicht. Dann, nachdem die offizielle, akademische Sprache der Musiker implodiert war, wurde jeder Tonkünstler sein eigener »Nomothet«, das heißt derjenige, der die Dinge benennt, der die Wörter erzeugt, der die Sprache etabliert. Indem er sich auf eine Stufe mit dem Demiurgen stellte, wurde jeder Komponist zum Begründer seiner eigenen Domäne, mit ihrer eigenen Sprache und ihren »privaten« Regeln. Dies ist nicht bloß als einfache Metapher gemeint. Das Streben nach einer immer verzwickteren Komplexität, bei der die Finalität nicht mehr dem Resultat innewohnt, sondern der kompositorischen Geste an sich, erhebt den Komponisten in den Stand des Propheten  : Er ist nunmehr der Einzige, der das Wissen hat, der die Kontrolle hat über seine Schöpfung, über den Code, und sowohl der Hörer als auch der Interpret werden einem Schicksal überlassen, das sich im Fall des ersteren durch zunehmende Passivität, im Fall des letzteren durch wachsende Servilität auszeichnet. Auch wenn diese karikaturhafte Überzeichnung des Phänomens nicht so sehr für die Werke gilt, die nach wie vor auf der »Stimmung« [tempérament], sprich auf der in der abendländischen Musikkultur üblichen chromatischen Tonleiter beruhen, so betrifft sie doch auf jeden Fall all die Strömungen, die das temperierte Zwölftonsystem hinter sich gelassen haben. Diese werden unter dem Begriff der Mikrotonalität zusammengefasst. Einer ihrer Unterbereiche ist beispielsweise die »Spektralmusik«. In den 1950er-Jahren 235


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trat in Frankreich die sogenannte »musique concrète« in Erscheinung. Dieser Musikstil greift auf die verschiedensten Klänge aus Natur, Technik und Umwelt zurück und verarbeitet diese mittels Tonbandaufnahmen weiter. Die ersten Mikrointervalle, sogenannte Vierteltöne, wurden bereits in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts verwendet. Heutzutage greifen viele Musiker für ihre Kompositionen auf Sechstel-, Achtel- und Sechzehnteltöne zurück, was natürlich unweigerlich zu Problemen führt. Kommt doch etwa ein großes Symphonieorchester für diese Art von Musik nicht mehr infrage, und zwar aus einem ganz einfachen praktischen Grund  : Die Intonation und die richtige Tonhöhe sind wegen der großen Anzahl Musiker schwer aufrechtzuerhalten, vor allem innerhalb der Streichergruppen, wo 16 oder noch mehr Geigen den selben Part unisono spielen sollen. Vielfach herrscht Unklarheit, und der Mikroton ist kaum vom klassischen »Genauigkeitsfehler« zu unterscheiden. Pierre Boulez beschreibt dieses Phänomen im Zusammenhang mit einer früheren Version seiner Komposition Le Visage nuptial, in der er mit Mikrointervallen gearbeitet hat  : »Die Gruppengenauigkeit, schon beim einfachen Halbton äußerst delikat, wird vollends hypothetisch, sobald es sich um noch kleinere Intervalle handelt«.158 Ein weiteres Beispiel sind die berühmten Klaviere, die auf Achtel- und Sechzehnteltöne gestimmt sind. Ihr Klang weist eine seltsame Ähnlichkeit mit einem Spelunken-Klavier auf, denn unser Gedächtnis ist durch den in ihm eingravierten Code des Saloon-Klaviers quasi »programmiert«. Deshalb lässt sich dieses »moderne« Instrument bestens in ein Ensemble einfügen, wo es ein wenig wie das ungarische Zymbalum klingt. Die elektroakustische Musik stellt zweifelsohne den relevantesten Bereich dar, wenn es um das Komponieren mit Mikrointervallen geht  ; auch ist sie das faszinierendste und vielversprechendste Terrain aufgrund ihrer außerordentlich reichen Klangpalette, einer Palette, die schier unerschöpflich, unendlich erneuerbar ist. Vor allem aber aufgrund des gleichzeitigen Gebrauchs von Akustikinstrumenten, natürlichen Instrumenten und des »Echtzeit«-Effekts, bei dem die Elektronik unmittelbar auf die Ausführung des Musikers reagiert, an den sie angeschlossen ist. Darüber hinaus können synthetisch erzeugte Klänge, um noch einmal auf die Semiotik, die Gefühle und ihre Wahrnehmung zurückzukommen, die überraschendsten Empfindungen und manche sogar auditive Illusionen hervorrufen. Eins der bekanntesten Beispiele eines solchen akustischen »Trugbildes« wurde in den 1960er-Jahren von Roger Shepard entdeckt. Genau wie im klassischen Fall der Kugel, die eine endlose Treppe hinabrollt, wird diese Illusion als unendlich 236


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Eine Musik ohne Stimmung  ?

steigende oder fallende Tonleiter wahrgenommen. Was wir also hier vor uns haben, sind ganz offensichtlich neue Zeichen, die darauf hinweisen, dass durch eben jene Illusionen komplexe Gefühle verursacht werden. Und genau in diese Richtung geht die Arbeit der Komponisten, die sich die Möglichkeiten der Klangspatialisierung zunutze machen. Zu den interessantesten Ergebnissen auf dem Gebiet der elektroakustischen Komposition kommt man freilich, wenn »natürliche« Klänge in Echtzeit weiterverarbeitet werden. Diesen Vorgang bezeichnet man als Sampling [échantillonnage]. Die Epoche der rein elektronisch erzeugten Klänge scheint der Vergangenheit anzugehören, und man ist froh darüber, nicht länger mit aufflatternden Vogelschwärmen, gurgelndem Badewasser, vorbeirauschenden Metros, kurz  : mit Banalitäten konfrontiert zu werden, von denen das Publikum anscheinend nicht genug bekommen konnte und die man zu oft gehört hat. Es bleibt jedoch dabei, dass sämtliche in diesem Buch aufgeworfenen Fragen – egal in welcher Domäne – nach wie vor unbeantwortet bleiben  : Was ist mit den Zeichen  ? Was ist mit der Kommunikation  ? Was ist mit den Codes und Konventionen zwischen Komponist und Hörer  ? Hat diese Art von Musik, die man nicht analytisch, sondern nur »sinnlich« erfahren kann, indem man sich von einer Klangfarbe zur nächsten hangelt, auch nur die geringste Berufung zu irgendeiner Form von Transzendenz  ? Die mikrotonale Musik wagt sich in Gefilde jenseits der Wahrnehmungsschwelle westlicher Ohren vor und versucht dabei ständig, sich zu rechtfertigen, sowohl hinsichtlich ihrer Finalität als auch hinsichtlich des Gebrauchs von Intervallen, die kleiner sind als ein Halbtonschritt, indem sie sich – und darin liegt das Paradoxe – auf ethnische und traditionelle Musikstile beruft, die auf genau solchen Mikrointervallen aufbauen, das heißt, Musikrichtungen, die von »Natur aus« grundsätzlich gegen jegliche Entwicklung und Modernität sind159. Musikstile, die, eben weil sie nur durch die mündliche Überlieferung einer Tradition fortbestehen können, sich nicht die geringste Abwandlung der Codes und Konventionen erlauben können, weil sie sonst von dieser Tradition abweichen würden. Ich möchte ein weiteres Mal Pierre Boulez zitieren, der Anklage erhebt gegen die tonale Organisation  : »Warum eigentlich diese Entscheidung als Tabu betrachten  ? Eine Entscheidung, die immense Dienste geleistet, jetzt aber jegliche Daseinsberechtigung verloren hat«.160 Dabei formuliert er, kaum zwei Seiten davor, das unmissverständlichste Plädoyer zur Verteidigung der temperierten Stimmung, »die der abendländischen Musik ihren unvergleichlichen Aufschwung beschert hat – was unmöglich vergessen werden kann«.161 237


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Eben weil die temperierte Stimmung die vertikale, sprich  : die akkordbezogene Strukturierung und die Polyphonie – Säule der abendländischen Musik – erst möglich gemacht hat, ist es absurd, ihre Preisgabe in Betracht zu ziehen, bevor ein Ersatzsystem für gültig erklärt wird, das seine Bewährungsprobe abgelegt hat. Aus diesem Grund werde ich das Thema der »nicht temperierten« Musik, der Musik ohne Stimmung, hier nicht weiter ausbreiten, obwohl ich mich persönlich sehr für elektroakustische Echtzeitkompositionen interessiere und überzeugt davon bin, dass die Zukunft des Geistes – wie der Musik – im Überschreiten der aktuellen Wahrnehmungs- und Verständnisschwellen liegt. Diese Aufgabe werde ich hier allerdings nicht in Angriff nehmen, denn das vorliegende Buch versteht sich als Werk der Versöhnung und der allmählichen Annäherung. Und besagte Musik der Extreme bietet keine Lösung für die Probleme, die ich aufgeworfen habe, es sei denn, man ist bereit, sich auf das Abenteuer audiovisueller Schöpfungen einzulassen, auf das ich im letzten Kapitel eingehen werde. So wie die Dinge im Moment stehen, kann die Komplexität moderner Partituren wohl bis ins Unendliche weiterentwickelt werden  ; freilich lässt uns die Orientierungslosigkeit, die durch das Unvermögen entsteht, geltende Werteskalen aufzustellen, diese Musik als eine anhaltende Zufälligkeit, eine einzige Klang-Stochastik empfinden. Wie, durch welches Wunder, sollte sie sich, nach dem derzeitigen Stand der menschlichen Gegebenheiten, irgendeinem Bezugssystem anschließen, sei es semantisch, semiotisch, ja selbst linguistisch, befasst sich die Sprachwissenschaft doch mit Kommunikation  : Diese Musik ist schlichtweg nicht konzipiert worden zum Zwecke der Kommunikation, zumindest nicht mit den Menschen von hier und jetzt. Übrigens geben sich die Künstler, die sich an solchen Arbeiten beteiligen, dieser Illusion gar nicht erst hin  ; auch sie sind auf der Suche nach der vollkommenen Sprache, und ihre redliche Absicht fordert uns auf, ihnen Respekt dafür zu zollen. Sie suchen, ohne unserem Ohr schmeicheln zu wollen, und was sie finden, wird vielleicht eines Tages zu irgendetwas nutze sein. Oder es kann heute schon, in einen anderen Kontext gebracht, ganz einfach als Bestandteil eines »Klangkatalogs« angesehen werden. Seien wir ihnen also dankbar dafür, dass sie sich auf die Suche begeben.

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19. Welche Musik für morgen  ?

»Um seine Jugend zurückzubekommen, muss man nur seine Torheiten wiederholen.« OSCAR WILDE, The Picture of Dorian Gray

Vielleicht wäre es klüger gewesen, hätten sich die Musiker des frühen 20. Jahrhunderts, anstatt einen Prozess gegen die tonale Sprache anzustrengen und deren Obsoleszenz zu verfügen, an Roland Barthes gehalten und sich für einen weniger radikalen Weg entschieden. Machte dieser doch im Hinblick auf die Literatur162 folgende Feststellung  : »Wir befinden uns in jenem historischen Moment unserer Kultur, wo die Erzählung auf eine gewisse Lesbarkeit noch nicht verzichten kann, auf eine gewisse Übereinstimmung mit der narrativen Pseudologik, welche die Kultur uns eingeimpft hat, und wo folglich die einzig möglichen Neuerungen darin bestehen, die Geschichte, die Anekdote nicht zu zerstören, sondern sie zum Abgleiten zu bringen  : den Code zum Entgleisen zu bringen, aber gleichzeitig den Eindruck zu vermitteln, man respektiere ihn.« Stattdessen war die Avantgarde, seit Anbeginn ihres Bestehens, vor allem um das Material und die Mittel besorgt, und vermutlich etwas weniger um die Ziele  : Das »Für wen ist diese Musik  ?« bot sich dem »Für was ist diese Suche  ?« zum Opfer dar. Und da Schönbergs Erben nichts anderes übrig blieb, als die Theorien des Meisters bis an ihre äußerste Grenze, sprich  : das verallgemeinerte Reihenprinzip zu treiben – das heißt  : eine Komplexität der kompositorischen Geste heraufzubeschwören, die keinen anderen Zweck hatte, als sich selbst –, konnte diese Komplexität, deren selbsterklärtes Ziel und Verfahren die Beobachtung und die Imitation der Ziele und Verfahren der Wissenschaft sind, auf nichts anderes hinauslaufen als auf die Suche nach einer immer noch größeren Komplexität. Mit anderen Worten  : Der kompositorische Akt wurde zum reinen Selbstzweck, er rechtfertigte sich durch sich selbst. Ich betone  : komplexe, nicht »intellektuelle« Musik. Dadurch, dass dieses Adjektiv all denen als Kritikargument dient, die vor jeglicher Musik zurückschrecken, die nicht ausschließlich und unverzüglich ihre hedonistischen Bedürfnisse befriedigt, kommt das Nachdenken über ein, doch immerhin offenkundiges, Pa239


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Fünfter Satz: Neue Wege der Musik

radox oftmals zu kurz  : Zeitgenössische Musik kann, wie ich bereits im Zusammenhang mit der Form festgestellt habe, nicht auf analytische Weise gehört werden163, und der Hörer – mag sein Ohr auch noch so geschult oder professionell sein – reagiert auf ein Übermaß an Komplexität, indem er sich auf eine Stufe mit dem musikalisch ungebildeten Hörer zurückversetzt sieht, gezwungen zum eher qualitativen als quantitativen Wahrnehmen. Umgekehrt vermag eine tonale Musik, deren Analyse »in Echtzeit« viel einfacher zu bewerkstelligen ist, durchaus Anlass zu intellektuellerem Hören zu geben. Diejenigen, die der modernen Musik ihre Kopflastigkeit vorwerfen, erinnern mich an jene Fußballspieler, die sich zu Boden werfen und ihren Kopf zwischen beide Hände nehmen, kaum dass sie am Knie getroffen wurden. Es besteht kein Zweifel darüber, dass sich die musikalische Sprache, um in ihrer Entwicklung nicht zu stagnieren, um ihre Offenbarungskraft zu bewahren, gegen eine fortlaufende Komplexifizierung nicht wehren darf. Es handelt sich dabei um eine Bewegung, die ihren Anfang schon vor der Renaissance genommen hat. Eine Bewegung, aus der die große abendländische Musikkultur hervorgegangen ist, so wie wir sie kennen und wie wir sie lieben  ; es ist eine Bewegung, die weitergehen muss, zumal in einer Zeit, in der das Wort Bequemlichkeit groß geschrieben wird und in der gerade sie eine »gesunde« Reaktion darstellt. Gleichzeitig jedoch ist es unerlässlich, dass sich die musikalische Sprache ihre Verführungskraft bewahrt. Und wenn man das Problem, gemäß der Intention des vorliegenden Werks, aus dem Blickwinkel einer Rückeroberung des breiten Musikpublikums betrachtet, rückt die Frage der Komplexität in den Hintergrund. Soll sie sich nur nach Herzenslust entfalten  ! Unter der Bedingung freilich, dass sie einem Zweck dient, der keinesfalls sie selbst zum Gegenstand hat. Denn, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole  : Die Finalität, sprich die Offenbarung des »Anderen«, ist es, die die kreative Geste des Komponisten beherrschen muss. Allerdings verträgt diese Finalität weder die Bequemlichkeit – denn durch Mittelmäßigkeit wird rein gar nichts offenbart – noch die Oberflächenkomplexität, d. h. jene, hinter der sich kein neues Wahrnehmungsfeld unseres wesentlichen Seins enthüllt. Für den überwiegenden Teil unserer Zuhörerschaft, vom ungeschulten Musikfreund bis hin zum professionell ausgebildeten Musiker, ist und bleibt die wichtigste Antriebsfeder, um ein Werk anzuhören und für gut zu befinden, die Emotion, die dieses – gewollt oder ungewollt – in ihm zu wecken vermag. Die Emotion entsteht auf der Basis von mehr oder weniger bewussten Wahrnehmungen, die ihrerseits im Laufe der Jahre durch das wiederholte Anhören derselben Werke zu einer Steigerung der auditiven Aufnahmefähigkeit führen. 240


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Welche Musik für morgen  ?

Die Emotion entfaltet ihre Wirkung umso besser, je vielgestaltiger die Historie des Rezipienten ist  ; und auch diese unterliegt dem Einfluss gewisser unmittelbarer Faktoren wie beispielsweise der Qualität der Umgebung oder der Qualität der musikalischen Darbietung. Es entspricht einer allgemein festgestellten Tatsache, dass die Komplexität eines Musikwerks, wenn sie unbewusst, oder – im Informatiker-Jargon ausgedrückt – als »Hintergrundmodus« wahrgenommen wird, weder auf den Hörgenuss noch auf die emotionale Reaktion des breiten Publikums direkt quantitativ oder qualitativ einwirkt. Bach oder Debussy – um die beiden äußeren Enden des »durchschnittlichen Toleranzspektrums« des heutigen Musikliebhabers zu nennen – bringen ihre »emotionale Partitur« nicht aufgrund der strukturellen Komplexität als solcher im Hörer zum Klingen. Das, was ihre Wirkung hervorruft, sind die Auswahl und die Anordnung des kompositorischen Materials, welches die Fähigkeit besitzt, mit der Psyche des Anderen zu interagieren. Anders ausgedrückt  : Die Komplexität dieser Werke erklärt sich einzig und allein durch die Art und Weise, wie der Komponist die emotional kompetenten Zeichen innerhalb der Partitur angeordnet und die Kompositionsregeln angewandt hat, beziehungsweise bewusst von diesen abgewichen ist – mit dem Ziel, Schönheit zu schaffen und die entsprechenden Gefühle zu wecken. Das Bewusstsein für die expressive Bedeutung des verarbeiteten Materials und seine jeweilige Wirkungskraft ist im schöpferischen Geist der – im weitesten Sinne – »klassischen« Komponisten immer klar vorhanden gewesen  ; bei Schönberg, Strawinsky, Bartók und einigen Späteren blieb es noch lebendig. Bei denen freilich, deren asketische und rigide Haltung keinerlei Zugeständnisse an eine Sprache erlaubte, die dem Untergang geweiht war, die im Begriff war, der Erschöpfung im »Bacchanal« anheimzufallen, ging dieses Bewusstsein allmählich ganz verloren – was vom historischen Standpunkt aus gesehen durchaus nachvollziehbar ist, auch wenn hier die Bemerkung gestattet sein möge, dass einige die Geschichte mit Brio zu umgehen verstanden. Paradoxerweise sind es dieselben Komponisten, die die atonale Offensive im Namen einer historischen Notwendigkeit, im Namen des Willens, sich radikal von der nach wie vor »angesagten« romantischen Sprache abzusetzen, ausgelöst haben, die sich andererseits als Initianten der historischen Validierung eines Werks hervortaten. Wodurch sie jegliche Komposition der Obsoleszenz auslieferten, die sich nicht aus den neuen Theorien herleiten ließ, obwohl diese Methode doch eigentlich nur in der »alten Welt« gerechtfertigt war, als es noch einen einheitlichen Stil gab und dieser Stil durch den jeweiligen Fürsten kontrolliert 241


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wurde. Unsere moderne Gesellschaft ist pluralistisch geprägt, und ihre Gegebenheiten sind zu komplex, als dass sie bereit wäre, sich einer Bewertungsmatrix gemäß historischen Kriterien zu unterwerfen. Ein qualitativ hochstehendes Werk mit dem Argument abzulehnen, es komme – im Hinblick auf seine Oberflächenstruktur – »zu spät«, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollkommen abwegig. Es dagegen zu verwerfen, weil keinerlei Gegenwartsbezug besteht, weil es keine Perspektiven eröffnet, weil es keine emotionale Strahlkraft besitzt, mit einem Wort  : weil seine Geste nicht »zeitgemäß« ist, scheint mir eine gültigere Haltung widerzuspiegeln, oder zumindest eine solche, die sich rechtfertigen lässt. Es sieht nicht so aus, als ob die Begriffe »Emotionalität, Ausdruckskraft, Inspiration« – dreimal vermaledeit, wohl aufgrund ihres Mangels an Eindeutigkeit sowie aufgrund der durch sie ermöglichten romantischen Ausschweifungen – Eingang in den Wortschatz der heutigen Avantgarde gefunden hätten. Scheint doch »Komplexität« – ja, immer noch dieselbe – das einzige Losungswort zu sein, die einzige Rechtfertigung, die in den explikativen Texten vorgebracht wird, welche die – meisten – zeitgenössischen Konzerte heute begleiten. Es gibt sogar eine musikalische Bewegung, die sich selbst den Namen »nouvelle complexité« gegeben und damit unmissverständlich »Farbe« bekannt hat. Und dennoch haben wir gesehen, dass diese Komplexität, auch wenn sie die Glaubwürdigkeit eines Werks noch so sehr bekräftigt, für den Hörer nicht wahrnehmbar ist und demnach ihrer Rolle als föderierendes Element nicht nachkommt, obwohl dieses doch – theoretisch – im Zentrum der künstlerischen Bemühungen stehen sollte. Vorausgesetzt natürlich, dass Ausführung und Fortleben des Werks überhaupt zu den Anliegen des Künstlers zählen. Niemand soll sich also vor zu viel Komplexität fürchten  : Was den Komponisten betrifft, so soll er ausgiebig davon nehmen, sich daran berauschen, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihn übersteigt, Hauptsache, sie ist von Nutzen, das heißt  : Hauptsache sie wird, was den Zuhörenden betrifft, überhaupt wahrgenommen und in ihrer Wirkungskraft ausgekostet. Wie ich anhand des Anfangs von Beethovens fünfter Symphonie demonstriert habe, kann dies nur zustande kommen sei es durch eine Schlichtheit des Materials, sublimiert durch die Komplexität der »Entwicklung«, sei es durch die Komplexität des Materials, welches zunächst keiner größeren Transformation unterzogen wird. Soll die Musik den Weg zum Hörer finden, so darf die Komplexität nicht überall gleichzeitig sein. Andernfalls läuft sie Gefahr, überhaupt nicht mehr wahrgenommen zu werden. Aber rechtfertigt das die Aussage, eine Musik könne heute auf beliebige Art einfach, um nicht zu sagen  : simplistisch sein, Hauptsache, sie berührt den Hörer  ? 242


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Bevor wir diese Frage weiter vertiefen, stellen wir einfach die Behauptung in den Raum, dass es nichts bringt, sich auf die Vergangenheit zu beziehen wie auf ein hypothetisches verlorenes Paradies, wo alles, sogar das Schreiben von Musik, besser gewesen sein soll, bloß um die Rückkehr zu einer trügerischen »Urreinheit« zu rechtfertigen. Was auf die Sprache zutrifft, gilt auch für die Musik  : »Es gibt«, so Roland Barthes, »keine archaische Sprache. Oder, es besteht zumindest kein Bezug zwischen der Einfachheit und dem Alter einer Sprache  : Die alten Sprachen können genauso umfassend und genauso komplex sein wie die jüngeren Sprachen.«164 Aus der indischen Musik wissen wir es  ; ihre extreme Kodifizierung bewirkt, dass sie in mancher Hinsicht weitaus intellektueller ist als unser abendländischer Kontrapunkt. Andererseits mag uns die klassische Musik im Vergleich zur modernen Musik »einfach« erscheinen  ; was jedoch noch lange nicht bedeutet, dass sich hinter dieser oberflächlichen Eingängigkeit eine nicht minder unergründliche Tiefe verbirgt. So ist es durchaus vorstellbar, dass eine Symphonie von Mozart Anlass gibt zu »spiralförmigen« Analysen, angefangen bei der elementarsten Ebene des einfachen Zählens der Strukturen bis hin zum Rausch hochmetaphysischer Spekulationen. Diese Fähigkeit verdanken wir der großen Anzahl von Erfassungs- und Interpretationsebenen unseres Gehirns – einer der Besonderheiten der großen zerebralen »Monumente«. Nehmen wir nur die Bibel, das erste der bedeutenden, durch den menschlichen Genius hervorgebrachten Werke – mögen mir diejenigen, die sie als eine direkte göttliche Offenbarung betrachten, verzeihen  ; ich werde mich hier mit einer beschreibenden Betrachtung begnügen. Die Bibel kann also von allen gelesen werden. Während langer Zeit wurde sie mündlich überliefert, auf dass diejenigen, die des Lesens nicht mächtig waren, Zugang hätten zu einer einfachen Botschaft, reich an epischen Farben, reich an höchst geistbildenden Mythen. Sie wurde von Gnostikern studiert, von Kabbalisten, von Atheisten, von Musikern. Der große Komponist Olivier Messiaen, »grande figure« der zeitgenössischen Musik und leidenschaftlicher Pädagoge, zu dem die gesamte Avantgarde kam, um ihren Wissensdurst zu stillen, verarbeitete fast ausschließlich biblische Themen in seinen Werken. Die menschliche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ist in der Lage, in ihr eine Lektüre-Ebene zu finden, die ihr entspricht, sei es auf der Fabel-Ebene, der epischen, mythologischen, mystischen, moralischen, gesellschaftlichen, historischen oder politischen Ebene. In ihr spielt sich das gesamte menschliche Drama ab – nachvollziehbar an derselben spiralförmigen Analyse – vom Einfachsten bis hin zum Sublimsten. In dieser Spirale hallt es wider und spricht uns an. 243


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Dasselbe gilt für die musikalischen Meisterwerke der Vergangenheit. Eine Toccata von Bach wird – und sei es nur in ihrer liturgischen Funktion – den einfachen Viehhüter, der sich zum Gebet in die Kirche begibt, gleichermaßen berühren wie den Musikwissenschaftler, der in ihr zeitlebens eine nie versiegende Quelle der Entdeckungen und des Entzückens findet. Sich damit zufrieden zu geben, zu gefallen, hieße demnach, von der FabelEbene lediglich den Aspekt der Farce festzuhalten. Sprich, von der ganzen Spirale nur eine einzige Windung zu berücksichtigen. Umgekehrt, auf die reine Komplexität zu spekulieren, würde so viel bedeuten, wie die Spirale, welche uns Wachstums- und Erhebungskraft ist, in einen Circulus vitiosus zu verwandeln. Und letztendlich stellt sich wieder meine weiter oben aufgeworfene Frage  : Welche Musik für welches Publikum  ? Diese Frage entfaltet sich nicht nur in einem kulturellen Raum, sie ist genauso in der Zeit verankert, wenn man beobachtet, wie sich unsere Epoche, bedrängt von allen möglichen Aufrufen zur Zerstörung von Codes und Sprachen, dem Rausch des Ephemeren hingibt  : Musik, die nur ein einziges Mal gespielt und gehört wird, Gebäude, die nach wenigen Monaten in sich zusammenfallen – man denke nur an die Opéra Bastille, deren abbröckelnde Fassadenteile es immer wieder auf unvorsichtige Passanten abgesehen zu haben scheinen und deren unheilbares Gehäuse heute noch von Sicherheitsnetzen umspannt ist , Gemälde, die vorzeitig ihre Pigmente verlieren oder Collagen, deren Bestandteile sich mitten in der Nacht ablösen. All diese Bau-, Kunst-, Musikwerke mögen die Zeit einer Premiere, einer Vernissage, einer leidenschaftlichen und inspirierten Rede gelebt haben. Sodann, anstatt die Gegenwart auszufüllen und die Zukunft zu skizzieren, verlieren sie sich in der allgemeinen Beliebigkeit ihrer Epoche und konjugieren jeglichen Versuch, die Wahrheit des Augenblicks einzufangen, im »passé décomposé«. Ihre Mission ist erfüllt  : Sie haben den Kommentar, die geistreiche Kritik heraufbeschworen, sie haben das Milieu in Begeisterung versetzt. Woraufhin sie in der Versenkung verschwinden, ohne ihrer eigentlichen »Finalität« jemals gewahr geworden zu sein  : uns, unserer Nachwelt, der Kultur von heute und von morgen. Dem Komponisten, der trotz aller Versuchungen und Bequemlichkeiten auf die doppelte Sackgasse der Komplexität oder der Rückkehr in künstliche Paradiese verzichten möchte, stellt sich die gewaltige Aufgabe, eine Sprache sowohl seiner Zeit zu produzieren – und zwar anhand der künstlerischen Geste, auf die ich an späterer Stelle noch zurückkommen werde – als auch eine Sprache aller Zeiten, und zwar mittels der Universalität seines Materials. 244


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Doch wo findet man heute diese föderierenden Elemente, die, sobald sie durch die vollendetste Kompositionswissenschaft der Erhabenheit zugeführt worden sind, dafür sorgen, dass ein Werk dem Anderen, wer auch immer er sei, etwas bedeutet, etwas bezeichnet [signifie]  ? Die Suche nach ihnen ist wie die Suche der Alchemisten nach ihrem Rohstoff, man könnte beiden dieselbe Antwort geben  : Das Material ist überall zu finden, man braucht es sich nur anzueignen … Als allererstes ist da die Kraft des Grundmaterials. Wie wir bereits im Zusammenhang mit der »temperierten Stimmung« gesehen haben, sind die Zahlen, welche den Aufbau der Tonleiterstufen beherrschen, mit arkaner Macht ausgestattet. Jedes andere System funktioniert genauso, vorausgesetzt, es besitzt diese analoge, symbolische Verbindung zu den Kräften, die den Mikro- und Makrokosmos regeln, dessen Mittelpunkt wir sind, und auf die wir folglich stark reagieren. Freilich ist ein solches »Ersatz«-System bisher noch nicht in Erscheinung getreten, weil es nämlich vorgäbe, das alte System, dem es überlegen wäre, zu verdrängen. So war etwa der Serialismus lediglich ein »System im System«. Die anderen Bewegungen, darunter die musique spectrale mit ihrer sehr natürlichen Annäherung an den Klang, die musique concrète etc. verarbeiten das rohe Material, seine Obertöne, seine Unterteilungen und seine Fraktale – den Methoden der musique primitive nicht unähnlich. Ihren Hervorbringungen haftet eher die Schönheit des Dolmens an als die der Kathedrale. Denn die »heilige Geometrie«, welche die Baumeister des Mittelalters von den Pharaonen übernommen und uns in ihren steinernen Bauwerken überliefert haben, scheint bei der Konstruktion ihrer Werke nicht Pate zu stehen. Aber es gibt das Urmaterial, den Rohstoff, es gibt die Musik der Straße, das »Rauschen der Welt«, das kein Tonkünstler – bis Bartók, um in der Genealogie zu bleiben, welche die Moderne für sich beansprucht – jemals vernachlässigt hat. Man kann sogar sagen, dass praktisch alle Komponisten systematisch auf dieses Material zurückgegriffen und – im Fall von Bartók – mit der Akribie des Ethnologen erforscht haben. Kein Entwicklungsstand der musikalischen Sprache verbietet den Zugriff auf Jazzmotive oder die Anspielung auf einen Tango. Die chronologische Verzerrung mag als Tabu erscheinen, sie ist es jedoch nur für diejenigen, die nicht wissen, dass der Jazz, der Tango – um nur diese Beispiele zu nennen – leben und sich fortentwickeln, heute gleichermaßen wie gestern, mit derselben Vitalität wie die zeitgenössische Musik. Es geht lediglich darum, dieses frische Blut, das begierig nach einem empfangsbereiten Körper lechzt, integrieren zu können. 245


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Freilich ist die wichtigste Größe, die dafür sorgt, dass eine Musik in Einklang mit ihrer Zeit »funktioniert« und kommuniziert, die musikalische Geste. Durch die Geste graviert sich die Epoche in das Klangmaterial ein, durch sie kristallisiert sich der Stil heraus, durch sie entsteht eine starke und spontane Verbindung mit dem Zuhörer. Die Geste berührt sämtliche Parameter der Komposition, sie ist die »gesunde« Reaktion – im harmlosen Sinn des Wortes – auf die Welt und die gegenwärtige Zeit. Das Aktuelle wirkt auf den Komponisten ein, und er seinerseits aktualisiert seine Kunst. Das ist es, was ich die Geste nenne. Es ist die Art und Weise, wie wir, ob Künstler oder nicht, uns verhalten. Durch sie wird unsere Zugehörigkeit zum Heute demonstriert. »Zu meiner Zeit wurde nicht so gesprochen, zu meiner Zeit kleidete man sich nicht so, das hätte man zu meiner Zeit nie gemacht …« Andere Zeiten, andere Gesten. Um sich eine Gestik anzueignen, die funktioniert, das heißt  : eine Gestik, die, von der Welt kommend, auf die Welt einwirken soll, scheint es mir unerlässlich, dieser mit unendlicher Aufmerksamkeit Gehör zu schenken. Die Welt besitzt heute eine weitaus größere Eigengeschwindigkeit als gestern. Und was mir vor allem auffällt, ist etwas, was die Konzertsäle noch nicht verinnerlicht zu haben scheinen  : dass sich nämlich mit unseren Gehirnen das vollzogen hat, was man als eine wahre Mutation bezeichnen könnte. Womit ich sagen will, dass wir definitiv Einzug gehalten haben in die Ära des Bildes und des Virtuellen. Der Übergang von der Darstellung der Welt, wie wir sie gestern sahen – nämlich hier und jetzt – zur Welt von heute, in der man überall und immer sehen kann, und das in rasend schneller Abfolge, hat uns gleichermaßen neue Fähigkeiten und neue Erwartungen beschert, welche dem Künstler nicht länger verborgen bleiben können. Das Auge von heute ist gieriger und akrobatischer als das von gestern. Es kann vor allem von wertvollem Nutzen sein, um das zu deuten, was den anderen Sinnen dargeboten wird. Weil es seit einigen Jahrzehnten darauf trainiert worden ist, zu assoziieren und zu korrelieren, zu verbinden und zu verdeutlichen. Warum soll nun diese Fähigkeit, zu dechiffrieren und zu interpretieren, nicht umgehend wahrgenommen werden – zugunsten der Aneignung neuer musikalischer Codes, neuer emotional relevanter Objekte  ? Die kluge Einbeziehung des Auges könnte das vollbringen, was das jahrzehntelange Beschränken auf die alleinige auditive Wahrnehmung von Musik nicht in 246


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der Lage war zu realisieren, nämlich die Annäherung der zeitgenössischen Musik an das breite interessierte Publikum. Wir alle haben schon viele Filme gesehen und ich denke, dass keiner von uns jemals den Kinosaal verlassen oder die DVD aus dem Wiedergabegerät genommen hat, nur weil ihm die Musik zu modern war. Eine Musik, die in Assoziation mit einem Bild wahrgenommen wird, empfinden wir niemals als so intellektuell oder unverständlich, dass wir das Bedürfnis hätten, die laufende Erfahrung zu unterbrechen. Und dennoch würde ich jede Wette eingehen, dass in etlichen Fällen das alleinige Anhören des Soundtracks genügt hätte, um die große Mehrheit der Zuschauer in die Flucht zu schlagen. So ist etwa die Szene aus Stanley Kubricks Film 2001  : Odyssee im Weltraum, in der eine Gruppe von Kosmonauten einen geheimnisvollen, tiefschwarzen Monolithen auf dem Mond entdeckt, auf großartige Weise von Ligetis Requiem untermalt. Niemand fühlt sich durch diese Musik irritiert. Erst durch sie erhält die Sequenz ihre ganze Kraft, die richtige emotionale Ladung, angesichts dieses »absoluten Mysteriums«, und der Ton wird durch das Bild validiert. Wie viele Zuschauer, die sich für das begeistern, was sie sehen und hören, könnten dasselbe Vergnügen empfinden, wenn sie das Requiem alleine hörten  ? Ist die Verbindung von Bild und Musik erst einmal »gespeichert«, wird die Anhörung desselben Werks leichter, dank des Wiederaufrufs des Bildes durch das Gedächtnis, genauer gesagt  : des emotionalen Bildes, von dem die Kombination der beiden Medien im Körper einen »Abdruck« hinterlassen hat. Manch einem mag diese Herangehensweise als unzulässige Krücke, als Parasitismus gegenüber dem musikalischen Werk erscheinen. Dennoch behaupte ich, dass es sich hierbei nicht nur um ein exzellentes musikalisches Erziehungsmittel handelt, sondern vor allem um die Verdeutlichung eines bemerkenswerten semiotischen Erzeugungsprozesses  : den Königsweg zur Schaffung – im Geist des Hörers – neuer musikalischer Codes. An dieser Stelle gilt es, das auszuformulieren, was die Aussagekraft eines Axioms hat  : Es existiert keine Kombination Musik/Bild, die sich nicht unverzüglich im Zeichen substantiviert, selbst wenn Bild und Ton, für sich genommen, keinen identifizierbaren Code besitzen. Diese Tatsache verdankt sich der grundsätzlich engen Beziehung zwischen musikalischem Rhythmus und plastischer Form. Jede Form besitzt einen Rhythmus, so wie umgekehrt jeder Rhythmus eine Formatierung des Raums in der Zeit darstellt. Aus diesem Grund wird die Kombination eines jeden Klangs mit jedem Bild »bezeichnend« [signifiant]. Durch einen bemerkenswerten autarken Prozess wird 247


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der Ton zum Zeichen des Bildes und umgekehrt. Der emotionale Wert dieser Assoziation erlangt die Komplexität und die Fülle unendlich vieler Möglichkeiten – vergleichbar mit der Vermischung von zwei Düften, deren Summe uns in einander überlagernde Erinnerungen taucht und eine Verbindung aufkommen lässt, die eine neue Fiktion ist. Und was für die Kombination einer dissonanten Musik mit einem abstrakten Bild gilt – also für zwei Objekte, deren semiotische Kraft durch die Abwesenheit von Konventionen vermindert ist, deren Vereinigung jedoch bewirkt, dass sie »signifikant« werden –, das gilt natürlich in noch stärkerem Maß für das Zusammenwirken eines Bildes und einer Musik, deren Codes uns vertraut sind. Im Moment der Verschmelzung tritt also ein erstaunliches Phänomen auf, nämlich die Fusion zwischen den topographischen Zeichen des Bildes und den emotionalen Zeichen der Musik. Denken wir nur an das Ballett der Raumschiffe in 2001  : Odyssee im Weltraum – dieser Film ist besonders exemplarisch, weil in ihm die Musik einen herausragenden Faktor darstellt –, das untermalt ist von Johann Strauß’ An der schönen blauen Donau. Nachdem sich der erste Überraschungseffekt verflüchtigt hat – in der Tat ist dieser perfekt ausgeklügelt, um im Zuschauer ein Gefühl des Anachronismus heraufzubeschwören, um ihn zu zerstreuen und wie durch eine Art Verweigerung abschweifen zu lassen und ihn alsdann umso entschlossener wieder »zurückzuholen« –, stellt sich ein Gefühl der Überwältigung ein angesichts der vollkommenen Harmonie zwischen dem kreisenden Rhythmus des Walzers und den tanzenden Raumschiffen. Stülpte man dieser Sequenz eine andere Musik über, so nähme sie eine völlig andere emotionale Farbe und einen völlig anderen plastischen Rhythmus an. Es hätte dann den Anschein, als ob uns die Bilder wirklich etwas anderes sagten  : Sie wären mit einem neuen Zeichen ausgestattet, sie würden zu anderen »Bezeichneten« [signifié]. Um diese Erfahrung anhand eines anderen Beispiels zu verdeutlichen, empfehle ich die Komposition Fratres von Arvo Pärt  : eine musikalische Sequenz, bei der sich diesmal nicht die geringste Rhythmik identifizieren lässt. Jedoch entwickelt sich ein Klangfarbenspiel auf der Basis der natürlichen Obertöne, die die eigentliche »Raumwirkung« des Werks entstehen lassen, welche perfekt zu Kubricks Bildern zu passen scheint – auf fast pleonastische Art, weit weg vom verblüffenden, illustrativen Kontrast der Kombination mit der Musik von Strauß. Wer die Mühe nicht scheut, dieses Experiment zu machen, wird seine gefühlsmäßigen Reaktionen in beiden Fällen miteinander vergleichen und sich schnell davon überzeugen können, dass das Prinzip des emotional kompetenten Zeichens seine Gültigkeit hat. Ebenso wird er nachvollziehen können, wie wichtig es ist, die bereits bestehenden Verknüpfungen zwischen unseren Sinnen auszunutzen. Denn so wird unsere 248


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Fähigkeit, die verschiedenen Zeichen und ihre jeweiligen Kombinationen – seien ihre künstlerischen Vehikel auch noch so abstrakt – zu »dekodieren«, weiter ausgebaut. Daraus könnte man schließen, dass es eine neue Kunst gibt, die in greifbarer Nähe ist und die nur entwickelt zu werden braucht. Und dass uns eine Methode dargeboten wird, die uns dabei hilft, die Werke der jüngeren Vergangenheit, das, was gemeinhin als »zeitgenössische Musik« bezeichnet wird, zu verstehen. Ich bin überzeugt, dass das häufige und wiederholte Zu-Gemüte-führen der Kombination Bild/moderne Musik dabei behilflich sein wird, allmählich neue Klangbilder, die den Wert von neuen Zeichen besitzen, in unserem Geist zu verankern. Bleibt lediglich zu bedauern, dass sich die Filmkunst auf die Assoziation  : moderne Musik = Angst bzw. Spannung beschränkt. Was sich nicht auf einen von »Natur aus« und »schicksalhaft« negativen Gehalt moderner Musik zurückführen lässt, sondern auf die »Vokabelarmut« seitens des Hörers sowie auf den Mangel an »Interpretanten«, d. h. an emotional kompetenten Objekten seitens des Komponisten. In seinem Unvermögen, die wahrgenommenen Zeichen zu dechiffrieren, empfindet der Hörer diese als feindlich und demnach als beklemmend. Es ist immer wieder diese Angst vor dem Anderen und dem Anders … Was in diesem Zusammenhang freilich nicht unerwähnt bleiben sollte, ist die Tatsache, dass in letzter Zeit eine Art semantischer »Verschiebung« stattgefunden hat, die sich leicht auf dauerhafte, um nicht zu sagen  : definitive Art in unseren Köpfen festsetzen könnte, nachdem uns die Assoziation modern = Angst durch die Bildmedien geradezu eingeimpft und dieser dadurch ein Symbolwert verliehen worden ist, der sich nur mit allergrößter Anstrengung in sein Gegenteil umkehren ließe. Kino und Fernsehen treten nicht nur als Schöpfer von Modephänomenen hervor. Sondern sie agieren hauptsächlich auf die tiefliegenden Schichten des individuellen und kollektiven Geistes, um neue Zeichen zu generieren, neue, weltweit gültige, omnipräsente, mit Suchtpotential ausgestattete Codes zu etablieren, deren Macht derjenigen der Medien selbst entspricht. Der Komponist, der den Wert dieser Zeichen und die ihnen zugeordneten Codes und Emotionen nicht anerkennen will, läuft Gefahr, dem Autismus anheimzufallen  ; genauso steht es ihm natürlich frei, wenn er den Mumm dazu hat, die Rolle des Märtyrers zu übernehmen. Heute besteht die Aufgabe des Komponisten darin, nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese Zeichen zu übermitteln. Die Zeit der Beschimpfungen und Sahnetorten ist vorbei. Jetzt muss die Zeit der Lösungen kommen, und zwar gleich. Ich für meinen Teil befürworte eine neue Kunst, die, dem Beispiel der Oper folgend, auf den Zusammenschluss von Auge und Ohr gründet  ; allerdings ge249


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stützt auf reine Bilder – nicht auf Dekor oder Inszenierung – und auf Text. Übrigens ist die Feststellung bezeichnend, dass die moderne Musik trotz dieser »Krücken« das Opernpublikum bisher genauso wenig zu erobern vermochte wie das Konzertpublikum. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass die Ablehnungshaltung von jenem noch drastischer war als die von diesem  : sind doch sämtliche kostspieligen »Premieren« fast immer auch Dernièren geblieben … Und das, weil, im Fall der Oper, eine Melodielinie, welche den Gesang außer Acht lässt und eine Textvorlage, welche das Theater ignoriert, nur erschwerend wirken können auf die Rezeption einer Musik, die bereits zu verdichtet ist für eine Gattung, in der man – im Gegenteil – eher vereinfachen165und von Geschichten ausgehen sollte, die über ein Quäntchen Sexappeal verfügen. Gewiss haben einige Komponisten die Herausforderung mit Bravour gemeistert  : John Adams mit seiner Oper Nixon in China, Philippe Hersant mit Le Chateau des Carpathes, Hans Werner Henze mit Der junge Lord, Carlisle Floyd mit Susannah, Luciano Berio mit Un Re in ascolto sowie weitere Komponisten, darunter etwa Wolfgang Rihm, die neue finnische Schule … Das Musiktheater, eine Gattung mit freilich ungewisser Zukunft, wurde auf der Verschmelzung von Drama und Musik gegründet. Hiermit rufe ich auf zur Schaffung einer neuen Gattung, und zwar mittels der Fusion von Musik und Bild, die zusammen konzipiert und nicht willkürlich aneinandergeklebt werden, indem Musiker und »bildender« Künstler, nach dem Vorbild von Komponist und Librettist, ein audiovisuelles Drama schaffen, ein Zusammenspiel von Tönen und Bildern, die sich wechselseitig explizieren und den Zuschauer/Zuhörer – ohne Fehltritt – durch unbekannte sensorische Gefilde leiten. Die bildende Kunst ist durch die Entwicklung der computergenerierten Bildkunst in eine neue Dimension eingetreten, und das Festival »Imagina«, das die schönsten Objekte jedes Jahr in einer 3D-Animation präsentiert, beweist, dass wir es mit einer neuen Kunstform zu tun haben, die sich hervorragend zur Anwendung auf die von mir vorgeschlagene künstlerische Herangehensweise eignet. Es handelt sich mitnichten, wie einige bereits entgegengehalten haben, um einen Erklärungsversuch, oder um den Versuch, den Klang durch das Bild zu rechtfertigen  ; ebenso wenig wie die Oper seinerzeit ein Versuch war, das, was sich im Orchestergraben abspielt durch das, was auf der Bühne geschieht, zu erklären. Darüber hinaus fordere ich die heutige Komponistengeneration auf, das Gebiet des »rythme cinématographique« in ihre Forschungen miteinzubeziehen. Wir verfügen heute über eine große Empfänglichkeit für visuelle Eindrücke, ebenso wie für plötzlich und wiederholt auftretende dramatische Verkettungen. 250


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Das Publikum im 19. Jahrhundert, der Zuschauer des Boulevard-Theaters war mit extrem langsamen Sequenzen konfrontiert, und die wenigen »Knalleffekte« konnten auch nicht schneller aufeinander folgen, als die Arme der Maschinisten es gestatteten. Dagegen ist das Kinopublikum von heute einem Rhythmus ausgeliefert, der durch die anbrandende Welle von Situationen, Flash-backs, virtuellen Berg- und Talfahrten bestimmt ist, die ihrerseits – auf Teufel komm raus – immer wieder neue Begehrlichkeiten, immer wieder neue Erwartungen in uns wecken. Welches sind die Situationen, für deren Erduldung wir am wenigsten geeignet sind  ? Eine Szene, die sich ewig in die Länge zieht  ? Jemand, der stundenlang um den heißen Brei herumredet, ohne auf den Punkt zu kommen  ? Eine Verkehrsstockung  ? Es ist nicht wirklich nötig, dass die Dinge schnell gehen, sie müssen nur schnell aufeinander folgen. Selbstverständlich hat die Kunst nicht die »Macken« einer frenetischen Menschheit nachzuahmen, und schon gar nicht aus Opportunismus, mit dem Ziel, dieser zu gefallen und ihr zu schmeicheln. Das ist die Rolle der KommerzMusik, die diese sehr gut erfüllt. Aufgabe der Kunst ist es vielmehr, in der Sprache ihrer Zeit zu den Menschen ihrer Zeit zu sprechen. Unsere geistigen Strukturen und vor allem die moderne Lebensart fordern uns zum Pluralismus auf, zur Vermischung von Klang und Form. Dazu, jene Musik zurückkehren zu lassen, die, wie Gustav Mahler sagte, um sein eigenes symphonisches Universum zu beschreiben, »die ganze Welt spiegelt«. Sprachen wir doch von Revolution, als weiter oben im Kapitel über die Moderne vom Bruch mit den ästhetischen Traditionen des 20. Jahrhunderts die Rede war. Es gibt noch eine weitere Revolution, die allerdings auf sich warten lässt, nämlich die, durch welche die Einheit des Stils abgeschafft würde. Wenn diese Regel den Ruhm der »Klassik« begründet hat, dann deshalb, weil sie dem Menschen von damals entsprach. Dem Menschen, der im Wesentlichen ein Mensch eines Ortes und eines Gottes war. Im Bestreben, die Geste des großen Schöpfers nachzuahmen, und aus Tradition mit dem Einheitsprinzip vertraut, wandte der Mensch dieses auf seine eigenen Werke an, in der prometheischen Hoffnung, ihnen damit das göttliche Siegel aufzudrücken. Und dennoch, kreativ ist der Mensch erst dann, wenn er anfängt, zu vermischen. Denken wir nur an eine Stadt wie Venedig. An ihr können wir exemplarisch beobachten, wie die verschiedensten Einflüsse fröhlich verschmelzen und die Illusion eines bestimmten Stils heraufbeschwören. Die Einheit des Stils ist seit jeher nichts anderes gewesen als ein trügerischer und tyrannischer Perspektivenirrtum. Heute sollte dieser Begriff nur noch Konservativen und Verfechtern der Restauration als Triebfeder dienen, aber nicht mehr Künstlern. Der moderne Mensch, 251


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auch wenn er sich selbst nicht von der Stelle bewegt, kann doch schwerlich verhindern, dass die Welt zu ihm kommt. Ob man diese kulturelle Mischung [métissage culturel] bedauert oder begrüßt, ist eine andere Debatte. Tatsache ist  : Wenn der Kunstschaffende von heute Teil seiner Epoche, sprich  : modern sein will, dann muss sich diese nicht nur geographische, sondern auch chronologische Pluralität in seinem Werk widerspiegeln. Ich sehe nicht, was einen Komponisten davon abhalten sollte, perfekte Akkorde, Dissonanzen, Jazzrhythmen, alte Rhythmen, synthetische Klangfarben und Akustikinstrumente zu verschmelzen. Das Fehlen oder vielmehr die Seltenheit von Werken solcher Faktur scheint mir der Beweis dafür zu sein, dass etliche Komponisten die Geste unserer Epoche noch nicht verinnerlicht haben. Obwohl es einige brillante Vorkämpfer gibt, wie etwa Mauricio Kagel oder Luciano Berio. Sie haben den Weg vorgezeigt, auf dem man noch viel weiter gehen kann. Bild, Rhythmus, stilistische Pluralität – das sind die am schnellsten greifbaren und effizientesten Werkzeuge, die wir brauchen, um endlich miteinander zu kommunizieren, wieder zu kommunizieren, die Verbindung wieder herzustellen, den Geist zu öffnen für neue Perspektiven. Diese Aufgabe fällt dem Komponisten zu. Aber auch dem Hörer obliegt die Anstrengung, sein Ohr zu schulen. Bei der Erweiterung des eigenen Spektrums klanglicher und emotionaler Assoziationen geht es um weit mehr als nur um die Herausbildung einer persönlichen Ästhetik. Angesichts der Flut von Traumverkäufern aller Art, die ihre Ware zu Schleuderpreisen feilbieten, muss der Hörer die Mittel zur Hand haben, die ihm erlauben, zu urteilen und seine Wahl zu treffen. Und angesichts der Schwemme musikalischer Produkte mit rein kommerzieller, propagandistischer und manipulierender Ausrichtung muss sich der ­Hörer einen Schutzschild aus musikalischen Referenzen zulegen, eine regelrechte »Hörbrille«, die ihm gestattet, der tönenden Hässlichkeit gewahr zu werden, mit der man ihn einzulullen versucht, aber auch der Reize neuer, staunenswürdiger Klänge, von denen er niemals geglaubt hätte, dass er ihnen erliegen könne. Es geht also um die Unabhängigkeit eines jeden Einzelnen, um die Entscheidungsfreiheit und, nicht zuletzt, um die Freiheit im weitesten Sinne. Die Herausforderung ist nicht nur eine künstlerische, sondern tatsächlich eine politische. Es lohnt sich, den Versuch zu machen …

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Literaturverzeichnis

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1.   k o r r e k t u r

Literaturverzeichnis

Rameau Jean-Philippe, La Génération harmonique, ou Traité de musique théorique et pratique. Rameau Jean-Philippe, Les Nouvelles Réfléxions sur le principe sonore. Rameau Jean-Philippe, Les Observations sur notre instinct pour la musique, et sur son principe. Rameau Jean-Philippe, L’Harmonie réduite à ses principes naturels. Saussure Ferdinand de, Cours de linguistique générale, Payot, Paris 1991. Süskind Patrick, Le Parfum, Fayard, Paris 1993. Süskind Patrick, Das Parfum, Diogenes, Zürich 1985. Servan-Schreiber David, Guérir le stress, l’anxiété et la dépression sans médicaments ni psychanalyse, Robert Laffont, Paris 2003. Spinoza Baruch, Éthiques, Nathan, Paris 2005. Todorov Tzvetan, Symbolisme et interprétation, Le Seuil, Paris 1978.

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Liste der Abbildungen

Schema der Funktionen und Finalitäten von Musik …. Abb. 3.1. Schwingende Saite 0,5 Fuß lang …. Abb. 3.2. Schwingende Saite 2 Fuß lang …. Abb. 3.6. Pythagoreische Quinten … Abb. 3.7. Tonleiter mit 25 Noten innerhalb einer Oktave …. Abb. 3.8. Moderne Tonleiter …. Der goldene Schnitt …. Die göttliche Proportion …. Abb. 4.1 und 4.3. Tosca von Puccini …. Abb. 4.8 bis 4.12. Die Akkorde tonaler Musik … Abb. 4.13. Für Elise von Beethoven …. Abb. 4.14. Symphonie Nr. 40 von Mozart …. Abb. 4.15. Le Nozze di Figaro von Mozart …. Tabelle mit indischen Musikzeichen von Daniélou …. Abb. 5.1 und 5.3. Also sprach Zarathustra von R. Strauss …. Abb. 7.1. Akkord als Basis des Arpeggios …. Abb. 7.2. Aufgelöster Akkord mit linearer Notenabfolge …. Abb. 7.3. Aufgelöster Akkord mit nicht linearer Notenabfolge …. Abb. 7.6. Klaviersonate Nr. 1 von Beethoven …. Abb. 7.7. Mondscheinsonate …. Abb. 7.8. Dritter Satz der Mondscheinsonate …. Abb. 7.9. Klaviersonate Appassionata …. Abb. 7.10. Symphonie Nr. 5 (Schicksalssymphonie) …. Abb. 7.11. Symphonie Nr. 6 (Pastorale) …. Abb. 7.12. Scherzo der Symphonie Nr. 7 …. Abb. 7.13 bis 7.16. Sätze Nr. 1, 2, 3, und 4 der Symphonie Nr. 9 …. Abb. 7.17. Ode an die Freude …. Abb. 7.18. Der Ritt der Walküren von Wagner …. Abb. 7.19 und 7.20. Symphonie Nr. 5 von Beethoven …. Abb. 7.24. Trauermarsch von Chopin …. Abb. 7.25. Symphonie Nr. 5 von Mahler …. Abb. 7.27, 7.28, 7.29. Symphonie Nr. 5 von Beethoven …. Abb. 10.1. Fuge in d-Moll von Bach …. 256


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Glossar

Archetyp  : Das tiefenpsychologische Konzept des Archetypus oder Archetyps geht zurück auf den Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung. Dabei handelt es sich um im kollektiven Unbewussten angesiedelte und allen Kulturen gemeinsame »Urbilder«, die auf Urerfahrungen der Menschheit beruhen und unser Bewusstsein präfigurieren und strukturieren. Dodekaphonie o. Zwölftontechnik  : Von Arnold Schönberg »erfundene« und entwickelte Kompositionsmethode, die den zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen der chromatischen Tonleiter denselben Stellenwert zuordnet. Eine Zwölftonreihe ist eine Abfolge von Tönen, innerhalb derer keiner der zwölf Töne wiederholt werden darf, wodurch jegliche Tonalität vermieden wird. Chromatische Tonleiter  : Die seit der Renaissance in der tonalen Musik verwendete chromatische Tonleiter bezeichnet die Einteilung der Oktave in zwölf Halbtonschritte. Diese kommt zustande, indem man die sieben Stammtöne (C, D, E, F, G, A, H) der diatonischen Leiter ergänzt durch die fünf, mithilfe der Versetzungszeichen  und  hergestellten Zwischentöne (Cis, Dis, Fis, Gis, As). Eparnorthose  : Dieses (im Deutschen völlig ungebräuchliche) Wort bedeutet, dass man auf etwas zuvor Gesagtes zurückkommt, um es zu betonen, abzuschwächen oder zu korrigieren. (z. B. »Er hat ihm eine Ohrfeige gegeben. Ach was, was sag ich da  : Er hat ihn regelrecht verprügelt, zusammengeschlagen.«) Exegese  : Auslegung eines Textes, meist im Zusammenhang mit religiösen oder juristischen Schriften. Nihilismus  : Im philosophischen Sinn bezeichnet Nihilismus Lehren, die die Existenz einer Wirklichkeit oder die Geltung eines Wertesystems verneinen. 257


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Glossar

Nietzsche verwendete den Begriff gegen die Verblendung des Idealismus, insbesondere gegen die christliche Religion. Numinos  : Es handelt sich um eine Wortschöpfung Rudolf Ottos, die vom lateinischen Substantiv numen abgeleitet ist  : Gottheit, Gott, Göttlichkeit. Otto verwendet den Begriff zum ersten Mal in seinem Werk Das Heilige und bezeichnet damit das – affektive – religiöse Erleben oder das Erleben des Heiligen, getrennt von seinem ethischen und rationalen Aspekt. Rubato  : Rubato bzw. tempo rubato stammt aus dem Italienischen und bedeutet »gestohlene Zeit«. Dieser Begriff bezeichnet in der Musik verschiedene Arten der Verlängerung oder Verkürzung bestimmter Noten der Melodiestimme. Dadurch soll eine Auflockerung der strengen Tempowerte herbeigeführt werden. Die Gestaltung dieser Tempovariationen bleibt dem Interpreten oder Dirigenten überlassen. Charakteristisch für die Musik der Romantik, insbesondere von Frédéric Chopin, gestattet das Rubato dem Interpreten, das Werk mit seinem persönlichen emotionalen Stempel zu versehen. Semantik  : Die Semantik ist die Lehre von der Bedeutung der Zeichen und – sofern sie sich mit sprachlichen Zeichen befasst – eine Teildisziplin der Linguistik. Semiologie  : Es handelt sich um die Lehre oder die Wissenschaft der Zeichen. Die von Ferdinand de Saussure entwickelte »Semiologie« untersucht die Zeichen und ihre Bedeutung im sozialen Austausch. Serialismus oder serielle Musik  : Diese in den späten 1940er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Frankreich aufgekommene Strömung der Neuen Musik ist eine Weiterentwicklung von Arnold Schönbergs Zwölftontechnik. Ihr Prinzip beruht auf strengen Konstruktionsregeln, die darin bestehen, alle Parameter der Musik zu quantifizieren und in einer vorab festgelegten Proportion reihenmäßig (Reihe = série) zu erfassen.

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Anmerkungen

1 Exoterisch  : auch Uneingeweihten zugänglich, allgemein verständlich (im Gegensatz zu esoterisch).   2 Zur Beantwortung dieser Frage sowie für jegliches weitere Interesse an den Arbeiten Hawkings empfehlen wir dem Leser, die offizielle Webseite des Physikers zu besuchen  : http  ://www. hawking.org.uk.   3 Es existieren weitere Betrachtungen Platons zur Musik, namentlich im Platondialog Timaios, in Republik, in den Nomoi [Gesetzen], sowie einige Anspielungen auf die Musik in seinem Frühdialog Laches, in Das Gastmahl, im Theaetet sowie im Philebos.  4 Aristoteles, Politik, Buch VIII.   5 Zt. in Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München, 1995.   6 In  : Rudolf Otto, Das Heilige, München, 1917.   7 Das Wort numen hat im Lateinischen folgende Bedeutungen  : Macht, Majestät, Größe, Gottheit, Gott, Göttin, Kraft, Stärke.   8 Zu nennen seien etwa Maria die Jüdin, Erfinderin der »Bain-Marie« oder die Alchemisten des Mittelalters, die neben zahllosen anderen Substanzen den Stickstoff und die Schwefelsäure entdeckten.   9 Isaac Newton an erster Stelle. Siehe hierzu Jean-Paul Auffray, Newton ou le Triomphe de l’Alchimie, éditions Le Pommier, 2000. 10 Holmyard zufolge soll Spinoza mit eigenen Augen eine Transmutation verfolgt haben. In der modernen Physik sind Transmutationen zwar möglich, doch sollen sie mit den Mitteln allein der Alchemie undenkbar sein. Fulcanelli ist der letzte bekannte Alchemist, dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine Transmutation vor Zeugen gelungen sein soll. In der Alchemie ist der Weg wichtiger als das Ziel, welches man als allegorisch ansehen kann. 11 Vgl. Carl Gustav Jung, Psychologie und Alchemie, 1943. 12 Die Ähnlichkeit zwischen der Struktur eines Atoms und einem Planetensystem ist ein Beispiel für diese Analogie zwischen unendlich groß und unendlich klein. 13 Die erste schriftliche Fassung der Vier-Elemente-Lehre soll auf Empedokles (um 493 – 433 v. Chr.) zurückgehen. 14 Denjenigen, die sich vom alchemischen Gedanken angezogen fühlen, möchte ich gerne ein kleines Rätsel stellen  : Das Feuer im Wasser ist relativ einfach zu erkennen, man braucht nur in die Badewanne zu steigen, um es zu spüren. Aber wie verhält es sich umgekehrt mit dem Wasser im Feuer  ? 15 Wie bereits weiter oben beschrieben waren die sieben freien Künste des Mittelalters in 4 + 3 Disziplinen unterteilt. 16 Wagner war, ebenso wie Debussy, ein leidenschaftlicher Anhänger der Kunst des Hermes. 17 Natürlich gibt es das Phänomen des reinen Tons, der durch einen Synthesizer erzeugt wird, jedoch macht es uns die Armut seines Klangs unmöglich, ihn länger als einige Sekunden auszuhalten. 18 Vgl. Kapitel 9 »Vom Klischee zur Couch« 19 Gemeint sind hier die paar Dauerbrenner der Sorte Au clair de la lune, mit denen unsere Kinder

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Anmerkungen

seit Generationen abgespeist werden, bloß weil niemand auf die Idee kommt, das außergewöhnlich reiche Melodiengut Frankreichs aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken. 20 Pierre Boulez, Relevés d’apprenti, Paris, 1966. 21 Pierre Boulez, Penser la musique aujourd’hui, Paris, 1963. 22 Selbst zu Beginn der Moderne kann man etwa im Sacre du printemps, in dessen Verlauf praktisch keine Reproduktion irgendwelcher Elemente stattfindet, dennoch feststellen, dass der Komponist in seiner Partitur mit »Blöcken« verfährt, innerhalb derer die Motive – wenn auch in jeweils abgewandelter Form – wiederholt werden. Man denke nur an das Fagott-Solo am Anfang des Werks. 23 Claude Debussy, Monsieur Croche, Antidilettante, (coll. L’Imaginaire), Paris, 1987, S. 335. 24 Vgl. das Kapitel »Eine Musik ohne Stimmung  ?« 25 Dt.  : »das pythagoräische Komma«. 26 Eine Veranschaulichung dieser alchemistischen Theorie findet sich zum Beispiel in dem Bild Mystische Geburt von Botticelli. Fasziniert von der Kunst des Hermes, stellte der Künstler die zwölf Himmelskonstellationen in Gestalt von Engeln dar und gab den sieben Metallen beziehungsweise Planeten – über dem Stall abgebildet – die ihnen traditionell zugeordnete Farbe. 27 Brian Greene, The Elegant Universe. Superstrings, Hidden Dimensions, and the Quest of the Ultimate Theory. New York, 1999. [Das elegante Universum, München, 2006.] 28 Ebd. S. 105–106. 29 [Der französische Begriff für Goldener Schnitt ist »nombre d’or«. Anm. d. Ü.] 30 Matila Ghyka, Le nombre d’or, Paris, 1931. 31 Zt. in Gérard Assayag und Jean-Pierre Cholleton, La Recherche. Spezialausgabe zum Thema Zahlen Nr. 278, Juli/August 1995. 32 Als enger Freund des Komponisten war Arthur Rubinstein übrigens überzeugt vom rein provokativen Charakter der obigen Äußerung. 33 John Locke, Essai philosophique concernant l’entendement humain. Paris, 2004. 34 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München, 1995. 35 Patrick Süskind, Das Parfum, Zürich, 1985, S. 33. 36 Zt. in Umberto Eco, ebd. 37 Hier könnte man freilich einwenden, dass der Komponist im extremen Fall sein eigener Hörer sein und sich folglich selbst für gültig erklären kann. Darauf antworte ich, dass dies erstens eine schrecklich ichbezogene Vision von schöpferischer Arbeit ist und, zweitens das »Ich« des Erzählers/Komponisten – um im Jargon der Sprachwissenschaft zu bleiben – ein »Du« des Lesers/Hörers impliziert. Das »Du« kann eventuell an die Stelle des »Ich« treten, jedoch niemals mit diesem koinzidieren. Andernfalls entstünde ein Widersinn, der vor allem implizierte, dass es sich beim Hörer um ein »Er« handelt, um die dritte Person – laut Émile Benveniste um den Abwesenden, die Nicht-Person, um den vom Diskurs Ausgeschlossenen. Diese Rolle der dritten Person ist es jedoch, in welche die Avantgarde, wenn auch ungewollt, ihr Publikum gedrängt hat, indem sie sich von den »alten Zeichen« abwandte. 38 Eine der besten Einführungen in die Welt der Zeichen befindet sich in Umberto Eco  : Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt, 1977. 39 Alle Beispiele aus diesem Buch können auf meiner Internetseite angehört werden  : www.chaslin. com, das Buch-Icon anklicken und weiter auf »exemples musicaux«.

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Anmerkungen

40 Rhetorisches Mittel, bei dem das Ganze durch einen Teil bezeichnet wird  : Scarpia, durch die Noten der Gitarre, Verführungswaffe. 41 J.-J. Nattiez, Musicologie générale et sémiologie, Paris, 1987. 42 Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München, 1985. 43 Antonio Damasio, Spinoza avait raison, Paris, 2005. 44 Für eine Annäherung an diese Methoden zur Selbstkontrolle empfiehlt sich die Lektüre von David Servan-Schreiber  : Die neue Medizin der Emotionen – Stress, Angst, Depression  : gesund werden ohne Medikamente, München, 2006. 45 Gemäß der Darwinschen Klassifizierung sind die Primäremotionen Freude, Traurigkeit, Wut, Angst, Ekel vergleichbar mit den Primärfarben  : Sie sind Quellen unendlich vieler Mischungen. Siehe dazu auch  : Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, 1872. 46 Unter Homöostase, oder Selbstregulation, versteht man die Fähigkeit eines Systems oder Organismus, sein Funktionsgleichgewicht trotz von außen her einwirkender Zwänge aufrechtzuerhalten. 47 Ebd. 48 [in Anspielung auf den französischen Begriff „Belle Époque“  ; A. d. Ü.] 49 Jean Barraqué (1928 – 1973) und Bernd Alois Zimmermann (1918 – 1970). 50 »Wir lieben weder die Kunst, noch die Künstler  ; keine Maler mehr, keine Literaten, keine Musiker …, keine Anarchisten, keine Sozialisten, … keine Polizei, keine Vaterländer mehr. Endlich genug mit all diesen Dummheiten, nichts mehr, nichts mehr, NICHTS, NICHTS, NICHTS.« Aragon, 1920. 51 André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus, 1930. 52 [transfer, im psycho-analytischen Sinn  ; A. d. Ü.] 53 »Aus unerfindlichen Gründen vermögen gewisse Musikinstrumente, namentlich die menschliche Stimme sowie gewisse Musikkompositionen emotionale Zustände hervorzurufen, die eine ganze Reihe von Reaktionen der Haut, wie etwa die berühmte Gänsehaut nach sich ziehen, Zittern oder Schauer in der unteren Lendenwirbelsäule […]«. A. Damasio, Ebd. 54 Ebd. 55 Auszug aus »Du sentiment de l’art chez les masses«, erschienen in La Revue et Gazette musicale, 21. Februar 1836. 56 Berlioz hatte auf Wunsch seines Vaters zunächst ein Medizinstudium begonnen, bevor er sich endgültig der Musik zuwandte. 57 Antonio Damasio, Spinoza avait raison 58 Roland Barthes, Essais critiques, Paris, 1981. 59 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache. 60 Ebd. S. 32. 61 Natürlich löst diese Vision selbst ein Gefühl des Wohlbefindens aus, aber dieses Gefühl ist immer, im Fall der Begegnung mit dem Numinosen, ein In-Bereitschaft-Versetzen, das sich wiederum in einer großen Ruhe ausdrückt. 62 Claude Lévi-Strauss, Le Cru et le Cuit, Paris, 1964. 63 Gilles Deleuze, Mille Plateaux, Paris, 1980. 64 Die Zwölftontechnik weist den zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter denselben Stellenwert zu und vermeidet so jegliche Tonalität. 65 Pierre Boulez, Penser la musique aujourd’hui, Paris, 1987.

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Anmerkungen

66 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache. 67 Hector Berlioz, Traité d’instrumentation et d’orchestration moderne, Paris, 1844. 68 Charles Baudelaire, Curiosités esthétiques, Paris, 1886. 69 In der indischen Musik zum Beispiel entsteht das Existentielle, d. h. das »Vorübergehende, Entschwindende« durch die äußerst kontrollierte und differenzierte Improvisation, auf der jegliche Interpretation beruht, weil es das eigentliche Konzept der Komposition bzw. der niedergeschriebenen Musik gar nicht gibt, und weil das »Ewige und Unabänderliche« aus Improvisationsleitern und – codes besteht, die sich an der strengen religiösen Tradition orientieren. 70 Eine Ausnahme sei hier erwähnt, die einiges aussagen mag über den Wert des Fortschritts auf diesem Gebiet, nämlich die der Elektrogitarren  : Praktisch jeden Monat erscheint ein neues Modell auf dem Markt, das »noch mehr« kann als seine Vorläufer, aber die Musiker haben nichts Besseres zu tun, als sich auf die alten Hits aus den 70er-Jahren zu stürzen. 71 Claude Debussy, Monsieur Croche – Antidilettante, Paris, 1921. 72 Ebd.  : »Kaum zeigt sich ein Komponist zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, werden ihm bereits erste Artikel gewidmet  ; man reißt sich um seine Werke […] der Moment ist noch nicht reif, die jungen Ungarn Bartók und Kodály zu beurteilen, beide sind extrem interessante, verdienstvolle junge Künstler, die leidenschaftlich ihren Weg suchen.« 73 Antoine Laurent de Lavoisier (1743 – 1794), franz. Chemiker, gilt als einer der Begründer der modernen Chemie [Anm. d. Ü.]. 74 Alain [Émile-Auguste Chartier], Propos sur le bonheur, Paris, 1976. 75 Olivier Messiaen, »Temps et éternité«, in Traité de rythme, couleur et d’ornithologie [in 7 Bänden], Paris, 1994–2002. 76 Im Fall der traditionellen indischen Musik sollte darauf hingewiesen werden, dass ihre extreme Komplexität an sich schon eine Antinomie darstellt in Bezug auf jeglichen Universalitätsanspruch, ebenso wie der hinduistischen Religion jede Form von Proselytismus fremd ist. 77 Der Autor erlaubt sich, die unendliche Vielfalt aktueller Musikströmungen der Einfachheit halber auf diese beiden Begriffe zu beschränken. Als Vater von zwei heranwachsenden Söhnen weiß er nur allzu gut Bescheid über die Unterschiede zwischen House, Garage, Heavy Metal etc. 78 Sigmund Freud, Essais de psychanalyse appliquée, Paris, 1978. 79 Marie-France Castarède, La Voix et ses sortilèges, Paris, 1989, und Les Vocalises de la passion. Psychanalyse de l’opéra, Paris, 2002. 80 Jacques Lacan, französischer Psychoanalytiker (1901 – 1981) [Anm. d. Ü.]. 81 Mahler hat Freud nur ein einziges Mal zwecks einer Konsultation getroffen, über deren Inhalt der Nachwelt jedoch so gut wie nichts überliefert worden ist. Der Komponist hatte den berühmten Psychiater um Hilfe ersucht, um eine Antwort auf seine Eheprobleme mit Alma zu finden, aber auch um eine vorübergehende Schaffenskrise zu überwinden. 82 Wer sich für dieses Thema interessiert, der möge die Internetseite www.entretemps.asso.fr konsultieren. [Oder die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik, DGPM, www.psychoanalyse-und-musik.de, A. d. Ü.] 83 Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen ist es erlaubt, alles das als Realität zu bezeichnen, was im Verlauf des Traums als solche wahrgenommen wird. Der immer größer und immer »realer« werdende Anteil, den das »Virtuelle« in unserem täglichen Leben einnimmt, kann als Beweis dafür gelten, wie elastisch der Begriff »Realität« im Grunde ist.

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Anmerkungen

84 Der Autor spielt hier mit der Doppelbedeutung des Wortes »échec«, das sowohl Schach als auch Scheitern, Misserfolg bedeutet [A. d. Ü.].   85 Kompositionsmethode, bei der die Melodie in genau umgekehrter Richtung wiederholt wird, so als ob sie im Spiegel gelesen würde. Mozart hat zum Beispiel ein kurzes zweistimmiges Stück geschrieben, in dem jeder Part die exakte Spiegelung des anderen ist.   86 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache.   87 Ebd. S. 150.  88 Notarikon  : mit den Anfangsbuchstaben einer Reihe von Wörtern wird ein neues Wort gebildet. Gematrie  : Interpretation von Worten mithilfe von Zahlen, indem jedem Buchstabe eine Zahl zugeteilt wird. Temura  : Deutungsverfahren auf der Basis von Buchstabenumstellungen.   89 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 43.   90 François Florand, Johann Sebastian Bach. Das Orgelwerk, Lindau, 1946.   91 Marc-Alain Ouaknin, Concerto pour quatre consonnes sans voyelles, Paris, 2003.  92 Ebd. etwa  : »Zwischen den Wörtern hin- und herlaufen« und »voller Lesewut sein«. Bei letzterem Zitat handelt es sich um eine Anspielung auf den Ausdruck »rire aux éclats«, dt.  : in schallendes Gelächter ausbrechen [Anm. d. Ü.].   93 »Ist Wagner überhaupt ein Mensch  ? Ist er nicht eher eine Krankheit  ? Er hat die Musik krank gemacht«, Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888.   94 Claude Debussy, Monsieur Croche.   95 Ein solcher Ausspruch wäre Berlioz (1803 – 1869) durchaus zuzutrauen gewesen, kannte er doch die Schriften Darwins (1809 – 1882) nur zu gut, dessen Entstehung der Arten 1859 veröffentlich worden war.   96 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es Jules Michelet (1789 – 1874) war, der Mirandola als Inbegriff des Renaissance-Literaten »erfand«.   97 Sie wären übrigens gut beraten, Olivier Messiaens Traité de rythme, de couleur, et d’ornithologie als zweiten Pfeiler aufzustellen.   98 Siècle des Lumières  : dt. Zeitalter der Aufklärung, das Wort »lumière« bedeutet gleichzeitig »Licht« [Anm. d. Ü.].   99 Berlioz warnte seine Leser  : »Ah  ! Junge Schüler  ! Junge Komponisten  ! Nutzt das Beispiel, versucht, euch nicht schlecht zu stellen mit uns Philosophen der Gegenwart […] wir könnten uns eines Tages rächen, indem wir eurem Namen einen Platz in unseren sublimen Werken verweigern.« Herctor Berlioz, Les Grotesques de la musique, 1859. Berlioz kann ganz beruhigt sein, haben sich doch die »Schlauesten« unserer Zunft seine Worte zu Herzen genommen … 100 Olivier Messiaen, Vorwort zu Traité de rythme, de couleur, et d’ornithologie, Paris, 1994. 101 Claude Debussy, Monsieur Croche. 102 Auf der dieses Buch begleitenden Internetseite können sämtliche theoretische Schriften Rameaus, aus denen die folgenden Zitate entnommen sind, eingesehen werden  : - Le code de musique pratique, ou Méthode pour apprendre la musique. - La démonstration du principe de L’harmonie. - La Génération harmonique, ou Traité de musique théorique et pratique. - Les Nouvelles Réfléxions sur le Principe sonore. - Les Observations sur notre instinct pour la musique, et sur son principe. - L’Harmonie réduite à ses principe naturels.

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Anmerkungen

103 Debussy  : »Die Musiker hören nur Musik, die von geschickten Händen geschrieben wurde  ; niemals aber die, welche der Natur innewohnt. Den Anbruch des Tages zu erleben ist nützlicher als die Pastoralsymphonie zu hören.« In Einsame Gespräche mit Monsieur Croche. 104 Debussy stellte sogar ganz richtig fest, Rameau hätte wahrscheinlich Unrecht damit gehabt, seine Theorien niederzuschreiben, bevor er seine Opern komponierte, da ihr Inhalt seinen Zeitgenossen die Gelegenheit böte, auf das Fehlen jeglicher Emotion zurückzuschließen. 105 In Le Figaro vom 8. Mai 1908. 106 Die Prinzipien der durch Zahlenproportionen erzeugte Harmonie sind in Rameaus Code de musique pratique erläutert. 107 Z. B. eine Saite geteilt durch 2 erzeugt eine Oktave  ; geteilt durch 3 eine Duodezim (Oktave + Quint)  ; geteilt durch 4 eine Doppeloktave  ; geteilt durch 5 eine Doppeloktave + Großterz. 108 Claude Debussy, Monsieur Croche. 109 Sämtliche Zitate der letzten zwei Seiten stammen aus  : Daniel Paquette, J.-P. Michau, Jean-Philippe Rameau, musicien bourguignon. 110 [Tageszeitung zur Zeit der französischen Revolution, herausgegen von Jacques Hébert, Anm. d. Ü.] 111 Roland Barthes, Einführung in Degré zéro de l’écriture, 1954. [Dt.  : Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a. M., 2006. Foutre  : aus dem Argot und meist in zusammengesetzer Form, bedeutet so viel wie tun, treiben, anstellen, etc.  ; bougre ebenfalls aus dem Argot = Kerl, Schlucker. A. d. Ü.]. 112 Berlioz, Traité d’instrumentation et d’orchestration, Paris, 1844. [Moderne Instrumentation und Orchestration, deutsch-französische Ausgabe, 1845  ; Instrumentationslehre, ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Leipzig, 1905, 1955.] 113 Hector Berlioz, Les Grotesques de la musique, Paris, 1859, S. 39. [Dt.  : Groteske Musikantengeschichten, Frankfurt a. M., 1986, S. 14,15.] 114 Nach Sir Collin Davis in den 70er-Jahren hat nun John Eliot Gardiner eine sensationelle Einspielung von Berlioz’ Gesamtwerk vorgelegt. 115 »Im Prinzip, sehen Sie, lege ich wenig Wert darauf, mich zu erklären. Was wir ersonnen haben, die Meditationen, die unserer Arbeit vorausgehen, was wir haben ausdrücken wollen, wer kann das schon wissen  ?«, Monsieur Croche et autres écrits, Paris, 1971. 116 Alle Zitate sowie die folgenden sind ebenfalls Monsieur Croche entnommen. 117 Der Ausdruck nimmt Bezug auf den französischen Titel des Buches  : Monsieur Croche – Antidilettante [Anm. d. Ü.]. 118 »Was die schönen Werke betrifft, so werden sie sich kraft ihrer eigenen Mittel durchsetzen und das breite Publikum zählt in dieser Hinsicht nicht, denn es versteht nichts davon«, ebd. 119 1881 in Paris von Charles Lamoureux gegründete Konzertgesellschaft [Anm. d. Ü.]. 120 Henri Dutilleux, Mystère et mémoire des sons, entretiens avec Claude Glayman, Arles, 1997. 121 Im Mai 1940 geriet Messiaen in deutsche Kriegsgefangenschaft und verbrachte neun Monate im Stammlager VIII A der Wehrmacht bei Görlitz, wo er sein Quatuor pour la fin du temps komponierte [Dt.  : Quartett für das Ende der Zeit]. 122 Diese Gewissheit ist freilich relativ. Die einfachsten Darlegungen enthalten bisweilen Aussagefehler oder unnötige Präzisierungen, die einen an komplexeren Argumentationen zweifeln lassen. So spricht Boulez z. B. in seiner Analyse des Sacre in Points de repère, S. 93, [Dt. Anhaltspunkte, Kassel, 1979.] von einer »Zelle« mit fünf Noten, oder Quintole, bestehend aus einem drei Mal

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Anmerkungen

gespielten C, aus einem H und einem B. »Die erste Note der Quintole«, so der Autor, »wird drei Mal wiederholt, die beiden anderen nur ein Mal«, was sehr amüsant ist  : Muss doch eine Note, die drei Mal wiederholt wird, logischerweise VIER Mal ertönen, die erste Note und ihre drei Wiederholungen. Eine einfache Logik  : Sagt man, dass eine Note ein Mal wiederholt wird, so ergeben sich daraus zwei Noten, usw. Auf der anderen Seite sind wir Boulez natürlich überaus dankbar, uns darauf hinzuweisen, dass die beiden einzelnen Noten nur ein einziges Mal wiederholt werden, weil wir drei von den insgesamt fünf Noten ja bereits gehört haben. Man wird mir sagen, ich sei spitzfindig  ; darauf werde ich antworten, dass Boulez der Ruf der Unfehlbarkeit anhaftet, und dass es an der Zeit ist, diesen zu korrigieren, wo er selbst doch nie die geringste Nachsichtigkeit hat walten lassen. 123 Pierre Boulez, Penser la musique aujourd’hui, Paris, 1987. 124 Roland Barthes, »La Guerre des langages«, in Essais critiques, Paris, 1981. 125 Boulez, Einführung zu Penser la musique aujourd’hui. 126 Boulez, Points de repère I, Paris, 1981. 127 Boulez, Penser la musique aujourd’hui. 128 Boulez, L’Écriture du geste, Paris, 2000. 129 Institut de Recherche et Coordination Accoustique/Musique in Paris, dt.  : Forschungsinstitut für Akustik/Musik, an dessen Gründung im Januar 1977 Pierre Boulez maßgeblich beteiligt war. 130 Boulez, Points de repère. 131 Ebd. 132 Boulez, Penser la musique aujourd’hui. 133 Boulez, Points de repère. 134 Das erste politische Pamphlet, welches der junge Kapitän Napoleon Bonaparte schrieb, um seine Vorgesetzten zu beeindrucken und dank dessen er anlässlich der Belagerung von Toulon den Oberbefehl erhielt. 135 In der Bedeutung, die Heyting und Brouwer dem Begriff zuweisen. 136 Tzvetan Todorov, Symbolisme et interprétation, Paris, 1978. 137 Boulez, Points de repère, S. 27. 138 »Bon plaisir«, wörtlich übersetzt etwa  : rechtes Vergnügen, hier jedoch  : Belieben, Willkür. »Tel est le bon plaisir du roi«  : So wünscht es der königliche Wille [A. d. Ü.]. 139 Dt.  : Der Alte vom Berg. Es handelt sich hier um die gleichzeitige Anspielung auf Wagners Liebe zu den Bergen und auf den gleichnamigen Roman von Judith Gautier, die eine glühende Verehrerin von Wagner war und diesen einige Male in Tribschen besucht hat [A. d. Ü.]. 140 Damasio betont, dass die Homöostase, die Suche nach positiven Emotionen, wie etwa die Freude des Hörens, lediglich den Versuch des Körpers/Geistes darstellt, das psychosomatische Gleichgewicht zu erlangen und aufrechtzuerhalten und somit, in letzter Konsequenz, zu überleben. 141 Alain, Propos de littérature, 1934. 142 Man denke nur an den gestern noch angebeteten Tenor, der nur wegen eines verpatzten hohen Cs morgen schon ausgebuht wird. 143 Roland Barthes, Essais critiques, Paris, 1981. 144 Was Lacan bestätigt, wenn er sagt  : »Das Unbewusste zeigt, dass die Begierde gekoppelt ist an das Verbot«. Jacques Lacan, Écrits, Paris, 1966. 145 Ebd.

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Anmerkungen

146 [Dt.  : Lieben Sie bzw. liebe nur mich. A. d. Ü.] 147 New York Times vom 16.9.2003. 148 Haben die Engländer doch recht, wenn sie leicht, light, mit Entzücken, delight, assoziieren, und beide Wörter von light, Licht, ableiten. Die Leichtigkeit muss wieder hergestellt werden.149Vgl. hierzu Antonio Damasio, L’Erreur de Descartes, Paris, 1995. [Dt.  : Descartes’ Irrtum, München, 1994]. 150 Roland Barthes, Essais critiques. 151 Béla Bartók, Mikrokosmos, Klavierschule in 6 Bänden mit insgesamt 153 nach Schwierigkeitsgraden abgestuften Stücken. 152 Henri Bergson (1859 – 1941) war ein französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur [A. d. Ü.]. 153 Siehe den berühmten Satz  : »Lieber in der Hölle regieren als im Himmel dienen« aus Paradise Lost [Das verlorene Paradies]. 154 Zur Veranschaulichung empfehle ich die zahlreichen Werke Olivier Messiaens, die auf der Basis von Vogelgesängen entstanden sind, darunter etwa Catalogue d’oiseaux, Sept Haïkaï, etc. 155 Vgl. Fulcanelli, Le Mystère des cathédrales, Paris, 1970. 156 Nicht zu verwechseln mit dem »klassischen Zeitalter«, das eine musikwissenschaftliche Klassifizierung bezeichnet. 157 Dem interessierten Leser wie dem Musiker sei die Lektüre von Messiaens Traité de rhythme, de couleur, et d’ornithologie in 7 Bänden empfohlen. Das Traktat beginnt mit einer ausführlichen und absolut faszinierenden Studie über die Zeit. 158 Pierre Boulez, L’Écriture du geste, Paris, 2002, S. 130. 159 »Man muss zugeben, dass dies ein rein westliches Phänomen ist und dass es in anderen musikalischen Zivilisationen außer Frage stand, andere Grundintervalle als den Halbton zu verwenden.« Pierre Boulez, Relevés d’apprenti, Paris, 1966, S. 225 [Dt.  : Leitlinien. Gedankengänge eines Komponisten, Kassel, 2000]. 160 Ebd. S. 227. 161 Ebd. S. 225. 162 In »Le retour du poéticien«, La Quinzaine littéraire, 1972. Wie man sieht, kam dieser kluge Rat jedoch zu spät. 163 »In einem überladenen Kontext verhindern Ereignisse, die in sehr schnellem Rhythmus aufeinanderfolgen, jede – auch intuitive – Wahrnehmung der meisten individuellen akustischen Bezüge.« Pierre Boulez, Penser la musique aujourd’hui. 164 Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif«, in Essais critiques, ebd. 165 In der Tat ist es unsinnig zu glauben, die Komplexität der Opernkompositionen hätte, gemäß eines linearen Fortschrittsbedürfnisses, nach Wozzeck und Lulu nicht nur exponentiell wachsen müssen, sondern wachsen können, obwohl man wusste, dass ein Musikdrama per definitionem auf der menschlichen Stimme und ihren natürlichen Limits beruht.

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