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Die Gesellschaft der Singularitäten
from Denkraum 7
Singularität, der neue Wettbewerb?
Performance zählt mehr als Leistung, Äußerlichkeiten sind wichtiger als Inhalte – die Regeln des Wettbewerbs verändern sich. Und das weltweit und in allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
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von Herbert Lechner
Standardisierung darf als wesentliches Kennzeichen der Moderne gelten. Vereinheitlichung durch Serienproduktion, Normierung aller Bauteile, gleichbleibende Qualität und Menge bei Massenfertigung … Legendär ist das Beispiel von Henry Ford, der zwei seiner T-Modelle zerlegen und mit vertauschten Teilen wieder zusammensetzen ließ. Solche Standardisierung erklärt auch das bekannte Versprechen des Markenartikels: „Da weiß man, was man hat.“
Doch für den Soziologen Andreas Reckwitz, Professor an der Viadrina-Universität Frankfurt (Oder), befi nden wir uns längst in einer neuen Phase, sozusagen der Nachmoderne. Diese „Gesellschaft der Singularitäten“ ist, wie er in seinem gleichnamigen Buch an zahlreichen Beispielen vorführt, durch andere Prioritäten charakterisiert. Danach geht der Trend zum Einzigartigen, zum Unikat, eben zum Singulären. Innerhalb einer Generation habe sich eine fundamentale Verlagerung vollzogen. Eine Entwicklung, die das Selbstbewusstsein und das Zusammenleben der Menschen ebenso beeinfl usst wie ihre Beziehung zu Kultur und Umwelt, zu Produkten und Events. Im Fokus steht nun das Subjekt, das Einzelne, das Besondere. Eine These, die anfangs überraschen mag, die sich aber im Lauf der Buchlektüre immer nachdrücklicher zu bewahrheiten scheint – und die schnell mit eigenen Alltagserfahrungen bestätigt wird.
Kuratierung des Lebens Ob im Privat- oder Geschäftsleben, werden nicht das Auftreten, die Inszenierung und Präsentation immer wichtiger als Fakten und Sachargumente? Das reicht bis zum eigenen Selbstverständnis: Reckwitz nennt es „Das Leben wird kuratiert“. Das gilt für Beruf, Hobbys, Wohnen, Reisen, Essen … Der Einzelne defi niert sich durch seinen Einrichtungsstil, durch die Form des Urlaubs, sein Expertentum. „Personal Branding“ ist angesagt, selbst das Design des eigenen Körpers, die eigenen Aktivitäten und sogar der Freundeskreis werden darauf ausgerichtet. Galt lange ein „größer, teurer, reichhaltiger“ als persönliches Karriere merkmal – Stichwort: mein Auto, mein Haus, meine Jacht! –, so zählen jetzt Exklusivität und Authentizität im Wettkampf um Ansehen und Macht. Weltreisen und Luxus resorts sind out, jetzt wird mit Radtour durch die Lüneburger Heide oder Olivenernte in Kalabrien gepunktet. Das sündteure handgefertigte Fahrrad aus einer – nur absoluten Kennern bekannten – walisischen Manufaktur sticht selbst das neueste SUV-Modell aus.
Ellbogenkultur Unvollkommenheit gewinnt an Wert, Perfektion und selbst Funktionalität, bekanntlich weitere Meriten der Moderne, verlieren dagegen an Aufmerksamkeit. Sie gelten als ohnehin vorhanden und damit uninteressant. Damit unterscheidet man sich nicht von anderen, nicht als Individuum und nicht als Produkt. Reckwitz sieht mehrere Ursachen für diesen Wertewandel, der mittlerweile nicht nur westliche Industrienationen erfasst hat. Da ist zum einen eine gut ausgebildete und in der Regel gut verdienende globale Mittelschicht, die sich als allgemein stilprägend empfi ndet. Das führt nicht selten zu Selbstüberschätzung und übersteigertem Anspruchsdenken. Das fördert den Egoismus: „Ich habe ein Recht darauf.“ Wer viel unterwegs ist, kann dieses Verhalten täglich erleben, von der Autobahn bis zum Airport-Terminal. Doch auch im Geschäftsleben und nicht zuletzt in der Politik wird die Ellbogenkultur immer üblicher, gegen Feind wie Freund, Konkurrent wie Mitarbeiter.
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten Suhrkamp Verlag, 62017, 480 Seiten, gebunden, ISBN13: 9783518587065, 28,– Euro [D]
Dazu spielt ebenso die weitgehend erreichte Übersättigung der Märkte wie der weltweite strukturelle Wandel der Berufswelt, vom produzierenden Gewerbe zur Dienstleistungsgesellschaft, eine Rolle.
Kulturmaschine Die sogenannte „creative economy“ wird zunehmend zur Leitbranche. Von „kulturellem Kapitalismus“ spricht hier Soziologe Reckwitz. Dessen Elemente wie Bilder, Narrationen, aber auch Spiele („Gamifi cation“) werden verstärkt produziert und nachgefragt. Gestützt wird diese „Kulturmaschine“ nicht zuletzt durch die gestalterischen und medialen Möglichkeiten der digitalen Revolution.
Denn wie schon in der Moderne bildet das Zusammenspiel von Ökonomie und Technologie den wesentlichen Treiber dieser Singularitätsentwicklung, ja macht sie überhaupt erst möglich. Die Digitalisierung spielt dabei eine Schlüsselrolle. Sie reicht vom eigenen Profi l auf Social-Media-Plattformen über Onlinehandel, Data Tracking und künstliche Intelligenz (KI) bis zum 3-D-Druck, mit dem sich sogar günstige 1-Stück-Aufl agen realisieren lassen. Schon gibt es die direkte Verlinkung vom digitalen Handy foto zum Facebook-Account, längst ist „Always on!“ zum Schlachtruf einer „Always in“-Gesellschaft geworden. Und zur Bestätigung der individuellen Besonderheit!
Wechselnde Werte Singuläre Angebote sind Kennzeichen dieses neuen gesellschaftlichen Verhaltens. Und das gilt gleichermaßen für Produkte und Dienstleistungen wie im privaten Bereich. Hier kommen Self Branding und geschönte SocialMedia-Profi le ins Spiel. Die Inszenierung bzw. „Kuratierung“ des Lebens erhöht die Attraktivität des eigenen Ichs – und wird entsprechend in die Social-Media-Kanäle eingespeist. Unterscheidung entscheidet! Ob Mensch, Produkt oder Dienstleistung, ob Reise oder Mahlzeit, die Angebote sind nicht mehr rein funktional orientiert. Weniger ein konkreter Nutzen als die Bedeutung bestimmen den Wert. Authentizität, Originali tät und Einmaligkeit schlagen Qualität, Funktion und materiellen Wert.
Doch das Verlangen nach dem Besonderen, Individuellen und Einzigartigen impliziert auch eine Gefahr. Denn solche Werte sind schnell wandelbar. Paradoxerweise wird aus
Wortwörtlich einzigartige Puppen kann man im Familienbetrieb des Exilschweizers Walter Hürlimann (Waly) auf Bali bestellen. Dort werden unter fairen Bedingungen Zeichnungen von Kindern (oder auch Erwachsenen) mit erstaunlicher Detailgenauigkeit in dreidimensionale Stofffi guren verwandelt. Diese sind meist sehr lustig oder abenteuerlich, auf jeden Fall: einmalig. Mehr unter: www.cryoow.com
dem Einzigen das Allgemeine, wenn alle auf der Suche nach Unverwechselbarkeit sind. Ein Geheimtipp, millionenfach gepostet, ist nichts mehr wert, eine Einrichtung, die Mainstream wird, ist bedeutungslos, der Pionier wird von den Followern überrannt … Was den Reiz des Singulären verliert oder dem Authentizitätsanspruch nicht mehr genügt, ist uninteressant. Das gilt für Produkte und Menschen, für angesagte Locations und Events, selbst für Stars und Prominente. Sie müssen sich neu erfi nden und Schlagzeilen liefern, denn die Konkurrenz bemüht sich nicht weniger um Aufmerksamkeit. Was gestern gefeiert wurde, ist heute vergessen. Für die Protagonisten – ob Menschen, Marken oder Produkte – bedeutet die Gesellschaft der Singularitäten den ständigen Kampf in einer ambivalenten, sich laufend verändernden Arena. So entbrennt ein Wettbewerb um immer neue Highlights und Sensationen, um begehrenswerte Einmaligkeit. //