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DENKRAUM Sommer 2019
Singularität, der neue Wettbewerb? Performance zählt mehr als Leistung, Äußerlichkeiten sind wichtiger als Inhalte – die Regeln des Wettbewerbs verändern sich. Und das weltweit und in allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
von Herbert Lechner
Standardisierung darf als wesentliches Kennzeichen der Moderne gelten. Vereinheitlichung durch Serienproduktion, Normierung aller Bauteile, gleichbleibende Qualität und Menge bei Massenfertigung … Legendär ist das Beispiel von Henry Ford, der zwei seiner T-Modelle zerlegen und mit vertauschten Teilen wieder zusammensetzen ließ. Solche Standardisierung erklärt auch das bekannte Versprechen des Markenartikels: „Da weiß man, was man hat.“ Doch für den Soziologen Andreas Reckwitz, Professor an der Viadrina-Universität Frankfurt (Oder), befinden wir uns längst in einer neuen Phase, sozusagen der Nachmoderne. Diese „Gesellschaft der Singularitäten“ ist, wie er in seinem gleichnamigen Buch an zahlreichen Beispielen vorführt, durch andere Prioritäten charakterisiert. Danach geht der Trend zum Einzigartigen, zum Unikat, eben zum Singulären. Innerhalb einer Generation habe sich eine fundamentale Verlagerung vollzogen. Eine Entwicklung, die das Selbstbewusstsein und das Zusammenleben der Menschen ebenso beeinflusst wie ihre Beziehung zu Kultur und Umwelt, zu Produkten und Events. Im Fokus steht nun das Subjekt, das Einzelne, das Besondere. Eine These, die anfangs überraschen mag, die sich aber im Lauf der Buchlektüre immer nachdrücklicher zu bewahrheiten scheint – und die schnell mit eigenen Alltagserfahrungen bestätigt wird.
Kuratierung des Lebens Ob im Privat- oder Geschäftsleben, werden nicht das Auftreten, die Inszenierung und Präsentation immer wichtiger als Fakten und Sachargumente? Das reicht bis zum eigenen Selbstverständnis: Reckwitz nennt es „Das Leben wird kuratiert“. Das gilt für Beruf, Hobbys, Wohnen, Reisen, Essen … Der Einzelne
definiert sich durch seinen Einrichtungsstil, durch die Form des Urlaubs, sein Expertentum. „Personal Branding“ ist angesagt, selbst das Design des eigenen Körpers, die eigenen Aktivitäten und sogar der Freundeskreis werden darauf ausgerichtet. Galt lange ein „größer, teurer, reichhaltiger“ als persönliches Karrieremerkmal – Stichwort: mein Auto, mein Haus, meine Jacht! –, so zählen jetzt Exklusivität und Authentizität im Wettkampf um Ansehen und Macht. Weltreisen und Luxusresorts sind out, jetzt wird mit Radtour durch die Lüneburger Heide oder Olivenernte in Kalabrien gepunktet. Das sündteure handgefertigte Fahrrad aus einer – nur absoluten Kennern bekannten – walisischen Manufaktur sticht selbst das neueste SUV-Modell aus.
Ellbogenkultur Unvollkommenheit gewinnt an Wert, Perfektion und selbst Funktionalität, bekanntlich weitere Meriten der Moderne, verlieren dagegen an Aufmerksamkeit. Sie gelten als ohnehin vorhanden und damit uninteressant. Damit unterscheidet man sich nicht von anderen, nicht als Individuum und nicht als Produkt. Reckwitz sieht mehrere Ursachen für diesen Wertewandel, der mittlerweile nicht nur westliche Industrienationen erfasst hat. Da ist zum einen eine gut ausgebildete und in der Regel gut verdienende globale Mittelschicht, die sich als allgemein stilprägend empfindet. Das führt nicht selten zu Selbstüberschätzung und übersteigertem Anspruchsdenken. Das fördert den Egoismus: „Ich habe ein Recht darauf.“ Wer viel unterwegs ist, kann dieses Verhalten täglich erleben, von der Autobahn bis zum Airport-Terminal. Doch auch im Geschäftsleben und nicht zuletzt in der Politik wird die Ellbogenkultur immer üblicher, gegen Feind wie Freund, Konkurrent wie Mitarbeiter.
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten Suhrkamp Verlag, 62017, 480 Seiten, gebunden, ISBN13: 9783518587065, 28,– Euro [D]