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Wettbewerb und Wachstum Ist Steigerung um jeden Preis nur eine Schimäre?

Wettbewerb und Wachstum

Bereits während meines Betriebswirtschaftsstudiums und auch die vielen Jahre danach war mir die heilige Kuh der Wirtschaftspolitik immer suspekt: das „Wirtschaftswachstum“, das von Politikern und Wirtschaftsweisen in allen Regierungserklärungen, Konferenzen, Interviews und Seminaren als Allzweckmittel für Vollbeschäftigung und Wohlstand erklärt wird.

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von Sören Seewald

Allerdings wissen schon die Kinder, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Warum sollte es dann möglich sein, dass Wirtschaft immerzu wachsen kann? Aber Widerspruch war in der Welt der Betriebswirtschaftslehre und der Volkswirtschaftslehre zwecklos. Trotzdem blieb ich skeptisch und bin es heute noch.

Insbesondere im Nachkriegsdeutschland und auch bis heute kann es nach Meinung der Politiker und der Wirtschaftserklärer der Menschheit nur gut gehen, solange die Wirtschaft wächst. So hat zum Beispiel Ewald Nowotny (EZB-Ratsmitglied und Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank) in einem Interview im Handelsblatt vom 20. Dezember 2018 als größtes Risiko für die Wirtschaft im Euro-Raum Deutschlands massiven Rückgang des Wachstums ausgemacht. Abgesehen davon, dass Herr Nowotny offensichtlich die aktuellen Zahlen nicht kennt (Wirtschaftswachstum in Deutschland: 2017= 2,2%, 2018 = geschätzt 1,6–2,0%, 2019: geschätzt= 1,4–2,0%) und von einem massiven Rückgang keine Rede sein kann, spiegelt sich auch hier wieder die Fixierung auf das Wirtschaftswachstum wider. Politiker und Menschen wollen offensichtlich vom Wirtschaftswachstum nicht Abschied nehmen.

Dabei war diese Fixierung auf Wachstum nicht immer vorhanden und wirtschaftliches Wachstum war bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ausnahme. Wachstum bedeutete in der vorindustriellen Zeit vor allem Bevölkerungszuwachs, und der hing in erster Linie von der Verfügbarkeit von Lebensmitteln ab. Die Wachstumstheorien im modernen Sinn entstanden in den 1920erJahren und entwickelten sich unter anderem auch durch die immer weiter fortschreitende Massenproduktion und die dadurch notwendige Förderung der Massennachfrage. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1970erJahre gab es dann das goldene Zeitalter des Wirtschaftswunders in Verbindung mit der vermeintlichen Vollbeschäftigung. Allerdings ist es nicht grundsätzlich gewährleistet, dass Wachstum auch Vollbeschäftigung garantiert. Arbeitslosigkeit kann auch bei hohem Wachstum entstehen, wenn zum Beispiel die Produktion immer weiter automatisiert oder in Billiglohnländer verlagert wird.

Das Ende des Wachstums

Nichts auf unserer Erde kann grenzenlos weiterwachsen – und spätestens seit es Weltraumflüge gibt, wissen wir, dass sogar die Erde selbst begrenzt ist. Das bedeutet zwangsläufig, dass sowohl die natürlichen Ressourcen als auch der Raum für die Menschen begrenzt sind. Massenproduktion und Massenkonsum haben einen massenhaften Naturverbrauch zur Folge. Bereits in den 1870er-Jahren hatte Friedrich Engels in „Dialektik der Natur“ darauf hingewiesen, dass wir uns nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur schmeicheln sollten, da sie sich für jeden solchen Sieg an uns rächt. Rund 100 Jahre später hatte sich mit diesem Umstand auch der Club of Rome beschäftigt und 1972 folgende Schlussfolgerung veröffentlicht: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten 100 Jahre erreicht.“ In den nachfolgenden 40 Jahren überarbeiteten die Experten des Club of Rome regelmäßig diesen ersten Bericht. Doch die Ergebnisse blieben in der

August 2017, Duisburg – Sandkünstler aus zehn Nationen haben in Duisburg die höchste Sandburg der Welt gebaut. Ein Vertreter der auf kuriose Rekorde spezialisierten Firma Guinness World Records bescheinigte dem Bauwerk die Rekordhöhe von 16,68 Meter.

Tendenz gleich. Die Wachstumsgrenzen werden demzufolge spätestens 2100 erreicht sein und zum Kollaps führen.

Fragwürdiges Ideal Allen Warnungen zum Trotz halten die meisten Gesellschaftsformen dieser Welt – ob kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch – am Ideal des Wachstums fest. Seine Grenzen sind jedoch schon überall gegenwärtig. Vernichtung der Biodiversität, Kontaminierung von Böden und Gewässern, Verschmutzung der Luft, Versiegelung der Böden, Ausbeutung der Böden, Zerstörung von Ökosystemen und so weiter haben wir täglich vor Augen. Eine Besserung ist nicht in Sicht, insbesondere auch deshalb nicht, weil die individualistischen Interessen des Einzelnen oder einzelner Nationen immer ausgeprägter werden. Das Ziel ist, größer, schöner, besser, anerkannter und mächtiger zu sein als alle anderen. Der derzeitige amerikanische Präsident ist hierfür das beste Beispiel. „America first“ führt dazu, dass die USA kein Interesse mehr an Klimaschutz haben, mit Fracking noch mehr Rohstoff aus dem Boden gepresst wird, dabei die Böden mit Chemie verseucht werden und Donald Trump aggressiv alles dafür tut, dass nur noch US-amerikanische Interessen verfolgt werden.

Dabei wäre gerade das Gegenteil notwendig. Statt unseren Planeten noch weiter zu plündern, muss eine global abgestimmte Politik die Verantwortung für mehr als sieben Milliarden Menschen übernehmen. Aber eine solche Weltpolitik ist noch nicht einmal im Ansatz erkennbar. Viel zu unterschiedlich sind die nationalen Interessen. Alle sind wir Sklaven des Wirtschaftswachstums. Zu wenige Menschen, und insbesondere die Politiker dieser Welt, haben die Grenzen des Wachstums erkannt. Obwohl aktuell das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern inklusive China rückläufig ist, werden keine Konzepte zum Wohlergehen der Menschen ohne Wachstum entwickelt. Stattdessen wird mit äußerst zweifelhaften Mitteln versucht, Wachstum zu erzwingen – wie zum Beispiel mit Konjunkturprogrammen, Subventionen, Abwrackprämien, noch mehr Werbung …

Big Brother heute Der bereits für 1984 von George Orwell prophezeite Überwachungsstaat, heute allerdings besser als „Überwachungskapitalismus“ zu bezeichnen, trägt massiv zur weiteren Konsumsteigerung in den Industrieländern bei. In der schönen neuen digitalen Welt liefern bereits Milliarden von Menschen den Rohstoff Daten kostenlos an die wenigen Tech-Riesen, die diese Daten wiederum zwecks Werbung weiterverkaufen und dabei Milliardengewinne erzielen, die nicht mal zum Nutzen der Gemeinschaft versteuert werden. Natürlich ist Digitalisierung nicht per se schlecht, aber wie so oft gilt auch hier: Es kommt drauf an, was man draus macht. Denn abseits der Konsumgesellschaft in den Industrieländern leben noch Milliarden Menschen in totaler Armut und müssen sich ums tägliche Brot sorgen. Auch diese Ungleichheit wird in absehbarer Zeit zum Kollaps führen. Die armen Länder werden diese große Differenz zwischen „viel für wenige“ und „nichts oder wenig für viele“ auf Dauer nicht hinnehmen. Dazu wird auch die weltweite Digitalisierung beitragen und die ersten Flüchtlingsströme und die damit verbundenen Probleme waren und sind bereits sichtbar.

Es besteht kein Zweifel: Noch leben wir mitten in einem beispiellosen Wachstumszyklus, der auch die nächsten Jahrzehnte noch nicht zu Ende sein wird. Allein schon, weil die Prognosen zur Weltbevölkerung ein Wachstum von heute ca. sieben Milliarden Menschen auf neun Milliarden Menschen vorhersagen. Und die große Mehrheit wird dann ihre

„Wir fahren mit Vollgas auf eine Betonwand zu, wir wissen nur nicht, wie weit sie weg ist.“

Peter Sloterdijk

Träume vom guten Leben verwirklichen wollen. Wird diese immer größere Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zum Kollaps führen oder kann es gelingen, sie in nachhaltige Bahnen zu lenken und die vorhandenen Ressourcen effizienter zu nutzen?

Sklaven des Wachstums Wie wird es also weitergehen mit dem Wachstum und wie schaffen wir es, noch vor dem großen Kollaps umzusteuern? Reiner Klingholz (seit 2003 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung) spricht in seinem Buch „Sklaven des Wachstums“ (2014) unbequeme Wahrheiten aus. Zwar prognostiziert er, dass unsere Nachfahren in 300 Jahren in einem Paradies der Nachhaltigkeit leben werden. Doch vorher wird es Krisen, Konflikte und Kriege um die Ressourcen geben. Denn die egoistischen Interessen der einzelnen Menschen und die nationalen Interessen sind zu groß, um bereits heute gemeinsame Lösungen für ein nachhaltiges Leben zu entwickeln. Klingholz ist überzeugt davon, dass nachhaltiges Wachstum eine Illusion ist, denn Wachstum bedeute immer erhöhten Ressourcenverbrauch.

Ein Umdenken aus heutiger Sicht scheint somit illusorisch. Zu groß sind die Eigeninteressen des Einzelnen, der Unternehmen und der Staaten, obwohl es bereits viele kleine Versuche zum Besseren gibt. Wenn wir Glück haben, genügen kleine Krisen und Katastrophen, um ein politisches Umdenken länderübergreifend und weltweit zu verursachen. Nach Meinung der Experten des Club of Rome ist es spätestens 2100 so weit. //

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