Grenz.. ganger
Das Gefühl auf der Grenze zu stehen, sich nicht entscheiden zu können auf welcher Seite man steht, wer man ist, sein möchte, sein soll. Oder das „Glück“ sich nicht entscheiden zu müssen, weil man beides haben kann.
Japaner sind typische Grenzgänger.
Auf der einen Seite sind sie sehr offen und modern geprägt (weit offener als viele westliche Länder), aber auf der anderen Seite sind Tradition und Vergänglichkeit immer noch sehr wichtig in der japanischen Gesellschaft. Das Leben einer jungen Japanerin ist voller Gehorsam ihrer Familie gegenüber, sie befolgt die vorgelegten Regeln, lernt und arbeitet äußerst diszipliniert und zeigt Fremden gegenüber ein distanziertes und kontrolliertes Verhalten. So scheint es zu sein, aber ist es nicht der schöne Schein der hier trügt? Denn in den Momenten, in denen diese junge Frau ihre Maske abnimmt und uns ihr wahres Gesicht zeigt, sehen wir, dass sie ihren Gefühlen und Leidenschaften nachgibt...
Vernunft oder Gefühl? Dieses Wechselspiel zwischen Kontrolle und Kontrollverlust spiegelt sich in der für Japaner so typischen Doppelmoral wieder. Strenge Hierarchien und klassische Rollenverteilungen prägen das Familienbild, dessen soziales Ansehen von groSSer Bedeutung ist.
Ehrbare, zielstrebige Arbeit ist der erste Schritt dieses soziale Ansehen zu erlangen. Der Schlüssel zum Erfolg lautet also Disziplin – der Grund, warum japanische Kinder schon früh auf diszipliniertes Verhalten getrimmt werden. Folglich bestimmen strenge Verhaltensregeln das oftmals lieblose, distanzierte und sogar etwas unhöfliche Auftreten in der Öffentlichkeit. Jeder trägt eine Maske, um die Harmonie zu wahren, in der Gesellschaft nicht aufzufallen und den sozialen Forderungen gerecht zu werden. Das hilft, Gefühle und das wahre Gesicht zu verbergen. „Um keinen Preis sein Gesicht verlieren“ ist somit fester Bestandteil/Grund stein des Verhaltens. Die Wahl des Freitods in Momenten des Versagens oder bei gesundheitlichen oder finanziellen Problemen hat sich dadurch fest in die japanische Kultur manifestiert. Nur so kann die eigene Ehre und die Ehre der Familie bewahrt und eine Bloßstellung vermieden werden. Gefangen in einem Netz von Regeln und Verhaltensnormen fühlen sich viele Japaner zu der die Kunst des Fesselns hingezogen. Manche fühlen sich umarmt und geborgen, frei im Geist. Für andere ist dieser Moment der Hilflosigkeit und der symbolischen Herabsetzung eine Art der sexuellen Erfüllung. Auf der Grenze zwischen der Gefangenschaft in den traditionellen Sitten des Landes und der Erfüllung durch uns zum Teil unmoralisch erscheinenden (erotischen) Prak tiken, treffen wir Mädchen, die sich von Männern aushalten lassen, nur um dafür mit materiellen Geschenken belohnt zu werden. Bei dieser „Schulmädchen-Manie“ ist der Übergang zur Prostitution fließend.
Diese Doppelmoral der japanischen Gesell schaft spiegelt sich in Sandra Marxmeiers Kollektion wieder. Sie hat versucht, sowohl das Festhalten an traditionellen Werten, sowie die Offenheit (z. T. sogar Freizügigkeit) und die moderne Sichtweise darzustellen. So sind die Schnittformen der Silhouetten teilweise an den klassischen japanischen Kleidungsstil angelehnt (die Wickeloptik, die weiten japanischen Ärmel). Die militärische Strenge findet sich in der extremen Hochgeschlossenheit vieler Oberteile und in einer relativ eng gegürteten Taille.
Die Distanz wird hier wörtlich genommen: Durch die extrem weiten Ärmellösungen und die Weite in Hosen sowie Kleidern ist ein Gegenüber zwangsläufig gezwungen auf Abstand zu bleiben. Auf der anderen Seite bricht die Hochgeschlossenheit auf, es entstehen freizügigere, offenere Lösungen. Unterstützt werden diese vor allem durch transparente, beschichtete und hochglänzende Materialien.
Drucke Die 2 japanischen Künstler Hiroshi Sugimoto und Nobuyoshi Araki haben mit ihren Fotografien Sandra Marxmeier zu ihren Druckmotiven inspiriert. Sugimotos Arbeiten sind fast aus schließlich in schwarz/weiß gehalten. Eins seiner Werke („Pine Trees“) zeigt Kiefernbäume aus dem kaiserlichen Palastgarten. Die Kiefer hat in der japanischen Kultur eine besondere Bedeutung: sie steht für ein langes Leben, Alter, Größe und Würde. Sugimoto arbeitet nach dem Konzept der Serien, indem er einzelne Bildideen über längere Zeit konsequent verfolgt. Arakis Werk ist hingegen stark von der Alltagsästhetik des heutigen Japan geprägt, dem Lebensgefühl der japanischen Großstadt mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Seine Arbeiten sind erotischen Inhalts und die meisten davon schockierend. Er gilt als Chronist des modernen Japans.
Fotoshooting Anstelle der erwartet stereotypen Umgebung tritt das Fotomodell in eine untradi tionelle, neuzeitliche. Beton beraubt den Raum, in dem die Mode von Sandra Marxmeier präsentiert wird, jeglicher natürlich entwickelter Form; so wie es zur Urbanisierung und Anpassung des japanisch-ländlichen Gebietes im ganzen Lande verwendet wird. Der Stahlbeton-Zweckbau mit öffentlichem oder funktionalem Hintergrund schiebt sich als optionsloser Kontrast vor die konventionell gestalteten Gebäude des alten Japan und Beton greift sogar kontrollierend in Flussbetten und zur Küstenbefestigung des Landes, das sich modernistisch und erdbebensicher präsentieren will, dabei aber seine Herkunft nicht leugnen kann. Mit Posen präsentieren sich die Mädchen scheinbar stark und unnahbar, hinter ihrer Fassade jedoch lässt Mareen Fischinger ihre Modelle fallen, und scheinbar fliegen sie sogar ungehalten durch den Raum – die Gravitation ist wie aufgehoben und die Gravität in Frage gestellt. Wer legt fest, an welcher Seite sich der Boden befindet? Hartes Licht kommt von einer Seite, es bilden sich Schatten, teils sehen wir Nebel – befinden wir uns überhaupt in einem Gebäude? Anonymisiert und in einem schwarzen Mantel bedecken sich die Modelle und verschwinden in der heutigen Welt des erdbebenfesten Japan.
© 2008, Düsseldorf Germany Mode Sandra Marxmeier (AMD) Fotografie Mareen Fischinger Make-up/Haare Anika Hischer Modelle Laura-Elisa, Simone und Denise Gestaltung Booklet Johannes Henseler