FRIZZ Das Magazin Kassel Mai 2020

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© Rowohlt Verlag

STERN 111 VON LUTZ SEILER

MÄDCHENLEBEN ODER DIE HEILIGSPRECHUNG VON MARTIN WALSER

DER AMERIKANISCHE SOHN VON BERND CAILLOUX

SCHWARZWASSER. AM KÖNIGSWEG. VON ELFRIEDE JELINEK

Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlassen Inge und Walter Bischoff ihr altes Leben – die Wohnung, den Garten, ihre Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime folgen sie einem lange gehegten Traum, einem »Lebensgeheimnis «, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des »klugen Rudels« aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte , einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel be-treibt. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, »die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war«.

Für alle Walser-Leser ein Fest des Wiedersehens: Schon in seinen Tagebüchern von 1961 finden sich Eintragungen zu Mädchenleben, und nun, fast sechzig Jahre später, hat er das dort Notierte zusammengetragen und zu etwas verwoben, das er «Legende» nennt: die Geschichte des Mädchens Sirte Zürn, das, weil es seine eigenen Wege geht – plötzlich verschwindet, erst nach Tagen wieder auftaucht, sich im Sand eingräbt, bei Sturm in den See rennt –, nachWunsch seines Vaters heiliggesprochen werden soll. Der Untermieter der Familie, der Lehrer Anton Schweiger, ist von diesem Einfall so entzündet, dass er alles sammelt, was es über das Mädchen zu erzählen gibt. Darüber gerät er mehr und mehr in ihren Bann.

Und du? Hast du Kinder? – Ja, einen Sohn, in Amerika. Danach Schweigen. Die am Rande einer Podiumsveranstaltung arglos gestellte Frage rührt an ein Lebenstrauma. Von seiner Vaterschaft erfuhr der Altachtundsechziger vor dreißig Jahren per Zufallauf der Tanzfläche. Der Junge namens Eno wuchs in Jamaika auf, später in den USA, Kontakt gab es keinen . Die Mutter, eine Hamburgerin, ging eigene Wege. Und so hatte die Existenz des Sohns den Vater, der als Aktivist und HippieBusinessman von Familie nicht viel wissen wollte, bisher nie wirklich gekümmert. Doch 2014 lädt ihn eine Stiftung nach New York ein.

Ein blinder König, der mit Immobilien, Golfplätzen und Casinos ein Vermögen verdient hat, regiert plötzlich die USA, und der Rest der Welt reibt sich ungläubig die Augen.

Ein Panorama der ersten Nachwendejahre in Ost und West: Nach dem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Bestseller Kruso führt Lutz Seiler die Geschichte in zwei großen Erzählbögen fort – in einem Road-trip, der seine Bahn um den halben Erdball zieht, und in einem Berlin-Roman, der uns die ersten Tage einer neuen Welt vor Augen führt. Und ganz nebenbei wird die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst 89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinander zu finden. ›› Roman; Etwa 500 Seiten; ca. € 24,– (D)/€ 24,70 (A) 978-3-518-42925-9; Erschienen im März 2020

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›› FRIZZ BUCHTIPPS

Oktober Mai 20202016

Martin Walsers neues Buch besticht durch seine lebhaften, ungewöhnlichen Figuren, die in einer gleichsam entrückten Welt zu leben scheinen. Was ist mit Anton Schweiger, warum wohnt er als Lehrer zur Untermiete bei den Zürns, was bringt ihn dazu, nach Sirte eine solche Sehnsucht zu haben? Wie kommt ihr Vater auf den Gedanken der Heiligsprechung seiner Tochter, und was ist das für eine seltsame Ehe der Zürns, in der die Frau, während sie im Garten Lupinen setzt, von ihrem Mann zu Boden geworfen wird und er sich ein andermal mit Kuhfladen beschmiert?

Eine Chance, mit der verdrängten Geschichte ins Reine zu kommen. Je mehr er in die Stadt eintaucht, an alten und neuen Orten den Spuren des Undergrounds der Siebziger bis zu den Vorzeichen der Präsidentschaft Donald Trumps folgt, umso mehr gewinnt die Frage nach dem nahen fernen, längst erwachsenen Kind an Dringlichkeit.Selbstironisch und mit warmer Lakonie geht Bernd Cailloux auf die Suche nach dem verlorenen Sohn, auf einen USA-Trip in die eigene Vergangenheit und fremde Gegenwart – als New-York-Flaneur zu Fuß, zögerlich im Internet und zuletzt im Flug-zeug Richtung Menlo Park, ans westliche Ende der westlichen Welt.

›› 96 Seiten Gebunden mit Schutzumschlag 12,5 x 20,5 cm Originalausgabe € 20,00 (D) / € 20,60 (A) 978-3-498-00196-4

›› Roman Etwa 280 Seiten Gebunden mit Schutzumschlag ca. € 24,– (D)/€ 24,70 (A) 978-3-518-42912-9 Erschienen im April 2020

www.frizz-kassel.de

Ein österreichischer Politiker verspricht auf einer Baleareninsel einer reichen Russin die Herrschaft über die heimische Medien-Landschaft, um die eigene Macht zu stärken, und verkauft ihr die Natur gleich mit: Flüsse und Seen werden zum privatisierten Spekulationsobjekt, Berge und Täler dienen dem lukrativen Straßenbau. Die Namen der handelnden Personen in Schwarzwasser und Am Königsweg sind hinlänglich bekannt, spielen aber keine Rolle, denn ganz grundsätzlich umkreist Elfriede Jelinek in ihren zwei hochaktuellen Stücken das Phänomen des Rechtspopulismus, der sich virusartig rund um den Globus ausbreitet und das Klima, gesellschaftlich wie ökologisch, nachhaltig vergiftet. Zwischen Tragödie und Groteske, hohem Ton und Kalauern befragt Jelinek dabei auch selbstkritisch dieeigene Position und entwirft mögliche Formen des Widerstands. ›› Elfriede Jelinek Schwarzwasser. Am Königsweg. Zwei Theaterstücke 208 Seiten Gebunden mit Schutzumschlag 12,5 x 20,5 cm Originalausgabe € 22,00 (D) / €22,70 (A) 978-3-498-00199-5 Erschienen im Januar 2020 Auch als E-Book erhältlich


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